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Sozialstaat und Nonprofit Sektor. Australien
aus historischer und vergleichender
Perspektive.
Sebastian Brunner
Working papers
Arbeitspapiere
Sebastian Brunner
Sozialstaat und Nonprofit Sektor: Australien aus
historischer und vergleichender Perspektive
Sebastian Brunner
Sozialstaat und Nonprofit Sektor: Australien aus historischer und
vergleichender Perspektive
Redaktionelle Notiz:
Der Autor ist Absolvent des Studiengangs Diplom Sozialwissenschaften der Universität Mannheim.
Die vorliegende Studie basiert auf einer Diplomarbeit, die, angeregt durch Seminare bei Prof. Dr.
Peter Flora, in Australien erarbeitet wurde. Dort konnte der Autor mit Unterstützung von Prof. Dr. Marc
Lyons die wissenschaftlichen Einrichtungen der University of Technology Sydney nutzen. Er ist jetzt
als strategischer Planer in der Agentur Uniplan Life Communication tätig.
Zusammenfassung
Die Studie vergleicht die historischen Wurzeln Australiens mit denen einiger anderer
Industrienationen, um die Besonderheiten der gesellschaftlichen Strukturen Australiens zu
kennzeichnen und das Verhältnis des Nonprofit Sektors (NPS) der sozialen Dienste zum Sozialstaat
zu erklären. Die Grundlage für diesen Vergleich bilden die Daten des Johns Hopkins Comparative
Nonprofit Sector Projects. Salamon und Anheier (2000), die in ihrem großen internationalen Vergleich
diese Daten für Australien ausgewertet haben, ordnen im Rahmen ihrer Theorie der „sozialen
Ursprünge“ Australien einem „liberalen Modell“ mit einem starken NPS und einem schwachen
Sozialstaat zu. Die Autoren gehen davon aus, dass diese Konstellation verbunden ist mit einer
schwachen Arbeiterbewegung und einem dominanten Bürgertum. In Australien aber ist das Gegenteil
der Fall: Das Land verfügte um 1900 wahrscheinlich über die stärkste Arbeiterbewegung der Welt,
während es einen schwachen Wohlfahrtsstaat und einen starken Nonprofit Sektor entwickelt hat.
Die sich aus dieser Tatsache ergebenden Fragen werden anhand der grundlegenden theoretischen
Literatur diskutiert (u.a. Castles, Esping-Anderson, Lyons, Lipset, Rokkan, Smith), um zu zeigen,
welcher der theoretischen Ansätze zur Erklärung der besonderen Verhältnisse Australiens am besten
geeignet ist. Dabei stellt sich heraus, dass Hypothesen aus der Literatur durch diese kritische
Fallstudie zumindest teilweise widerlegt werden können.
Inhalt
A Einleitung ............................................................................................................................................7
B Grundlagen und statistische Daten.....................................................................................................8
1 Definition des Nonprofit Sektors ......................................................................................................8
2 Statistische Angaben.......................................................................................................................9
3 Theoretische Grundlagen ..............................................................................................................11
3.1 Ökonomische Nonprofit Sektor Theorien................................................................................11
3.2 Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“............................................12
3.3 Theorie der „Families of Nations“............................................................................................15
3.4 Theoretische Modelle von Stein Rokkan.................................................................................16
C Gesellschaft......................................................................................................................................18
1 Geschichtlicher Überblick ..............................................................................................................18
2 Spaltungsstrukturen und ihre Übertragung....................................................................................20
2.1 Spaltungsstrukturen ................................................................................................................20
2.2 Übertragung der Spaltungsstrukturen.....................................................................................24
3 Der australische Nationalismus .....................................................................................................27
3.1 Die nationale Mythologie Australiens......................................................................................27
3.2 Sozialstaat und Nationalismus................................................................................................29
D Wohlfahrtssystem .............................................................................................................................30
1 Sozialstaat und Nonprofit Sektor ...................................................................................................30
1.1 Die Sträflingsära: 1788-1850 ..................................................................................................31
1.2 Die Expansionsphase: 1850-1890 ..........................................................................................34
1.3 Wirtschaftskrise und Arbeiterbewegung: 1890-1910 ..............................................................35
1.4 Stagnation des Sozialstaates: 1910-1972 ..............................................................................40
1.5 Ausdehnung des Sozialstaates und des Nonprofit Sektors: Seit 1972...................................41
2 Bürgerliches Ethos und Nonprofit Sektor.......................................................................................42
2.1 Das Ethos der bürgerlichen Wohlfahrtsdienste.......................................................................42
2.2 Bürgerliches Ethos und radikaler Egalitarismus......................................................................44
2.3 Die Versäulung des Nonprofit Sektors....................................................................................47
E Schlussfolgerungen ..........................................................................................................................52
F Literatur.............................................................................................................................................55
7
7
A Einleitung
„Welch ein eigenartig kapitalistisches Land ist das“, fragte sich der russische Berufsrevolutionär
Vladimir Ilich Lenin in der Juni-Ausgabe der Pravda im Jahre 1913, „in dem die Vertreter der
Arbeiterschaft das Oberhaus dominieren und dies bis vor kurzem auch im Unterhaus getan haben,
und trotzdem ist das kapitalistische System nicht in Gefahr?“ (Lenin in Tampke 1979: 1). Für Lenin lag
die Antwort auf der Hand: Die australische Labour Partei ist keine sozialistische, sondern eher eine
bürgerlich-liberale Partei. Eine solche Arbeiterpartei sei aber eher die Ausnahme und nur eine
kurzfristige Erscheinung aufgrund spezifischer Bedingungen. So konnte Lenin die Leser der Pravda
beruhigen: „Diejenigen, die in Europa und Rußland den Arbeitern die Zwecklosigkeit des
Klassenkampfes durch das australische Beispiel weismachen wollen, haben nur vor, sie in die Irre zu
führen“ (Tampke 1979: 1).
Es waren Bücher wie William Lane’s utopisches Werk „A Workingmen’s Paradise“ (Lane 1980,
erstmals erschienen 1892) oder der Reisebericht des deutschen Alfred Manes „Das Land der sozialen
Wunder“ (Manes 1911), die den Mythos vom australischen Arbeiterparadies zwischen 1890 und 1914
weltweit verbreiteten. Zugegeben, die Zeiten, in denen die Augen der Welt auf die sozialen
Errungenschaften Australiens gerichtet waren, sind lange vorbei. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte
das Land beim Ausbau des Sozialsystems nicht mit den europäischen Ländern Schritt halten.
Der Fokus dieser Arbeit richtet sich nicht nur auf den australischen Sozialstaat, sondern vor allem auf
einen Bereich des Sozialsystems, der bis vor kurzem in der Forschung noch relativ wenig Beachtung
gefunden hat. Es handelt sich dabei um die Bereitstellung von Wohlfahrtsdiensten durch den so
genannten Nonprofit Sektor (NPS). Dieser umfasst Institutionen verschiedener Branchen, die
organisatorisch weitestgehend unabhängig vom Staat agieren, jedoch kein gewinnorientierter
Bestandteil des freien Marktes sind.
Das Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project (JHCNPSP) hat sich zum Ziel gesetzt, die
bestehenden Informationslücken in diesem Bereich so weit wie möglich zu schließen. Das Projekt ist
eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben der letzten Jahre. Es hat Daten aus
22 Ländern, darunter Australien, veröffentlicht. Das Land verfügt heute über einen überraschend
großen Nonprofit Sektor im Bereich der sozialen Dienste (Salamon 1999b). Zugleich zeigen Daten der
OECD, dass Australien nur einen residualen Wohlfahrtsstaat aufweist (OECD 2003). Im
Zusammenhang mit dem JHCNPSP haben Lester Salamon und Helmut Anheier (1998) die historisch
vergleichende Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“ entwickelt. Die Autoren
wollen das aktuelle Verhältnis zwischen Staat und Nonprofit Sektor durch geschichtlich gewachsene
Machtkonstellationen in der Gesellschaft erklären. Dieser Ansatz sowie die Daten der OECD und des
JHCNPSP werden Ausgangspunkt der Untersuchung sein. Ziel der Analyse ist es, die historischen
Wurzeln der sozialen Dienste des australischen Nonprofit Sektors darzustellen. Dabei soll der NPS im
Verhältnis zu den wichtigsten staatlichen Institutionen beschrieben werden. Geschichte soll hier nicht
um ihrer selbst willen dargestellt werden, sondern sie soll dazu dienen, ein besseres theoretisches
8
8
Verständnis zu gewinnen. So lassen sich die entscheidenden Faktoren für die Entwicklung der
sozialen Dienste herauskristallisieren. Die Arbeit folgt der Methode der kritischen Fallanalyse. Bei
diesem Ansatz wird eine einzelne Beobachtung untersucht, die hinsichtlich der bisher bekannten
Prozesse anomal erscheint. Auf Australien trifft das zu. Hier besteht traditionell eine starke
Arbeiterbewegung und eine schwache Mittel- und Oberklasse. Salamon und Anheier gehen davon
aus, dass dies die Bildung eines starken Wohlfahrtsstaates und eines schwachen Nonprofit Sektors
begünstigt (Salamon 2000: 16-17). Doch in Australien ist genau das Gegenteil der Fall. Das Land
verfügt über einen starken Nonprofit Sektor und einen schwachen Sozialstaat.
Im Teil B der Untersuchung wird zunächst statistisches Datenmaterial der OECD und des JHCNPSP
dargestellt. Anschließend wird auf verschiedene theoretische Modelle eingegangen. Neben der
Theorie der „sozialen Ursprünge“ wird hier die angebotsseitige NPS-Theorie von Estelle James
(1987), die Theorie der „Families of Nations“ von Francis Castles (1993) und das Modell von Stein
Rokkan (2000) von Bedeutung sein. Der Teil C bezieht sich auf die Entwicklung der
Gesellschaftsstruktur Australiens. Nach einer kurzen Einführung in die grundlegendsten politischen
Entwicklungen der australischen Kolonien bis zur ersten Mehrheitsregierung der australischen Labour
Partei im Jahre 1910 werden die wichtigsten gesellschaftlichen Spaltungsstrukturen beschrieben und
deren Übertragung in das korporative Organisations- und Parteiensystem nach einem Modell von
Stein Rokkan (2000) analysiert. In einem eigenen Kapitel werden dann die Besonderheiten des
australischen Nationalismus und sein Verhältnis zum Sozialstaat dargestellt. Darauf folgt im Teil D
eine Darstellung der historischen Entwicklung des australischen Wohlfahrtssystems. Im ersten
Abschnitt befasst sich die Arbeit mit den wichtigsten institutionellen Arrangements des Sozialstaats
und deren Verhältnis zum Nonprofit Sektor. Im zweiten Teil der Analyse werden die Struktur und das
Wertesystem der historischen Nonprofit Wohlfahrtsdienste detaillierter behandelt. Die so gewonnenen
Erkenntnisse sollen dann auf die eingangs erwähnten, theoretischen Modelle übertragen werden. Den
Abschluss bildet eine Bewertung des Erklärungspotentials der einzelnen Theorien.
B Grundlagen und statistische Daten
1 Definition des Nonprofit Sektors
Nach der Definition des Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project (JHCNPSP) sind zum
NPS alle Organisationen zu rechnen, die folgende Bedingungen erfüllen:
Formell strukturiert: Bestimmte Regeln sind festgeschrieben, regelmäßige Treffen finden statt, ein
Vorstand existiert, oder eine gewisse organisatorische Permanenz besteht.
Organisatorisch unabhängig vom Staat: Das bedeutet nicht, dass die Organisationen vom Staat nicht
unterstützt werden dürfen. Sie müssen nur in ihrer Grundstruktur privat sein und dürfen in ihrer Leitung
nicht vom Staat dominiert werden.
9
9
Nicht gewinnorientiert: Die Organisationen dürfen wohl Profite erwirtschaften, sie dürfen aber nicht an
die Leitung weitergegeben werden, sondern müssen wieder in die Einrichtung investiert werden.
Eigenständige Verwaltung: Die Aktivitäten der Organisationen dürfen nicht von außen gesteuert
werden.
Freiwillig: Die Organisationen sollen zu einem gewissen Grad von freiwilligen Beiträgen getragen sein
und keine Zwangsverbände darstellen.
(Salamon 1997: 33-34).
2 Statistische Angaben
Zur Beschreibung der wichtigsten Merkmale des aktuellen australischen Wohlfahrtssystems wird nun
komparatives Datenmaterial vorgelegt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird überprüft, inwiefern diese
Daten vorhandene theoretische Ansätze stützen. Dies sind Daten zu den wohlfahrtsstaatlichen
Ausgaben, der Größe des Nonprofit Sektors, zur Finanzierung dieser Dienste und dem relativen
Größenverhältnis zwischen Nonprofit, kommerziell und staatlich bereitgestellten Wohlfahrtsdiensten.
Als Indikator für die relative Größe des australischen Wohlfahrtsstaates werden die Daten der OECD
zum Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt verwendet. Australien gehört mit
17,79 % zu den Ländern mit einem sehr geringen Anteil staatlicher Sozialausgaben am
Bruttosozialprodukt, ähnlich wie die USA und Japan.
10
10
Tabelle 2: Daten des Johns Hopkins Projektes (1995): Prozent-Anteil der sozialen Dienste des
Nonprofit Sektors an den Vollzeitbeschäftigten. Daten der OECD (1995):
Prozentanteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt.
Land
Anteil der sozialen
Dienste des
Nonprofit Sektors an
den
Vollzeitbeschäftigten
(Ranking)
Anteil des
Nonprofit
Sektors an den
Vollzeit-
beschäftigten
Anteil der
sozialen
Dienste am
Nonprofit Sektor
Anteil der
öffentlichen
Sozialausgaben am
Bruttosozialprodukt
Österreich 2,88 (1) 4,5 64 26,6
Niederlande 2,42 (2) 12,6 19,2 25,6
Frankreich 1,96 (3) 4,9 39,7 29,2
Deutschland 1,90 (4) 4,9 38,8 27,5
Australien 1,45 (5) 7,2 20,1 17,8
Belgien 1,45 (6) 10,5 13,8 28,1
Spanien 1,43 (7) 4,5 31,8 21,4
USA 1,05 (8) 7,8 13,5 15,5
Israel 1,00 (9) 9,2 10,9 -
GB 0,81 (10) 6,2 13,1 23
Japan 0,58 (11) 3,5 16,6 13,5
Finnland 0,53 (12) 3 17,8 31,1
Irland 0,52 (13) 11,5 4,5 19,4
Ø 1,64 7 23,4 23,2
Quellen: Daten zur Beschäftigungsstruktur des Nonprofit Sektors im Jahre 1995 in: Salamon 1999b: 477.
Prozent-Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt im Jahr 1995 in: OECD 2005
Die Daten zum Nonprofit Sektor wurden vom Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project
veröffentlicht. Für Australien wurden diese Daten durch das Australian Bureau of Statistics im Jahre
1995 erhoben und an das Projekt weitergegeben. Demnach verfügt Australien über einen relativ
großen Nonprofit Sektor mit einem Anteil von 7,2 % der Vollbeschäftigten am Arbeitsmarkt. Der Anteil
der Vollbeschäftigten der sozialen Dienste am australischen NPS liegt bei 20,1 %. Somit kann man
errechnen, dass in Australien 1,45 % der Vollzeitbeschäftigten am Arbeitsmarkt im Nonprofit Sektor
der Wohlfahrtsdienste arbeiten. Auf die gleiche Weise wurden auch die Daten der anderen
industrialisierten Länder, die am JHCNPSP teilgenommen haben, umgerechnet. Der Durchschnitt der
entwickelten Nationen liegt bei 1,64 % der Vollzeitbeschäftigten in Nonprofit Wohlfahrtsdiensten.
Australien befindet sich im Ranking von 13 Nationen auf Platz 5 und gehört somit zu den Ländern mit
einem relativ großen Nonprofit Sektor. In den USA sind es dagegen nur 1,05 %. Das Land kommt
somit auf Rang 8.
Um die Frage zu beantworten, warum in Australien ein hoher Anteil der Beschäftigten in Nonprofit
Wohlfahrtsorganisationen tätig ist, muss man das Ausmaß der sozialen Dienste insgesamt und den
relativen Anteil der staatlichen, der privaten und der Nonprofit Wohlfahrtsdienste darin betrachten.
11
11
Die Daten des Australian Bureau of Statistics (ABS) aus dem Jahre 1995 zeigen, dass 4,7 % der
Vollbeschäftigten Australiens in den sozialen Diensten tätig sind. Von diesen Beschäftigen sind 56,8
% in Nonprofit Organisationen, 21,9 % in Forprofit Unternehmen und 21,2 % in staatlichen Diensten
tätig. Veröffentlicht sind diese vom ABS ermittelten Zahlen im Australian Institut of Health and Welfare
(AIHW 1999: 59). In den USA besteht der Wohlfahrtsdienstsektor zu 55 % aus Nonprofit, zu 22 % aus
kommerziellen und zu 23 % aus staatlichen Dienstleistern (Salamon 1999a: 112). Die
Zusammensetzung entspricht somit der Australiens.
Das Johns Hopkins Projekt liefert zudem Aussagen über die Finanzierung des NPS. In Australien
machen staatliche Subventionen 51,2% des Einkommens der sozialen Dienste innerhalb des NPS
aus. Gebühren haben einen Anteil von 38 % und Spenden 10,8% (Salamon 1999b: 210). In den
Industrieländern liegt der Anteil der Finanzierung durch den Staat durchschnittlich bei 45%, durch
Gebühren bei 37% und durch Spenden bei 18% (Salamon 1999b: 27). In den USA beträgt der Anteil
der staatlichen Subventionen 37%, Gebühren haben einen Anteil von 43%, Spenden einen Anteil von
20% (Salamon 1999b: 277).
Das Projekt stellt folgende Daten zum Anteil der Bevölkerung bereit, die im Nonprofit Sektor
ehrenamtlich tätig ist: Der internationale Durchschnitt liegt bei 28%, in den USA sind es 49%, in
Australien dagegen nur 9,3% ehrenamtlich Tätige (Salamon 1999b).
3 Theoretische Grundlagen
Australien verfügt also über geringe staatliche Ausgaben für soziale Dienste und einen relativ starken
Nonprofit Sektor in dieser Branche. Im folgenden Kapitel soll die Frage geklärt werden, in wie fern die
Daten mit der Theorie der „sozialen Ursprünge“ (Salamon 2000), mit Castles’ Theorie der „Families of
Nations“ (1993), dem Ansatz von Estelle James (1987) und dem Modell von Stein Rokkan
übereinstimmen.
3.1 Ökonomische Nonprofit Sektor Theorien
Es gibt eine Reihe von Theorien zum NPS, welche die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften
des Wohlfahrtssystems eines Staates auf der einen Seite und dem Umfang, der Zusammensetzung
sowie der Finanzierung des NPS auf der anderen Seite zu erklären vermögen. Diese Theorien
stammen zumeist aus der Ökonomie.
Bei der Theorie des Regierungsversagens/Marktversagens des Ökonomen Burton Weisbrod (1986)
handelt es sich um eine klassische ökonomische Theorie, der zurzeit wohl die meiste Bedeutung
zugemessen wird. Sie geht vom Unvermögen des Marktes aus, ausreichend gemeinnützige Güter zu
erstellen. Dieses Unvermögen dient dem Staat als wichtigste Legitimation, denn er wird mit der
Erstellung dieser knappen Güter beauftragt. Es gibt aber verschiedene Meinungen darüber, welches
öffentliche Gut produziert werden soll, deshalb wird in einer Demokratie dasjenige Gut erstellt, das der
Durchschnittswähler fordert. Eine unbefriedigte Nachfrage bleibt aber weiter bestehen, was als
Regierungsversagen registriert wird. Zu diesem Regierungsversagen kommt es vor allem in
12
12
Gesellschaften, die ethnisch und religiös besonders heterogen sind (und in denen es große
Unterschiede in der individuellen Nachfrage nach öffentlichen Gütern gibt). In diesen Fällen werden
sich die benachteiligten Gruppen an Nonprofit Organisationen (NPO) wenden, um sich mit den
gewünschten Gütern zu versorgen.
Estelle James (1987) entwickelte einen angebotsseitigen Ansatz auf der Grundlage von Weisbrods
Median-Voter-Theorie (Weisbrod 1986). Während Weisbrod erklärt, unter welchen Umständen
Nonprofit Unternehmen der Nachfrage nach bestimmten Gütern nachkommen, und nicht der Staat,
erklärt James, wie diese Nonprofit Unternehmen entstehen. Sie geht davon aus, dass Nonprofit
Organisationen in der Regel von Personen gegründet werden, die in Verbindung mit organisierter
Religion oder anderen ideologischen Organisationen stehen. Gewöhnlich handelt es sich dabei um so
genannte Bekehrungsreligionen. Andere Gruppen müssen aus einer Verteidigungsreaktion heraus
eigene Institutionen gründen. James konnte ihre Theorie am Beispiel des australischen
Bildungssektors belegen.
Mark Lyons ist Autor von „Third Sector“, dem ersten umfassenden Werk über den australischen NPS.
Er geht davon aus, dass James’ Ansatz aufgrund der Betonung ethnischer und religiöser
Heterogenität am besten geeignet ist, um zumindest einen Teil der Entwicklung des australischen
Nonprofit Sektors zu erklären (Lyons 1993). Die australische Gesellschaft war zwischen den 1860er
und den 1920er Jahren beeinflusst vom Konfessionenstreit zwischen der protestantischen und der
katholischen Kirche. Dazu kam die Gegenreaktion der säkularen Nationenbildner des liberalen
Bürgertums (Lyons 1998: 583).
Hypothese: Je größer die ethnische und religiöse Heterogenität, desto größer der Nonprofit Sektor im
Bereich der sozialen Dienste. In Bezug auf Australien bedeutet das, dass aufgrund des
Konfessionenstreits ein großer Nonprofit Sektor der sozialen Dienste entstand.
Betrachtet man die Daten, so fällt auf, dass die Länder mit einem großen Sektor an sozialen Nonprofit
Diensten entweder vom Konfessionenstreit geprägt (Niederlande, Deutschland, Belgien, Australien),
oder katholisch dominiert sind (Österreich, Frankreich, Spanien). Die Länder mit einem kleinen Sektor
an sozialen Nonprofit Diensten sind entweder protestantisch dominiert (GB, USA, Finnland), oder nicht
christlich (Israel, Japan).
Irland stellt eine interessante Ausnahme von der oben aufgestellten Regel dar, auf die hier aber nicht
näher eingegangen werden kann.
Diese entscheidende Rolle der Religion weist darauf hin, dass Estelle James’ Ansatz auf dem Gebiet
der sozialen Dienste nicht nur für Australien von Bedeutung ist, sondern allgemein eine starke
Erklärungskraft für diesen Bereich besitzt.
3.2 Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“
Salamon und Anheier stellen in ihrer Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerliche Gesellschaft“
(Salamon 1998) Überlegungen an, wann bei historisch gewachsenen Kräfteverhältnissen sozialer und
13
13
ethnischer Gruppen ein kooperatives Verhältnis zwischen Staat und NPS zustande kommt und wann
nicht. Die Theorie der „sozialen Ursprünge“ soll besondere Bedeutung haben für den
Gesundheitsbereich und die sozialen Dienste innerhalb des NPS (Salamon 1998: 227). Die Theorie
der beiden Autoren basiert auf Gøsta Esping-Andersens Werk „The Three Worlds of Welfare
Capitalism“, in dem der Autor zwischen einer liberalen, einer sozialdemokratischen und einer
korporativen Welt des Wohlfahrtskapitalismus unterscheidet (Esping-Andersen 1990).
Salamon und Anheier fügen diesen drei Welten ein dirigistisches Regime hinzu, welches den Fall
Japan und verschiedene Entwicklungsländer beschreiben soll. Diesen vier Regimen werden die
einzelnen nationalen NPS zugeordnet. Jedes dieser vier Modelle ist charakterisiert durch die Rolle des
Staates, die Position des dritten Sektors und - dem wichtigsten Kriterium - der Konstellation der
sozialen Kräfte.
Die Nonprofit Regime lassen sich nach zwei Gesichtspunkten aufteilen: Das Ausmaß der sozialen
Wohlfahrtsausgaben, die Größe des NPS.
Daraus ergeben sich vier unterschiedliche Modelle von NPS (Salamon 1998: 227).
Das liberale Modell zeichnet sich durch geringe staatliche Wohlfahrtsausgaben und einen relativ
großen NPS aus. Diese Form ist dort wahrscheinlich, wo eine bürgerliche Mittelklasse dominiert, und
wo traditionelle Eliten mit Landbesitz entweder nie existiert haben oder wo es eine starke
Arbeiterschaft nie gegeben hat. Salamon und Anheier beschreiben die politische Kultur dieses
Regimes wie folgt: „It [das liberale Modell] features a significant ideological and political hostility to the
extension of government social welfare protections and a decided preference for voluntary
approaches instead” (Salamon 2000: 16).
Das andere Extrem stellt das sozialdemokratische Modell dar. Hier produziert in erster Linie der Staat
die wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen. Nonprofit Organisationen spielen bei der Bereitstellung
dieser Güter nur eine untergeordnete Rolle. In solchen Gesellschaften ist es der Arbeiterklasse
gelungen, effektiv politische Macht auszuüben, üblicherweise jedoch im Zusammenschluss mit der
Mittelklasse.
Das korporative Modell ist gekennzeichnet durch einen starken Staat, der gezwungen oder veranlasst
wurde, mit den Nonprofit Organisationen zusammenzuarbeiten. Diese Organisationen funktionieren
als einer unter vielen vormodernen Mechanismen, die vom Staat erhalten werden, um die
Unterstützung von bedeutenden sozialen Eliten zu gewinnen, und um radikalere Forderungen nach
wohlfahrtsstaatlicher Versorgung zu verhindern.
Das dirigistische Modell beschreibt einen konservativen Staat, in dem die Sozialpolitik als Instrument
der Machtausübung des Staates oder der Wirtschaftseliten dient. Hier gehen geringe staatliche
Wohlfahrtsausgaben mit einem kleinen NPS einher (Salamon 2000: 16-17).
14
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Tabelle 1: Nonprofit Sektor Modelle
Models of Third Sector Regime
Government
Social
Welfare
Spending
Nonprofit Scale
Small Large
Low
Statist
Japan
Brazil
Liberal
U.K.
Australia
U.S.
High
Social
Democratic
Finnland
Austria
Corporatist
Germany
Belgium
France
Netherlands
Quelle: Salamon 2000: 19-20
Salamon und Anheier ordnen Australien und die USA eindeutig dem liberalen Regime zu (Salamon
2000: 19).
Hypothese:
In den Ländern des liberalen Modells dominiert die Ideologie der bürgerlich-liberalen Elite, die dem
Wohlfahrtsstaat feindliche gegenübersteht und voluntaristisches Handeln bevorzugt. Deshalb erstellt
der Staat nur begrenzt wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungen und es besteht ein relativ großer NPS der
sozialen Dienste, welcher großteils durch private Spenden finanziert wird. Im australischen Fall sollte
deshalb ein schwacher Sozialstaat einem starken NPS der sozialen Dienste gegenüberstehen, der
sich v.a. durch private Spenden finanziert.
Die Daten des JHCNPSP bestätigen die Hypothese für Australien. Hier besteht ein starker NPS der
sozialen Dienste und ein schwacher Wohlfahrtsstaat. Auch in den USA dominiert die Bereitstellung
von Wohlfahrtsdiensten durch den Nonprofit Sektor. Überraschender Weise jedoch verfügen die USA
im internationalen Vergleich über einen eher kleinen dritten Sektor der sozialen Dienste. Und dies
obwohl das Land über einen insgesamt sehr großen Nonprofit Sektor verfügt. Salamon und Anheier
(2000) gehen von der - möglicherweise falschen - Annahme aus, dass ihre Theorie eine besondere
Geltung für die sozialen Dienste besitzt.
Die beiden Autoren glauben zudem, dass die Daten zur Gesamtgröße des Nonprofit Sektors für
Australien und die USA mit ihren Annahmen zu den Kräfteverhältnissen zwischen Ober-, Mittel- und
Arbeiterklasse übereinstimmen:
“Moreover, the social conditions thought to be associated with this pattern are very much in
evidence- namely a sizable urban middle class that effectively disrupted (or, in these two cases
[Australien und die USA] never really confronted) a landed upper class while holding urban
working class elements at bay. The American and Australian middle classes were much more
successful at this than their counterparts elsewhere, in part because they never really had an
entrenched landed elite to unseat, and in part because ethnic and racial diversity kept the
working classes more highly splintered” (Salamon 2000: 19).
15
15
Tatsächlich sind in Australien aber völlig andere Bedingungen zu berücksichtigen.
Salamon und Anheiers’ Theorie (2000) hätte für Australien eine Dominanz privater Spenden
angenommen. Dies ist aber nicht der Fall. Stattdessen überwiegen staatliche Gelder. Australien trägt
also teilweise korporative Züge.
3.3 Theorie der „Families of Nations“
Francis Castles’ Theorie der „Families of Nations“ (1993) bietet eine Typologie von
Wohlfahrtsregimen, welche für die hier dargestellten Überlegungen interessant ist, denn sie soll den
besonderen Entwicklungen in Australien gerecht werden. Auch Castles Werk basiert auf Esping-
Andersons Theorie. Castles gliedert die englischsprachigen Länder in liberale und radikal-egalitäre. In
beiden Kategorien sind die staatlichen Wohlfahrtsausgaben gering.
Im Gegensatz zu den liberalen Ländern jedoch sind in den radikal-egalitären Ländern
Wohlfahrtsleistungen stärker von Vermögenstests abhängig. Die Wohlfahrtsleistungen kommen
deshalb vor allem den unteren Bevölkerungsschichten zugute und führen dadurch zu einer stärkeren
Einkommensgleichheit. Francis Castles ordnet einer Typologie von vier Modellen unterschiedlicher
wohlfahrtsstaatlicher Arrangements jeweils spezifische klassenpolitische Machtkonstellationen zu: Die
konservative oder auch korporative Welt, Länder der nicht-rechten Hegemonie, die Welt des
Liberalismus und die Länder der radikalen Welt. Die Typologie besteht aus zwei Dimensionen: Zum
einen die Anzahl der Jahre, in denen nicht-rechte Parteien Regierungsämter besetzten, zum andern
die Gewerkschaftsdichte.
Tabelle 2: Politische Konfigurationen und Welten der Wohlfahrt
Political configurations and worlds of welfare
Trade
union
density
Non-Right incumbency
Low High
Low
Liberal
Canada (Rad)
France (Con)
Irland
Japan
Switzerland
USA
Conservative
Germany
(West) Italy
Netherlands
High
Radical
Australia
New Zealand
UK
N-RH Belgium
Denmark
Finland (Rad)
Austria (Con)
Norway
Sweden
Quelle: Castles 1993: 123: „Data on Union density 1984 from Brain and Price (1988). Non-Right incumbency
defined as number of years between 1960-84 that the chief executive came from a Christian Democratic,
Democratic Socialist or Centrist Agrarian Party.”
Die dem liberalen Regime zugeordneten Länder zeichneten sich im Verlauf ihrer Geschichte aus
durch eine Schwäche der Arbeiterbewegung und eine Dominanz rechter Parteien. Die dem radikalen
16
16
Regime zugeordneten Länder verfügten dagegen bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert über
eine sehr starke Arbeiterbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand dort weiterhin eine hohe
Gewerkschaftsdichte. Dies betrachtet Castles als Indikator für ein starkes Solidaritätsgefühl innerhalb
der Gesamtbevölkerung, das den Erhalt der existierenden, egalisierenden Wohlfahrtspolitiken
ermöglicht hat. Diese Stärke konnte in den Ländern mit einem radikalen Regime jedoch nicht mehr in
Regierungsbeteiligungen umgesetzt werden, weshalb sie gegenüber den skandinavischen Ländern
bei der Ausdehnung von Wohlfahrtsleistungen eindeutig ins Hintertreffen geraten sind. Die
skandinavischen Länder zeichneten sich in dieser Phase durch eine hohe sozialdemokratische
Regierungsbeteiligung aus. Francis Castles bezieht seine Typologie nicht auf die Frage der
Bereitstellung von Wohlfahrtsdiensten, sondern auf Pensionssysteme (Castles 1993: 114-124).
Es ist jedoch davon auszugehen, dass man aus Castles‘ Kategorie der radikalen Länder Hypothesen
über die Größe der Nonprofit Wohlfahrtsdienste ableiten kann.
Castles fasst die Länder Australien, Neuseeland und Großbritannien unter dem Modell der radikalen
Länder zusammen. Die Sozialstruktur Großbritanniens unterscheidet sich jedoch in einigen, für den
Nonprofit Sektor wichtigen Aspekten stark von jener der beiden Siedlernationen. Deshalb sollen die
von mir aus Castles’ Modell abgeleiteten Hypothesen nur auf Australien und Neuseeland zutreffen.
Leider besteht über den neuseeländischen Nonprofit Sektor noch kein umfassendes Datenmaterial.
Hypothese:
In den radikalen Ländern bevorzugte die Arbeiterklasse einen schlanken Sozialstaat, der auf einem
staatlich regulierten Mindestlohn basierte. Die privaten Nonprofit Dienstleister mussten aufgrund
dieser Präferenz der Arbeiterklasse nicht durch staatliche Institutionen verdrängt werden und konnten
expandieren. In Australien war deshalb die Vorraussetzung für einen stark ausgeprägter Nonprofit
Sektor der sozialen Dienste gegeben.
Francis Castles‘ Theorie kann deshalb mit den Daten des JHCNPSP in Einklang gebracht werden.
Diese Theorie trägt jedoch nicht dazu bei, die Daten bezüglich der Größe des australischen Nonprofit
Dienstleisters besser zu beschreiben, als dies die Theorie der „sozialen Ursprünge“ tut. Aber sie
ermöglicht - wie noch zu zeigen sein wird - eine differenziertere Beschreibung der Machtverhältnisse
zwischen der herrschenden Schicht und der Arbeiterklasse im Verlauf der australischen Geschichte.
Castles‘ Theorie vermag zu erklären, warum in Australien ein starker Nonprofit Sektor entstand,
obwohl es eine starke Arbeiterklasse gab.
3.4. Theoretische Modelle von Stein Rokkan
Stein Rokkan (2000) bietet ein interessantes theoretisches Modell zur Entstehung von sozialen
Spaltungsstrukturen und deren Übersetzung in ein Parteiensystem. Die dadurch entstandenen
Kräfteverhältnisse und Allianzen sind entscheidend für die zentralen Kompromisse, welche die
Entwicklung des Wohlfahrtssystems bestimmen.
17
17
Stein Rokkan beschreibt vier Stadien in der Entwicklung des Nationalstaates. Sie werden begleitet
von revolutionären Phasen, welche mit der Ausbildung von sozialen Spaltungsstrukturen verbunden
sind. Für diese international vergleichende Analyse sind folgende Phasen und Spaltungsvariablen aus
Stein Rokkan’s Modell von Interesse (Rokkan 2000: 367-368):
1) Die Reformation und der Dreißigjährige Krieg: Sie haben zur konfessionellen Spaltung
Europas geführt (Protestanten vs. Katholiken).
2) Die Nationale Revolution: Sie wurde durch die napoleonischen Kriege ausgelöst und hat zu
einer Spaltung zwischen der katholischen Kirche und säkularen Nationenbildnern geführt
(Staat vs. Kirche).
3) Die Industrielle Revolution: Sie hat zu Konflikten zwischen ländlichen und städtisch-
industriellen Interessen geführt (Land vs. Stadt).
Außerdem führte sie zu einer Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten auf der einen
Seite sowie Unternehmern und Besitzern auf der anderen Seite (Arbeit vs. Besitz).
Die Reformation war ein Prozess, der im britischen Mutterland schon vor der Gründung der
australischen Kolonien abgeschlossen war. Die daraus entstandene Spaltung in eine irisch-
katholische Minderheit und eine englisch-protestantische Mehrheit wurde in die australischen Kolonien
exportiert. Die industrielle Revolution war zu diesem Zeitpunkt in England schon fortgeschritten, wurde
jedoch auf einem anderen Niveau in den Kolonien weitergeführt. Die nationale Revolution dagegen
befand sich erst in der Entstehungsphase. Spaltungen konnten also noch nicht exportiert werden.
Bei der Übersetzung von Spaltungsstrukturen in Parteiensysteme spielen zwei Faktoren eine
entscheidende Rolle: Einerseits der Prozess der demokratischen Massenmobilisierung, andererseits
die Opportunitätsstrukturen, die sich zusammensetzen aus Gewinnen und Kosten von Fusionen,
Allianzen und Koalitionen. Die Interpretation geht davon aus, dass die typischen Allianzen und
Oppositionen, die durch die Reformation und Gegenreformation entstanden sind, wiederum die
Allianzen und Oppositionen während der nationalen Revolution nach 1789 beeinflussten. Diese
prägten wiederum die Spaltungsstrukturen, die sich im 20. Jahrhundert durch die industrielle
Revolution herausbildeten (Flora in Rokkan 2000: 62-65).
Stein Rokkan geht davon aus, dass die entscheidenden Unterschiede zwischen den europäischen
Parteiensystemen zentrale Bündnisse und Oppositionen widerspiegeln, die nationenbildende Eliten in
einem bestimmten Zeitfenster wählen müssen. Bei diesem Zeitfenster handelt es sich um die
Frühphase der kompetetiven Politik und die Endphase der demokratischen Massenmobilisierung, also
um einen Zeitpunkt, der noch vor dem Eintritt der Arbeiterparteien in den politischen Wettbewerb liegt.
Arbeiterparteien bildeten sich aber in allen westeuropäischen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg. Die
damit neu entstandene Spaltung zwischen Arbeit und Besitz hatte die Folge, dass sich die
europäischen Parteiensysteme wieder stärker ähnelten. Zugleich wirkten sich die älteren
Spaltungsstrukturen weiter auf die Struktur der Arbeiterparteien aus. So kam es in den konfessionell
gespaltenen Ländern Europas meist auch zu einer religiösen Spaltung der Arbeiterbewegung (Rokkan
2000: 376-377).
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C Gesellschaft
1 Geschichtlicher Überblick
Im Jahr 1788 legten an der Ostküste Australiens in der Nähe des heutigen Sydney die ersten elf
Schiffe der britischen Krone an, gefüllt mit Sträflingen und dem dazugehörigen Wach- und
Verwaltungspersonal. Das Empire gründete dort eine neue Kolonie, New South Wales, ohne
Rücksicht auf die Interessen der Ureinwohner des Kontinents, die Aborigines. Nicht nur die Sträflinge,
sondern auch die freien Immigranten, die bald in den entlegenen Erdteil kamen, entstammten meist
der Pauperklasse der britischen Großstädte. Um überhaupt freie Siedler für diesen entlegenen Erdteil
zu mobilisieren, subventionierte die britische Regierung die Überfahrt. In den 1830er und 1840er
Jahren nahm die Zahl der freien Siedler stark zu. Die Zahl der Kolonien wurde laufend erweitert. 1876
standen den Siedlern neben New South Wales (NSW), von dem sich im Lauf der Jahrzehnte die
Kolonien Victoria und Queensland abgespaltet hatten, die Kolonien West-Australien, Tasmanien und
Süd-Australien offen. Jede dieser Kolonien wurde von einem der englischen Krone verantwortlichen
Gouverneur verwaltet. Die Entwicklung des australischen Gesellschafts- und Wohlfahrtssystems
verlief nicht in allen Kolonien gleich. In dieser Analyse sollen vor allem die Kolonien NSW und Victoria
vorgestellt werden, denn beide waren politisch, wirtschaftlich und kulturell mit Abstand die wichtigsten
für die Entwicklung des Landes. Im Jahr 1868 lief der letzte Sträflingstransport in einer australischen
Kolonie ein (Spillman 1997: 26). Über 168 000 Gefangene hat das Land im Lauf der Jahre
aufgenommen.
Das dirigistische Sträflingssystem begann sich mehr und mehr in einen freien
Unternehmerkapitalismus zu verwandeln. In den 1830er Jahren kam es zu einem Boom in der
Wollindustrie und somit zu einer starken Expansion der Wollexporte nach England. Die entscheidende
ökonomische Veränderung kam jedoch in den 1850er Jahren mit dem Einsetzen des Goldrausches in
NSW und Victoria. Das Gold brachte nicht nur großen Reichtum, sondern auch neue Immigranten in
die Kolonien. Es entstand eine selbstbewusste Mittelschicht. Australien wurde schon in dieser Periode
zu einer der urbanisiertesten und industrialisiertesten Gesellschaften der Welt (Buckley 1988).
Im Jahr 1850 erhielten die Kolonien mit dem „Australian Colonies Government Act“ die Erlaubnis zur
Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten und so mehr Unabhängigkeit vom Mutterland (McMinn 1994:
54). Damit war auch die Einrichtung demokratischer Organisationen verbunden. Schon 1860 gab es in
den australischen Kolonien – mit Ausnahme von Tasmanien und West-Australien – das Wahlrecht für
Männer, lange bevor die britische Arbeiterklasse in den Genuss dieses demokratischen Rechtes kam.
Trotz der in England vorherrschenden Doktrin des Laisser-faire machten die Bedingungen der
Pionierkolonie staatliches Eingreifen in die Wirtschaft weiterhin notwendig. Das Mutterland investierte
besonders nach dem Goldrausch von 1850 massiv in die Infrastruktur des Landes, wie zum Beispiel in
Hafenanlagen, Eisenbahnbau, Straßenbau. Auch versorgte es australische Unternehmer mit
Arbeitskräften und mit günstigen Krediten, die es vom britischen Kapitalmarkt erhielt. Generell wurde
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der Staat als nützliches Instrument gesehen zur Bereitstellung von öffentlichen Gütern und später
auch zur Milderung von Klassenkonflikten.
Der Wirtschaftsboom, der dem Goldrausch folgte, hielt bis 1890 an. Vor allem die Woll- und
Bauindustrie brachte große Gewinne. In dieser Zeit verfestigte sich der Mythos vom „Workers
Paradise“ (Buckley 1988).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Australien zu den Ländern mit dem höchsten Pro-
Kopf-Einkommen der Welt. Im Jahre 1870 war es um 73% höher als in den USA und damit fast
dreimal so hoch wie in Deutschland. Während des Ersten Weltkriegs gab Australien seine
Führungsrolle an die USA ab, das Einkommen stagnierte nun auf relativ hohem Niveau (Jones 1990:
10). Zwischen 1870 und 1890 kam es zu einem dramatischen Bevölkerungszuwachs. Er konzentrierte
sich vor allem auf die Kolonien NSW und Victoria.
In den späten 1880er und frühen 1890er Jahren setzte in den australischen Kolonien eine Depression
ein, welche die Phase des großen Wachstums beenden sollte. Die Folge war ein massives Ansteigen
der Arbeitslosigkeit und das Abfallen der Löhne.
Die Depression der 1890er Jahre war begleitet von schweren Streiks. In NSW kam es 1890 zum
Streik der Hafenarbeiter. Ein Streik der Gewerkschaft der Schafscherer in Queensland endete nach
einer Konfrontation mit dem Militär und der Polizei fast in einem Blutbad. Beinahe die gesamte
Führung der beteiligten Gewerkschaften wurde zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die schwere Niederlage
bei den Streiks führte in der Arbeiterbewegung zu einem Strategiewechsel. Von den bisherigen
kleineren Einzelstreiks ging man zu größeren, koordinierten Aktionen über, welche durch die
Gründung größerer Verbände möglich waren.
Doch die zunehmende Radikalisierung der Streiks der 1890er Jahre erfüllte gemäßigte Kräfte im
liberalen Lager mit Besorgnis. Es handelte sich dabei um jene Kräfte, die zu dieser Zeit eine föderale
Verfassung ausarbeiteten. Sie waren gewillt, einen Kompromiss mit der Arbeiterbewegung zu finden,
um den sozialen Frieden zu bewahren (Buckley 1988).
1894 entstand die erste, mehrere Kolonien umfassende Australian Workers Union (AWU). Sie ist
heute die größte Gewerkschaft Australiens. Aus den Gewerkschaften heraus bildeten sich in den
einzelnen Kolonien die ersten Labour Parteien. Damit verbunden war auch das Entstehen von straff
organisierten Parteien der Rechten. Zuvor hatte es so gut wie keine Parteidisziplin in den Parlamenten
gegeben. Im Jahr 1901, nach zehnjährigem politischem Ringen, vereinigten sich die sechs Kolonien
unter einer gemeinsamen Regierung. Australien wurde eine Nation, behielt aber viele rechtliche und
kulturelle Bindungen an das Mutterland. Seit dem Zusammenschluss der einzelnen Kolonien unter der
Commonwealth-Regierung begann die Australian Labour Party (ALP) auf föderaler Ebene zu
operieren. Die politische Rechte blieb bis 1910 in Protektionisten und Anhänger des Freien Handels,
die sog. Free Trader, gespalten.
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Die misslungenen Streiks waren zwar eine Niederlage für die Arbeiterbewegung, andererseits aber
erwuchs aus dieser Niederlage ein neuer Mythos, der - zusammen mit den Folgen der Depression -
das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft stärkte. In den 1890er Jahren wurden so immer mehr
Angehörige der Labour Parteien in die Parlamente gewählt. Die Arbeiterbewegung stellte am Ende
des 19. Jahrhunderts eine mächtige Kraft dar, ohne deren Unterstützung die Geschicke der neuen
Föderation nicht zu lenken gewesen wären. Als im Jahre 1910 die ALP als erste sozialdemokratische
Mehrheitsregierung der Welt antrat, gelang es auch der politischen Rechten, ihre Spaltung
überwinden: Protektionisten und Free Trader vereinigten sich in der Liberal Party. Damit waren die
grundlegenden politischen Machtkonstellationen festgelegt. Sie bestimmen im Großen und Ganzen
bis heute das Parteiensystem Australiens.
2 Spaltungsstrukturen und ihre Übertragung
2.1 Spaltungsstrukturen
Die Spaltungsstrukturen, wie sie zuvor in Stein Rokkan Theorie genannt wurden, werden nun für den
australischen Fall analysiert.
1) Spaltung: Ethnie und Religion
Die erste Ethnie, die sich in Australien ansiedelte, waren die australischen Aborigines. Sie gehörten
jedoch nach dem Verständnis der weißen Siedler nicht zur ihrer Gesellschaft. Die Dezimierung der
Aborigines war ein erklärtes Ziel der australischen Pioniere und wurde damit zum traurigsten Kapitel
der Geschichte des Landes.
Innerhalb der „weißen Gesellschaft“ der frühen australischen Pionierzeit gab es im Wesentlichen drei
ethnische Gruppen: Engländer, Schotten, Iren. Diese Zusammensetzung blieb im Großen und
Ganzen bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten. Diese Ethnien standen jeweils mit einer bestimmten
Konfession in Verbindung. Die Engländer waren meist Anhänger der Church of England, Schotten
gehörten meistens der presbyterianischen Kirche an, einer evangelischen Glaubensrichtung, die Iren
waren größtenteils römisch-katholisch. Der australische Zensus von 1851 vermerkt einen Anteil von
30 % Katholiken, 10% Presbyterianern, 39,9% Anglikanern und sonstige (Ward 1966: 47). Die Daten
deuten darauf hin, dass es in Australien einen disproportional höheren Anteil an römisch-katholischen
Iren als auf den britischen Inseln gegeben hat. Diese ethno-religiösen Gruppen können zugleich
unterschiedlichen sozialen Schichten zugeordnet werden.
Den größten Anteil machten die englischen Anhänger der Church of England aus. Sie waren nicht nur
unter den Sträflingen vertreten, sondern bildeten auch das koloniale Establishment der Mittel- und
Oberklasse: Angehörige des Militärs und der Kolonialverwaltung. Sie repräsentierten im eigentlichen
Sinn diese Glaubensrichtung, denn es gab - anders als in England - in den Kolonien keine offizielle
Staatskirche. New South Wales wurde ein säkularer Außenposten des Empires. Trotzdem blieb in der
Frühzeit der Kolonie noch viel erhalten vom Ideal des Zusammenwirkens von Staat und Kirche (Carey
1996: 3).
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Die Iren stellten unter den Sträflingen und den staatlich subventionierten Immigranten einen höheren
Anteil dar als in der Zusammensetzung der Ethnien im Mutterland. Bald bildeten sie einen Großteil der
australischen Arbeiterklasse. Die katholische Kirche sollte deshalb im späten 19. Jahrhundert einen
besonderen Einfluss auf die neu entstandene Labour Partei haben.
Die irische Minderheit hatte außerdem großen Einfluss auf die Entwicklung des frühen australischen
Nationalgefühls in der Arbeiterklasse. Die Lebensbedingungen in Australien waren um so vieles
besser als in der irischen Heimat, dass die Armen aus Irland selbst im Sträflingssystem das Gefühl der
ökonomischen Sicherheit sehr bewusst genossen. So kam es, dass die Iren das Land schon früh als
ihre Heimat empfunden haben. Von größerer Bedeutung für die Entwicklung eines Nationalgefühls
aber war der Hass der Iren auf den britischen Imperialismus. Sie wurden deshalb zum harten Kern der
Verfechter des australischen Nationalismus, der sich durch Disloyalität gegenüber Großbritannien
auszeichnete. Der protestantische Teil der Gesellschaft, vor allem die kleine Mittel- und Oberschicht,
fühlte sich dagegen stärker an das britische Mutterland gebunden.
Ansonsten waren in Australien Gruppierungen vertreten, welche dem puritanischen Glauben nahe
standen. Sie zeichneten sich durch die hohe Wertschätzung von Fleiß und Sparsamkeit aus. Diese
Gruppen gehörten vor allem der Mittelklasse an. Sie hatten einen höheren Bildungsstandard, und
viele ihrer Angehörigen brachten es zu großem Wohlstand. Sträflinge waren kaum in dieser Schicht
vertreten. Die größte Ethnie unter den Immigranten stellten die Schotten der presbyterianischen
Glaubensrichtung dar (Ward 1978a: 67-80). Eine weitere wichtige Gruppe waren die Evangelikalen.
Da in Australien keine Staatskirche existierte, blieb diesen leidenschaftlichen Verfechtern eines
reformierten Protestantismus ein weites Betätigungsfeld. Zu den wichtigsten Denominationen der
Evangelikalen zählten Quäker, Methodisten, Congregationalisten und Baptisten. Die Evangelikalen
waren numerisch eine sehr kleine Gruppe, aber sie agierten ambitionierter und sichtbarer als die
meisten anderen christlichen Gemeinschaften und erreichten deshalb einen Einfluss auf das
gesellschaftliche und religiöse Leben der Kolonie, der weit über ihre numerische Stärke hinausging
(Carey 1996: 10-19). Dieser Einfluss zeigte sich besonders bei der Etablierung von sozialen Nonprofit
Diensten.
Gary Bouma (1988) bemerkt, dass in Australien eine pragmatische „Militär-Kaplans-Religion“
vorherrschte. Die Mittelklasse der frühen Jahre war dominiert von Militärpersonal sowie
Großgrundbesitzern und –pächtern. Sie sahen Religion als etwas, das „für dich von einem Fachmann
erledigt wird“. Diese Art des religiösen Lebens war weit entfernt vom Puritanismus, der die USA
geprägt hat. Die Rolle der Religion in Australien darf aber nicht unterschätzt werden.
Seit den 1860er Jahren entbrannte auch in Australien ein Kulturkampf. Er wurde bis in die 1920er
Jahre zu einem wichtigen Merkmal der Politik. Zur konfessionellen Spaltung kam die Spaltung
zwischen säkularen Nationenbildern und der Kirche: Da das liberale Bürgertum seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts den Konfessionenstreit als schädlich für den nationalen Zusammenhalt verurteilte,
musste es zu Konflikten kommen, die schließlich im Streit um konfessionell oder staatlich-simultan
geführte Schulen eskalierten. Während der 1860er Jahren sollte die Schulpflicht eingeführt werden.
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Die staatlichen Schulen sollten nach dem Vorbild der irischen Nationalschulen den gemeinsamen
Glauben aller christlichen Konfessionen lehren. Papst Pius IX bestand jedoch darauf, dass katholische
Kinder in katholischen Schulen erzogen würden. So wandelte sich die ursprüngliche Unterstützung
der australischen Katholiken für die Nationalschulen in einen Widerstand gegen sie. Dies wiederum
stärkte den Willen der Liberalen, die Kinder in staatlichen Schulen zu erziehen. Die staatlichen
Subventionen für konfessionelle Schulen wurden gestrichen. Nun unterhielt nur noch die katholische
Kirche ein eigenes Schulsystem und verlangte die Wiedereinführung der staatlichen Hilfe. Der
Konfessionskonflikt in Australien wurde von 1860 an überdies durch die revolutionären Ereignisse in
Irland geschürt. Er nahm erst an Intensität ab, nachdem der Großteil Irlands im Jahre 1922 seine
Unabhängigkeit erreicht hatte.
Staatliche Finanzierung von kirchlichen Schulen wurden in den 1960er Jahren wieder eingeführt
(Lyons 1998: 583). Heute gehen ca. 60% aller australischen Schulkinder in kirchliche Schulen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die ethnische Heterogenität Australiens stark zugenommen. Zunächst
kamen viele italienische und osteuropäische Einwanderer ins Land, weshalb die Mehrheit der
Australier heute katholisch ist. Seit den 1970er Jahren sind viele Asiaten eingewandert. Durch sie
entstand eine buddhistische Minderheit. Auch verschiedene muslimische Gruppen aus dem Mittleren
Osten - vor allem Libanesen - siedelten sich seither in Australien an. All diese Gruppierungen haben
eine Vielzahl an Nonprofit Wohlfahrtsorganisationen gegründet (Lyons 2001: 103).
2) Spaltung: Land und Stadt
In den frühen Jahren der Kolonie sah man die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, in der
Landwirtschaft. Es bestand ein großes Angebot an Land, das sich in der Hand wohlhabender
Großgrundbesitzer oder -pächter befand, doch herrschte ein ständiger Mangel an abhängigen
Landarbeitern. Eine Aufteilung des Weidelandes in kleine Parzellen für selbstständige Kleinbauern
kam für die wohlhabenden Landbesitzer nicht in Frage, da sie auf diese Weise ihre Arbeitskräfte
verloren hätten. Verpachtet wurde Kronland nur an Bewerber mit viel Grundkapital, was den meisten
Siedlern nicht zur Verfügung stand.
Freie Siedler wurden in bedeutender Anzahl erst ab den 1830er Jahren angesiedelt. Private
Arbeitgeber bekamen zunächst Sträflinge zugeteilt, so dass in New South Wales bis etwa 1840
praktisch jeder Arbeitgeber auch Gefängniswärter war. In diesen Betrieben wurde in der Regel kaum
ein Unterschied gemacht zwischen Sträflingen und freien Immigranten. Beide Gruppen waren brutalen
Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt (Ward 1978a: 37, 60). Durch den hohen Arbeitskräftemangel
in der Kolonie hatten die Arbeiter aber auch ein Druckmittel in der Hand. Bereits in der Sträflingszeit
war das so genannte „go slow“, also die Arbeitsverweigerung, ein beliebtes Mittel, um bessere
Arbeitsbedingungen zu erzwingen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern war damals
also sehr ambivalent (Buckley 1988).
Der Wohlstand Australiens wurde durch den Export von Rohstoffen erwirtschaftet: Produkte aus der
Schaf- und Rinderzucht sowie aus dem Bergbau. Paradoxer Weise entstanden aber die meisten
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Arbeitsplätze in der Industrie. Die anfangs vor allem landwirtschaftlich geprägte Sträflingskolonie
gehörte schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu den höchst industrialisierten Ländern der Welt. Im
Gegensatz zum Ackerbau schuf die Schaf- und Rinderzucht nur relativ wenige Arbeitsplätze auf dem
Land. Die meisten Arbeitsplätze entstanden in den Städten, wo die Wolle behandelt und verschifft
wurde. Im Wollboom der 1830er Jahre erlebte zudem die Baubranche einen Aufschwung und damit
das Handwerk. Die meisten neu ankommenden, freien Immigranten blieben deshalb in den Städten.
Doch schon in den 1850er Jahren begann die Macht der Großgrundbesitzer und -pächter zu bröckeln.
In Australien fehlte das feudale System des Mutterlandes. Diese Gesellschaftsschichten waren nie
von landbesitzender Aristokratie geprägt wie in Großbritannien. Sie erhielten nie eine geachtete
Position, etwa als Pioniere der Frontier, da sie vor allem bestrebt waren, genügend Geld anzuhäufen,
um reich in die alte Heimat zurückzukehren. Die politische Rolle dieser Landbesitzer und -pächter in
den konservativen Oberhäusern der einzelnen Kolonialstaaten war vor allem blockierend und negativ.
Sie stellten keine politisch dynamische Klasse dar. Darum hielt die Mehrheit der Bevölkerung politisch
und kulturell Distanz zu ihnen.
Buckley macht klar, dass die führende Kraft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kaufleute
waren. Sie dominierten die bürgerlichen Klassen Australiens auch aufgrund der zunehmenden
Bedeutung des Import-Export-Handels. Das soziale Prestige des Kaufmanns hob ihn von der Masse
der Gesellschaft deutlich ab, und so waren die Kaufleute sehr darauf bedacht, Statusunterschiede
aufrecht zu erhalten. Diese Gruppierungen prägten das liberale Bürgertum, das beispielsweise für die
Einführung eines säkularen Staatsschulsystems sorgte (Buckley 1988: 108-112). Die Fabrikanten,
meist Besitzer kleiner Unternehmen, standen in ihrem Status unter den Kaufleuten. Ihnen wurde
nachgesagt, sie würden nur minderwertige Produkte herstellen.
3) Spaltung: Arbeit und Besitz:
Die herrschende Schicht der frühen Kolonialzeit Australiens war zusammengesetzt aus schlecht
bezahlten Kolonialbeamten und Offizieren des Wachpersonals. Sie kontrollierten die gesamte
Staatsmaschinerie aus Militär, Verwaltung sowie Justiz und verfügten über die entscheidenden
Schlüsselpositionen, um sich mit Handelsmonopolen, Land und Sträflingen zu versorgen Buckley
betont den sozialen Ursprung dieser Klasse in der unteren Mittelschicht. Angehörige der englischen
Oberschicht waren zu dieser Zeit kaum gewillt, unter den harten Bedingungen der Kolonie zu leben.
(Buckley 1988: 35-36).
Mit dem Goldrausch der 1850er Jahre entwickelte sich eine starke vertikale Mobilität in der
australischen Gesellschaft. Leute mit geringem Kapital konnten schnell zu großem Reichtum gelangen
und versuchten dann, den noblen Lebensstil der englischen Aristokratie zu imitieren (Ward 1978a: 62-
65, Erstausgabe 1958). Die niedrige soziale Abstammung der herrschenden Klasse stellt einen
wichtigen Faktor dar beim später massiv einsetzenden Klassenkampf zwischen Unter- Mittel- und
Oberschicht (Rosecrance 1964, Ward 1978a, Buckley 1988).
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Im Ausland wurde Australien nicht aufgrund eines stolzen Bürgertums bekannt, sondern wegen der
selbstbewussten und zahlenmäßig starken Arbeiterschaft (Tampke 1979). Wie bereits beschrieben,
war Australien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eines der am stärksten industrialisierten und
urbanisierten Länder der Welt. Zugleich waren die Kolonien durch die Goldfunde und den Boom in der
Wollindustrie sehr wohlhabend. Die Arbeiterschaft hatte aufgrund des vorherrschenden
Arbeitskräftemangels eine besonders starke Verhandlungsposition. Deshalb wurde dieser Wohlstand
auch relativ gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt.
Die starke Verhandlungsposition der Arbeiterbewegung war aber auch eine Folge der besonderen
Pioniersituation. Die Landarbeiter im Outback, die so genannten Bushworker, zeichneten sich durch
ihren außergewöhnlichen Gruppenzusammenhalt und ihre Radikalität aus. Sie wurden dadurch zum
harten Kern der entstehenden Gewerkschaftsbewegung. Deren Führung wiederum war kaum von der
Labour-Partei zu trennen, die seit dem Jahr 1901 föderal, also bundesweit operierte.
Laut Buckley waren die eigentlich dynamischen Kräfte der australischen Arbeiterschaft in der urbanen
Industriearbeiterschaft, vor allem bei den Handwerkern, und in Teilen der Bergarbeiterschaft zu
suchen. Zwischen 1860 und 1890 gab es ein besonders starkes Wachstum des sekundären Sektors.
Im Jahre 1891 waren ungefähr 17% der werktätigen Bevölkerung Australiens in der Fabrikation
beschäftigt, 14% befanden sich im Baugewerbe. Zusammen bildete dieser Teil der Arbeiterschaft eine
wesentlich größere Gruppe als jene 24%, die in der Landwirtschaft und der Schafzucht beschäftigt
waren.
Die australische Industrie war damals nicht besonders hoch entwickelt. Die durchschnittliche Anzahl
der Beschäftigten in den Betrieben lag unter 20. Nimmt man die Anzahl der Arbeiter, die im
sekundären Sektor beschäftigt sind, als Indikator für die Industrialisierung eines Lands, so war
Australien schon früh hoch industrialisiert. Trotzdem fehlte noch in den 1890er Jahren eine entwickelte
Großindustrie mit Massenproduktionsweise, wie sie in Europa vorhanden war.
Castles glaubt, dass diese auf kleinen Handwerksbetrieben basierende Industrie neben der föderalen
Struktur Australiens dafür verantwortlich ist, dass sich einerseits eine zunächst sehr fragmentierte -
wenn auch zahlenmäßig starke - Gewerkschaftsbewegung, andererseits aber auch eine wenig
zentralisierte Arbeitgebervertretung ergeben hat. Aus diesem Grund konnte sich kein korporatives
Modell der Lohnverhandlungen wie in den kleinen Staaten Europas entwickeln (Castles 1988: 122).
Trotz dieser starken Fragmentierung und der Rückschläge durch den Streik der Hafenarbeiter war
Australien an der Wende zum 20. Jahrhundert das Land mit der höchsten Gewerkschaftsdichte der
Welt (Castles 1988: 122).
2.2 Übertragung der Spaltungsstrukturen
Es ist anzunehmen, dass jenes Zeitfenster, das Stein Rokkan für entscheidend in der Ausprägung der
wichtigsten Strukturen des europäischen Parteiensystems hält, im australischen Fall die Phase
zwischen der Ausdehnung des Wahlrechts auf die Arbeiterschaft in den 1860er Jahren und der
Gründung der Labour Parteien in den unterschiedlichen Kolonialstaaten in den 1890er Jahren
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beschreibt. Stein Rokkan fertigte ein Modell alternativer Allianzen und Oppositionen an, welches die
Entscheidungsoptionen von nationalen Eliten in den Phasen der Reformation, der nationalen
Revolution nach 1789 und der Frühphase der industriellen Revolution darstellt (Rokkan 2000: 378-
385).
Die nationalen Eliten Australiens trafen ähnliche Entscheidungen wie sie Stein Rokkan in seinem
Modell für die Niederlande beschreibt:
Beide Länder sind konfessionell gespalten. In den Niederlanden wie auch in Australien gibt es eine
protestantische Führungsschicht und eine starke katholische Minderheit in Opposition. Beide Länder
waren relativ früh urbanisiert und industrialisiert, weshalb in Australien wie auch in den Niederlanden
die Nationenbildner Koalitionen mit städtischen Interessen des Handels und der Industrie, nicht aber
mit ländlichen Interessen bildeten. Dies hat wichtige Konsequenzen für die Staat-Kirche-Beziehung:
In beiden Ländern war das städtische Bürgertum säkular-liberal, die ländlichen Interessen waren eher
konservativ geprägt. Aufgrund dieser Allianz der Nationenbildner mit den städtischen Interessen hat
sich in beiden Ländern eine dominante säkulare Elite herausgebildet.
In den Niederlanden führten diese Allianzbildungen zu einer Versäulung der Gesellschaft in drei
ideologische bzw. religiöse Lager: Das national-liberal-säkulare Lager, das orthodox-protestantische
Lager, das römisch-katholische Lager. Diese Versäulung drückte sich in den Niederlanden auf zwei
Ebenen aus: Erstens auf der korporativen Ebene, also durch die Schaffung von getrennten Nonprofit
Organisationen für jedes Lager. Zweitens auf der Ebene von demokratischen Wahlen, also durch das
Entstehen von getrennten politischen Parteien.
Es ist faszinierend zu sehen, dass sich solch eine dreiteilige Versäulung auch in der Struktur der
sozialen Dienste des australischen Nonprofit Sektors widerspiegelt. So entstanden neben den
Wohlfahrtsorganisationen der säkular-liberalen Eliten des Bürgertums auch die eher
klassenübergreifenden Organisationen der orthodoxen Protestanten und die der Katholiken. Diese
Dreiteilung wird für die Analyse des Nonproftit Sektors noch von großer Bedeutung sein. Anders als in
den Niederlanden wurde jedoch in Australien diese Aufteilung der Nonprofit Organisationen nie auf
das Parteiensystem übertragen. Die entscheidende Teilung im australischen Parteiensystem vor der
vollständigen Wählermobilisierung der Arbeiterschaft bestand zwischen Protektionisten und Free-
Tradern, danach zwischen Liberalen und der Labour Partei. Man kann also argumentieren, dass Stein
Rokkans Modellierung im Falle Australien nur auf der Ebene der korporativen Organisationen relevant
ist, denn anders als in Holland konnten diese Organisationen ihre Klientel nicht für Wahlen
mobilisieren.
Es ist davon auszugehen, dass der besondere Charakter des australischen Nationalismus als der
entscheidende Faktor für das Fehlen einer konfessionellen Spaltung im Parteiensystem gelten kann.
Wie später noch näher erläutern wird, war der Nationalismus der nationenbildenden Elite kein
australischer, sondern ein britisch-imperialer. Ein speziell australischer Nationalismus war dagegen
mehr in der Arbeiterklasse verbreitet. In dieser Bewegung wurde die irisch-katholische Minderheit mit
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ihrer anti-imperialen Haltung zum harten Kern. Diese Haltung vertraten auch viele protestantische
Mitglieder der Gewerkschaft und der Labour Partei. Die Katholiken bildeten deshalb keine von der
protestantischen Arbeiterschaft getrennte Gruppe.
Um nun die entscheidenden Allianzen beim zentralen Klassenkompromiss in der australischen
Geschichte zu beschreiben, muss das Zeitfenster um einige Jahre in Richtung Gegenwart verschoben
werden. Laut Castles kann ein solcher Kompromiss nur dann getroffen werden, wenn die Klasse, der
Konzessionen gemacht werden, vollständig mobilisiert ist (Castles 1988: 126). Australien war um die
Wende zum 20. Jahrhundert auf dem Pfad der Demokratisierung schon weiter fortgeschritten als die
kleineren europäischen Staaten. Deshalb kam der australische Kompromiss eine Generation früher
zustande. Bereits ab Mitte der 1850er Jahre wurde in verschiedenen australischen Kolonien das
Wahlrecht für Männer eingeführt. 1903 wurde auf föderaler Ebene das universelle, freie und gleiche
Wahlrecht eingeführt. Laut Castles war Australien damit die erste repräsentative Demokratie im
modernen Sinne (Castles 1988: 119). Als die Labour Partei 1910 ihre erste Mehrheitsregierung antrat,
sah sie sich einer vereinten liberalen Partei aus Protektionisten und Free-Tradern gegenüber. Die
Phase der politischen Mobilisierung war vorbei, und die politischen Orientierungen wurden eingefroren
in ein Beziehungsmuster, welches das australische Parteiensystem noch lange Zeit prägen sollte.
In Australien war das wichtigste politische Thema dieser Zeit die Protektion. Das in den oben
genannten Spaltungsstrukturen beschriebene Kräfteverhältnis der Akteure spiegelt sich im
Kompromiss der so genannten „New Portection“:
Die Labour Partei unterstützte die Arbeitgeber bei ihrer Forderung nach einer Einführung von
Schutzzöllen für die kleinen Industrie- und Handwerksbetriebe. Im Gegenzug unterstützten die
Liberalen nun die Arbeiterbewegung bei ihrer Forderung nach staatlichen Schieds- und
Schlichtungsgerichten für Lohnstreitigkeiten und nach hoch angesetzten Mindestlöhnen.
In Australien bestand eine starke Arbeiterbewegung, die – wie gesagt - nicht durch ethno-religiöse
Trennlinien zersplittert war, und die aufgrund des Arbeitskräftemangels eine starke
Verhandlungsposition besaß. Die Rechte war dagegen über die Frage der Schutzzölle tief gespalten.
Auf der einen Seite standen die kleinen, industriellen Unternehmer und die kleinen Kaufleute, welche
eine protektionistischen Politik befürworteten, auf der anderen Seite standen die Befürworter des
Free-Trade, in erster Linie die Großgrundbesitzer und einige Großkaufleute. Die nationenbildende
Elite war zu dieser Zeit geprägt durch die städtischen Interessen des Protektionismus. Sie überwogen
zahlenmäßig stark die Interessen der Free-Trader (Castles 1988: 111-118).
Eine weitere, bedeutende Bewegung war der Populismus, der am Ende des 19.Jahrhunderts von der
australischen Labour Partei forciert wurde. Er bot nicht nur der eigenen Klientel, sondern auch einem
Teil der oben genannten Rechten, nämlich den Kleinkaufleuten und -unternehmern, ein wichtiges
politisches Ziel. Dahinter stand der Traum des kleinen Mannes, als Farmer, Ladenbesitzer,
Bergarbeiter oder kleiner Fabrikant Unabhängigkeit und wirtschaftliche Sicherheit zu erreichen. Der
Populismus in der ALP ermöglichte überdies eine Allianz mit ländlichen Akteuren. So waren
Kleinbauern wichtige Anhänger dieser Bewegung. Die Gewerkschaft der Schafscherer in NSW
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startete in den 1890er Jahren eine Kampagne zugunsten des Verkaufs von kleineren Landparzellen
an Kleinbauern. 1910 führte die ALP eine Agrarreform durch, ebenfalls mit dem Ziel, großen
Landbesitz aufzubrechen.
Überdies ermöglichte auch der Populismus eine Übereinkunft zwischen der Labour Partei und dem
Unternehmertum hinsichtlich der „New Protection“. Durch das geringe Ansehen der Kleinunternehmer
in Australien waren diese stärker auf die Unterstützung ihrer Arbeiter angewiesen, als dies in der
europäischen Großindustrie der Fall gewesen wäre. Der gemeinsame Feind wurde in der
herrschenden Elite gesehen. Sie galt als parasitär und als eigentliches Hindernis des Fortschritts.
Sozialistische Ideen wurden dagegen in der australischen Arbeiterbewegung nie dominant. Der
theorielastige Marxismus Europas war den australischen Arbeitern, die durch praktische
Anforderungen der Pionierszeit geprägt waren, fremd geblieben. Sie waren dagegen stark vom
Radikalismus der britischen Labour-Bewegung beeinflusst. Durch das hohe Pro-Kopf-Einkommen vor
der Wirtschaftskrise in den 1890er Jahren bestand auch kein Anreiz, das kapitalistische System zu
stürzen. Stattdessen wollte die Arbeiterbewegung innerhalb des bestehenden Systems Konzessionen
von den Arbeitgebern erwirken.
Anders als das Modell von Stein Rokkan erwarten lässt, ergab sich in Australien keine Versäulung
des Parteiensystems. Stattdessen haben pragmatische Überlegungen parteiübergreifende
Kompromisse hervorgebracht, aber auch eine vitale Linie des australischen Nationalismus.
3 Der australische Nationalismus
3.1 Die nationale Mythologie Australiens
Russel Ward (1978a) beschreibt in seinem Buch „The Australian Legend“ die Entstehung des
zentralen nationalen Mythos und die Werte des prototypischen Australiers, die in der Legende vom
Bushworker des Outbacks zum Ausdruck kommen. Dieser Mythos hat seinen Ursprung in der frühen
Sträflings- und Pionierzeit der Kolonie.
In den Weiten des Landesinnern waren alle aufeinander angewiesen und entwickelten so einen
starken Zusammenhalt. Das Leben dort zeichnete sich auch durch ein besonderes Gefühl der Freiheit
aus. Polizei, Militär und Verwaltung waren oft hunderte von Meilen entfernt. Die Bushworker (freie
Siedler und Sträflinge) hegten nicht nur Abneigung gegenüber den Großpächtern, sondern auch
gegenüber der Polizei und allen anderen staatlichen Institutionen.
Das Ethos der Bushworker war geprägt durch Egalitarismus: In der Wildnis waren alle Menschen
gleich. Status, Herkunft und gute Manieren spielten keine Rolle, nur praktische Fähigkeiten waren von
Bedeutung. Das Gefühl der Unabhängigkeit wurde verstärkt durch den beständigen
Arbeitskräftemangel im Outback, eine Tatsache, die den Bushworkern einen relativ sicheren
Arbeitsplatz garantierte (Ward 1978a: 98). Die Bushworker zeichneten sich überdies durch die
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28
Verachtung intellektueller und religiöser Werte aus. Dieser Pragmatismus äußerte sich in völliger
Gleichgültigkeit gegenüber der theoretisch geprägten, sozialistischen Doktrin (Ward 1978a: 174-175).
Laut Russel Ward bildeten die Bushworker, die erste Gruppe, in der sich allmählich ein australisches
Nationalgefühl herauskristallisierte. In dieser Gruppe befand sich ein hoher Anteil an irischen
Katholiken. Die irische Kultur, vor allem aber der Hass auf das britische Establishment, hatte großen
Einfluss auf das Bushworker-Ethos.
Die australische Mittel- und Oberschicht behielt immer Kontakt mit der Heimat in Großbritannien und
legte Wert darauf, das Leben nach den Vorgaben der britischen Kultur einzurichten. Die meisten
Mitglieder dieser Schicht beabsichtigten, nach England zurückzukehren, sobald sie in Australien
genügend Geld verdient hätten. Oft konnte dieser Wunsch in die Tat umgesetzt werden. Die
Bushworker aber bezeichneten Australien als ihre Heimat. Sie wollten eine neue bessere Gesellschaft
gründen und kein neues Großbritannien. Die alte Heimat war für sie verbunden mit sozialer
Ungerechtigkeit und Armut. In Australien dagegen hatten sie einen besseren Lebensstandard und ein
neues Gefühl der Würde gefunden (Ward 1978a: 83).
Der nationale Mythos war am tiefsten in der australischen Arbeiterschaft verwurzelt, denn die um 1890
entstehende Massengewerkschaftsbewegung war stark durch die Bushworker-Gewerkschaften
beeinflusst. Die Arbeiterbewegung wurde so zur treibenden Kraft des australischen Nationalismus.
Aber der australische Mythos war um die Jahrhundertwende auch in Teile des Bürgertums diffundiert,
nachdem eine Gruppe von Mittelklasse-Intellektuellen aus dem Lager der „Philosophischen
Radikalen“ seit den 1880er Jahren die Legende der Bushworker literarisch aufgewertet und
romantisiert hatte (Ward 1978a: 207-237).
Russel Ward (1978a) verwendet in „The Australian Legend“ die „Frontier These“ des amerikanischen
Historikers F.J. Turner (1948) und überträgt sie auf Australien. Turner ging davon aus, dass die
amerikanische Frontier den Individualismus als prägende Geisteshaltung der Vereinigten Staaten
geschaffen hat. In den USA konnte der Pionier fruchtbares Land in kleinen Einheiten zu günstigen
Preisen erwerben. Dadurch gelangte er zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit. In Australien aber war
dem kleinen Mann kein eigenes Land verfügbar, deshalb lebten viele in abhängigen Stellungen als
Hirten oder Wanderarbeiter. Sie mussten sich zusammenschließen, um ihre Interessen gegen ihre
Arbeitgeber durchzusetzen. Daraus entstand das kollektive „Bush Ethos“.
In der angelsächsischen Kultur Amerikas basiert kollektives Handeln nicht auf Gruppenzugehörigkeit,
sondern auf dem voluntaristischen Handeln des Individuums. Weiße Amerikaner glauben zutiefst an
die Gleichheit aller Individuen, eine Gleichheit der Würde, der Rechte und der moralischen
Bedeutung. Dieser Glaube beruht auf der grundlegenden Bedeutung des Individuums für kollektive
Handlungen. Die Gleichheit in ökonomischer Hinsicht würde jedoch den eigenen Antrieb des
Individuums und damit seine Stärke erlahmen lassen (Swidler 1993: 606-625). In der Arbeiterschaft
Australiens dagegen beruht kollektives Handeln auf der Gruppe und nicht auf dem Individuum. Diese
Strategie basiert zugleich auf einem essentiell demokratischen Mitbestimmungsprozess, und nicht auf
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einer autoritären oder charismatischen Führerschaft. Die daraus entstehende Wertekombination aus
Kollektivismus und Anti-Elitarismus macht das australische Ethos so einzigartig.
Dies lässt folgende Überlegungen zum australischen Nonprofit Sektor zu:
Aufgrund der Werthaltung des ökonomischen Egalitarimus sollte ehrenamtliche Tätigkeit und
Spendenbereitschaft in Australien eher schwach ausgeprägt sein. Wie die Daten des Johns Hopkins
Projektes gezeigt haben, werden die sozialen Dienste des Sektors vor allem staatlich finanziert, der
Spendenanteil ist dagegen im internationalen Vergleich relativ gering. Außerdem ist der Anteil der
ehrenamtlich Tätigen der australischen Gesellschaft äußerst schwach, ca. nur ein Fünftel des Anteils
in den USA.
Der Anti-Elitarismus erzeugte eine starke Abneigung gegenüber dem bürgerlichen Paternalismus, der
– wie noch zu zeigen ist – in vielen säkular-bürgerlichen Wohlfahrtsorganisationen verbreitete war.
3.2 Sozialstaat und Nationalismus
Die Schaffung einer nationalen Identität war in Australien extrem schwierig. Territoriale oder kulturelle
Grenzen konnten nicht zur external-internal Teilung beitragen. Großbritannien befand sich außerhalb
des australischen Territoriums, trotzdem empfanden sich die meisten Australier bis zum Zweiten
Weltkrieg als Teil der britischen Nation, und sie waren das auch im rechtlichen Sinne. Das Königreich
hatte aus der Erfahrung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gelernt und tat alles, um einen
ähnlichen Konflikt in Australien zu vermeiden. Die Vorsicht und Nachgiebigkeit der britischen
Kolonialverwaltung verhinderte jeden Anlass für eine ernste Rebellion.
Richard N. Rosecrance behauptet, dass die internal-external Trennung im australischen
Nationalismus durch soziale Kategorien definiert werden müsste, nicht durch territoriale oder
ethnische. Der australische Nationalismus nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im
Klassenkampf zwischen der landlosen Mehrheit und den landmonopolisierenden Großpächtern erste
Formen an. Wer sich dem radikalen Ethos der Bushworker anschloss, war Nationalist, wer dies nicht
tat, war kein Nationalist. Die Bushworker und die Kleinpächter behaupteten, dass ihnen das Land
gehöre und nicht den Großpächtern, die weiterhin ihre Verbindung zum englischen Mutterland
pflegten (Rosecrance 1964: 295). Diese soziale Komponente im australischen Nationalismus war eine
wichtige Quelle für die Radikalität und Dynamik der australischen Arbeiterbewegung während der
Pionierzeit und - wie noch gezeigt wird - für die Dynamik der australischen Wohlfahrt zwischen 1890
und 1914.
Während des Ersten Weltkrieges kam es in Australien wie auch in den europäischen Ländern bei der
Frage der Wehrpflicht zu einer tiefen Spaltung, nicht nur der Labour Partei, sondern der ganzen
Gesellschaft. Die Labour Partei wurde nun stärker dominiert durch den internationalistisch geprägten
linken Flügel der Partei und durch irische Katholiken, welche die Wehrpflicht aus Loyalität zu ihrer
Heimat ablehnten. Der alte radikal-egalitäre Nationalismus der Arbeiterbewegung wurde durch diese
Spaltung sehr geschwächt. Ab 1918 waren es die heimkehrende Soldaten, die den nationalen Geist
aufrechterhielten. Die Veteranen gründeten verschiedene Nonprofit Organisationen wie beispielsweise
30
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die „Returned Soldiers League“ (RSL), die sich für die Interessen ihrer kranken oder verletzten
Kameraden, aber auch für die Interessen der Hinterbliebenen von Gefallenen einsetzte. Als
Interessensgruppe hatte sie einen starken Einfluss sowohl auf die Verteidigungs- als auch auf die
Wohlfahrtspolitik.
Die an der Seite Großbritanniens errungenen Siege führten zu einem neuen Nationalstolz mit
imperialistischem Gepräge. Die Mitglieder der Veteranenvereinigung RSL waren als fanatische
Anhänger der Krone und des Empire gegen die Labour Partei eingestellt (Serle 1965: 149-158).
McMinn betont, dass die internal-external Dimension im australischen Nationalismus erst nach dem
Zweiten Weltkrieg signifikant wurde (McMinn 1994: 290-293).
Paradoxerweise waren es die bürgerlichen Anhänger des britischen Empires, die im 19.Jahrhundert
den verfassungsmäßigen Zusammenschluss der australischen Kolonien zu einem Bundesstaat
vorantrieben. Für viele von ihnen war dies nur ein Zwischenschritt zur Einigung des gesamten
britischen Empires (McMinn 1994: 39-54). Das radikale Lager der Arbeiterbewegung war diesen
Einigungsbestrebungen gegenüber - bis auf die letzten ein oder zwei Jahre der Kampagne - zutiefst
feindlich eingestellt. Diese Gruppe sah die Verfassungsentwürfe, die in den 1890er Jahre
ausgearbeitet wurden, als konservatives Ablenkungsmanöver, das jeden sozialen Fortschritt
verhindern würde (McMinn 1994: 180).
Die vom britisch-imperialen Bürgertum initiierte Staatsbildung wurde von der anti-imperialistischen
Arbeiterbewegung abgelehnt. Da diese Bewegung den australischen Nationalismus verkörperte,
konnte die bundesstaatliche Verfassung Australiens keine nationalistische Legitimation und damit
auch keinen höheren Wert in sich erlangen. Der Staat wurde deshalb nur als nützliches Instrument
betrachtet. Staatliche Interventionen wurden von den Parteien je nach Bedarf aktiviert oder begrenzt.
So konnten in den ersten zehn Jahren der Föderation besondere wohlfahrtsstaatliche Innovationen
durchgesetzt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg aber konnte staatliche Intervention in die Wohlfahrt
begrenzt werden, als man dies für richtig hielt. Auch für den Nonprofit Sektor konnten so staatliche
Subventionen leichter bereitgestellt werden, wenn dies wünschenswert erschien.
D Wohlfahrtssystem
1 Sozialstaat und Nonprofit Sektor
Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis zwischen Sozialstaat und Nonprofit Sektor basieren vor
allem auf den Vorarbeiten von Brian Dickey (1987, 1992), Michael Jones (1990, 1996), Mark Lyons
(1994, 2001) und Francis Castles (1985, 1988). Sie stellen den aktuellen Stand der Forschung über
das australische Wohlfahrtssystem dar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Bedeutung des
Nonprofit Sektors in diesen Studien unterschätzt wurde, da sie sich lediglich auf schriftliche Quellen
stützen. Diese erfassen jedoch nicht den tatsächlichen Umfang des Nonprofit Sektors. Der zweite Teil
31
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der Beschreibung des Wohlfahrtssystems geht auf diese bislang kaum beachtete Verzerrung der
Forschungsergebnisse durch mangelhafte Erfassung der tatsächlichen Gegebenheiten.
1.1 Die Sträflingsära: 1788-1850
Das zentrale Arrangement zwischen Staat und Nonprofit Sektor
In den ersten Jahren war ein Gouverneur unter Anweisung der britischen Regierung praktisch für die
gesamte Wohlfahrt einer Kolonie verantwortlich.
So wurde der Kolonialverwaltung in New South Wales auch die Einrichtung der ersten Hospitale
übertragen. Die Finanzierung der Krankenpflege freier Siedler und Sträflinge erfolgte durch den
Arbeitgeber. Für mittellose Patienten wurde sie häufig vom Staat übernommen. Bis in die 1870er
Jahre ließen sich lediglich Kranke aus ärmeren Bevölkerungsschichten in den Hospitalen behandeln,
da sie höchst unzureichend ausgestattet waren. Für die Geisteskranken errichtete die
Kolonialverwaltung 1811 das erste staatliche Asyl. Die Situation aller Kranken verbesserte sich jedoch
erst, als in den 1870er Jahren eine Versorgung nach therapeutischen und medizinischen Standards
begann (Dickey 1987: 1-12).
Neben diesen staatlich bereitgestellten Wohlfahrtsleistungen etablierten sich schon früh private
Wohlfahrtsdienste, die so genannten Charities. Im Jahr 1800 beauftragte der Gouverneur von New
South Wales, Mr.King, den leitenden Geistlichen der Kolonie, ein Komitee zur Gründung von
Waisenhäusern in Sydney und im benachbarten Parramatta einzuberufen. Mitglieder waren höhere
Beamte und die Frau des Gouverneurs, Mrs. King. Sie repräsentierten die Oberschicht der kleinen
Kolonie. Zur Finanzierung wurden staatliche Gelder bereitgestellt. Die Ergebnisse der Sitzungen des
Komitees mussten an den Gouverneur berichtet werden. Diese Tatsache zeigt den Pragmatismus der
Verwaltung, aber auch den Beginn des Zusammenwirkens von staatlicher und privater Wohlfahrt in
der jungen Kolonie. Das erste, 1801 gegründete Waisenhaus wurde trotz des staatlichen Einflusses
als Public Charity bezeichnet, denn auch die Bevölkerung war mit Spenden an der Finanzierung
beteiligt. Es wurde „Mrs King‘s Orphanage“ genannt und bot Platz für 31 Mädchen (Dickey 1992: 112).
1826 gründete Mrs. Darling, die Frau des damaligen Gouverneurs von NSW, die „Female School of
Industry“, eine kleine Einrichtung, die der Ausbildung von Dienstmädchen diente. 1824 gingen die
Waisenhäuser in die Obhut des anglikanischen Erzdiakons über. Seit den 1840er Jahre unterstanden
sie direkt der Verantwortung des Kolonialamtes in London, welches getrennte Anstalten für
protestantische und katholische Waisen veranlasste (Dickey 1987: 8-10).
Die wichtigste Public-Charity-Organisation wurde die 1813 von evangelikalen Missionaren gegründete
Benevolent Society of New South Wales (BSNSW). Der damalige Gouverneur Macquire konnte die
Missionare dazu bewegen, ihre Spendengelder nicht für die Missionierung der Pazifikinseln
auszugeben, sondern sich rein auf die Armenfürsorge in seiner Kolonie zu konzentrieren.
Die BSNSW wird als Public Voluntary Society bezeichnet. Geführt wurde auch diese Organisation von
einer Gruppe ehrbarer Gentlemen der kolonialen Oberschicht. Finanziert allerdings wurde diese
Neuauflage der ersten Public Charity nicht nur vom Staat, sondern auch aus Mitgliedsbeiträgen. Die
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32
Beitragszahler waren berechtigt, in einer jährlichen Versammlung das geschäftsführende Komitee zu
wählen. Manchmal hatte der Gouverneur den Vorsitz in der Jahreshauptversammlung. Auch hier blieb
die Kolonialverwaltung der Hauptbeitragszahler für die laufenden Kosten. Außerdem stellte sie
praktisch das gesamte Grundkapital. Stimmrecht hatte sie überraschender Weise nicht. Der Anteil der
staatlichen Finanzierung der BSNSW lag bis in die 1860er Jahre meist zwischen 50% und 80% der
laufenden Kosten. Die Organisation hatte weitestgehend säkularen Charakter und stand beiden
Konfessionen offen.
Die Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzepts bestand unter anderem darin, dass das gewählte
Komitee verschiedene Arbeitsgruppen einrichtete. Eine davon wurde von ehrenamtlich tätigen Damen
geleitet, die bedürftige Antragsteller nach moralischen Kriterien für die Hilfeleistungen auswählten.
Laut Dickey war diese Selektion von so genannten „würdigen“ Armen der Hauptgewinn für
Gouverneur Macquire und seine Nachfolger. Auf diese Weise konnte das bisherige System beendet
werden, in dem unterschiedslos jeder Bedürftiger staatlich unterstützt wurde. Die BSNSW leistete
nicht nur Hilfe vor Ort, sondern unterhielt zudem ein Armenasyl, das mit staatlichen Geldern errichtet
wurde. Dem Modell der BSNSW folgten verschiedene andere Public Charities (Dickey 1992).
Die ersten Public Charities waren also vom höchsten Kolonialbeamten, dem Gouverneur, initiiert. Das
führende Komitee aus Mitgliedern der kleinen, liberalen Oberschicht war für die Verwendung der
staatlichen Gelder verantwortlich. So war es dieser Schicht gelungen, staatliche Intervention in die
Armenfürsorge zu begrenzen. Andererseits zeigt sich auch hier der – in dieser unterentwickelten
Pionierskolonie notwendige - australische Pragmatismus. Da es nur wenige Personen gab, die über
nennenswertes Kapital verfügten, musste der Staat die ehrenamtlichen Leistungen subventionieren.
Dieses Arrangement besteht im Prinzip bis heute: Bereitstellung der Dienstleistungen durch eine
private Wohltätigkeitorganisation und Bereitstellung finanzieller Mittel durch den Staat.
Die Bedeutung einer Armengesetzgebung
Eine weitere wichtige Tatsache, die das australische Wohlfahrtssystem prägte, war die Ablehnung
einer Armengesetzgebung. In den australischen Kolonien wurde nie eine Armengesetzgebung
eingeführt (Dickey 1992: 130) - im Gegensatz zu Großbritannien. Dort versuchte man seit dem
Spätmittelalter, die Hilfeleistungen für Arme gesetzlich zu regeln: Die „würdigen Armen“ sollten der
privaten Wohlfahrt überlassen werden. Um die „unwürdigen“ und auch die arbeitsfähigen Armen sollte
sich der Staat kümmern, der sie in Arbeitshäusern zur Arbeit zwingen konnte.
Mit dem Beginn der industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts stellten
Bevölkerungswachstum und steigende soziale Mobilität, Industrialisierung und wirtschaftliche
Fluktuationen die Armengesetzgebung in Großbritannien vor viele Probleme. In den ersten Jahren des
19. Jahrhunderts akzeptierte die englische Gesellschaft die steigenden Kosten der
Armengesetzgebung - als notwendige Konsequenz der lange anhaltenden napoleonischen Kriege. Als
jedoch die Kritik über den Missbrauch der Hilfeleistungen immer deutlicher wurde, stand 1817 die
Abschaffung des Armengesetzes zur Diskussion (Fraser 1993: 33-37).
33
33
Genau zu diesem Zeitpunkt wurde das entscheidende Arrangement zwischen der australischen
Kolonialverwaltung und der BSNSW eingerichtet. Die Bemühungen von Gouverneur Macquire, die
Armen durch ehrenamtlich tätige Helfer zu unterstützen, wurde von seiner vorgesetzten Dienststelle,
dem Kolonialamt in London, ausdrücklich begrüßt: “The evils, which in latter years have been found to
result from the Poor Laws in this country [England] are sufficient to prevent the establishment of any
analogous System other places [die australischen Kolonien]” (Dickey 1992: 117-118).
Das „Übel“, das durch das Armengesetz im Mutterland verursacht wurde, sollte in der neuen Kolonie
von ehrenamtlich tätigen Bürgern durch Selektion der „würdigen“ Armen verhindert werden.
Die amerikanischen Kolonien waren zu einem Zeitpunkt entstanden, als sich in England das neue
System der aus Steuern finanzierten Armenhilfe erfolgreich entwickelte. So hat man in Neuengland
und den Kolonien des amerikanischen Nordwestens die Gesetzgebung nach dem Vorbild des
Mutterlandes eingeführt. Die australischen Kolonien hingegen wurden in einem politischen Klima
gegründet, als in England die Notwendigkeit von staatlichen Hilfen für die Armen in Frage gestellt
wurde - nicht nur aus finanziellen, sondern viel mehr aus moralischen Gründen. Man befürchtete, dass
die Unterstützung von gesunden Armen deren Fähigkeit, an der Marktwirtschaft als freie Individuen
teilzunehmen, schwächen würde. Ab 1820 wurde in England der Plan, das Armengesetz
abzuschaffen, wieder verworfen und stattdessen eine verbesserte Gesetzgebung ausgearbeitet.
Tatsächlich war im Australien von 1817 eine Armengesetzgebung nicht unbedingt erforderlich. NSW
als Sträflingskolonie basierte auf erzwungener Arbeit, ein riesiges, offenes Arbeitshaus, wenn man so
will. Überdies zeichnete sich die Kolonie durch einen ständigen Arbeitskräftemangel aus. Und das,
obwohl die australischen Arbeitgeber nicht nur von der Kolonialverwaltung Sträflinge zugeteilt
bekamen, sondern auch freie Kolonisten beschäftigten. Das Problem der Arbeitslosigkeit, das ja die
Armengesetzgebung in Europa so dringend machte, gab es in Australien praktisch nicht. Erst in der
Depression der 1840er Jahre herrschte vorübergehende Massenarbeitslosigkeit.
Vorbehalte gegen die Armengesetzgebung gab es in Australien noch aus einem anderen Grund: Die
Auswanderer waren auf der Suche nach einem besseren Leben. Das Armengesetz ihrer britischen
Heimat und die damit häufig verbundene, erniedrigende Einweisung in Arbeitshäuser wollten sie in der
neuen Welt hinter sich lassen. Bezeichnenderweise wurde in der australischen Armenfürsorge nie das
Wort Armer (Pauper) benutzt, sondern die Bezeichnung Mittelloser (Destitude).
So kam es, dass nicht nur die australische Oberschicht das Armengesetz ablehnte, sondern auch die
Arbeiterklasse. Die herrschende Schicht glaubte, dass es die Armen zum Müßiggang verleite und
überdies höhere Besteuerung erfordere. Die Arbeiter waren dagegen, weil es die Unterdrückung der
Armen in der alten Heimat symbolisierte. Laut Brian Dickey entstand so anstatt eines Armengesetzes
eine klare Präferenz für private Philanthropie. Die BSNSW legte – wie gesagt - den Grundstein für das
gängigste Modell des australischen Wohlfahrtsmanagements (Dickey 1992). Das Fehlen der Tradition
einer Armengesetzgebung wird von Michael Jones als einer der Faktoren gewertet, die zum Verzicht
eines Sozialversicherungssystems am Anfang des 20. Jahrhunderts geführt haben (Jones 1990: 37-
38).
34
34
1.2 Die Expansionsphase: 1850-1890
Die Phase zwischen 1850 und 1890 war die Zeit der Expansion des Wirtschafts- und
Wohlfahrtssystems der australischen Kolonien. In der Kolonie Victoria wurden in den 1850er Jahren -
wie bereits erwähnt - bedeutende Goldfunde gemacht, so dass sich dort die stärkste Mittelschicht der
australischen Kolonien etablieren konnte. In den 1870er Jahren kam es zu einem regelrechten
Charity-Boom. Auf die ca. 800 000 Einwohner in Victoria kamen ca. 400 Charities. Diese waren
weniger von staatlichen Subventionen abhängig als Wohlfahrtsorganisationen in anderen Kolonien
(Lyons 1994: 77). 1851 gründeten Damen der Hauptstadt Victorias die „Melbourne Ladies Benevolent
Society“. Sie wurde in den 1880er Jahren führend unter den 21 anderen Gruppen dieser Stadt. Die
Society zeichnete sich durch eine unübertroffen hohe Teilnahme von gesellschaftlich angesehenen
Damen aus (Dickey 1987: 37-38).
Nach dem Ende der Sträflingsverschiffungen in die Kolonie NSW im Jahre 1840 wurden die
staatlichen Hospitale nach britischem Vorbild in private Wohlfahrtseinrichtungen umgewandelt.
Finanziert wurden sie durch private Beitragszahler und den Staat, der weiter den Großteil der Gelder
zur Verfügung stellte. Ähnliche Arrangements wurden auch in Melbourne getroffen. Zugang zu den
Hospitalen erhielten in der Regel nur Arme, die akut krank oder verletzt waren. Schwangere, unheilbar
Kranke, Alte und Behinderte hatten keinen Zutritt. Sie kamen oft in überfüllten Armenasylen unter.
Manchmal wurden sie auch einfach ins Gefängnis eingewiesen. In den weniger entwickelten Kolonien
Van Diemansland, (später Tasmanien genannt), West-Australien und Süd-Australien blieb die
Versorgung stärker vom Staat abhängig (Dickey 1987: 16-32).
Im Jahre 1862 gab es eine wichtige Veränderung im Arrangement zwischen der BSNSW und der
Kolonialverwaltung. Aufgrund von Raumproblemen im Armenasyl entschloss sich der Staat, die
Errichtung von Altenheimen allein zu übernehmen. Alte arme Menschen erhielten so erstmals eine
eigene Unterbringung. Nur noch Kinderheime wurden der BSNSW überlassen, aber auch die Hilfe vor
Ort, also beispielsweise die Vergabe von Kleidern und Lebensmitteln sowie von Werkzeugen zur
Existenzgründung (Lyons 1994: 77).
In Victoria übernahm der Staat fast vollständig die Versorgung von Waisenkindern. Der Goldrausch
der 1850er Jahren erzeugte dort eine besonders kritische Situation unter den schwächeren
Gruppierungen der Bevölkerung. Besonders Frauen und Kinder wurden Opfer der Masse an neu
eintreffenden Immigranten und der hohen Mobilität der Goldrausch-Gesellschaft. Viele von ihnen
wurden obdachlos.
Als Reaktion auf diese Entwicklung wandelten die Kolonien Victoria und NSW karitative Institutionen
zur Kinderpflege in staatliche „Industrial Schools“. Diese folgten einem Modell von Mary Carpenter,
das in England in den 1850er Jahren Mode wurde. Die Einrichtung dieser Großrauminstitutionen mit
teilweise über 500 Kindern erwies sich aber als eine Katastrophe. Im Jahr 1874 beschrieb eine
Königliche Kommission die Schulen als „Eingangstor zur Hölle“. Krankheiten, Ungeziefer und hohe
Todesraten aufgrund von ansteckenden Krankheiten waren charakteristisch für diese „Industrial
Schools“. Daraufhin setzte die aus England beeinflusste Boarding-Out-Bewegung ein, die zum Ziel
35
35
hatte, die bedürftigen Kinder in respektablen Arbeiterfamilien auf dem Land unterzubringen. In den
1880er Jahren gelang es, einen Großteil der Massenunterbringungen aufzulösen. Sowohl in Victoria
als auch in NSW waren daran nicht nur Nonprofit Gesellschaften, sondern auch staatliche Institutionen
beteiligt. Die Kinderfürsorge gehörte zu einem der wenigen Bereiche, für die sich der Staat von nun an
direkt verantwortlich fühlte (Dickey 1987: 42-64).
In den 1870er Jahren verbesserten sich die Verhältnisse in den Krankenhäusern. Erstmals wurden in
NSW und in Victoria Krankenhäuser nach einem angemessenen hygienischen und medizinischen
Standard eingerichtet und geführt. Die Anzahl der Antragssteller auf medizinische Behandlung war so
groß, dass für die Zulassung das Prinzip der sozialen Bedürftigkeit durch das der medizinischen
Bedürftigkeit abgelöst wurde. Aus Nothilfe-Empfängern wurden nun Patienten, und auch die
Mittelklasse begann, sich in diesen Krankenhäusern behandeln zu lassen. Folglich stieg die Zahl der
Krankenhäuser zwischen 1870 und 1890 in NSW doppelt so schnell wie die Bevölkerungszahl. Das
Arrangement zwischen karitativen Krankenhaus-Betreibern und der finanziellen Unterstützung des
Staates blieb bestehen. Da diese Krankenhäuser langsam ihren rein sozialen Charakter verloren
haben, wird das Thema Gesundheitspflege nicht weiter erörtert (Dickey 1987: 48-58).
1.3 Wirtschaftskrise und Arbeiterbewegung: 1890-1910
Krise der Nonprofit Wohlfahrtsdienste
Die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre und die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit zeigte im
besonderen Maß die Schwächen des Sozialsystems in den Kolonien Victoria und NSW. Aufgrund des
lang anhaltenden Wirtschaftsbooms und einer ständigen Knappheit an Arbeitskräften gab es hier
keine systematischen staatlichen Programme, die in einer solchen Situation greifen konnten.
Stattdessen stellte der Staat nur sehr spärliche ad hoc Hilfen zu Verfügung. In Victoria wurden die
staatlichen Zuschüsse für die Charities um ca. 50 % erhöht. Ab 1892 verteilte der Staat von NSW
Hilfsgelder an Arbeitslose und deren Familien, die als bedürftig eingestuft waren. Groß angelegte
Arbeitsprogramme wurden sowohl in Victoria als auch in NSW abgelehnt. Die Hauptlast der Krise
sollten die privaten Wohlfahrtsorganisationen tragen, ein Ansinnen, das diese hoffnungslos
überforderte (Dickey 1987: 72-83).
Schon Ende der 1880er Jahre waren die kolonialen Charities in die Kritik geraten. Wie auch in
England kam es im Zuge des Charity-Booms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem
verwirrenden Überangebot an derartigen Hilfsorganisationen. Verschiedene königliche Kommissionen
bemängelten in den 1890er Jahren das schlechte Management der Charities. So wurde besonders die
unsachgemäße Verwendung von staatlichen Geldern kritisiert. Es gab Hinweise auf mehrfache
Bereitstellung von Diensten, auf Verschwendung und Ineffizienz (Jones 1990: 27). Die Missstände
hatten zur Folge, dass zu wenig Geld über zu viele Charities verteilt werden musste. Deshalb wurden
sowohl in England als auch in Australien Forderungen laut, einige der Charities zu schließen. Zur
Überwachung und Koordination der Charities gründete 1887 eine Gruppe von Philanthropen in
Victoria die „Charity Organisation Society“ (COS). Ihre Politik orientierte sich eng an ihrem
gleichnamigen englischen Vorbild (Kennedy 1982: 73).
36
36
Der zentrale Kompromiss
Die Wirtschaftskrise hatte nicht nur weit reichende Konsequenzen für die Charities. Sie zeigte den
Australiern die eigene wirtschaftliche Verwundbarkeit. Der eskalierende Konflikt zwischen den
Arbeitgebern und der Gewerkschaftsbewegung im Streik der Hafenarbeiter von 1890 machte den
politischen Eliten klar, dass ein Kompromiss zwischen beiden Parteien gefunden werden müsse, um
den sozialen Frieden zu sichern. Die Schilderung der Hintergründe dieses einzigartigen Arrangements
ist für die Forschung über den australischen Nonprofit Sektor von großer Bedeutung. Salamon und
Anheier (2000) gehen davon aus, dass Australien durch eine dominante Mittelklasse geprägt war.
Wahrscheinlich beruht diese falsche Vermutung darauf, dass Australien heute nur sehr geringe
wohlfahrtsstaatliche Ausgaben aufweisen kann, das aber wird in der Theorie meist mit einer
schwachen Arbeiterbewegung in Verbindung gebracht wird. Francis Castles argumentiert jedoch in
seinem Buch „Australian Public Policy and Economic Vulnerability“ (1988), dass sich in Australien ein
schlanker Sozialstaat herausgebildet hat, gerade weil die australische Arbeiterklasse schon so früh
erfolgreich war und weil sie eine andere Strategie gewählt hat als ihre europäischen Klassenbrüder.
Francis Castles kam zu diesem Ergebnis durch einen Vergleich mit kleinen europäischen Ländern,
wie beispielsweise der Schweiz, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Diese haben
mit Australien gemeinsam, dass sie heute zwar über entwickelte Volkswirtschaften verfügen, aber nur
kleine Binnenmärkte aufweisen. Sie müssen sich deshalb auf eine geringe Bandbreite an
Exportprodukten beschränken, in denen sie konkurrenzfähig sind. Diese Abhängigkeit hat schlimme
Konsequenzen für die jeweilige Marktwirtschaft, wenn die Preise für jene Exportprodukte auf dem
Weltmarkt fallen. Sie leiden deshalb unter einer erhöhten potentiellen Verwundbarkeit gegenüber
externen ökonomischen Schocks.
Doch Australien und Neuseeland unterschieden sich in ihrer Handelsstruktur stark von den kleinen
europäischen Ländern. In den beiden Siedlernationen waren die Exporte bis in die 1980er Jahre fast
ausschließlich auf Rohstoff-intensive Produkte beschränkt. Heute handelt es sich dabei vor allem um
Bergbauprodukte, in der Vergangenheit waren es überwiegend landwirtschaftliche Güter. Auf diesem
Sektor basierte der Reichtum der beiden Volkswirtschaften. Die meisten Arbeitsplätze waren aber in
der Industrie entstanden. In den kleinen europäischen Ländern dagegen basierte der Export seit dem
Eintritt in das Industriezeitalter vor allem auf industriellen Produkten, wobei auch die meisten
Arbeitsplätze entstanden sind (Castles 1988: 38-60).
Castles geht davon aus, dass diese potentielle Verwundbarkeit unter den kleinen Ländern zu zwei
unterschiedlichen Strategien des sozialen Schutzes geführt hat: Zum einen zur Strategie der „Politics
of Domestic Compensation“ und zum anderen zur Strategie der „Politics of Domestic Defence“. Die
Strategie der „Politics of Domestic Compensation“ bezeichnet das Vorgehen der kleinen europäischen
Staaten. Hier kommt der Aufbau von Schutzzöllen für die heimische Industrie nicht in Frage, weil
dadurch die Konkurrenzfähigkeit der Exportindustrie verloren ginge. Dies käme einem wirtschaftlichen
Bankrott gleich. Diese Länder müssen mit den Konsequenzen externer ökonomischer Schocks und
den damit verbundenen strukturellen Veränderungen leben. Stattdessen müssen die Regierungen die
Geschichte des australischen Nonprofit Sektors
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Geschichte des australischen Nonprofit Sektors

  • 1. Sozialstaat und Nonprofit Sektor. Australien aus historischer und vergleichender Perspektive. Sebastian Brunner Working papers Arbeitspapiere
  • 2. Sebastian Brunner Sozialstaat und Nonprofit Sektor: Australien aus historischer und vergleichender Perspektive
  • 3. Sebastian Brunner Sozialstaat und Nonprofit Sektor: Australien aus historischer und vergleichender Perspektive Redaktionelle Notiz: Der Autor ist Absolvent des Studiengangs Diplom Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Die vorliegende Studie basiert auf einer Diplomarbeit, die, angeregt durch Seminare bei Prof. Dr. Peter Flora, in Australien erarbeitet wurde. Dort konnte der Autor mit Unterstützung von Prof. Dr. Marc Lyons die wissenschaftlichen Einrichtungen der University of Technology Sydney nutzen. Er ist jetzt als strategischer Planer in der Agentur Uniplan Life Communication tätig.
  • 4. Zusammenfassung Die Studie vergleicht die historischen Wurzeln Australiens mit denen einiger anderer Industrienationen, um die Besonderheiten der gesellschaftlichen Strukturen Australiens zu kennzeichnen und das Verhältnis des Nonprofit Sektors (NPS) der sozialen Dienste zum Sozialstaat zu erklären. Die Grundlage für diesen Vergleich bilden die Daten des Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Projects. Salamon und Anheier (2000), die in ihrem großen internationalen Vergleich diese Daten für Australien ausgewertet haben, ordnen im Rahmen ihrer Theorie der „sozialen Ursprünge“ Australien einem „liberalen Modell“ mit einem starken NPS und einem schwachen Sozialstaat zu. Die Autoren gehen davon aus, dass diese Konstellation verbunden ist mit einer schwachen Arbeiterbewegung und einem dominanten Bürgertum. In Australien aber ist das Gegenteil der Fall: Das Land verfügte um 1900 wahrscheinlich über die stärkste Arbeiterbewegung der Welt, während es einen schwachen Wohlfahrtsstaat und einen starken Nonprofit Sektor entwickelt hat. Die sich aus dieser Tatsache ergebenden Fragen werden anhand der grundlegenden theoretischen Literatur diskutiert (u.a. Castles, Esping-Anderson, Lyons, Lipset, Rokkan, Smith), um zu zeigen, welcher der theoretischen Ansätze zur Erklärung der besonderen Verhältnisse Australiens am besten geeignet ist. Dabei stellt sich heraus, dass Hypothesen aus der Literatur durch diese kritische Fallstudie zumindest teilweise widerlegt werden können.
  • 5. Inhalt A Einleitung ............................................................................................................................................7 B Grundlagen und statistische Daten.....................................................................................................8 1 Definition des Nonprofit Sektors ......................................................................................................8 2 Statistische Angaben.......................................................................................................................9 3 Theoretische Grundlagen ..............................................................................................................11 3.1 Ökonomische Nonprofit Sektor Theorien................................................................................11 3.2 Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“............................................12 3.3 Theorie der „Families of Nations“............................................................................................15 3.4 Theoretische Modelle von Stein Rokkan.................................................................................16 C Gesellschaft......................................................................................................................................18 1 Geschichtlicher Überblick ..............................................................................................................18 2 Spaltungsstrukturen und ihre Übertragung....................................................................................20 2.1 Spaltungsstrukturen ................................................................................................................20 2.2 Übertragung der Spaltungsstrukturen.....................................................................................24 3 Der australische Nationalismus .....................................................................................................27 3.1 Die nationale Mythologie Australiens......................................................................................27 3.2 Sozialstaat und Nationalismus................................................................................................29 D Wohlfahrtssystem .............................................................................................................................30 1 Sozialstaat und Nonprofit Sektor ...................................................................................................30 1.1 Die Sträflingsära: 1788-1850 ..................................................................................................31 1.2 Die Expansionsphase: 1850-1890 ..........................................................................................34 1.3 Wirtschaftskrise und Arbeiterbewegung: 1890-1910 ..............................................................35 1.4 Stagnation des Sozialstaates: 1910-1972 ..............................................................................40
  • 6. 1.5 Ausdehnung des Sozialstaates und des Nonprofit Sektors: Seit 1972...................................41 2 Bürgerliches Ethos und Nonprofit Sektor.......................................................................................42 2.1 Das Ethos der bürgerlichen Wohlfahrtsdienste.......................................................................42 2.2 Bürgerliches Ethos und radikaler Egalitarismus......................................................................44 2.3 Die Versäulung des Nonprofit Sektors....................................................................................47 E Schlussfolgerungen ..........................................................................................................................52 F Literatur.............................................................................................................................................55
  • 7. 7 7 A Einleitung „Welch ein eigenartig kapitalistisches Land ist das“, fragte sich der russische Berufsrevolutionär Vladimir Ilich Lenin in der Juni-Ausgabe der Pravda im Jahre 1913, „in dem die Vertreter der Arbeiterschaft das Oberhaus dominieren und dies bis vor kurzem auch im Unterhaus getan haben, und trotzdem ist das kapitalistische System nicht in Gefahr?“ (Lenin in Tampke 1979: 1). Für Lenin lag die Antwort auf der Hand: Die australische Labour Partei ist keine sozialistische, sondern eher eine bürgerlich-liberale Partei. Eine solche Arbeiterpartei sei aber eher die Ausnahme und nur eine kurzfristige Erscheinung aufgrund spezifischer Bedingungen. So konnte Lenin die Leser der Pravda beruhigen: „Diejenigen, die in Europa und Rußland den Arbeitern die Zwecklosigkeit des Klassenkampfes durch das australische Beispiel weismachen wollen, haben nur vor, sie in die Irre zu führen“ (Tampke 1979: 1). Es waren Bücher wie William Lane’s utopisches Werk „A Workingmen’s Paradise“ (Lane 1980, erstmals erschienen 1892) oder der Reisebericht des deutschen Alfred Manes „Das Land der sozialen Wunder“ (Manes 1911), die den Mythos vom australischen Arbeiterparadies zwischen 1890 und 1914 weltweit verbreiteten. Zugegeben, die Zeiten, in denen die Augen der Welt auf die sozialen Errungenschaften Australiens gerichtet waren, sind lange vorbei. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte das Land beim Ausbau des Sozialsystems nicht mit den europäischen Ländern Schritt halten. Der Fokus dieser Arbeit richtet sich nicht nur auf den australischen Sozialstaat, sondern vor allem auf einen Bereich des Sozialsystems, der bis vor kurzem in der Forschung noch relativ wenig Beachtung gefunden hat. Es handelt sich dabei um die Bereitstellung von Wohlfahrtsdiensten durch den so genannten Nonprofit Sektor (NPS). Dieser umfasst Institutionen verschiedener Branchen, die organisatorisch weitestgehend unabhängig vom Staat agieren, jedoch kein gewinnorientierter Bestandteil des freien Marktes sind. Das Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project (JHCNPSP) hat sich zum Ziel gesetzt, die bestehenden Informationslücken in diesem Bereich so weit wie möglich zu schließen. Das Projekt ist eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben der letzten Jahre. Es hat Daten aus 22 Ländern, darunter Australien, veröffentlicht. Das Land verfügt heute über einen überraschend großen Nonprofit Sektor im Bereich der sozialen Dienste (Salamon 1999b). Zugleich zeigen Daten der OECD, dass Australien nur einen residualen Wohlfahrtsstaat aufweist (OECD 2003). Im Zusammenhang mit dem JHCNPSP haben Lester Salamon und Helmut Anheier (1998) die historisch vergleichende Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“ entwickelt. Die Autoren wollen das aktuelle Verhältnis zwischen Staat und Nonprofit Sektor durch geschichtlich gewachsene Machtkonstellationen in der Gesellschaft erklären. Dieser Ansatz sowie die Daten der OECD und des JHCNPSP werden Ausgangspunkt der Untersuchung sein. Ziel der Analyse ist es, die historischen Wurzeln der sozialen Dienste des australischen Nonprofit Sektors darzustellen. Dabei soll der NPS im Verhältnis zu den wichtigsten staatlichen Institutionen beschrieben werden. Geschichte soll hier nicht um ihrer selbst willen dargestellt werden, sondern sie soll dazu dienen, ein besseres theoretisches
  • 8. 8 8 Verständnis zu gewinnen. So lassen sich die entscheidenden Faktoren für die Entwicklung der sozialen Dienste herauskristallisieren. Die Arbeit folgt der Methode der kritischen Fallanalyse. Bei diesem Ansatz wird eine einzelne Beobachtung untersucht, die hinsichtlich der bisher bekannten Prozesse anomal erscheint. Auf Australien trifft das zu. Hier besteht traditionell eine starke Arbeiterbewegung und eine schwache Mittel- und Oberklasse. Salamon und Anheier gehen davon aus, dass dies die Bildung eines starken Wohlfahrtsstaates und eines schwachen Nonprofit Sektors begünstigt (Salamon 2000: 16-17). Doch in Australien ist genau das Gegenteil der Fall. Das Land verfügt über einen starken Nonprofit Sektor und einen schwachen Sozialstaat. Im Teil B der Untersuchung wird zunächst statistisches Datenmaterial der OECD und des JHCNPSP dargestellt. Anschließend wird auf verschiedene theoretische Modelle eingegangen. Neben der Theorie der „sozialen Ursprünge“ wird hier die angebotsseitige NPS-Theorie von Estelle James (1987), die Theorie der „Families of Nations“ von Francis Castles (1993) und das Modell von Stein Rokkan (2000) von Bedeutung sein. Der Teil C bezieht sich auf die Entwicklung der Gesellschaftsstruktur Australiens. Nach einer kurzen Einführung in die grundlegendsten politischen Entwicklungen der australischen Kolonien bis zur ersten Mehrheitsregierung der australischen Labour Partei im Jahre 1910 werden die wichtigsten gesellschaftlichen Spaltungsstrukturen beschrieben und deren Übertragung in das korporative Organisations- und Parteiensystem nach einem Modell von Stein Rokkan (2000) analysiert. In einem eigenen Kapitel werden dann die Besonderheiten des australischen Nationalismus und sein Verhältnis zum Sozialstaat dargestellt. Darauf folgt im Teil D eine Darstellung der historischen Entwicklung des australischen Wohlfahrtssystems. Im ersten Abschnitt befasst sich die Arbeit mit den wichtigsten institutionellen Arrangements des Sozialstaats und deren Verhältnis zum Nonprofit Sektor. Im zweiten Teil der Analyse werden die Struktur und das Wertesystem der historischen Nonprofit Wohlfahrtsdienste detaillierter behandelt. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen dann auf die eingangs erwähnten, theoretischen Modelle übertragen werden. Den Abschluss bildet eine Bewertung des Erklärungspotentials der einzelnen Theorien. B Grundlagen und statistische Daten 1 Definition des Nonprofit Sektors Nach der Definition des Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project (JHCNPSP) sind zum NPS alle Organisationen zu rechnen, die folgende Bedingungen erfüllen: Formell strukturiert: Bestimmte Regeln sind festgeschrieben, regelmäßige Treffen finden statt, ein Vorstand existiert, oder eine gewisse organisatorische Permanenz besteht. Organisatorisch unabhängig vom Staat: Das bedeutet nicht, dass die Organisationen vom Staat nicht unterstützt werden dürfen. Sie müssen nur in ihrer Grundstruktur privat sein und dürfen in ihrer Leitung nicht vom Staat dominiert werden.
  • 9. 9 9 Nicht gewinnorientiert: Die Organisationen dürfen wohl Profite erwirtschaften, sie dürfen aber nicht an die Leitung weitergegeben werden, sondern müssen wieder in die Einrichtung investiert werden. Eigenständige Verwaltung: Die Aktivitäten der Organisationen dürfen nicht von außen gesteuert werden. Freiwillig: Die Organisationen sollen zu einem gewissen Grad von freiwilligen Beiträgen getragen sein und keine Zwangsverbände darstellen. (Salamon 1997: 33-34). 2 Statistische Angaben Zur Beschreibung der wichtigsten Merkmale des aktuellen australischen Wohlfahrtssystems wird nun komparatives Datenmaterial vorgelegt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird überprüft, inwiefern diese Daten vorhandene theoretische Ansätze stützen. Dies sind Daten zu den wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben, der Größe des Nonprofit Sektors, zur Finanzierung dieser Dienste und dem relativen Größenverhältnis zwischen Nonprofit, kommerziell und staatlich bereitgestellten Wohlfahrtsdiensten. Als Indikator für die relative Größe des australischen Wohlfahrtsstaates werden die Daten der OECD zum Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt verwendet. Australien gehört mit 17,79 % zu den Ländern mit einem sehr geringen Anteil staatlicher Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt, ähnlich wie die USA und Japan.
  • 10. 10 10 Tabelle 2: Daten des Johns Hopkins Projektes (1995): Prozent-Anteil der sozialen Dienste des Nonprofit Sektors an den Vollzeitbeschäftigten. Daten der OECD (1995): Prozentanteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt. Land Anteil der sozialen Dienste des Nonprofit Sektors an den Vollzeitbeschäftigten (Ranking) Anteil des Nonprofit Sektors an den Vollzeit- beschäftigten Anteil der sozialen Dienste am Nonprofit Sektor Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt Österreich 2,88 (1) 4,5 64 26,6 Niederlande 2,42 (2) 12,6 19,2 25,6 Frankreich 1,96 (3) 4,9 39,7 29,2 Deutschland 1,90 (4) 4,9 38,8 27,5 Australien 1,45 (5) 7,2 20,1 17,8 Belgien 1,45 (6) 10,5 13,8 28,1 Spanien 1,43 (7) 4,5 31,8 21,4 USA 1,05 (8) 7,8 13,5 15,5 Israel 1,00 (9) 9,2 10,9 - GB 0,81 (10) 6,2 13,1 23 Japan 0,58 (11) 3,5 16,6 13,5 Finnland 0,53 (12) 3 17,8 31,1 Irland 0,52 (13) 11,5 4,5 19,4 Ø 1,64 7 23,4 23,2 Quellen: Daten zur Beschäftigungsstruktur des Nonprofit Sektors im Jahre 1995 in: Salamon 1999b: 477. Prozent-Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt im Jahr 1995 in: OECD 2005 Die Daten zum Nonprofit Sektor wurden vom Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project veröffentlicht. Für Australien wurden diese Daten durch das Australian Bureau of Statistics im Jahre 1995 erhoben und an das Projekt weitergegeben. Demnach verfügt Australien über einen relativ großen Nonprofit Sektor mit einem Anteil von 7,2 % der Vollbeschäftigten am Arbeitsmarkt. Der Anteil der Vollbeschäftigten der sozialen Dienste am australischen NPS liegt bei 20,1 %. Somit kann man errechnen, dass in Australien 1,45 % der Vollzeitbeschäftigten am Arbeitsmarkt im Nonprofit Sektor der Wohlfahrtsdienste arbeiten. Auf die gleiche Weise wurden auch die Daten der anderen industrialisierten Länder, die am JHCNPSP teilgenommen haben, umgerechnet. Der Durchschnitt der entwickelten Nationen liegt bei 1,64 % der Vollzeitbeschäftigten in Nonprofit Wohlfahrtsdiensten. Australien befindet sich im Ranking von 13 Nationen auf Platz 5 und gehört somit zu den Ländern mit einem relativ großen Nonprofit Sektor. In den USA sind es dagegen nur 1,05 %. Das Land kommt somit auf Rang 8. Um die Frage zu beantworten, warum in Australien ein hoher Anteil der Beschäftigten in Nonprofit Wohlfahrtsorganisationen tätig ist, muss man das Ausmaß der sozialen Dienste insgesamt und den relativen Anteil der staatlichen, der privaten und der Nonprofit Wohlfahrtsdienste darin betrachten.
  • 11. 11 11 Die Daten des Australian Bureau of Statistics (ABS) aus dem Jahre 1995 zeigen, dass 4,7 % der Vollbeschäftigten Australiens in den sozialen Diensten tätig sind. Von diesen Beschäftigen sind 56,8 % in Nonprofit Organisationen, 21,9 % in Forprofit Unternehmen und 21,2 % in staatlichen Diensten tätig. Veröffentlicht sind diese vom ABS ermittelten Zahlen im Australian Institut of Health and Welfare (AIHW 1999: 59). In den USA besteht der Wohlfahrtsdienstsektor zu 55 % aus Nonprofit, zu 22 % aus kommerziellen und zu 23 % aus staatlichen Dienstleistern (Salamon 1999a: 112). Die Zusammensetzung entspricht somit der Australiens. Das Johns Hopkins Projekt liefert zudem Aussagen über die Finanzierung des NPS. In Australien machen staatliche Subventionen 51,2% des Einkommens der sozialen Dienste innerhalb des NPS aus. Gebühren haben einen Anteil von 38 % und Spenden 10,8% (Salamon 1999b: 210). In den Industrieländern liegt der Anteil der Finanzierung durch den Staat durchschnittlich bei 45%, durch Gebühren bei 37% und durch Spenden bei 18% (Salamon 1999b: 27). In den USA beträgt der Anteil der staatlichen Subventionen 37%, Gebühren haben einen Anteil von 43%, Spenden einen Anteil von 20% (Salamon 1999b: 277). Das Projekt stellt folgende Daten zum Anteil der Bevölkerung bereit, die im Nonprofit Sektor ehrenamtlich tätig ist: Der internationale Durchschnitt liegt bei 28%, in den USA sind es 49%, in Australien dagegen nur 9,3% ehrenamtlich Tätige (Salamon 1999b). 3 Theoretische Grundlagen Australien verfügt also über geringe staatliche Ausgaben für soziale Dienste und einen relativ starken Nonprofit Sektor in dieser Branche. Im folgenden Kapitel soll die Frage geklärt werden, in wie fern die Daten mit der Theorie der „sozialen Ursprünge“ (Salamon 2000), mit Castles’ Theorie der „Families of Nations“ (1993), dem Ansatz von Estelle James (1987) und dem Modell von Stein Rokkan übereinstimmen. 3.1 Ökonomische Nonprofit Sektor Theorien Es gibt eine Reihe von Theorien zum NPS, welche die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften des Wohlfahrtssystems eines Staates auf der einen Seite und dem Umfang, der Zusammensetzung sowie der Finanzierung des NPS auf der anderen Seite zu erklären vermögen. Diese Theorien stammen zumeist aus der Ökonomie. Bei der Theorie des Regierungsversagens/Marktversagens des Ökonomen Burton Weisbrod (1986) handelt es sich um eine klassische ökonomische Theorie, der zurzeit wohl die meiste Bedeutung zugemessen wird. Sie geht vom Unvermögen des Marktes aus, ausreichend gemeinnützige Güter zu erstellen. Dieses Unvermögen dient dem Staat als wichtigste Legitimation, denn er wird mit der Erstellung dieser knappen Güter beauftragt. Es gibt aber verschiedene Meinungen darüber, welches öffentliche Gut produziert werden soll, deshalb wird in einer Demokratie dasjenige Gut erstellt, das der Durchschnittswähler fordert. Eine unbefriedigte Nachfrage bleibt aber weiter bestehen, was als Regierungsversagen registriert wird. Zu diesem Regierungsversagen kommt es vor allem in
  • 12. 12 12 Gesellschaften, die ethnisch und religiös besonders heterogen sind (und in denen es große Unterschiede in der individuellen Nachfrage nach öffentlichen Gütern gibt). In diesen Fällen werden sich die benachteiligten Gruppen an Nonprofit Organisationen (NPO) wenden, um sich mit den gewünschten Gütern zu versorgen. Estelle James (1987) entwickelte einen angebotsseitigen Ansatz auf der Grundlage von Weisbrods Median-Voter-Theorie (Weisbrod 1986). Während Weisbrod erklärt, unter welchen Umständen Nonprofit Unternehmen der Nachfrage nach bestimmten Gütern nachkommen, und nicht der Staat, erklärt James, wie diese Nonprofit Unternehmen entstehen. Sie geht davon aus, dass Nonprofit Organisationen in der Regel von Personen gegründet werden, die in Verbindung mit organisierter Religion oder anderen ideologischen Organisationen stehen. Gewöhnlich handelt es sich dabei um so genannte Bekehrungsreligionen. Andere Gruppen müssen aus einer Verteidigungsreaktion heraus eigene Institutionen gründen. James konnte ihre Theorie am Beispiel des australischen Bildungssektors belegen. Mark Lyons ist Autor von „Third Sector“, dem ersten umfassenden Werk über den australischen NPS. Er geht davon aus, dass James’ Ansatz aufgrund der Betonung ethnischer und religiöser Heterogenität am besten geeignet ist, um zumindest einen Teil der Entwicklung des australischen Nonprofit Sektors zu erklären (Lyons 1993). Die australische Gesellschaft war zwischen den 1860er und den 1920er Jahren beeinflusst vom Konfessionenstreit zwischen der protestantischen und der katholischen Kirche. Dazu kam die Gegenreaktion der säkularen Nationenbildner des liberalen Bürgertums (Lyons 1998: 583). Hypothese: Je größer die ethnische und religiöse Heterogenität, desto größer der Nonprofit Sektor im Bereich der sozialen Dienste. In Bezug auf Australien bedeutet das, dass aufgrund des Konfessionenstreits ein großer Nonprofit Sektor der sozialen Dienste entstand. Betrachtet man die Daten, so fällt auf, dass die Länder mit einem großen Sektor an sozialen Nonprofit Diensten entweder vom Konfessionenstreit geprägt (Niederlande, Deutschland, Belgien, Australien), oder katholisch dominiert sind (Österreich, Frankreich, Spanien). Die Länder mit einem kleinen Sektor an sozialen Nonprofit Diensten sind entweder protestantisch dominiert (GB, USA, Finnland), oder nicht christlich (Israel, Japan). Irland stellt eine interessante Ausnahme von der oben aufgestellten Regel dar, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Diese entscheidende Rolle der Religion weist darauf hin, dass Estelle James’ Ansatz auf dem Gebiet der sozialen Dienste nicht nur für Australien von Bedeutung ist, sondern allgemein eine starke Erklärungskraft für diesen Bereich besitzt. 3.2 Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft“ Salamon und Anheier stellen in ihrer Theorie der „sozialen Ursprünge der bürgerliche Gesellschaft“ (Salamon 1998) Überlegungen an, wann bei historisch gewachsenen Kräfteverhältnissen sozialer und
  • 13. 13 13 ethnischer Gruppen ein kooperatives Verhältnis zwischen Staat und NPS zustande kommt und wann nicht. Die Theorie der „sozialen Ursprünge“ soll besondere Bedeutung haben für den Gesundheitsbereich und die sozialen Dienste innerhalb des NPS (Salamon 1998: 227). Die Theorie der beiden Autoren basiert auf Gøsta Esping-Andersens Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, in dem der Autor zwischen einer liberalen, einer sozialdemokratischen und einer korporativen Welt des Wohlfahrtskapitalismus unterscheidet (Esping-Andersen 1990). Salamon und Anheier fügen diesen drei Welten ein dirigistisches Regime hinzu, welches den Fall Japan und verschiedene Entwicklungsländer beschreiben soll. Diesen vier Regimen werden die einzelnen nationalen NPS zugeordnet. Jedes dieser vier Modelle ist charakterisiert durch die Rolle des Staates, die Position des dritten Sektors und - dem wichtigsten Kriterium - der Konstellation der sozialen Kräfte. Die Nonprofit Regime lassen sich nach zwei Gesichtspunkten aufteilen: Das Ausmaß der sozialen Wohlfahrtsausgaben, die Größe des NPS. Daraus ergeben sich vier unterschiedliche Modelle von NPS (Salamon 1998: 227). Das liberale Modell zeichnet sich durch geringe staatliche Wohlfahrtsausgaben und einen relativ großen NPS aus. Diese Form ist dort wahrscheinlich, wo eine bürgerliche Mittelklasse dominiert, und wo traditionelle Eliten mit Landbesitz entweder nie existiert haben oder wo es eine starke Arbeiterschaft nie gegeben hat. Salamon und Anheier beschreiben die politische Kultur dieses Regimes wie folgt: „It [das liberale Modell] features a significant ideological and political hostility to the extension of government social welfare protections and a decided preference for voluntary approaches instead” (Salamon 2000: 16). Das andere Extrem stellt das sozialdemokratische Modell dar. Hier produziert in erster Linie der Staat die wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen. Nonprofit Organisationen spielen bei der Bereitstellung dieser Güter nur eine untergeordnete Rolle. In solchen Gesellschaften ist es der Arbeiterklasse gelungen, effektiv politische Macht auszuüben, üblicherweise jedoch im Zusammenschluss mit der Mittelklasse. Das korporative Modell ist gekennzeichnet durch einen starken Staat, der gezwungen oder veranlasst wurde, mit den Nonprofit Organisationen zusammenzuarbeiten. Diese Organisationen funktionieren als einer unter vielen vormodernen Mechanismen, die vom Staat erhalten werden, um die Unterstützung von bedeutenden sozialen Eliten zu gewinnen, und um radikalere Forderungen nach wohlfahrtsstaatlicher Versorgung zu verhindern. Das dirigistische Modell beschreibt einen konservativen Staat, in dem die Sozialpolitik als Instrument der Machtausübung des Staates oder der Wirtschaftseliten dient. Hier gehen geringe staatliche Wohlfahrtsausgaben mit einem kleinen NPS einher (Salamon 2000: 16-17).
  • 14. 14 14 Tabelle 1: Nonprofit Sektor Modelle Models of Third Sector Regime Government Social Welfare Spending Nonprofit Scale Small Large Low Statist Japan Brazil Liberal U.K. Australia U.S. High Social Democratic Finnland Austria Corporatist Germany Belgium France Netherlands Quelle: Salamon 2000: 19-20 Salamon und Anheier ordnen Australien und die USA eindeutig dem liberalen Regime zu (Salamon 2000: 19). Hypothese: In den Ländern des liberalen Modells dominiert die Ideologie der bürgerlich-liberalen Elite, die dem Wohlfahrtsstaat feindliche gegenübersteht und voluntaristisches Handeln bevorzugt. Deshalb erstellt der Staat nur begrenzt wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungen und es besteht ein relativ großer NPS der sozialen Dienste, welcher großteils durch private Spenden finanziert wird. Im australischen Fall sollte deshalb ein schwacher Sozialstaat einem starken NPS der sozialen Dienste gegenüberstehen, der sich v.a. durch private Spenden finanziert. Die Daten des JHCNPSP bestätigen die Hypothese für Australien. Hier besteht ein starker NPS der sozialen Dienste und ein schwacher Wohlfahrtsstaat. Auch in den USA dominiert die Bereitstellung von Wohlfahrtsdiensten durch den Nonprofit Sektor. Überraschender Weise jedoch verfügen die USA im internationalen Vergleich über einen eher kleinen dritten Sektor der sozialen Dienste. Und dies obwohl das Land über einen insgesamt sehr großen Nonprofit Sektor verfügt. Salamon und Anheier (2000) gehen von der - möglicherweise falschen - Annahme aus, dass ihre Theorie eine besondere Geltung für die sozialen Dienste besitzt. Die beiden Autoren glauben zudem, dass die Daten zur Gesamtgröße des Nonprofit Sektors für Australien und die USA mit ihren Annahmen zu den Kräfteverhältnissen zwischen Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse übereinstimmen: “Moreover, the social conditions thought to be associated with this pattern are very much in evidence- namely a sizable urban middle class that effectively disrupted (or, in these two cases [Australien und die USA] never really confronted) a landed upper class while holding urban working class elements at bay. The American and Australian middle classes were much more successful at this than their counterparts elsewhere, in part because they never really had an entrenched landed elite to unseat, and in part because ethnic and racial diversity kept the working classes more highly splintered” (Salamon 2000: 19).
  • 15. 15 15 Tatsächlich sind in Australien aber völlig andere Bedingungen zu berücksichtigen. Salamon und Anheiers’ Theorie (2000) hätte für Australien eine Dominanz privater Spenden angenommen. Dies ist aber nicht der Fall. Stattdessen überwiegen staatliche Gelder. Australien trägt also teilweise korporative Züge. 3.3 Theorie der „Families of Nations“ Francis Castles’ Theorie der „Families of Nations“ (1993) bietet eine Typologie von Wohlfahrtsregimen, welche für die hier dargestellten Überlegungen interessant ist, denn sie soll den besonderen Entwicklungen in Australien gerecht werden. Auch Castles Werk basiert auf Esping- Andersons Theorie. Castles gliedert die englischsprachigen Länder in liberale und radikal-egalitäre. In beiden Kategorien sind die staatlichen Wohlfahrtsausgaben gering. Im Gegensatz zu den liberalen Ländern jedoch sind in den radikal-egalitären Ländern Wohlfahrtsleistungen stärker von Vermögenstests abhängig. Die Wohlfahrtsleistungen kommen deshalb vor allem den unteren Bevölkerungsschichten zugute und führen dadurch zu einer stärkeren Einkommensgleichheit. Francis Castles ordnet einer Typologie von vier Modellen unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Arrangements jeweils spezifische klassenpolitische Machtkonstellationen zu: Die konservative oder auch korporative Welt, Länder der nicht-rechten Hegemonie, die Welt des Liberalismus und die Länder der radikalen Welt. Die Typologie besteht aus zwei Dimensionen: Zum einen die Anzahl der Jahre, in denen nicht-rechte Parteien Regierungsämter besetzten, zum andern die Gewerkschaftsdichte. Tabelle 2: Politische Konfigurationen und Welten der Wohlfahrt Political configurations and worlds of welfare Trade union density Non-Right incumbency Low High Low Liberal Canada (Rad) France (Con) Irland Japan Switzerland USA Conservative Germany (West) Italy Netherlands High Radical Australia New Zealand UK N-RH Belgium Denmark Finland (Rad) Austria (Con) Norway Sweden Quelle: Castles 1993: 123: „Data on Union density 1984 from Brain and Price (1988). Non-Right incumbency defined as number of years between 1960-84 that the chief executive came from a Christian Democratic, Democratic Socialist or Centrist Agrarian Party.” Die dem liberalen Regime zugeordneten Länder zeichneten sich im Verlauf ihrer Geschichte aus durch eine Schwäche der Arbeiterbewegung und eine Dominanz rechter Parteien. Die dem radikalen
  • 16. 16 16 Regime zugeordneten Länder verfügten dagegen bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert über eine sehr starke Arbeiterbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand dort weiterhin eine hohe Gewerkschaftsdichte. Dies betrachtet Castles als Indikator für ein starkes Solidaritätsgefühl innerhalb der Gesamtbevölkerung, das den Erhalt der existierenden, egalisierenden Wohlfahrtspolitiken ermöglicht hat. Diese Stärke konnte in den Ländern mit einem radikalen Regime jedoch nicht mehr in Regierungsbeteiligungen umgesetzt werden, weshalb sie gegenüber den skandinavischen Ländern bei der Ausdehnung von Wohlfahrtsleistungen eindeutig ins Hintertreffen geraten sind. Die skandinavischen Länder zeichneten sich in dieser Phase durch eine hohe sozialdemokratische Regierungsbeteiligung aus. Francis Castles bezieht seine Typologie nicht auf die Frage der Bereitstellung von Wohlfahrtsdiensten, sondern auf Pensionssysteme (Castles 1993: 114-124). Es ist jedoch davon auszugehen, dass man aus Castles‘ Kategorie der radikalen Länder Hypothesen über die Größe der Nonprofit Wohlfahrtsdienste ableiten kann. Castles fasst die Länder Australien, Neuseeland und Großbritannien unter dem Modell der radikalen Länder zusammen. Die Sozialstruktur Großbritanniens unterscheidet sich jedoch in einigen, für den Nonprofit Sektor wichtigen Aspekten stark von jener der beiden Siedlernationen. Deshalb sollen die von mir aus Castles’ Modell abgeleiteten Hypothesen nur auf Australien und Neuseeland zutreffen. Leider besteht über den neuseeländischen Nonprofit Sektor noch kein umfassendes Datenmaterial. Hypothese: In den radikalen Ländern bevorzugte die Arbeiterklasse einen schlanken Sozialstaat, der auf einem staatlich regulierten Mindestlohn basierte. Die privaten Nonprofit Dienstleister mussten aufgrund dieser Präferenz der Arbeiterklasse nicht durch staatliche Institutionen verdrängt werden und konnten expandieren. In Australien war deshalb die Vorraussetzung für einen stark ausgeprägter Nonprofit Sektor der sozialen Dienste gegeben. Francis Castles‘ Theorie kann deshalb mit den Daten des JHCNPSP in Einklang gebracht werden. Diese Theorie trägt jedoch nicht dazu bei, die Daten bezüglich der Größe des australischen Nonprofit Dienstleisters besser zu beschreiben, als dies die Theorie der „sozialen Ursprünge“ tut. Aber sie ermöglicht - wie noch zu zeigen sein wird - eine differenziertere Beschreibung der Machtverhältnisse zwischen der herrschenden Schicht und der Arbeiterklasse im Verlauf der australischen Geschichte. Castles‘ Theorie vermag zu erklären, warum in Australien ein starker Nonprofit Sektor entstand, obwohl es eine starke Arbeiterklasse gab. 3.4. Theoretische Modelle von Stein Rokkan Stein Rokkan (2000) bietet ein interessantes theoretisches Modell zur Entstehung von sozialen Spaltungsstrukturen und deren Übersetzung in ein Parteiensystem. Die dadurch entstandenen Kräfteverhältnisse und Allianzen sind entscheidend für die zentralen Kompromisse, welche die Entwicklung des Wohlfahrtssystems bestimmen.
  • 17. 17 17 Stein Rokkan beschreibt vier Stadien in der Entwicklung des Nationalstaates. Sie werden begleitet von revolutionären Phasen, welche mit der Ausbildung von sozialen Spaltungsstrukturen verbunden sind. Für diese international vergleichende Analyse sind folgende Phasen und Spaltungsvariablen aus Stein Rokkan’s Modell von Interesse (Rokkan 2000: 367-368): 1) Die Reformation und der Dreißigjährige Krieg: Sie haben zur konfessionellen Spaltung Europas geführt (Protestanten vs. Katholiken). 2) Die Nationale Revolution: Sie wurde durch die napoleonischen Kriege ausgelöst und hat zu einer Spaltung zwischen der katholischen Kirche und säkularen Nationenbildnern geführt (Staat vs. Kirche). 3) Die Industrielle Revolution: Sie hat zu Konflikten zwischen ländlichen und städtisch- industriellen Interessen geführt (Land vs. Stadt). Außerdem führte sie zu einer Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten auf der einen Seite sowie Unternehmern und Besitzern auf der anderen Seite (Arbeit vs. Besitz). Die Reformation war ein Prozess, der im britischen Mutterland schon vor der Gründung der australischen Kolonien abgeschlossen war. Die daraus entstandene Spaltung in eine irisch- katholische Minderheit und eine englisch-protestantische Mehrheit wurde in die australischen Kolonien exportiert. Die industrielle Revolution war zu diesem Zeitpunkt in England schon fortgeschritten, wurde jedoch auf einem anderen Niveau in den Kolonien weitergeführt. Die nationale Revolution dagegen befand sich erst in der Entstehungsphase. Spaltungen konnten also noch nicht exportiert werden. Bei der Übersetzung von Spaltungsstrukturen in Parteiensysteme spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Einerseits der Prozess der demokratischen Massenmobilisierung, andererseits die Opportunitätsstrukturen, die sich zusammensetzen aus Gewinnen und Kosten von Fusionen, Allianzen und Koalitionen. Die Interpretation geht davon aus, dass die typischen Allianzen und Oppositionen, die durch die Reformation und Gegenreformation entstanden sind, wiederum die Allianzen und Oppositionen während der nationalen Revolution nach 1789 beeinflussten. Diese prägten wiederum die Spaltungsstrukturen, die sich im 20. Jahrhundert durch die industrielle Revolution herausbildeten (Flora in Rokkan 2000: 62-65). Stein Rokkan geht davon aus, dass die entscheidenden Unterschiede zwischen den europäischen Parteiensystemen zentrale Bündnisse und Oppositionen widerspiegeln, die nationenbildende Eliten in einem bestimmten Zeitfenster wählen müssen. Bei diesem Zeitfenster handelt es sich um die Frühphase der kompetetiven Politik und die Endphase der demokratischen Massenmobilisierung, also um einen Zeitpunkt, der noch vor dem Eintritt der Arbeiterparteien in den politischen Wettbewerb liegt. Arbeiterparteien bildeten sich aber in allen westeuropäischen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg. Die damit neu entstandene Spaltung zwischen Arbeit und Besitz hatte die Folge, dass sich die europäischen Parteiensysteme wieder stärker ähnelten. Zugleich wirkten sich die älteren Spaltungsstrukturen weiter auf die Struktur der Arbeiterparteien aus. So kam es in den konfessionell gespaltenen Ländern Europas meist auch zu einer religiösen Spaltung der Arbeiterbewegung (Rokkan 2000: 376-377).
  • 18. 18 18 C Gesellschaft 1 Geschichtlicher Überblick Im Jahr 1788 legten an der Ostküste Australiens in der Nähe des heutigen Sydney die ersten elf Schiffe der britischen Krone an, gefüllt mit Sträflingen und dem dazugehörigen Wach- und Verwaltungspersonal. Das Empire gründete dort eine neue Kolonie, New South Wales, ohne Rücksicht auf die Interessen der Ureinwohner des Kontinents, die Aborigines. Nicht nur die Sträflinge, sondern auch die freien Immigranten, die bald in den entlegenen Erdteil kamen, entstammten meist der Pauperklasse der britischen Großstädte. Um überhaupt freie Siedler für diesen entlegenen Erdteil zu mobilisieren, subventionierte die britische Regierung die Überfahrt. In den 1830er und 1840er Jahren nahm die Zahl der freien Siedler stark zu. Die Zahl der Kolonien wurde laufend erweitert. 1876 standen den Siedlern neben New South Wales (NSW), von dem sich im Lauf der Jahrzehnte die Kolonien Victoria und Queensland abgespaltet hatten, die Kolonien West-Australien, Tasmanien und Süd-Australien offen. Jede dieser Kolonien wurde von einem der englischen Krone verantwortlichen Gouverneur verwaltet. Die Entwicklung des australischen Gesellschafts- und Wohlfahrtssystems verlief nicht in allen Kolonien gleich. In dieser Analyse sollen vor allem die Kolonien NSW und Victoria vorgestellt werden, denn beide waren politisch, wirtschaftlich und kulturell mit Abstand die wichtigsten für die Entwicklung des Landes. Im Jahr 1868 lief der letzte Sträflingstransport in einer australischen Kolonie ein (Spillman 1997: 26). Über 168 000 Gefangene hat das Land im Lauf der Jahre aufgenommen. Das dirigistische Sträflingssystem begann sich mehr und mehr in einen freien Unternehmerkapitalismus zu verwandeln. In den 1830er Jahren kam es zu einem Boom in der Wollindustrie und somit zu einer starken Expansion der Wollexporte nach England. Die entscheidende ökonomische Veränderung kam jedoch in den 1850er Jahren mit dem Einsetzen des Goldrausches in NSW und Victoria. Das Gold brachte nicht nur großen Reichtum, sondern auch neue Immigranten in die Kolonien. Es entstand eine selbstbewusste Mittelschicht. Australien wurde schon in dieser Periode zu einer der urbanisiertesten und industrialisiertesten Gesellschaften der Welt (Buckley 1988). Im Jahr 1850 erhielten die Kolonien mit dem „Australian Colonies Government Act“ die Erlaubnis zur Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten und so mehr Unabhängigkeit vom Mutterland (McMinn 1994: 54). Damit war auch die Einrichtung demokratischer Organisationen verbunden. Schon 1860 gab es in den australischen Kolonien – mit Ausnahme von Tasmanien und West-Australien – das Wahlrecht für Männer, lange bevor die britische Arbeiterklasse in den Genuss dieses demokratischen Rechtes kam. Trotz der in England vorherrschenden Doktrin des Laisser-faire machten die Bedingungen der Pionierkolonie staatliches Eingreifen in die Wirtschaft weiterhin notwendig. Das Mutterland investierte besonders nach dem Goldrausch von 1850 massiv in die Infrastruktur des Landes, wie zum Beispiel in Hafenanlagen, Eisenbahnbau, Straßenbau. Auch versorgte es australische Unternehmer mit Arbeitskräften und mit günstigen Krediten, die es vom britischen Kapitalmarkt erhielt. Generell wurde
  • 19. 19 19 der Staat als nützliches Instrument gesehen zur Bereitstellung von öffentlichen Gütern und später auch zur Milderung von Klassenkonflikten. Der Wirtschaftsboom, der dem Goldrausch folgte, hielt bis 1890 an. Vor allem die Woll- und Bauindustrie brachte große Gewinne. In dieser Zeit verfestigte sich der Mythos vom „Workers Paradise“ (Buckley 1988). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Australien zu den Ländern mit dem höchsten Pro- Kopf-Einkommen der Welt. Im Jahre 1870 war es um 73% höher als in den USA und damit fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Während des Ersten Weltkriegs gab Australien seine Führungsrolle an die USA ab, das Einkommen stagnierte nun auf relativ hohem Niveau (Jones 1990: 10). Zwischen 1870 und 1890 kam es zu einem dramatischen Bevölkerungszuwachs. Er konzentrierte sich vor allem auf die Kolonien NSW und Victoria. In den späten 1880er und frühen 1890er Jahren setzte in den australischen Kolonien eine Depression ein, welche die Phase des großen Wachstums beenden sollte. Die Folge war ein massives Ansteigen der Arbeitslosigkeit und das Abfallen der Löhne. Die Depression der 1890er Jahre war begleitet von schweren Streiks. In NSW kam es 1890 zum Streik der Hafenarbeiter. Ein Streik der Gewerkschaft der Schafscherer in Queensland endete nach einer Konfrontation mit dem Militär und der Polizei fast in einem Blutbad. Beinahe die gesamte Führung der beteiligten Gewerkschaften wurde zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die schwere Niederlage bei den Streiks führte in der Arbeiterbewegung zu einem Strategiewechsel. Von den bisherigen kleineren Einzelstreiks ging man zu größeren, koordinierten Aktionen über, welche durch die Gründung größerer Verbände möglich waren. Doch die zunehmende Radikalisierung der Streiks der 1890er Jahre erfüllte gemäßigte Kräfte im liberalen Lager mit Besorgnis. Es handelte sich dabei um jene Kräfte, die zu dieser Zeit eine föderale Verfassung ausarbeiteten. Sie waren gewillt, einen Kompromiss mit der Arbeiterbewegung zu finden, um den sozialen Frieden zu bewahren (Buckley 1988). 1894 entstand die erste, mehrere Kolonien umfassende Australian Workers Union (AWU). Sie ist heute die größte Gewerkschaft Australiens. Aus den Gewerkschaften heraus bildeten sich in den einzelnen Kolonien die ersten Labour Parteien. Damit verbunden war auch das Entstehen von straff organisierten Parteien der Rechten. Zuvor hatte es so gut wie keine Parteidisziplin in den Parlamenten gegeben. Im Jahr 1901, nach zehnjährigem politischem Ringen, vereinigten sich die sechs Kolonien unter einer gemeinsamen Regierung. Australien wurde eine Nation, behielt aber viele rechtliche und kulturelle Bindungen an das Mutterland. Seit dem Zusammenschluss der einzelnen Kolonien unter der Commonwealth-Regierung begann die Australian Labour Party (ALP) auf föderaler Ebene zu operieren. Die politische Rechte blieb bis 1910 in Protektionisten und Anhänger des Freien Handels, die sog. Free Trader, gespalten.
  • 20. 20 20 Die misslungenen Streiks waren zwar eine Niederlage für die Arbeiterbewegung, andererseits aber erwuchs aus dieser Niederlage ein neuer Mythos, der - zusammen mit den Folgen der Depression - das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft stärkte. In den 1890er Jahren wurden so immer mehr Angehörige der Labour Parteien in die Parlamente gewählt. Die Arbeiterbewegung stellte am Ende des 19. Jahrhunderts eine mächtige Kraft dar, ohne deren Unterstützung die Geschicke der neuen Föderation nicht zu lenken gewesen wären. Als im Jahre 1910 die ALP als erste sozialdemokratische Mehrheitsregierung der Welt antrat, gelang es auch der politischen Rechten, ihre Spaltung überwinden: Protektionisten und Free Trader vereinigten sich in der Liberal Party. Damit waren die grundlegenden politischen Machtkonstellationen festgelegt. Sie bestimmen im Großen und Ganzen bis heute das Parteiensystem Australiens. 2 Spaltungsstrukturen und ihre Übertragung 2.1 Spaltungsstrukturen Die Spaltungsstrukturen, wie sie zuvor in Stein Rokkan Theorie genannt wurden, werden nun für den australischen Fall analysiert. 1) Spaltung: Ethnie und Religion Die erste Ethnie, die sich in Australien ansiedelte, waren die australischen Aborigines. Sie gehörten jedoch nach dem Verständnis der weißen Siedler nicht zur ihrer Gesellschaft. Die Dezimierung der Aborigines war ein erklärtes Ziel der australischen Pioniere und wurde damit zum traurigsten Kapitel der Geschichte des Landes. Innerhalb der „weißen Gesellschaft“ der frühen australischen Pionierzeit gab es im Wesentlichen drei ethnische Gruppen: Engländer, Schotten, Iren. Diese Zusammensetzung blieb im Großen und Ganzen bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten. Diese Ethnien standen jeweils mit einer bestimmten Konfession in Verbindung. Die Engländer waren meist Anhänger der Church of England, Schotten gehörten meistens der presbyterianischen Kirche an, einer evangelischen Glaubensrichtung, die Iren waren größtenteils römisch-katholisch. Der australische Zensus von 1851 vermerkt einen Anteil von 30 % Katholiken, 10% Presbyterianern, 39,9% Anglikanern und sonstige (Ward 1966: 47). Die Daten deuten darauf hin, dass es in Australien einen disproportional höheren Anteil an römisch-katholischen Iren als auf den britischen Inseln gegeben hat. Diese ethno-religiösen Gruppen können zugleich unterschiedlichen sozialen Schichten zugeordnet werden. Den größten Anteil machten die englischen Anhänger der Church of England aus. Sie waren nicht nur unter den Sträflingen vertreten, sondern bildeten auch das koloniale Establishment der Mittel- und Oberklasse: Angehörige des Militärs und der Kolonialverwaltung. Sie repräsentierten im eigentlichen Sinn diese Glaubensrichtung, denn es gab - anders als in England - in den Kolonien keine offizielle Staatskirche. New South Wales wurde ein säkularer Außenposten des Empires. Trotzdem blieb in der Frühzeit der Kolonie noch viel erhalten vom Ideal des Zusammenwirkens von Staat und Kirche (Carey 1996: 3).
  • 21. 21 21 Die Iren stellten unter den Sträflingen und den staatlich subventionierten Immigranten einen höheren Anteil dar als in der Zusammensetzung der Ethnien im Mutterland. Bald bildeten sie einen Großteil der australischen Arbeiterklasse. Die katholische Kirche sollte deshalb im späten 19. Jahrhundert einen besonderen Einfluss auf die neu entstandene Labour Partei haben. Die irische Minderheit hatte außerdem großen Einfluss auf die Entwicklung des frühen australischen Nationalgefühls in der Arbeiterklasse. Die Lebensbedingungen in Australien waren um so vieles besser als in der irischen Heimat, dass die Armen aus Irland selbst im Sträflingssystem das Gefühl der ökonomischen Sicherheit sehr bewusst genossen. So kam es, dass die Iren das Land schon früh als ihre Heimat empfunden haben. Von größerer Bedeutung für die Entwicklung eines Nationalgefühls aber war der Hass der Iren auf den britischen Imperialismus. Sie wurden deshalb zum harten Kern der Verfechter des australischen Nationalismus, der sich durch Disloyalität gegenüber Großbritannien auszeichnete. Der protestantische Teil der Gesellschaft, vor allem die kleine Mittel- und Oberschicht, fühlte sich dagegen stärker an das britische Mutterland gebunden. Ansonsten waren in Australien Gruppierungen vertreten, welche dem puritanischen Glauben nahe standen. Sie zeichneten sich durch die hohe Wertschätzung von Fleiß und Sparsamkeit aus. Diese Gruppen gehörten vor allem der Mittelklasse an. Sie hatten einen höheren Bildungsstandard, und viele ihrer Angehörigen brachten es zu großem Wohlstand. Sträflinge waren kaum in dieser Schicht vertreten. Die größte Ethnie unter den Immigranten stellten die Schotten der presbyterianischen Glaubensrichtung dar (Ward 1978a: 67-80). Eine weitere wichtige Gruppe waren die Evangelikalen. Da in Australien keine Staatskirche existierte, blieb diesen leidenschaftlichen Verfechtern eines reformierten Protestantismus ein weites Betätigungsfeld. Zu den wichtigsten Denominationen der Evangelikalen zählten Quäker, Methodisten, Congregationalisten und Baptisten. Die Evangelikalen waren numerisch eine sehr kleine Gruppe, aber sie agierten ambitionierter und sichtbarer als die meisten anderen christlichen Gemeinschaften und erreichten deshalb einen Einfluss auf das gesellschaftliche und religiöse Leben der Kolonie, der weit über ihre numerische Stärke hinausging (Carey 1996: 10-19). Dieser Einfluss zeigte sich besonders bei der Etablierung von sozialen Nonprofit Diensten. Gary Bouma (1988) bemerkt, dass in Australien eine pragmatische „Militär-Kaplans-Religion“ vorherrschte. Die Mittelklasse der frühen Jahre war dominiert von Militärpersonal sowie Großgrundbesitzern und –pächtern. Sie sahen Religion als etwas, das „für dich von einem Fachmann erledigt wird“. Diese Art des religiösen Lebens war weit entfernt vom Puritanismus, der die USA geprägt hat. Die Rolle der Religion in Australien darf aber nicht unterschätzt werden. Seit den 1860er Jahren entbrannte auch in Australien ein Kulturkampf. Er wurde bis in die 1920er Jahre zu einem wichtigen Merkmal der Politik. Zur konfessionellen Spaltung kam die Spaltung zwischen säkularen Nationenbildern und der Kirche: Da das liberale Bürgertum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Konfessionenstreit als schädlich für den nationalen Zusammenhalt verurteilte, musste es zu Konflikten kommen, die schließlich im Streit um konfessionell oder staatlich-simultan geführte Schulen eskalierten. Während der 1860er Jahren sollte die Schulpflicht eingeführt werden.
  • 22. 22 22 Die staatlichen Schulen sollten nach dem Vorbild der irischen Nationalschulen den gemeinsamen Glauben aller christlichen Konfessionen lehren. Papst Pius IX bestand jedoch darauf, dass katholische Kinder in katholischen Schulen erzogen würden. So wandelte sich die ursprüngliche Unterstützung der australischen Katholiken für die Nationalschulen in einen Widerstand gegen sie. Dies wiederum stärkte den Willen der Liberalen, die Kinder in staatlichen Schulen zu erziehen. Die staatlichen Subventionen für konfessionelle Schulen wurden gestrichen. Nun unterhielt nur noch die katholische Kirche ein eigenes Schulsystem und verlangte die Wiedereinführung der staatlichen Hilfe. Der Konfessionskonflikt in Australien wurde von 1860 an überdies durch die revolutionären Ereignisse in Irland geschürt. Er nahm erst an Intensität ab, nachdem der Großteil Irlands im Jahre 1922 seine Unabhängigkeit erreicht hatte. Staatliche Finanzierung von kirchlichen Schulen wurden in den 1960er Jahren wieder eingeführt (Lyons 1998: 583). Heute gehen ca. 60% aller australischen Schulkinder in kirchliche Schulen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die ethnische Heterogenität Australiens stark zugenommen. Zunächst kamen viele italienische und osteuropäische Einwanderer ins Land, weshalb die Mehrheit der Australier heute katholisch ist. Seit den 1970er Jahren sind viele Asiaten eingewandert. Durch sie entstand eine buddhistische Minderheit. Auch verschiedene muslimische Gruppen aus dem Mittleren Osten - vor allem Libanesen - siedelten sich seither in Australien an. All diese Gruppierungen haben eine Vielzahl an Nonprofit Wohlfahrtsorganisationen gegründet (Lyons 2001: 103). 2) Spaltung: Land und Stadt In den frühen Jahren der Kolonie sah man die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, in der Landwirtschaft. Es bestand ein großes Angebot an Land, das sich in der Hand wohlhabender Großgrundbesitzer oder -pächter befand, doch herrschte ein ständiger Mangel an abhängigen Landarbeitern. Eine Aufteilung des Weidelandes in kleine Parzellen für selbstständige Kleinbauern kam für die wohlhabenden Landbesitzer nicht in Frage, da sie auf diese Weise ihre Arbeitskräfte verloren hätten. Verpachtet wurde Kronland nur an Bewerber mit viel Grundkapital, was den meisten Siedlern nicht zur Verfügung stand. Freie Siedler wurden in bedeutender Anzahl erst ab den 1830er Jahren angesiedelt. Private Arbeitgeber bekamen zunächst Sträflinge zugeteilt, so dass in New South Wales bis etwa 1840 praktisch jeder Arbeitgeber auch Gefängniswärter war. In diesen Betrieben wurde in der Regel kaum ein Unterschied gemacht zwischen Sträflingen und freien Immigranten. Beide Gruppen waren brutalen Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt (Ward 1978a: 37, 60). Durch den hohen Arbeitskräftemangel in der Kolonie hatten die Arbeiter aber auch ein Druckmittel in der Hand. Bereits in der Sträflingszeit war das so genannte „go slow“, also die Arbeitsverweigerung, ein beliebtes Mittel, um bessere Arbeitsbedingungen zu erzwingen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern war damals also sehr ambivalent (Buckley 1988). Der Wohlstand Australiens wurde durch den Export von Rohstoffen erwirtschaftet: Produkte aus der Schaf- und Rinderzucht sowie aus dem Bergbau. Paradoxer Weise entstanden aber die meisten
  • 23. 23 23 Arbeitsplätze in der Industrie. Die anfangs vor allem landwirtschaftlich geprägte Sträflingskolonie gehörte schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu den höchst industrialisierten Ländern der Welt. Im Gegensatz zum Ackerbau schuf die Schaf- und Rinderzucht nur relativ wenige Arbeitsplätze auf dem Land. Die meisten Arbeitsplätze entstanden in den Städten, wo die Wolle behandelt und verschifft wurde. Im Wollboom der 1830er Jahre erlebte zudem die Baubranche einen Aufschwung und damit das Handwerk. Die meisten neu ankommenden, freien Immigranten blieben deshalb in den Städten. Doch schon in den 1850er Jahren begann die Macht der Großgrundbesitzer und -pächter zu bröckeln. In Australien fehlte das feudale System des Mutterlandes. Diese Gesellschaftsschichten waren nie von landbesitzender Aristokratie geprägt wie in Großbritannien. Sie erhielten nie eine geachtete Position, etwa als Pioniere der Frontier, da sie vor allem bestrebt waren, genügend Geld anzuhäufen, um reich in die alte Heimat zurückzukehren. Die politische Rolle dieser Landbesitzer und -pächter in den konservativen Oberhäusern der einzelnen Kolonialstaaten war vor allem blockierend und negativ. Sie stellten keine politisch dynamische Klasse dar. Darum hielt die Mehrheit der Bevölkerung politisch und kulturell Distanz zu ihnen. Buckley macht klar, dass die führende Kraft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kaufleute waren. Sie dominierten die bürgerlichen Klassen Australiens auch aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Import-Export-Handels. Das soziale Prestige des Kaufmanns hob ihn von der Masse der Gesellschaft deutlich ab, und so waren die Kaufleute sehr darauf bedacht, Statusunterschiede aufrecht zu erhalten. Diese Gruppierungen prägten das liberale Bürgertum, das beispielsweise für die Einführung eines säkularen Staatsschulsystems sorgte (Buckley 1988: 108-112). Die Fabrikanten, meist Besitzer kleiner Unternehmen, standen in ihrem Status unter den Kaufleuten. Ihnen wurde nachgesagt, sie würden nur minderwertige Produkte herstellen. 3) Spaltung: Arbeit und Besitz: Die herrschende Schicht der frühen Kolonialzeit Australiens war zusammengesetzt aus schlecht bezahlten Kolonialbeamten und Offizieren des Wachpersonals. Sie kontrollierten die gesamte Staatsmaschinerie aus Militär, Verwaltung sowie Justiz und verfügten über die entscheidenden Schlüsselpositionen, um sich mit Handelsmonopolen, Land und Sträflingen zu versorgen Buckley betont den sozialen Ursprung dieser Klasse in der unteren Mittelschicht. Angehörige der englischen Oberschicht waren zu dieser Zeit kaum gewillt, unter den harten Bedingungen der Kolonie zu leben. (Buckley 1988: 35-36). Mit dem Goldrausch der 1850er Jahre entwickelte sich eine starke vertikale Mobilität in der australischen Gesellschaft. Leute mit geringem Kapital konnten schnell zu großem Reichtum gelangen und versuchten dann, den noblen Lebensstil der englischen Aristokratie zu imitieren (Ward 1978a: 62- 65, Erstausgabe 1958). Die niedrige soziale Abstammung der herrschenden Klasse stellt einen wichtigen Faktor dar beim später massiv einsetzenden Klassenkampf zwischen Unter- Mittel- und Oberschicht (Rosecrance 1964, Ward 1978a, Buckley 1988).
  • 24. 24 24 Im Ausland wurde Australien nicht aufgrund eines stolzen Bürgertums bekannt, sondern wegen der selbstbewussten und zahlenmäßig starken Arbeiterschaft (Tampke 1979). Wie bereits beschrieben, war Australien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eines der am stärksten industrialisierten und urbanisierten Länder der Welt. Zugleich waren die Kolonien durch die Goldfunde und den Boom in der Wollindustrie sehr wohlhabend. Die Arbeiterschaft hatte aufgrund des vorherrschenden Arbeitskräftemangels eine besonders starke Verhandlungsposition. Deshalb wurde dieser Wohlstand auch relativ gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt. Die starke Verhandlungsposition der Arbeiterbewegung war aber auch eine Folge der besonderen Pioniersituation. Die Landarbeiter im Outback, die so genannten Bushworker, zeichneten sich durch ihren außergewöhnlichen Gruppenzusammenhalt und ihre Radikalität aus. Sie wurden dadurch zum harten Kern der entstehenden Gewerkschaftsbewegung. Deren Führung wiederum war kaum von der Labour-Partei zu trennen, die seit dem Jahr 1901 föderal, also bundesweit operierte. Laut Buckley waren die eigentlich dynamischen Kräfte der australischen Arbeiterschaft in der urbanen Industriearbeiterschaft, vor allem bei den Handwerkern, und in Teilen der Bergarbeiterschaft zu suchen. Zwischen 1860 und 1890 gab es ein besonders starkes Wachstum des sekundären Sektors. Im Jahre 1891 waren ungefähr 17% der werktätigen Bevölkerung Australiens in der Fabrikation beschäftigt, 14% befanden sich im Baugewerbe. Zusammen bildete dieser Teil der Arbeiterschaft eine wesentlich größere Gruppe als jene 24%, die in der Landwirtschaft und der Schafzucht beschäftigt waren. Die australische Industrie war damals nicht besonders hoch entwickelt. Die durchschnittliche Anzahl der Beschäftigten in den Betrieben lag unter 20. Nimmt man die Anzahl der Arbeiter, die im sekundären Sektor beschäftigt sind, als Indikator für die Industrialisierung eines Lands, so war Australien schon früh hoch industrialisiert. Trotzdem fehlte noch in den 1890er Jahren eine entwickelte Großindustrie mit Massenproduktionsweise, wie sie in Europa vorhanden war. Castles glaubt, dass diese auf kleinen Handwerksbetrieben basierende Industrie neben der föderalen Struktur Australiens dafür verantwortlich ist, dass sich einerseits eine zunächst sehr fragmentierte - wenn auch zahlenmäßig starke - Gewerkschaftsbewegung, andererseits aber auch eine wenig zentralisierte Arbeitgebervertretung ergeben hat. Aus diesem Grund konnte sich kein korporatives Modell der Lohnverhandlungen wie in den kleinen Staaten Europas entwickeln (Castles 1988: 122). Trotz dieser starken Fragmentierung und der Rückschläge durch den Streik der Hafenarbeiter war Australien an der Wende zum 20. Jahrhundert das Land mit der höchsten Gewerkschaftsdichte der Welt (Castles 1988: 122). 2.2 Übertragung der Spaltungsstrukturen Es ist anzunehmen, dass jenes Zeitfenster, das Stein Rokkan für entscheidend in der Ausprägung der wichtigsten Strukturen des europäischen Parteiensystems hält, im australischen Fall die Phase zwischen der Ausdehnung des Wahlrechts auf die Arbeiterschaft in den 1860er Jahren und der Gründung der Labour Parteien in den unterschiedlichen Kolonialstaaten in den 1890er Jahren
  • 25. 25 25 beschreibt. Stein Rokkan fertigte ein Modell alternativer Allianzen und Oppositionen an, welches die Entscheidungsoptionen von nationalen Eliten in den Phasen der Reformation, der nationalen Revolution nach 1789 und der Frühphase der industriellen Revolution darstellt (Rokkan 2000: 378- 385). Die nationalen Eliten Australiens trafen ähnliche Entscheidungen wie sie Stein Rokkan in seinem Modell für die Niederlande beschreibt: Beide Länder sind konfessionell gespalten. In den Niederlanden wie auch in Australien gibt es eine protestantische Führungsschicht und eine starke katholische Minderheit in Opposition. Beide Länder waren relativ früh urbanisiert und industrialisiert, weshalb in Australien wie auch in den Niederlanden die Nationenbildner Koalitionen mit städtischen Interessen des Handels und der Industrie, nicht aber mit ländlichen Interessen bildeten. Dies hat wichtige Konsequenzen für die Staat-Kirche-Beziehung: In beiden Ländern war das städtische Bürgertum säkular-liberal, die ländlichen Interessen waren eher konservativ geprägt. Aufgrund dieser Allianz der Nationenbildner mit den städtischen Interessen hat sich in beiden Ländern eine dominante säkulare Elite herausgebildet. In den Niederlanden führten diese Allianzbildungen zu einer Versäulung der Gesellschaft in drei ideologische bzw. religiöse Lager: Das national-liberal-säkulare Lager, das orthodox-protestantische Lager, das römisch-katholische Lager. Diese Versäulung drückte sich in den Niederlanden auf zwei Ebenen aus: Erstens auf der korporativen Ebene, also durch die Schaffung von getrennten Nonprofit Organisationen für jedes Lager. Zweitens auf der Ebene von demokratischen Wahlen, also durch das Entstehen von getrennten politischen Parteien. Es ist faszinierend zu sehen, dass sich solch eine dreiteilige Versäulung auch in der Struktur der sozialen Dienste des australischen Nonprofit Sektors widerspiegelt. So entstanden neben den Wohlfahrtsorganisationen der säkular-liberalen Eliten des Bürgertums auch die eher klassenübergreifenden Organisationen der orthodoxen Protestanten und die der Katholiken. Diese Dreiteilung wird für die Analyse des Nonproftit Sektors noch von großer Bedeutung sein. Anders als in den Niederlanden wurde jedoch in Australien diese Aufteilung der Nonprofit Organisationen nie auf das Parteiensystem übertragen. Die entscheidende Teilung im australischen Parteiensystem vor der vollständigen Wählermobilisierung der Arbeiterschaft bestand zwischen Protektionisten und Free- Tradern, danach zwischen Liberalen und der Labour Partei. Man kann also argumentieren, dass Stein Rokkans Modellierung im Falle Australien nur auf der Ebene der korporativen Organisationen relevant ist, denn anders als in Holland konnten diese Organisationen ihre Klientel nicht für Wahlen mobilisieren. Es ist davon auszugehen, dass der besondere Charakter des australischen Nationalismus als der entscheidende Faktor für das Fehlen einer konfessionellen Spaltung im Parteiensystem gelten kann. Wie später noch näher erläutern wird, war der Nationalismus der nationenbildenden Elite kein australischer, sondern ein britisch-imperialer. Ein speziell australischer Nationalismus war dagegen mehr in der Arbeiterklasse verbreitet. In dieser Bewegung wurde die irisch-katholische Minderheit mit
  • 26. 26 26 ihrer anti-imperialen Haltung zum harten Kern. Diese Haltung vertraten auch viele protestantische Mitglieder der Gewerkschaft und der Labour Partei. Die Katholiken bildeten deshalb keine von der protestantischen Arbeiterschaft getrennte Gruppe. Um nun die entscheidenden Allianzen beim zentralen Klassenkompromiss in der australischen Geschichte zu beschreiben, muss das Zeitfenster um einige Jahre in Richtung Gegenwart verschoben werden. Laut Castles kann ein solcher Kompromiss nur dann getroffen werden, wenn die Klasse, der Konzessionen gemacht werden, vollständig mobilisiert ist (Castles 1988: 126). Australien war um die Wende zum 20. Jahrhundert auf dem Pfad der Demokratisierung schon weiter fortgeschritten als die kleineren europäischen Staaten. Deshalb kam der australische Kompromiss eine Generation früher zustande. Bereits ab Mitte der 1850er Jahre wurde in verschiedenen australischen Kolonien das Wahlrecht für Männer eingeführt. 1903 wurde auf föderaler Ebene das universelle, freie und gleiche Wahlrecht eingeführt. Laut Castles war Australien damit die erste repräsentative Demokratie im modernen Sinne (Castles 1988: 119). Als die Labour Partei 1910 ihre erste Mehrheitsregierung antrat, sah sie sich einer vereinten liberalen Partei aus Protektionisten und Free-Tradern gegenüber. Die Phase der politischen Mobilisierung war vorbei, und die politischen Orientierungen wurden eingefroren in ein Beziehungsmuster, welches das australische Parteiensystem noch lange Zeit prägen sollte. In Australien war das wichtigste politische Thema dieser Zeit die Protektion. Das in den oben genannten Spaltungsstrukturen beschriebene Kräfteverhältnis der Akteure spiegelt sich im Kompromiss der so genannten „New Portection“: Die Labour Partei unterstützte die Arbeitgeber bei ihrer Forderung nach einer Einführung von Schutzzöllen für die kleinen Industrie- und Handwerksbetriebe. Im Gegenzug unterstützten die Liberalen nun die Arbeiterbewegung bei ihrer Forderung nach staatlichen Schieds- und Schlichtungsgerichten für Lohnstreitigkeiten und nach hoch angesetzten Mindestlöhnen. In Australien bestand eine starke Arbeiterbewegung, die – wie gesagt - nicht durch ethno-religiöse Trennlinien zersplittert war, und die aufgrund des Arbeitskräftemangels eine starke Verhandlungsposition besaß. Die Rechte war dagegen über die Frage der Schutzzölle tief gespalten. Auf der einen Seite standen die kleinen, industriellen Unternehmer und die kleinen Kaufleute, welche eine protektionistischen Politik befürworteten, auf der anderen Seite standen die Befürworter des Free-Trade, in erster Linie die Großgrundbesitzer und einige Großkaufleute. Die nationenbildende Elite war zu dieser Zeit geprägt durch die städtischen Interessen des Protektionismus. Sie überwogen zahlenmäßig stark die Interessen der Free-Trader (Castles 1988: 111-118). Eine weitere, bedeutende Bewegung war der Populismus, der am Ende des 19.Jahrhunderts von der australischen Labour Partei forciert wurde. Er bot nicht nur der eigenen Klientel, sondern auch einem Teil der oben genannten Rechten, nämlich den Kleinkaufleuten und -unternehmern, ein wichtiges politisches Ziel. Dahinter stand der Traum des kleinen Mannes, als Farmer, Ladenbesitzer, Bergarbeiter oder kleiner Fabrikant Unabhängigkeit und wirtschaftliche Sicherheit zu erreichen. Der Populismus in der ALP ermöglichte überdies eine Allianz mit ländlichen Akteuren. So waren Kleinbauern wichtige Anhänger dieser Bewegung. Die Gewerkschaft der Schafscherer in NSW
  • 27. 27 27 startete in den 1890er Jahren eine Kampagne zugunsten des Verkaufs von kleineren Landparzellen an Kleinbauern. 1910 führte die ALP eine Agrarreform durch, ebenfalls mit dem Ziel, großen Landbesitz aufzubrechen. Überdies ermöglichte auch der Populismus eine Übereinkunft zwischen der Labour Partei und dem Unternehmertum hinsichtlich der „New Protection“. Durch das geringe Ansehen der Kleinunternehmer in Australien waren diese stärker auf die Unterstützung ihrer Arbeiter angewiesen, als dies in der europäischen Großindustrie der Fall gewesen wäre. Der gemeinsame Feind wurde in der herrschenden Elite gesehen. Sie galt als parasitär und als eigentliches Hindernis des Fortschritts. Sozialistische Ideen wurden dagegen in der australischen Arbeiterbewegung nie dominant. Der theorielastige Marxismus Europas war den australischen Arbeitern, die durch praktische Anforderungen der Pionierszeit geprägt waren, fremd geblieben. Sie waren dagegen stark vom Radikalismus der britischen Labour-Bewegung beeinflusst. Durch das hohe Pro-Kopf-Einkommen vor der Wirtschaftskrise in den 1890er Jahren bestand auch kein Anreiz, das kapitalistische System zu stürzen. Stattdessen wollte die Arbeiterbewegung innerhalb des bestehenden Systems Konzessionen von den Arbeitgebern erwirken. Anders als das Modell von Stein Rokkan erwarten lässt, ergab sich in Australien keine Versäulung des Parteiensystems. Stattdessen haben pragmatische Überlegungen parteiübergreifende Kompromisse hervorgebracht, aber auch eine vitale Linie des australischen Nationalismus. 3 Der australische Nationalismus 3.1 Die nationale Mythologie Australiens Russel Ward (1978a) beschreibt in seinem Buch „The Australian Legend“ die Entstehung des zentralen nationalen Mythos und die Werte des prototypischen Australiers, die in der Legende vom Bushworker des Outbacks zum Ausdruck kommen. Dieser Mythos hat seinen Ursprung in der frühen Sträflings- und Pionierzeit der Kolonie. In den Weiten des Landesinnern waren alle aufeinander angewiesen und entwickelten so einen starken Zusammenhalt. Das Leben dort zeichnete sich auch durch ein besonderes Gefühl der Freiheit aus. Polizei, Militär und Verwaltung waren oft hunderte von Meilen entfernt. Die Bushworker (freie Siedler und Sträflinge) hegten nicht nur Abneigung gegenüber den Großpächtern, sondern auch gegenüber der Polizei und allen anderen staatlichen Institutionen. Das Ethos der Bushworker war geprägt durch Egalitarismus: In der Wildnis waren alle Menschen gleich. Status, Herkunft und gute Manieren spielten keine Rolle, nur praktische Fähigkeiten waren von Bedeutung. Das Gefühl der Unabhängigkeit wurde verstärkt durch den beständigen Arbeitskräftemangel im Outback, eine Tatsache, die den Bushworkern einen relativ sicheren Arbeitsplatz garantierte (Ward 1978a: 98). Die Bushworker zeichneten sich überdies durch die
  • 28. 28 28 Verachtung intellektueller und religiöser Werte aus. Dieser Pragmatismus äußerte sich in völliger Gleichgültigkeit gegenüber der theoretisch geprägten, sozialistischen Doktrin (Ward 1978a: 174-175). Laut Russel Ward bildeten die Bushworker, die erste Gruppe, in der sich allmählich ein australisches Nationalgefühl herauskristallisierte. In dieser Gruppe befand sich ein hoher Anteil an irischen Katholiken. Die irische Kultur, vor allem aber der Hass auf das britische Establishment, hatte großen Einfluss auf das Bushworker-Ethos. Die australische Mittel- und Oberschicht behielt immer Kontakt mit der Heimat in Großbritannien und legte Wert darauf, das Leben nach den Vorgaben der britischen Kultur einzurichten. Die meisten Mitglieder dieser Schicht beabsichtigten, nach England zurückzukehren, sobald sie in Australien genügend Geld verdient hätten. Oft konnte dieser Wunsch in die Tat umgesetzt werden. Die Bushworker aber bezeichneten Australien als ihre Heimat. Sie wollten eine neue bessere Gesellschaft gründen und kein neues Großbritannien. Die alte Heimat war für sie verbunden mit sozialer Ungerechtigkeit und Armut. In Australien dagegen hatten sie einen besseren Lebensstandard und ein neues Gefühl der Würde gefunden (Ward 1978a: 83). Der nationale Mythos war am tiefsten in der australischen Arbeiterschaft verwurzelt, denn die um 1890 entstehende Massengewerkschaftsbewegung war stark durch die Bushworker-Gewerkschaften beeinflusst. Die Arbeiterbewegung wurde so zur treibenden Kraft des australischen Nationalismus. Aber der australische Mythos war um die Jahrhundertwende auch in Teile des Bürgertums diffundiert, nachdem eine Gruppe von Mittelklasse-Intellektuellen aus dem Lager der „Philosophischen Radikalen“ seit den 1880er Jahren die Legende der Bushworker literarisch aufgewertet und romantisiert hatte (Ward 1978a: 207-237). Russel Ward (1978a) verwendet in „The Australian Legend“ die „Frontier These“ des amerikanischen Historikers F.J. Turner (1948) und überträgt sie auf Australien. Turner ging davon aus, dass die amerikanische Frontier den Individualismus als prägende Geisteshaltung der Vereinigten Staaten geschaffen hat. In den USA konnte der Pionier fruchtbares Land in kleinen Einheiten zu günstigen Preisen erwerben. Dadurch gelangte er zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit. In Australien aber war dem kleinen Mann kein eigenes Land verfügbar, deshalb lebten viele in abhängigen Stellungen als Hirten oder Wanderarbeiter. Sie mussten sich zusammenschließen, um ihre Interessen gegen ihre Arbeitgeber durchzusetzen. Daraus entstand das kollektive „Bush Ethos“. In der angelsächsischen Kultur Amerikas basiert kollektives Handeln nicht auf Gruppenzugehörigkeit, sondern auf dem voluntaristischen Handeln des Individuums. Weiße Amerikaner glauben zutiefst an die Gleichheit aller Individuen, eine Gleichheit der Würde, der Rechte und der moralischen Bedeutung. Dieser Glaube beruht auf der grundlegenden Bedeutung des Individuums für kollektive Handlungen. Die Gleichheit in ökonomischer Hinsicht würde jedoch den eigenen Antrieb des Individuums und damit seine Stärke erlahmen lassen (Swidler 1993: 606-625). In der Arbeiterschaft Australiens dagegen beruht kollektives Handeln auf der Gruppe und nicht auf dem Individuum. Diese Strategie basiert zugleich auf einem essentiell demokratischen Mitbestimmungsprozess, und nicht auf
  • 29. 29 29 einer autoritären oder charismatischen Führerschaft. Die daraus entstehende Wertekombination aus Kollektivismus und Anti-Elitarismus macht das australische Ethos so einzigartig. Dies lässt folgende Überlegungen zum australischen Nonprofit Sektor zu: Aufgrund der Werthaltung des ökonomischen Egalitarimus sollte ehrenamtliche Tätigkeit und Spendenbereitschaft in Australien eher schwach ausgeprägt sein. Wie die Daten des Johns Hopkins Projektes gezeigt haben, werden die sozialen Dienste des Sektors vor allem staatlich finanziert, der Spendenanteil ist dagegen im internationalen Vergleich relativ gering. Außerdem ist der Anteil der ehrenamtlich Tätigen der australischen Gesellschaft äußerst schwach, ca. nur ein Fünftel des Anteils in den USA. Der Anti-Elitarismus erzeugte eine starke Abneigung gegenüber dem bürgerlichen Paternalismus, der – wie noch zu zeigen ist – in vielen säkular-bürgerlichen Wohlfahrtsorganisationen verbreitete war. 3.2 Sozialstaat und Nationalismus Die Schaffung einer nationalen Identität war in Australien extrem schwierig. Territoriale oder kulturelle Grenzen konnten nicht zur external-internal Teilung beitragen. Großbritannien befand sich außerhalb des australischen Territoriums, trotzdem empfanden sich die meisten Australier bis zum Zweiten Weltkrieg als Teil der britischen Nation, und sie waren das auch im rechtlichen Sinne. Das Königreich hatte aus der Erfahrung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gelernt und tat alles, um einen ähnlichen Konflikt in Australien zu vermeiden. Die Vorsicht und Nachgiebigkeit der britischen Kolonialverwaltung verhinderte jeden Anlass für eine ernste Rebellion. Richard N. Rosecrance behauptet, dass die internal-external Trennung im australischen Nationalismus durch soziale Kategorien definiert werden müsste, nicht durch territoriale oder ethnische. Der australische Nationalismus nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Klassenkampf zwischen der landlosen Mehrheit und den landmonopolisierenden Großpächtern erste Formen an. Wer sich dem radikalen Ethos der Bushworker anschloss, war Nationalist, wer dies nicht tat, war kein Nationalist. Die Bushworker und die Kleinpächter behaupteten, dass ihnen das Land gehöre und nicht den Großpächtern, die weiterhin ihre Verbindung zum englischen Mutterland pflegten (Rosecrance 1964: 295). Diese soziale Komponente im australischen Nationalismus war eine wichtige Quelle für die Radikalität und Dynamik der australischen Arbeiterbewegung während der Pionierzeit und - wie noch gezeigt wird - für die Dynamik der australischen Wohlfahrt zwischen 1890 und 1914. Während des Ersten Weltkrieges kam es in Australien wie auch in den europäischen Ländern bei der Frage der Wehrpflicht zu einer tiefen Spaltung, nicht nur der Labour Partei, sondern der ganzen Gesellschaft. Die Labour Partei wurde nun stärker dominiert durch den internationalistisch geprägten linken Flügel der Partei und durch irische Katholiken, welche die Wehrpflicht aus Loyalität zu ihrer Heimat ablehnten. Der alte radikal-egalitäre Nationalismus der Arbeiterbewegung wurde durch diese Spaltung sehr geschwächt. Ab 1918 waren es die heimkehrende Soldaten, die den nationalen Geist aufrechterhielten. Die Veteranen gründeten verschiedene Nonprofit Organisationen wie beispielsweise
  • 30. 30 30 die „Returned Soldiers League“ (RSL), die sich für die Interessen ihrer kranken oder verletzten Kameraden, aber auch für die Interessen der Hinterbliebenen von Gefallenen einsetzte. Als Interessensgruppe hatte sie einen starken Einfluss sowohl auf die Verteidigungs- als auch auf die Wohlfahrtspolitik. Die an der Seite Großbritanniens errungenen Siege führten zu einem neuen Nationalstolz mit imperialistischem Gepräge. Die Mitglieder der Veteranenvereinigung RSL waren als fanatische Anhänger der Krone und des Empire gegen die Labour Partei eingestellt (Serle 1965: 149-158). McMinn betont, dass die internal-external Dimension im australischen Nationalismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg signifikant wurde (McMinn 1994: 290-293). Paradoxerweise waren es die bürgerlichen Anhänger des britischen Empires, die im 19.Jahrhundert den verfassungsmäßigen Zusammenschluss der australischen Kolonien zu einem Bundesstaat vorantrieben. Für viele von ihnen war dies nur ein Zwischenschritt zur Einigung des gesamten britischen Empires (McMinn 1994: 39-54). Das radikale Lager der Arbeiterbewegung war diesen Einigungsbestrebungen gegenüber - bis auf die letzten ein oder zwei Jahre der Kampagne - zutiefst feindlich eingestellt. Diese Gruppe sah die Verfassungsentwürfe, die in den 1890er Jahre ausgearbeitet wurden, als konservatives Ablenkungsmanöver, das jeden sozialen Fortschritt verhindern würde (McMinn 1994: 180). Die vom britisch-imperialen Bürgertum initiierte Staatsbildung wurde von der anti-imperialistischen Arbeiterbewegung abgelehnt. Da diese Bewegung den australischen Nationalismus verkörperte, konnte die bundesstaatliche Verfassung Australiens keine nationalistische Legitimation und damit auch keinen höheren Wert in sich erlangen. Der Staat wurde deshalb nur als nützliches Instrument betrachtet. Staatliche Interventionen wurden von den Parteien je nach Bedarf aktiviert oder begrenzt. So konnten in den ersten zehn Jahren der Föderation besondere wohlfahrtsstaatliche Innovationen durchgesetzt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg aber konnte staatliche Intervention in die Wohlfahrt begrenzt werden, als man dies für richtig hielt. Auch für den Nonprofit Sektor konnten so staatliche Subventionen leichter bereitgestellt werden, wenn dies wünschenswert erschien. D Wohlfahrtssystem 1 Sozialstaat und Nonprofit Sektor Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis zwischen Sozialstaat und Nonprofit Sektor basieren vor allem auf den Vorarbeiten von Brian Dickey (1987, 1992), Michael Jones (1990, 1996), Mark Lyons (1994, 2001) und Francis Castles (1985, 1988). Sie stellen den aktuellen Stand der Forschung über das australische Wohlfahrtssystem dar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Bedeutung des Nonprofit Sektors in diesen Studien unterschätzt wurde, da sie sich lediglich auf schriftliche Quellen stützen. Diese erfassen jedoch nicht den tatsächlichen Umfang des Nonprofit Sektors. Der zweite Teil
  • 31. 31 31 der Beschreibung des Wohlfahrtssystems geht auf diese bislang kaum beachtete Verzerrung der Forschungsergebnisse durch mangelhafte Erfassung der tatsächlichen Gegebenheiten. 1.1 Die Sträflingsära: 1788-1850 Das zentrale Arrangement zwischen Staat und Nonprofit Sektor In den ersten Jahren war ein Gouverneur unter Anweisung der britischen Regierung praktisch für die gesamte Wohlfahrt einer Kolonie verantwortlich. So wurde der Kolonialverwaltung in New South Wales auch die Einrichtung der ersten Hospitale übertragen. Die Finanzierung der Krankenpflege freier Siedler und Sträflinge erfolgte durch den Arbeitgeber. Für mittellose Patienten wurde sie häufig vom Staat übernommen. Bis in die 1870er Jahre ließen sich lediglich Kranke aus ärmeren Bevölkerungsschichten in den Hospitalen behandeln, da sie höchst unzureichend ausgestattet waren. Für die Geisteskranken errichtete die Kolonialverwaltung 1811 das erste staatliche Asyl. Die Situation aller Kranken verbesserte sich jedoch erst, als in den 1870er Jahren eine Versorgung nach therapeutischen und medizinischen Standards begann (Dickey 1987: 1-12). Neben diesen staatlich bereitgestellten Wohlfahrtsleistungen etablierten sich schon früh private Wohlfahrtsdienste, die so genannten Charities. Im Jahr 1800 beauftragte der Gouverneur von New South Wales, Mr.King, den leitenden Geistlichen der Kolonie, ein Komitee zur Gründung von Waisenhäusern in Sydney und im benachbarten Parramatta einzuberufen. Mitglieder waren höhere Beamte und die Frau des Gouverneurs, Mrs. King. Sie repräsentierten die Oberschicht der kleinen Kolonie. Zur Finanzierung wurden staatliche Gelder bereitgestellt. Die Ergebnisse der Sitzungen des Komitees mussten an den Gouverneur berichtet werden. Diese Tatsache zeigt den Pragmatismus der Verwaltung, aber auch den Beginn des Zusammenwirkens von staatlicher und privater Wohlfahrt in der jungen Kolonie. Das erste, 1801 gegründete Waisenhaus wurde trotz des staatlichen Einflusses als Public Charity bezeichnet, denn auch die Bevölkerung war mit Spenden an der Finanzierung beteiligt. Es wurde „Mrs King‘s Orphanage“ genannt und bot Platz für 31 Mädchen (Dickey 1992: 112). 1826 gründete Mrs. Darling, die Frau des damaligen Gouverneurs von NSW, die „Female School of Industry“, eine kleine Einrichtung, die der Ausbildung von Dienstmädchen diente. 1824 gingen die Waisenhäuser in die Obhut des anglikanischen Erzdiakons über. Seit den 1840er Jahre unterstanden sie direkt der Verantwortung des Kolonialamtes in London, welches getrennte Anstalten für protestantische und katholische Waisen veranlasste (Dickey 1987: 8-10). Die wichtigste Public-Charity-Organisation wurde die 1813 von evangelikalen Missionaren gegründete Benevolent Society of New South Wales (BSNSW). Der damalige Gouverneur Macquire konnte die Missionare dazu bewegen, ihre Spendengelder nicht für die Missionierung der Pazifikinseln auszugeben, sondern sich rein auf die Armenfürsorge in seiner Kolonie zu konzentrieren. Die BSNSW wird als Public Voluntary Society bezeichnet. Geführt wurde auch diese Organisation von einer Gruppe ehrbarer Gentlemen der kolonialen Oberschicht. Finanziert allerdings wurde diese Neuauflage der ersten Public Charity nicht nur vom Staat, sondern auch aus Mitgliedsbeiträgen. Die
  • 32. 32 32 Beitragszahler waren berechtigt, in einer jährlichen Versammlung das geschäftsführende Komitee zu wählen. Manchmal hatte der Gouverneur den Vorsitz in der Jahreshauptversammlung. Auch hier blieb die Kolonialverwaltung der Hauptbeitragszahler für die laufenden Kosten. Außerdem stellte sie praktisch das gesamte Grundkapital. Stimmrecht hatte sie überraschender Weise nicht. Der Anteil der staatlichen Finanzierung der BSNSW lag bis in die 1860er Jahre meist zwischen 50% und 80% der laufenden Kosten. Die Organisation hatte weitestgehend säkularen Charakter und stand beiden Konfessionen offen. Die Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzepts bestand unter anderem darin, dass das gewählte Komitee verschiedene Arbeitsgruppen einrichtete. Eine davon wurde von ehrenamtlich tätigen Damen geleitet, die bedürftige Antragsteller nach moralischen Kriterien für die Hilfeleistungen auswählten. Laut Dickey war diese Selektion von so genannten „würdigen“ Armen der Hauptgewinn für Gouverneur Macquire und seine Nachfolger. Auf diese Weise konnte das bisherige System beendet werden, in dem unterschiedslos jeder Bedürftiger staatlich unterstützt wurde. Die BSNSW leistete nicht nur Hilfe vor Ort, sondern unterhielt zudem ein Armenasyl, das mit staatlichen Geldern errichtet wurde. Dem Modell der BSNSW folgten verschiedene andere Public Charities (Dickey 1992). Die ersten Public Charities waren also vom höchsten Kolonialbeamten, dem Gouverneur, initiiert. Das führende Komitee aus Mitgliedern der kleinen, liberalen Oberschicht war für die Verwendung der staatlichen Gelder verantwortlich. So war es dieser Schicht gelungen, staatliche Intervention in die Armenfürsorge zu begrenzen. Andererseits zeigt sich auch hier der – in dieser unterentwickelten Pionierskolonie notwendige - australische Pragmatismus. Da es nur wenige Personen gab, die über nennenswertes Kapital verfügten, musste der Staat die ehrenamtlichen Leistungen subventionieren. Dieses Arrangement besteht im Prinzip bis heute: Bereitstellung der Dienstleistungen durch eine private Wohltätigkeitorganisation und Bereitstellung finanzieller Mittel durch den Staat. Die Bedeutung einer Armengesetzgebung Eine weitere wichtige Tatsache, die das australische Wohlfahrtssystem prägte, war die Ablehnung einer Armengesetzgebung. In den australischen Kolonien wurde nie eine Armengesetzgebung eingeführt (Dickey 1992: 130) - im Gegensatz zu Großbritannien. Dort versuchte man seit dem Spätmittelalter, die Hilfeleistungen für Arme gesetzlich zu regeln: Die „würdigen Armen“ sollten der privaten Wohlfahrt überlassen werden. Um die „unwürdigen“ und auch die arbeitsfähigen Armen sollte sich der Staat kümmern, der sie in Arbeitshäusern zur Arbeit zwingen konnte. Mit dem Beginn der industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts stellten Bevölkerungswachstum und steigende soziale Mobilität, Industrialisierung und wirtschaftliche Fluktuationen die Armengesetzgebung in Großbritannien vor viele Probleme. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts akzeptierte die englische Gesellschaft die steigenden Kosten der Armengesetzgebung - als notwendige Konsequenz der lange anhaltenden napoleonischen Kriege. Als jedoch die Kritik über den Missbrauch der Hilfeleistungen immer deutlicher wurde, stand 1817 die Abschaffung des Armengesetzes zur Diskussion (Fraser 1993: 33-37).
  • 33. 33 33 Genau zu diesem Zeitpunkt wurde das entscheidende Arrangement zwischen der australischen Kolonialverwaltung und der BSNSW eingerichtet. Die Bemühungen von Gouverneur Macquire, die Armen durch ehrenamtlich tätige Helfer zu unterstützen, wurde von seiner vorgesetzten Dienststelle, dem Kolonialamt in London, ausdrücklich begrüßt: “The evils, which in latter years have been found to result from the Poor Laws in this country [England] are sufficient to prevent the establishment of any analogous System other places [die australischen Kolonien]” (Dickey 1992: 117-118). Das „Übel“, das durch das Armengesetz im Mutterland verursacht wurde, sollte in der neuen Kolonie von ehrenamtlich tätigen Bürgern durch Selektion der „würdigen“ Armen verhindert werden. Die amerikanischen Kolonien waren zu einem Zeitpunkt entstanden, als sich in England das neue System der aus Steuern finanzierten Armenhilfe erfolgreich entwickelte. So hat man in Neuengland und den Kolonien des amerikanischen Nordwestens die Gesetzgebung nach dem Vorbild des Mutterlandes eingeführt. Die australischen Kolonien hingegen wurden in einem politischen Klima gegründet, als in England die Notwendigkeit von staatlichen Hilfen für die Armen in Frage gestellt wurde - nicht nur aus finanziellen, sondern viel mehr aus moralischen Gründen. Man befürchtete, dass die Unterstützung von gesunden Armen deren Fähigkeit, an der Marktwirtschaft als freie Individuen teilzunehmen, schwächen würde. Ab 1820 wurde in England der Plan, das Armengesetz abzuschaffen, wieder verworfen und stattdessen eine verbesserte Gesetzgebung ausgearbeitet. Tatsächlich war im Australien von 1817 eine Armengesetzgebung nicht unbedingt erforderlich. NSW als Sträflingskolonie basierte auf erzwungener Arbeit, ein riesiges, offenes Arbeitshaus, wenn man so will. Überdies zeichnete sich die Kolonie durch einen ständigen Arbeitskräftemangel aus. Und das, obwohl die australischen Arbeitgeber nicht nur von der Kolonialverwaltung Sträflinge zugeteilt bekamen, sondern auch freie Kolonisten beschäftigten. Das Problem der Arbeitslosigkeit, das ja die Armengesetzgebung in Europa so dringend machte, gab es in Australien praktisch nicht. Erst in der Depression der 1840er Jahre herrschte vorübergehende Massenarbeitslosigkeit. Vorbehalte gegen die Armengesetzgebung gab es in Australien noch aus einem anderen Grund: Die Auswanderer waren auf der Suche nach einem besseren Leben. Das Armengesetz ihrer britischen Heimat und die damit häufig verbundene, erniedrigende Einweisung in Arbeitshäuser wollten sie in der neuen Welt hinter sich lassen. Bezeichnenderweise wurde in der australischen Armenfürsorge nie das Wort Armer (Pauper) benutzt, sondern die Bezeichnung Mittelloser (Destitude). So kam es, dass nicht nur die australische Oberschicht das Armengesetz ablehnte, sondern auch die Arbeiterklasse. Die herrschende Schicht glaubte, dass es die Armen zum Müßiggang verleite und überdies höhere Besteuerung erfordere. Die Arbeiter waren dagegen, weil es die Unterdrückung der Armen in der alten Heimat symbolisierte. Laut Brian Dickey entstand so anstatt eines Armengesetzes eine klare Präferenz für private Philanthropie. Die BSNSW legte – wie gesagt - den Grundstein für das gängigste Modell des australischen Wohlfahrtsmanagements (Dickey 1992). Das Fehlen der Tradition einer Armengesetzgebung wird von Michael Jones als einer der Faktoren gewertet, die zum Verzicht eines Sozialversicherungssystems am Anfang des 20. Jahrhunderts geführt haben (Jones 1990: 37- 38).
  • 34. 34 34 1.2 Die Expansionsphase: 1850-1890 Die Phase zwischen 1850 und 1890 war die Zeit der Expansion des Wirtschafts- und Wohlfahrtssystems der australischen Kolonien. In der Kolonie Victoria wurden in den 1850er Jahren - wie bereits erwähnt - bedeutende Goldfunde gemacht, so dass sich dort die stärkste Mittelschicht der australischen Kolonien etablieren konnte. In den 1870er Jahren kam es zu einem regelrechten Charity-Boom. Auf die ca. 800 000 Einwohner in Victoria kamen ca. 400 Charities. Diese waren weniger von staatlichen Subventionen abhängig als Wohlfahrtsorganisationen in anderen Kolonien (Lyons 1994: 77). 1851 gründeten Damen der Hauptstadt Victorias die „Melbourne Ladies Benevolent Society“. Sie wurde in den 1880er Jahren führend unter den 21 anderen Gruppen dieser Stadt. Die Society zeichnete sich durch eine unübertroffen hohe Teilnahme von gesellschaftlich angesehenen Damen aus (Dickey 1987: 37-38). Nach dem Ende der Sträflingsverschiffungen in die Kolonie NSW im Jahre 1840 wurden die staatlichen Hospitale nach britischem Vorbild in private Wohlfahrtseinrichtungen umgewandelt. Finanziert wurden sie durch private Beitragszahler und den Staat, der weiter den Großteil der Gelder zur Verfügung stellte. Ähnliche Arrangements wurden auch in Melbourne getroffen. Zugang zu den Hospitalen erhielten in der Regel nur Arme, die akut krank oder verletzt waren. Schwangere, unheilbar Kranke, Alte und Behinderte hatten keinen Zutritt. Sie kamen oft in überfüllten Armenasylen unter. Manchmal wurden sie auch einfach ins Gefängnis eingewiesen. In den weniger entwickelten Kolonien Van Diemansland, (später Tasmanien genannt), West-Australien und Süd-Australien blieb die Versorgung stärker vom Staat abhängig (Dickey 1987: 16-32). Im Jahre 1862 gab es eine wichtige Veränderung im Arrangement zwischen der BSNSW und der Kolonialverwaltung. Aufgrund von Raumproblemen im Armenasyl entschloss sich der Staat, die Errichtung von Altenheimen allein zu übernehmen. Alte arme Menschen erhielten so erstmals eine eigene Unterbringung. Nur noch Kinderheime wurden der BSNSW überlassen, aber auch die Hilfe vor Ort, also beispielsweise die Vergabe von Kleidern und Lebensmitteln sowie von Werkzeugen zur Existenzgründung (Lyons 1994: 77). In Victoria übernahm der Staat fast vollständig die Versorgung von Waisenkindern. Der Goldrausch der 1850er Jahren erzeugte dort eine besonders kritische Situation unter den schwächeren Gruppierungen der Bevölkerung. Besonders Frauen und Kinder wurden Opfer der Masse an neu eintreffenden Immigranten und der hohen Mobilität der Goldrausch-Gesellschaft. Viele von ihnen wurden obdachlos. Als Reaktion auf diese Entwicklung wandelten die Kolonien Victoria und NSW karitative Institutionen zur Kinderpflege in staatliche „Industrial Schools“. Diese folgten einem Modell von Mary Carpenter, das in England in den 1850er Jahren Mode wurde. Die Einrichtung dieser Großrauminstitutionen mit teilweise über 500 Kindern erwies sich aber als eine Katastrophe. Im Jahr 1874 beschrieb eine Königliche Kommission die Schulen als „Eingangstor zur Hölle“. Krankheiten, Ungeziefer und hohe Todesraten aufgrund von ansteckenden Krankheiten waren charakteristisch für diese „Industrial Schools“. Daraufhin setzte die aus England beeinflusste Boarding-Out-Bewegung ein, die zum Ziel
  • 35. 35 35 hatte, die bedürftigen Kinder in respektablen Arbeiterfamilien auf dem Land unterzubringen. In den 1880er Jahren gelang es, einen Großteil der Massenunterbringungen aufzulösen. Sowohl in Victoria als auch in NSW waren daran nicht nur Nonprofit Gesellschaften, sondern auch staatliche Institutionen beteiligt. Die Kinderfürsorge gehörte zu einem der wenigen Bereiche, für die sich der Staat von nun an direkt verantwortlich fühlte (Dickey 1987: 42-64). In den 1870er Jahren verbesserten sich die Verhältnisse in den Krankenhäusern. Erstmals wurden in NSW und in Victoria Krankenhäuser nach einem angemessenen hygienischen und medizinischen Standard eingerichtet und geführt. Die Anzahl der Antragssteller auf medizinische Behandlung war so groß, dass für die Zulassung das Prinzip der sozialen Bedürftigkeit durch das der medizinischen Bedürftigkeit abgelöst wurde. Aus Nothilfe-Empfängern wurden nun Patienten, und auch die Mittelklasse begann, sich in diesen Krankenhäusern behandeln zu lassen. Folglich stieg die Zahl der Krankenhäuser zwischen 1870 und 1890 in NSW doppelt so schnell wie die Bevölkerungszahl. Das Arrangement zwischen karitativen Krankenhaus-Betreibern und der finanziellen Unterstützung des Staates blieb bestehen. Da diese Krankenhäuser langsam ihren rein sozialen Charakter verloren haben, wird das Thema Gesundheitspflege nicht weiter erörtert (Dickey 1987: 48-58). 1.3 Wirtschaftskrise und Arbeiterbewegung: 1890-1910 Krise der Nonprofit Wohlfahrtsdienste Die Wirtschaftskrise der 1890er Jahre und die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit zeigte im besonderen Maß die Schwächen des Sozialsystems in den Kolonien Victoria und NSW. Aufgrund des lang anhaltenden Wirtschaftsbooms und einer ständigen Knappheit an Arbeitskräften gab es hier keine systematischen staatlichen Programme, die in einer solchen Situation greifen konnten. Stattdessen stellte der Staat nur sehr spärliche ad hoc Hilfen zu Verfügung. In Victoria wurden die staatlichen Zuschüsse für die Charities um ca. 50 % erhöht. Ab 1892 verteilte der Staat von NSW Hilfsgelder an Arbeitslose und deren Familien, die als bedürftig eingestuft waren. Groß angelegte Arbeitsprogramme wurden sowohl in Victoria als auch in NSW abgelehnt. Die Hauptlast der Krise sollten die privaten Wohlfahrtsorganisationen tragen, ein Ansinnen, das diese hoffnungslos überforderte (Dickey 1987: 72-83). Schon Ende der 1880er Jahre waren die kolonialen Charities in die Kritik geraten. Wie auch in England kam es im Zuge des Charity-Booms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem verwirrenden Überangebot an derartigen Hilfsorganisationen. Verschiedene königliche Kommissionen bemängelten in den 1890er Jahren das schlechte Management der Charities. So wurde besonders die unsachgemäße Verwendung von staatlichen Geldern kritisiert. Es gab Hinweise auf mehrfache Bereitstellung von Diensten, auf Verschwendung und Ineffizienz (Jones 1990: 27). Die Missstände hatten zur Folge, dass zu wenig Geld über zu viele Charities verteilt werden musste. Deshalb wurden sowohl in England als auch in Australien Forderungen laut, einige der Charities zu schließen. Zur Überwachung und Koordination der Charities gründete 1887 eine Gruppe von Philanthropen in Victoria die „Charity Organisation Society“ (COS). Ihre Politik orientierte sich eng an ihrem gleichnamigen englischen Vorbild (Kennedy 1982: 73).
  • 36. 36 36 Der zentrale Kompromiss Die Wirtschaftskrise hatte nicht nur weit reichende Konsequenzen für die Charities. Sie zeigte den Australiern die eigene wirtschaftliche Verwundbarkeit. Der eskalierende Konflikt zwischen den Arbeitgebern und der Gewerkschaftsbewegung im Streik der Hafenarbeiter von 1890 machte den politischen Eliten klar, dass ein Kompromiss zwischen beiden Parteien gefunden werden müsse, um den sozialen Frieden zu sichern. Die Schilderung der Hintergründe dieses einzigartigen Arrangements ist für die Forschung über den australischen Nonprofit Sektor von großer Bedeutung. Salamon und Anheier (2000) gehen davon aus, dass Australien durch eine dominante Mittelklasse geprägt war. Wahrscheinlich beruht diese falsche Vermutung darauf, dass Australien heute nur sehr geringe wohlfahrtsstaatliche Ausgaben aufweisen kann, das aber wird in der Theorie meist mit einer schwachen Arbeiterbewegung in Verbindung gebracht wird. Francis Castles argumentiert jedoch in seinem Buch „Australian Public Policy and Economic Vulnerability“ (1988), dass sich in Australien ein schlanker Sozialstaat herausgebildet hat, gerade weil die australische Arbeiterklasse schon so früh erfolgreich war und weil sie eine andere Strategie gewählt hat als ihre europäischen Klassenbrüder. Francis Castles kam zu diesem Ergebnis durch einen Vergleich mit kleinen europäischen Ländern, wie beispielsweise der Schweiz, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Diese haben mit Australien gemeinsam, dass sie heute zwar über entwickelte Volkswirtschaften verfügen, aber nur kleine Binnenmärkte aufweisen. Sie müssen sich deshalb auf eine geringe Bandbreite an Exportprodukten beschränken, in denen sie konkurrenzfähig sind. Diese Abhängigkeit hat schlimme Konsequenzen für die jeweilige Marktwirtschaft, wenn die Preise für jene Exportprodukte auf dem Weltmarkt fallen. Sie leiden deshalb unter einer erhöhten potentiellen Verwundbarkeit gegenüber externen ökonomischen Schocks. Doch Australien und Neuseeland unterschieden sich in ihrer Handelsstruktur stark von den kleinen europäischen Ländern. In den beiden Siedlernationen waren die Exporte bis in die 1980er Jahre fast ausschließlich auf Rohstoff-intensive Produkte beschränkt. Heute handelt es sich dabei vor allem um Bergbauprodukte, in der Vergangenheit waren es überwiegend landwirtschaftliche Güter. Auf diesem Sektor basierte der Reichtum der beiden Volkswirtschaften. Die meisten Arbeitsplätze waren aber in der Industrie entstanden. In den kleinen europäischen Ländern dagegen basierte der Export seit dem Eintritt in das Industriezeitalter vor allem auf industriellen Produkten, wobei auch die meisten Arbeitsplätze entstanden sind (Castles 1988: 38-60). Castles geht davon aus, dass diese potentielle Verwundbarkeit unter den kleinen Ländern zu zwei unterschiedlichen Strategien des sozialen Schutzes geführt hat: Zum einen zur Strategie der „Politics of Domestic Compensation“ und zum anderen zur Strategie der „Politics of Domestic Defence“. Die Strategie der „Politics of Domestic Compensation“ bezeichnet das Vorgehen der kleinen europäischen Staaten. Hier kommt der Aufbau von Schutzzöllen für die heimische Industrie nicht in Frage, weil dadurch die Konkurrenzfähigkeit der Exportindustrie verloren ginge. Dies käme einem wirtschaftlichen Bankrott gleich. Diese Länder müssen mit den Konsequenzen externer ökonomischer Schocks und den damit verbundenen strukturellen Veränderungen leben. Stattdessen müssen die Regierungen die