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12 | Wohnbau − ein historischer Streifzug − Teil 3
Die Alte Poststraße –
Gemeinschaft ohne Zwang
WOHNBAU – EIN HISTORISCHER STREIFZUG – TEIL 3
Mit der in Ausgabe FORUM 01–02/15 gestarteten Serie wollen wir architektonische Leistungen der Vergangenheit
aufgreifen, um Impulse für aktuelle Wohnbauthemen zu bieten. In Teil 3 stellen wir das Projekt Alte Poststraße
in Graz von Szyszkowitz+Kowalski vor, das als wohnbaupolitisches Experiment im Rahmen des steirischen städ-
tischen Wohnbaus gilt.
von Andrea Jany
N
ach den Nachkriegsjahren mit ihren unindividuellen
Wohnmaschinen galt es, die Qualität des Zusammenle-
bens nach dem Zweiten Weltkrieg zu steigern. Das Mo-
dell Steiermark verfolgte das Ziel, den städtischen Wohnblock,
der zu dieser Zeit mit Unwirtlichkeit, Unmenschlichkeit und
Kasernierung verglichen wurde, neu zu definieren und Projekte
zu entwickeln, die ein Symbol für humanere Möglichkeiten ur-
banen Zusammenlebens darstellen. Der Wohnbau „Alte Post-
straße“ in Graz von Szyszkowitz+Kowalski war das erste Pro-
jekt, das im Rahmen des „Modells Steiermark“ realisiert wurde.
Es stellte damit den Beginn eines zehnjährigen wohnungspoli-
tischen Experiments in der Steiermark dar.
In der Projektmappe für die Wohnungsinteressenten stand
zu lesen: „Bei der Planung dieses Projekts galt es nicht nur die
Forderungen nach Wohnungsquadratmetern, frischer Luft, Son-
ne, Sicherstellung hygienischer Anforderungen, Ruhe und Un-
gestörtheit und kurzer Aufschließung zu erfüllen. (...) Wir erwei-
terten den Forderungskatalog durch: Wechselbeziehungen und
intensive Verzahnung zwischen öffentlichem, halböffentlichem
und privatem Bereich und der Möglichkeit zur Kontaktaufnah-
me und zur Selbstdarstellung (z. B. keine ‚nur Stiegenhäuser‘).“
LEBENSRAUM ZUM WOHNEN
Das Grundstück der Wohnanlage Alte Poststraße liegt an einer
stark frequentierten Nord-Süd-Verbindungsstraße im Grazer
Westen. Im Zuge des Modells Steiermark wurde 1981 vom Büro
Szyszkowitz+Kowalski ein Lösungsvorschlag erarbeitet. Ein
Plastilinmodell verdeutlichte den Gebäudeentwurf mitsamt In-
frastruktur und städtischen Umgebung. Hier waren der Innen-
hof, die Stiegenhäuser als Erlebnisräume und auch der Erdwall
als Abschirmung gegen den Verkehrslärm bereits erkennbar.
„Als wesentlicher Vorsatz für uns galt die Herstellung von
allmählichen und überlappenden Übergängen zwischen dem
städtischen öffentlichen Leben und dem haltöffentlichen, durch
die Nachbarschaft bestimmten und abgegrenzten Bereich, bis
bin zum Privatraum“, erläutert das Architektenehepaar Micha-
el Szyszkowitz und Karla Kowalski. Der Schwellenbereich, der
tägliche Weg von und zur eigenen Wohnung, war für sie beson-
ders wichtig in der Ausgestaltung. Diesen haben sie bewusst
als Lebensraum und als Vermittler für soziale Funktionen bau-
lich determiniert. Dementsprechend sind die Außenbezüge der
gesamten Anlage konzipiert: Alle Wohnungseingänge mit ihren
Treppenantritten und Briefkästen sind dem Innenhof zugeord-
net. Dies bietet ein gewisses Maß an Überschaubarkeit und ver-
mittelt eine Identifikationsinstanz, die zugleich die Anonymität
reduziert.
Diese bewusste Gestaltung der Architekten erzielte eine
Verbesserung des Zusammenlebens in der Wohnumwelt unter
Gewährleistung der Privatsphäre. Sie selbst definierten ihren
Ansatz wie folgt: „Vom Wohnhof geht das Gemeinschaftsleben
aus, das bedeutet: Kleinkindspielplätze in Sicht- und Rufweite
zu den Küchen der Wohnungen, öffentliche Grünflächen, private
Kleingärten, Sitzgruppen etc. Von hier aus führen alle Aufgän-
ge und Zugänge in die Wohnungen. Der Wohnhof entspricht der
Größenordnung einer Wohngruppe (optimale Größe 30 bis 50
Wohneinheiten), welche die kleinste gesellschaftliche Einheit
im Städtebau darstellt. Die überschaubare Nachbarschaft in-
nerhalb eines Wohnhofes lässt Identifikation entstehen (‚Hei-
mathof‘).“
WÜNSCHE UMSETZEN
Die Architekten betrachteten sich als Übersetzer und Umsetzer
der Wünsche der zukünftigen Bewohner in eine räumliche Di-
mension, die darüber hinausging, ausschließlich Wohnraum zu
schaffen, sondern auch die Frage nach einer Identifikation be-
antworten sollte.
In einer ersten Zusammenkunft zwischen Wohnungsinte-
ressenten und Planern wurden das Projekt und die einzelnen
Wohneinheiten in Form eines Katalogs vorgestellt. Zusätzlich
informierte man über Finanzierungs- sowie Fördermöglich-
keiten und Projektrandbedingungen – auf das Thema Mitbe-
stimmung wurde hierbei speziell eingegangen. Anschließend
wurden die Wohnungseigentumsbewerber eingeladen, ihre
persönlichen Vorlieben bezüglich Lage und Orientierung so-
wie Größenordnung ihrer Wohnung bekanntzugeben. Die Woh-
nungseigentumsbewerber konnten jeweils drei Wünsche äu-
ßern, wovon in fast allen Fällen einer zur Ausführung kam.
MITBESTIMMUNG ERLAUBT
Während des Planungsprozesses haben einige der zukünftigen
Bewohner mit Leidenschaft die Möglichkeit der Mitbestim-
mung angenommen. Andere wiederum waren überfordert und
sind ausgestiegen. Die Gründung eines Bauausschusses be-
währte sich als effiziente Lösung zur Kommunikation zwischen
der Genossenschaft, den Mitbewohnern und den Architekten.
Der Hauptzugang zur Anlage mit insgesamt 43 Wohnungen er-
folgte über die Dreischützengasse und ist in Anlehnung an ein
Torhaus ausgestaltet. Durch die Aufteilung der Wohnungen auf
sieben Einzelvolumen ergab sich ein Einfamilienhauscharak-
ter. Die horizontale Erschließung der Häuser wurde auf Erdge-
schoßniveau realisiert. Offene Stiegenhäuser und Laubengänge
ermöglichen die vertikale Erschließung. Sie stellen dabei den
Fotos: Archiv TU Graz, Archiv Szyszkowitz+Kowalski
13| 11. September 2015 PLANEN
Übergang vom öffentlichen zum halböffent-
lichen und privaten Bereich dar, wobei der In-
nenhof als zentraler Ort der Anlage fungiert.
Fertigstellung und Übergabe erfolgten 1984.
In der fast vierjährigen Zusammenarbeit zwi-
schen den zukünftigen Bewohnern und den Ar-
chitekten entfaltete sich eine ganze Bandbreite
an Themen und Fragestellungen. Nach Aussage
der Architekten rückte das Thema zwischen Öf-
fentlichkeit und Privatheit sowie deren ange-
messene architektonische Formulierung stark
in den Vordergrund. „Auf diese Weise entstand
eine höchst kontaktfreudige und vielgestaltige
Architektur, deren sinnfälligstes Charakteri-
stikum der reiche Wortschatz zum Thema Er-
schließung ist“, so Szyszkowitz+Kowalski.
Noch heute ist eine starke Identifikation
der Bewohner mit der Siedlung erkennbar.
Der ehemals geplante gemeinschaftliche Wä-
schetrockenraum wird heute als zusätzliches
Raumangebot für sozialen Austausch genutzt.
Die Arbeitsorganisation an den gemeinschaft-
lichen Außenanlagen wird durch die Bewohner
geleistet und organisiert – ein Hausmeister-
dienst wurde bisher nie in Anspruch genom-
men.
„Der hohe Planungsaufwand und die sorg-
fältige Erstellung der Ausschreibung hatten
zur Folge, dass die Kosten im Rahmen der
Förderungsmittel blieben. Damit wurde die
damalige und auch heutige vorherrschende
Meinung widerlegt, dass differenzierte Archi-
tekturformen mehr kosten als konventionelle
Allerweltsbauten“, präzisiert Architekt Micha-
el Szyszkowitz.
DIE BEWOHNER BESTIMMEN
Bis 1991 entstanden unter dem Modell Steier-
mark insgesamt 26 Wohnsiedlungen mit mehr
als 500 Wohnungen. Sie alle folgten den Ziel-
vorstellungen des Arbeitskreises 12 „Bauen
und Wohnen“, der das Modell Steiermark eta-
blierte: „Nicht mehr anonyme Wohnbauträger
bestimmen, wo und wie gebaut werden soll,
sondern die Menschen, die sich zusammenfin-
den und zu Wohngemeinschaften zusammen-
schließen. (...) Der Wohnungswerber bestimmt,
seine Rolle als Bittgänger gehört der Vergan-
genheit an. Die besten Architekten engagieren
sich im Wohnungsbau (...). Ignoranten und
Wucher haben keine Chance. Wohnbauwett-
bewerbe, an denen sich die besten Köpfe be-
teiligen, bestimmen das Planungsgeschehen,
Schubladenpläne und ihre Vervielfältigung
sind verfemt.“
Die Zitate stammen aus:
Persönliche Interviews der Autorin mit Karla
Kowalski und Michaela Szyszkowitz.
Gleiniger, Andrea: Szyszkowitz+Kowalski
1973–1993, Tübingen/Berlin, 1994
Szyszkowitz+Kowalski, Bewohnerbroschüre,
Privatarchiv, 1981
Zur Autorin
Dipl.-Ing. Andrea Jany studierte Architektur
an der Bauhaus-Universität Weimar und der
Virginia Tech in den USA. An der Stanford
University in den USA vertiefte sie ihr Wissen
über historische und gegenwärtige Zusam-
menhänge einer sozialen Demokratie. Jany
arbeitete neun Jahre als Projektleiterin in der
Planung, wobei ihr Schwerpunkt der soziale
Wohnbau war. Sie ist Doktorandin der TU
Graz und erforscht den sozialen Wohnbau der
1980er-Jahre in der Steiermark. Des Weiteren
ist sie in der Wohnbauforschung tätig. Ihr
Schwerpunkt liegt hier auf den Wohnbedürf-
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FORUM_Alte Poststrasse_Juli2015

  • 1. 12 | Wohnbau − ein historischer Streifzug − Teil 3 Die Alte Poststraße – Gemeinschaft ohne Zwang WOHNBAU – EIN HISTORISCHER STREIFZUG – TEIL 3 Mit der in Ausgabe FORUM 01–02/15 gestarteten Serie wollen wir architektonische Leistungen der Vergangenheit aufgreifen, um Impulse für aktuelle Wohnbauthemen zu bieten. In Teil 3 stellen wir das Projekt Alte Poststraße in Graz von Szyszkowitz+Kowalski vor, das als wohnbaupolitisches Experiment im Rahmen des steirischen städ- tischen Wohnbaus gilt. von Andrea Jany N ach den Nachkriegsjahren mit ihren unindividuellen Wohnmaschinen galt es, die Qualität des Zusammenle- bens nach dem Zweiten Weltkrieg zu steigern. Das Mo- dell Steiermark verfolgte das Ziel, den städtischen Wohnblock, der zu dieser Zeit mit Unwirtlichkeit, Unmenschlichkeit und Kasernierung verglichen wurde, neu zu definieren und Projekte zu entwickeln, die ein Symbol für humanere Möglichkeiten ur- banen Zusammenlebens darstellen. Der Wohnbau „Alte Post- straße“ in Graz von Szyszkowitz+Kowalski war das erste Pro- jekt, das im Rahmen des „Modells Steiermark“ realisiert wurde. Es stellte damit den Beginn eines zehnjährigen wohnungspoli- tischen Experiments in der Steiermark dar. In der Projektmappe für die Wohnungsinteressenten stand zu lesen: „Bei der Planung dieses Projekts galt es nicht nur die Forderungen nach Wohnungsquadratmetern, frischer Luft, Son- ne, Sicherstellung hygienischer Anforderungen, Ruhe und Un- gestörtheit und kurzer Aufschließung zu erfüllen. (...) Wir erwei- terten den Forderungskatalog durch: Wechselbeziehungen und intensive Verzahnung zwischen öffentlichem, halböffentlichem und privatem Bereich und der Möglichkeit zur Kontaktaufnah- me und zur Selbstdarstellung (z. B. keine ‚nur Stiegenhäuser‘).“ LEBENSRAUM ZUM WOHNEN Das Grundstück der Wohnanlage Alte Poststraße liegt an einer stark frequentierten Nord-Süd-Verbindungsstraße im Grazer Westen. Im Zuge des Modells Steiermark wurde 1981 vom Büro Szyszkowitz+Kowalski ein Lösungsvorschlag erarbeitet. Ein Plastilinmodell verdeutlichte den Gebäudeentwurf mitsamt In- frastruktur und städtischen Umgebung. Hier waren der Innen- hof, die Stiegenhäuser als Erlebnisräume und auch der Erdwall als Abschirmung gegen den Verkehrslärm bereits erkennbar. „Als wesentlicher Vorsatz für uns galt die Herstellung von allmählichen und überlappenden Übergängen zwischen dem städtischen öffentlichen Leben und dem haltöffentlichen, durch die Nachbarschaft bestimmten und abgegrenzten Bereich, bis bin zum Privatraum“, erläutert das Architektenehepaar Micha- el Szyszkowitz und Karla Kowalski. Der Schwellenbereich, der tägliche Weg von und zur eigenen Wohnung, war für sie beson- ders wichtig in der Ausgestaltung. Diesen haben sie bewusst als Lebensraum und als Vermittler für soziale Funktionen bau- lich determiniert. Dementsprechend sind die Außenbezüge der gesamten Anlage konzipiert: Alle Wohnungseingänge mit ihren Treppenantritten und Briefkästen sind dem Innenhof zugeord- net. Dies bietet ein gewisses Maß an Überschaubarkeit und ver- mittelt eine Identifikationsinstanz, die zugleich die Anonymität reduziert. Diese bewusste Gestaltung der Architekten erzielte eine Verbesserung des Zusammenlebens in der Wohnumwelt unter Gewährleistung der Privatsphäre. Sie selbst definierten ihren Ansatz wie folgt: „Vom Wohnhof geht das Gemeinschaftsleben aus, das bedeutet: Kleinkindspielplätze in Sicht- und Rufweite zu den Küchen der Wohnungen, öffentliche Grünflächen, private Kleingärten, Sitzgruppen etc. Von hier aus führen alle Aufgän- ge und Zugänge in die Wohnungen. Der Wohnhof entspricht der Größenordnung einer Wohngruppe (optimale Größe 30 bis 50 Wohneinheiten), welche die kleinste gesellschaftliche Einheit im Städtebau darstellt. Die überschaubare Nachbarschaft in- nerhalb eines Wohnhofes lässt Identifikation entstehen (‚Hei- mathof‘).“ WÜNSCHE UMSETZEN Die Architekten betrachteten sich als Übersetzer und Umsetzer der Wünsche der zukünftigen Bewohner in eine räumliche Di- mension, die darüber hinausging, ausschließlich Wohnraum zu schaffen, sondern auch die Frage nach einer Identifikation be- antworten sollte. In einer ersten Zusammenkunft zwischen Wohnungsinte- ressenten und Planern wurden das Projekt und die einzelnen Wohneinheiten in Form eines Katalogs vorgestellt. Zusätzlich informierte man über Finanzierungs- sowie Fördermöglich- keiten und Projektrandbedingungen – auf das Thema Mitbe- stimmung wurde hierbei speziell eingegangen. Anschließend wurden die Wohnungseigentumsbewerber eingeladen, ihre persönlichen Vorlieben bezüglich Lage und Orientierung so- wie Größenordnung ihrer Wohnung bekanntzugeben. Die Woh- nungseigentumsbewerber konnten jeweils drei Wünsche äu- ßern, wovon in fast allen Fällen einer zur Ausführung kam. MITBESTIMMUNG ERLAUBT Während des Planungsprozesses haben einige der zukünftigen Bewohner mit Leidenschaft die Möglichkeit der Mitbestim- mung angenommen. Andere wiederum waren überfordert und sind ausgestiegen. Die Gründung eines Bauausschusses be- währte sich als effiziente Lösung zur Kommunikation zwischen der Genossenschaft, den Mitbewohnern und den Architekten. Der Hauptzugang zur Anlage mit insgesamt 43 Wohnungen er- folgte über die Dreischützengasse und ist in Anlehnung an ein Torhaus ausgestaltet. Durch die Aufteilung der Wohnungen auf sieben Einzelvolumen ergab sich ein Einfamilienhauscharak- ter. Die horizontale Erschließung der Häuser wurde auf Erdge- schoßniveau realisiert. Offene Stiegenhäuser und Laubengänge ermöglichen die vertikale Erschließung. Sie stellen dabei den Fotos: Archiv TU Graz, Archiv Szyszkowitz+Kowalski
  • 2. 13| 11. September 2015 PLANEN Übergang vom öffentlichen zum halböffent- lichen und privaten Bereich dar, wobei der In- nenhof als zentraler Ort der Anlage fungiert. Fertigstellung und Übergabe erfolgten 1984. In der fast vierjährigen Zusammenarbeit zwi- schen den zukünftigen Bewohnern und den Ar- chitekten entfaltete sich eine ganze Bandbreite an Themen und Fragestellungen. Nach Aussage der Architekten rückte das Thema zwischen Öf- fentlichkeit und Privatheit sowie deren ange- messene architektonische Formulierung stark in den Vordergrund. „Auf diese Weise entstand eine höchst kontaktfreudige und vielgestaltige Architektur, deren sinnfälligstes Charakteri- stikum der reiche Wortschatz zum Thema Er- schließung ist“, so Szyszkowitz+Kowalski. Noch heute ist eine starke Identifikation der Bewohner mit der Siedlung erkennbar. Der ehemals geplante gemeinschaftliche Wä- schetrockenraum wird heute als zusätzliches Raumangebot für sozialen Austausch genutzt. Die Arbeitsorganisation an den gemeinschaft- lichen Außenanlagen wird durch die Bewohner geleistet und organisiert – ein Hausmeister- dienst wurde bisher nie in Anspruch genom- men. „Der hohe Planungsaufwand und die sorg- fältige Erstellung der Ausschreibung hatten zur Folge, dass die Kosten im Rahmen der Förderungsmittel blieben. Damit wurde die damalige und auch heutige vorherrschende Meinung widerlegt, dass differenzierte Archi- tekturformen mehr kosten als konventionelle Allerweltsbauten“, präzisiert Architekt Micha- el Szyszkowitz. DIE BEWOHNER BESTIMMEN Bis 1991 entstanden unter dem Modell Steier- mark insgesamt 26 Wohnsiedlungen mit mehr als 500 Wohnungen. Sie alle folgten den Ziel- vorstellungen des Arbeitskreises 12 „Bauen und Wohnen“, der das Modell Steiermark eta- blierte: „Nicht mehr anonyme Wohnbauträger bestimmen, wo und wie gebaut werden soll, sondern die Menschen, die sich zusammenfin- den und zu Wohngemeinschaften zusammen- schließen. (...) Der Wohnungswerber bestimmt, seine Rolle als Bittgänger gehört der Vergan- genheit an. Die besten Architekten engagieren sich im Wohnungsbau (...). Ignoranten und Wucher haben keine Chance. Wohnbauwett- bewerbe, an denen sich die besten Köpfe be- teiligen, bestimmen das Planungsgeschehen, Schubladenpläne und ihre Vervielfältigung sind verfemt.“ Die Zitate stammen aus: Persönliche Interviews der Autorin mit Karla Kowalski und Michaela Szyszkowitz. Gleiniger, Andrea: Szyszkowitz+Kowalski 1973–1993, Tübingen/Berlin, 1994 Szyszkowitz+Kowalski, Bewohnerbroschüre, Privatarchiv, 1981 Zur Autorin Dipl.-Ing. Andrea Jany studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar und der Virginia Tech in den USA. An der Stanford University in den USA vertiefte sie ihr Wissen über historische und gegenwärtige Zusam- menhänge einer sozialen Demokratie. Jany arbeitete neun Jahre als Projektleiterin in der Planung, wobei ihr Schwerpunkt der soziale Wohnbau war. Sie ist Doktorandin der TU Graz und erforscht den sozialen Wohnbau der 1980er-Jahre in der Steiermark. Des Weiteren ist sie in der Wohnbauforschung tätig. Ihr Schwerpunkt liegt hier auf den Wohnbedürf- nissen der Gesellschaft.