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Die Menschen wurden mobil. Landpartien, Bildungs-• 
und Kurreisen, Industrialisierung, Auswanderung, Pilger-
fahrten, Kolonialpolitik: Es ist kein Zufall, dass die Eisen-
bahn und das Akkordeon zur gleichen Zeit in die Welt
traten. Das neue Instrument war bewusst darauf zuge-
schnitten, dass es – wie die enorm erfolgreiche Mundhar-
monika, die in jede Westentasche passte – „bequem ein-
gesteckt werden kann, daher Reisenden erwünscht sein
muss“. Der Wiener Patentantrag von 1829 nennt das Ak-
kordeon eine „willkommene Erfindung“ für „das Land
oder Gesellschaften besuchende Individuen beiderlei
Geschlechts“.
Die Inspiration: Mundorgel
Das Prinzip der Tonerzeugung mit durchschlagen-
den Zungen ist rund 5000 Jahre alt. Schon um 2800 v.
Chr. soll der chinesische Kaiser Huang Tei nach diesem
Prinzip die Mundorgel erfunden haben, die Sheng. Ur-
sprünglich war das ein Bündel Bambusrohre, jedes Rohr
mit ausgeschnitzter, frei beweglicher Stimmzunge, die
im Luftstrom vibriert, schnurrt und schnarrt. Ein bis drei
Dutzend solcher Bambuspfeifen werden in einer Kür-
bisschale befestigt, man bläst in die Schale hinein (oder
saugt Luft an) und schließt mit den Fingern die Grifflö-
cher jener Pfeifen, die erklingen sollen. Das Instrument
kann also nicht nur Einzeltöne, sondern mehrstimmige
Klänge hervorbringen. Der Sage nach ahmt die Sheng den
Ruf des Vogels Phönix (Fenghuang) nach. Heute werden
die Schalen und Zungen, aber zunehmend auch die Rohre
aus Metall gefertigt. Auch in anderen asiatischen Ländern
sind Mundorgeln dieser Art gebräuchlich, etwa die Sho in
Japan oder die hölzerne Khaen in Laos und Thailand.
Die europäische Szene war so produktiv wie unüber-
sichtlich: Es entstanden natürlich mundgeblasene Instru-
mente wie 1821 die Mundharmonika (die heute noch vie-
lerorts „Mundorgel“ heißt), dann das Symphonium (eine
Luxus-Mundharmonika mit Knöpfen), das Psalmelodikon
und die Blas-Äoline. Es entstanden aber auch klavierar-
tige Instrumente mit Pedalgebläse wie das Orchestrion
(„Orgelklavier“), die Äoline, das Äolodion, die Orgue ex-
pressif, das Melodium und 1840 das Harmonium, das als
„Arme-Leute“-Orgel viele Freikirchen glücklich mach-
te. Und es entstanden schließlich mobile, tragbare „Äo-
linen“ mit Handzug wie die P(h)ysharmonika (1821), die
Hand-Äoline, die Handharmonika – und dann eben das
Akkordeon.
Das Patent: „Accordion“
Sozusagen als Geburtsurkunde des Instruments gilt
ein Patent, das im Mai 1829 in Wien beantragt und bewil-
ligt wurde. Die Antragsteller waren Cyrill Demian (1772-
1847), ein Orgel- und Klaviermacher aus der Mariahilfer
Straße, sowie seine Söhne Carl und Guido. Gegenstand des
Antrags war „ein neues Instrument, Accordion genannt,
welches in der Wesenheit darin besteht, dass selbes die
Form eines kleinen Käst-
chens hat, worin Federn
aus Mettallblatten samt ei-
nem Blasebalg angebracht
sind.“ (Die Schreibwei-
se „accordion“ hat sich im
Englischen bis heute erhal-
ten. Im Italienischen heißt
das Akkordeon interessan-
terweise „fisarmonica“: Hier hat sich der Name des Kon-
kurrenzmodells „Physharmonika“ durchgesetzt.) Die de-
finierten Abmessungen – „7 bis 9 Zoll lang, 3½ Zoll breit
und 2 Zoll hoch“ – ergeben mit etwa 20 x 9 x 6 cm ein
wirklich nur sehr „kleines Kästchen“: Da muss man sich
Die Erfindung des Akkordeons im Jahr 1829
Ein kleines Kästchen mit
Blasebalg
Text: Hans-Jürgen Schaal
Fotos: am-Archiv
06 - 2008akkordeon magazin
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  • 1. Die Menschen wurden mobil. Landpartien, Bildungs-•  und Kurreisen, Industrialisierung, Auswanderung, Pilger- fahrten, Kolonialpolitik: Es ist kein Zufall, dass die Eisen- bahn und das Akkordeon zur gleichen Zeit in die Welt traten. Das neue Instrument war bewusst darauf zuge- schnitten, dass es – wie die enorm erfolgreiche Mundhar- monika, die in jede Westentasche passte – „bequem ein- gesteckt werden kann, daher Reisenden erwünscht sein muss“. Der Wiener Patentantrag von 1829 nennt das Ak- kordeon eine „willkommene Erfindung“ für „das Land oder Gesellschaften besuchende Individuen beiderlei Geschlechts“. Die Inspiration: Mundorgel Das Prinzip der Tonerzeugung mit durchschlagen- den Zungen ist rund 5000 Jahre alt. Schon um 2800 v. Chr. soll der chinesische Kaiser Huang Tei nach diesem Prinzip die Mundorgel erfunden haben, die Sheng. Ur- sprünglich war das ein Bündel Bambusrohre, jedes Rohr mit ausgeschnitzter, frei beweglicher Stimmzunge, die im Luftstrom vibriert, schnurrt und schnarrt. Ein bis drei Dutzend solcher Bambuspfeifen werden in einer Kür- bisschale befestigt, man bläst in die Schale hinein (oder saugt Luft an) und schließt mit den Fingern die Grifflö- cher jener Pfeifen, die erklingen sollen. Das Instrument kann also nicht nur Einzeltöne, sondern mehrstimmige Klänge hervorbringen. Der Sage nach ahmt die Sheng den Ruf des Vogels Phönix (Fenghuang) nach. Heute werden die Schalen und Zungen, aber zunehmend auch die Rohre aus Metall gefertigt. Auch in anderen asiatischen Ländern sind Mundorgeln dieser Art gebräuchlich, etwa die Sho in Japan oder die hölzerne Khaen in Laos und Thailand. Die europäische Szene war so produktiv wie unüber- sichtlich: Es entstanden natürlich mundgeblasene Instru- mente wie 1821 die Mundharmonika (die heute noch vie- lerorts „Mundorgel“ heißt), dann das Symphonium (eine Luxus-Mundharmonika mit Knöpfen), das Psalmelodikon und die Blas-Äoline. Es entstanden aber auch klavierar- tige Instrumente mit Pedalgebläse wie das Orchestrion („Orgelklavier“), die Äoline, das Äolodion, die Orgue ex- pressif, das Melodium und 1840 das Harmonium, das als „Arme-Leute“-Orgel viele Freikirchen glücklich mach- te. Und es entstanden schließlich mobile, tragbare „Äo- linen“ mit Handzug wie die P(h)ysharmonika (1821), die Hand-Äoline, die Handharmonika – und dann eben das Akkordeon. Das Patent: „Accordion“ Sozusagen als Geburtsurkunde des Instruments gilt ein Patent, das im Mai 1829 in Wien beantragt und bewil- ligt wurde. Die Antragsteller waren Cyrill Demian (1772- 1847), ein Orgel- und Klaviermacher aus der Mariahilfer Straße, sowie seine Söhne Carl und Guido. Gegenstand des Antrags war „ein neues Instrument, Accordion genannt, welches in der Wesenheit darin besteht, dass selbes die Form eines kleinen Käst- chens hat, worin Federn aus Mettallblatten samt ei- nem Blasebalg angebracht sind.“ (Die Schreibwei- se „accordion“ hat sich im Englischen bis heute erhal- ten. Im Italienischen heißt das Akkordeon interessan- terweise „fisarmonica“: Hier hat sich der Name des Kon- kurrenzmodells „Physharmonika“ durchgesetzt.) Die de- finierten Abmessungen – „7 bis 9 Zoll lang, 3½ Zoll breit und 2 Zoll hoch“ – ergeben mit etwa 20 x 9 x 6 cm ein wirklich nur sehr „kleines Kästchen“: Da muss man sich Die Erfindung des Akkordeons im Jahr 1829 Ein kleines Kästchen mit Blasebalg Text: Hans-Jürgen Schaal Fotos: am-Archiv 06 - 2008akkordeon magazin 18