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Solveig Richter/Saša Gavrić

Das politische System Bosnien und Hercegovinas




1. Einleitung
„Auch diese Stadt ist ein Setzkasten europäischer Erinnerungsstücke, jede Epoche, jede
Kultur hat ein Haus hingestellt, von Rom über christliches Mittelalter, jüdische Diaspora
und türkische Besetzung. Österreich-Ungarn, Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus
und American Dream, Bürgerkrieg und europäische Integration. Man könnte irgendwo eine
holländische Windmühle hinbauen, der Vollständigkeit halber. Erst jetzt [...] begreife ich,
dass ich mit eigenen Augen sehe, was man den Schnittpunkt europäischer Kulturen, die
Grenze zwischen Morgen- und Abendland, den Vielvölkerstaat nennt.“ So beschreibt Juli
Zeh ihre Emotionen in Sarajevo (Zeh 2003: 67), der Hauptstadt Bosnien und Hercegovinas,
eines gerade mal 51.000 km2 großen multiethnischen Landes zwischen Kroatien, Serbien
und Montenegro, welches in den 1990er Jahren einen prominenten Platz in unseren Abend-
nachrichten einnahm und heute fast schon in Vergessenheit gerät. Dabei weisen die Verfas-
sungsstruktur und das politische System so viele Besonderheiten auf, dass es sich in jedem
Fall lohnt, diese näher zu studieren.
      Bosnien und Hercegovina ist ein sehr junges souveränes Land und kann auf keine jün-
geren Erfahrungen moderner Eigenstaatlichkeit zurückblicken, obgleich es natürlich inner-
halb Jugoslawiens als eigenständige Republik bereits als abgeschlossene administrative
Einheit fungierte (Calic 1996: 45). Wer durch die Straßen von Sarajevo streift, wird die
Spuren jahrhundertelanger Fremdherrschaft an nahezu jeder Straßenecke finden. Die
Hauptstadt Bosnien und Hercegovinas, Sarajevo, war 1914 Schauplatz des Attentats auf
den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, das den Ersten Weltkrieg
auslöste. 1918 wurde das Land Bestandteil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slo-
wenen, 1929 offiziell umbenannt in Königreich Jugoslawien. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde das Land in seinen jetzigen Staatsgrenzen in die Föderative Volksrepublik Jugosla-
wien (Verfassung von 1946), seit 1963 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien
integriert. Die Verfassung von 1974 gewährte den Republiken und autonomen Provinzen
weitreichende Kompetenzen nach dem Prinzip der Selbstverwaltung, was heute als eine der
Ursachen für das Auseinanderdriften der Republiken und letztlich den Zerfall Jugoslawiens
gilt (Calic 1996: 17). Angesichts der Diskussion um eine staatliche Reform und des Sys-
temgegensatzes zwischen den Kroaten und den Serben bemühte sich das Land vergeblich
um den Erhalt des Gesamtstaats (Imbusch 1999: 176). Nach den Unabhängigkeitserklärun-
gen Sloweniens und Kroatiens erklärte schließlich am 15.10.1991 auch das Parlament in
Sarajevo seine Souveränität. Den Forderungen der Europäischen Gemeinschaft nach folgte
schließlich am 29.2./1.3.1992 ein Referendum. Darin sprach sich zwar eine deutliche
Mehrheit der Bürger für die Unabhängigkeit aus (99,4%). Dies spiegelte jedoch nicht die
Gesamtheit der Bevölkerung wider, denn der Großteil der bosnischen Serben hatte das
Referendum boykottiert. Die EG und die USA erkannten Bosnien und Hercegovina schließ-
2                                                              Solveig Richter/Saša Gavrić

lich am 17.4.1992 an, die Aufnahme in die Vereinten Nationen erfolgte am 22.5.1992 (Ca-
lic 1996: 44). Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu blutigen Auseinandersetzungen zwi-
schen Kroatien und der jugoslawischen Volksarmee gekommen. Als multiethnisches Land
in einer geostrategischen Mittellage wurde Bosnien und Hercegovina von dem Konflikt
mitge- und zerrissen: Der serbisch-kroatische Krieg wirkte als „Katalysator weitreichender
Segregations- und Desintegrationsprozesse“ (Calic 1996: 70) und trieb die Menschen zu
exzeptioneller Grausamkeit: Massenzerstörungen, Vertreibungen und Massaker (Oschlies
2004: 749). Drei ethnische Gruppen fochten mit diametral entgegen gesetzten Interessen
um dasselbe Territorium. Kroaten und Serben sahen in BiH nicht ihre Heimat, sondern
wünschten den Anschluss ihrer Siedlungsgebiete an den Mutterstaat; Franjo Tuđman und
Slobodan Milošević hatten schon die Teilung unter sich ausgehandelt. Die serbische Teilre-
publik hatte am 9.1.1992 ihre Unabhängigkeit erklärt, wurde jedoch von der Staatenge-
meinschaft nicht anerkannt. Die Bosniaken kämpften für den Erhalt „ihres“ Staates (Gro-
mes 2007: 143). 1993/1994 kam es zum bosniakisch-kroatischen Krieg innerhalb Bosnien
und Hercegovinas. Die Kroaten lenkten schließlich am 1.3.1994 unter dem Druck der inter-
nationalen Gemeinschaft im Washingtoner Abkommen in einen Separatfrieden ein, welches
die Föderation Bosnien und Hercegovinas begründete. Das Massaker von Srebrenica, wel-
ches erstmals 2001 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (In-
ternational Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia – ICTY) in einer Entscheidung
als Völkermord qualifizierte, führte im Sommer 1995 der Weltöffentlichkeit ihre Hilflosig-
keit und Handlungsunfähigkeit vor Augen und provozierten ein energischeres Vorgehen der
Vereinten Nationen unter militärischer Führung der NATO. Die Unterstützung kroatischer
und bosniakischer Truppen zwang die Serben nahezu in die militärische Niederlage und so
an den Verhandlungstisch. In Dayton, Ohio, USA, wurde schließlich am 21.11.1995 das
Friedensabkommen (General Framework Agreement for Peace) ausgehandelt und am
14.12.1995 in Paris unterzeichnet. Dieses Abkommen brachte Frieden, schuf durch detail-
lierte Bestimmungen und Annexe den Staat Bosnien und Hercegovina nahezu vollständig
neu, bestätigte aber durch die Aufsplittung in die beiden Entitäten, die serbische Republik
(Republika Srpska – RS, 49% des Territoriums) und die bosniakisch-kroatische Föderation
(51% des Territoriums, im Folg. kurz Föderation), die ethnische Teilung (Burg 1997: 141).
Der Korridor Brčko wurde bis zu einem endgültigen Schiedsspruch unter internationale
Supervision gestellt.
      Der Friedensvertrag von Dayton suchte unter dem Motto „Ein Staat, zwei Entitäten,
drei Nationen“ (Oschlies 2004: 704) die Interessen auszutarieren und die zentrifugalen
Kräfte zu bändigen. Es entstand ein komplexes politisches System, welches einen föderalen
Staatsaufbau mit teilweise bis zu vier territorialen Gliederungsebenen mit konsensdemokra-
tischen Elementen und weitreichenden Vetorechten für die jeweiligen Volksgruppen kom-
biniert. Es basiert somit paradoxerweise weitestgehend auf ethnisch definierten Territorien
und Institutionen, sieht aber gleichzeitig individuelle Menschenrechte, die Rückkehr aller
Flüchtlinge und Freizügigkeit vor (Gromes 2007: 154). Das Friedensabkommen errichtete
zudem das Amt des Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative – OHR) zur
Koordination und Überwachung der Implementierung der zivilen Bestandteile des Ab-
kommens (vgl. Kap. 3). Wichtiger als diese primären Aufgaben war jedoch seit 1997 seine
Kompetenz, Gesetze erlassen und unkooperative Politiker aus ihren Ämtern entfernen zu
können, die sogenannten Bonner Vollmachten. Im Rahmen des Friedensplans wurde zudem
eine internationale Friedenstruppe zur militärischen Absicherung unter NATO-, seit 2004
unter EU-Führung stationiert. Der Frieden von Dayton hat zur Verwunderung mancher
gehalten (Riegler 1999: 9). Bosnien-Hercegovina gilt dennoch als eines der Paradebeispie-
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                                           3

le, wie Demokratisierung als Friedensstrategie von externen Akteuren offensiv genutzt
wurde, aber Defizite im Demokratisierungsprozess Frieden und Aussöhnung verhinderten
(Richter 2009).
     Die Verfassung von Dayton bestätigte die Rechtsnachfolge der Republik Bosnien und
Hercegovina, die sich 1992 von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien
(SFRJ) unabhängig erklärte, durch den neugegründeten Staat Bosnien und Hercegovina
(Bosna i Hercegovina, im Folg. auch abgekürzt BiH; Council of Europe 2005: 3). Heute
leben nach Schätzungen etwa 3,78 Millionen Bürger im Land (vgl. Tabelle 1). Anders als
vor dem Krieg basiert die Definition des demos durch die Verfassung jedoch nun aus-
schließlich auf dem ethnischen Prinzip und benennt explizit nur die in Bosnien und Herce-
govina lebenden Bosniaken1, Kroaten und Serben als „konstituierende Völker“2 (Consti-
tuent peoples3; Verfassung: Präambel, Abs. 10). Angehörige anderer Ethnien oder Minder-
heiten (z.B. Roma oder Juden; in der Verfassung Others – „Andere“) werden zwar von der
Staatsbürgerschaft nicht ausgeschlossen, können allerdings zahlreiche politische Posten
nicht besetzen (vgl. Kap. 2.1). Diese Restriktionen treffen nicht nur die nationalen Minder-
heiten, sondern allen voran auch eine große Gruppe von Staatsbürgern, die zum einen aus
Mischehen stammen oder zum anderen zwar eine klare ethnische Herkunft haben, sich aber
selbst dezidiert nicht einer der Volksgruppen zuordnen wollen (müssen). Das Verfassungs-
gericht traf im Frühjahr/Sommer 2000 eine Reihe wegweisender Entscheidungen, wonach
die Gleichberechtigung der drei konstituierenden Völker sich nicht nur auf die Gesamt-
staats-, sondern auch auf Entitätsebene erstreckt, folglich Serben in der Föderation und
Bosniaken/Kroaten in der RS sowie „Andere“ die gleichen Rechte und den Schutz nationa-
ler Interessen genießen (vgl. auch Kap. 13). Die Verfassung fußt daher nicht auf einer
Gleichheit der Bürger, sondern vor allem auf einer Gleichheit der Gruppen. Entsprechend
sind auch die offiziellen Landessprachen bosnisch, kroatisch und serbisch.4 Formell sind

1   Der Begriff Bosniake (bošnjak) stammt aus dem Mittelalter und bezeichnet heute die primär in Bosnien
    und Hercegovina, teilweise auch in Serbien und Montenegro lebenden Muslime. Diese Bezeichnung
    wurde 1993 zur Abgrenzung der ethnischen Zugehörigkeit von der rein religiösen (Islam und Muslime)
    eingeführt. Erstmals tauchte bei der Volkszählung 1948 die Gruppe der damals so bezeichneten „Mus-
    lime“ (im religiösen Sinne) auf. Die Verfassung von 1963 nannte in der Präambel „Serben, Kroaten und
    Muslime“, was impliziert, dass darunter eine eigene Volksgruppe verstanden wurde. Die Volkszählung
    1971 verwendete explizit „Muslim“ (im Sinne einer Volksgruppe), was bis 1993 die offizielle Bezeich-
    nung war. 1993 wurde in Sarajevo im Rahmen der Bosniakischen Versammlung (Bošnjački sabor), an
    welcher alle wichtigen Intellektuellen und Politiker der Bosniaken teilnahmen, per Abstimmung der
    Begriff Bošnjak als Name der Nation bestimmt (zur Geschichte siehe Malcolm 1996). Der Begriff Bos-
    nier (bosanac) steht für eine geographische Herkunft und umfasst alle Staatsbürger Bosnien und Herce-
    govinas unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Erfasst werden mit diesem Begriff
    auch jene Bürger, die aus Mischehen stammen und/oder sich nicht dezidiert einer der Volksgruppen
    und somit einer ethnischen Identität zuordnen lassen möchten.
2   Die Begriffe „Ethnie“ und „konstituierendes Volk“/„Volksgruppe“ unterscheiden sich. Während eine
    „Ethnie“ eine Gruppe von Menschen umfasst, die Geschichte, Kultur, Religion oder ein spezielles Sied-
    lungsgebiet auch unabhängig von Staatsgrenzen teilen, steht der Begriff des „konstituierenden Vol-
    kes“/der „Volksgruppe“ in diesem Beitrag eher politisch für jene Gruppe von Menschen, die sowohl
    Staatsbürger Bosnien und Hercegovinas sind als auch einer speziellen Ethnie angehören – eben die
    Bosniaken, bosnischen Kroaten und bosnischen Serben. Vgl. zur Problematik z.B. Gurr 2000: 69ff.
3   Zur Problematik der Verfassungssprache vgl. Kap. 2.
4   Im Rahmen der Nationswerdung 1991/1992 kam es im ex-jugoslawischen Raum auch zu einer Redefi-
    nition und Aufsplittung der bis dahin offiziellen Landessprache des Serbokroatischen in die heute offi-
    ziell anerkannten Sprachen bosnisch, kroatisch, montenegrinisch und serbisch (zur den Nachfolgespra-
    chen des Serbokroatischen siehe Kordić 2002).
4                                                                          Solveig Richter/Saša Gavrić

Staat und Religion getrennt. Allerdings definieren sich die unterschiedlichen Ethnien und
somit auch die Volksgruppen zu einem großen Teil über ihre religiöse Zugehörigkeit (Bos-
niaken/Islam – Kroaten/Katholizismus – Serben/Orthodoxie), so dass Vertreter der religiö-
sen Gemeinschaften zur Sicherung der nationalen Interessen sich immer wieder in politi-
sche Kampagnen einmischten (BTI 2007: 6). Die starke Vermischung von ethnischer Zu-
gehörigkeit und politischen Rechten hat über Jahre hinweg zu einer stetigen Ethnisierung
der gesamten gesellschaftlichen Sphäre geführt.

Tabelle 1:   Ethnische Gliederung Bosnien und Hercegovina 1991 und 2008
                                             Zensus 1991                     Schätzungen 2008
Insgesamt (in Millionen)                        4,35                               3,78
Bosniaken (1991: Muslime) (in %)                 44                                 48
Kroaten (in %)                                   17                                14,3
Serben (in %)                                    31                                37,1
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach dem Zensus 1991, CIA Worldfactbook 2008 und Balkan Insight 2008.


Bosnien und Hercegovina kämpfte seit 1995 mit vier Transformationsprozessen gleichzei-
tig: dem Wandlungsprozess einer Kriegs- in eine zivile Friedensgesellschaft, dem staatli-
chen Neuaufbau, der politischen Demokratisierung des Landes und dem Übergang von
einer kommunistischen Plan-, anschließend Kriegs- hin zu einer liberalen Marktwirtschaft
(BTI 2007: 3).
      „Der Krieg ging 1995 militärisch zu Ende, politisch sind die Gräben auch heute noch
tief.“ So beschrieb 2004 Wolf Oschlies die Situation im Land nach nahezu zehnjährigem
Friedensprozess (Oschlies 2004: 739). Leider hat sich im Wesentlichen in den vergangenen
fünf Jahren daran wenig geändert. Der Friedens- und Versöhnungsprozess in Bosnien und
Hercegovina wird noch Jahre, wenn nicht Generationen in Anspruch nehmen. Das Erbe des
Kriegs liegt wie ein Schatten über dem Land. Nahezu jede Familie hatte Opfer zu beklagen
und war von ethnischen Säuberungen betroffen. Nach dem Friedensschluss 1995 fand das
geschundene Land zunächst keine Ruhe, denn die nationalistischen Parteien des Krieges
entpuppten sich auch nach dem Krieg als Vetospieler mit antidemokratischen Praktiken (BTI
2007: 23). Allein der Hohe Repräsentant hatte trotz der vielen kontraproduktiven Effekte,
die mit seiner Tätigkeit einher gingen (vgl. Kap. 3), einen positiven Einfluss, entfernte er
doch mit Hilfe seiner Bonner Vollmachten zahlreiche Offizielle für eine Obstruktion des
Friedensprozesses oder wegen ihrer Verwicklungen in Kriegsverbrechen aus ihren Ämtern.
Zwar hat sich die Sicherheitslage im Land weiter verbessert. Das Monopol der physischen
Gewalt liegt in den Händen staatlicher Organe (bzw. der internationalen Gemeinschaft).
Nach einer umfassenden Verteidigungsreform wurden zudem 2006 die Armeen der Entitäten
durch eine kleine gesamtstaatliche Berufsarmee ersetzt und ein gesamtstaatliches Verteidi-
gungsministerium etabliert (BTI 2006: 5). Doch die sozial-strukturellen Nachwirkungen sind
noch immer zu spüren. Der Krieg löste kaum vorstellbare Bevölkerungsverschiebungen aus.
Die ethnische Landkarte hat sich massiv verändert – von einem bunten Patchwork, wie es
sich noch 1991 darstellte, kann nicht mehr die Rede sein. Nach den jüngsten Zahlen des
Zentrums für Forschung und Dokumentation in Sarajevo nach zwölfjähriger Recherche sind
insgesamt 96.000 Kriegsopfer (verstorben oder vermisst) nachgewiesen und 440 Gefängnis-
se oder Konzentrationscamps sowie 320 Massengräber lokalisiert.5 Über die Hälfte der Bür-
ger lebte 1995 als Flüchtling oder Vertriebener fern ab der Heimat an einem anderen Ort.

5   Quelle: www.idc.org.ba/aboutus.html (letzter Abruf 6.8.2008).
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                             5

Trotz der nahezu vollständigen Rückgabe des im Krieg enteigneten oder besetzten Eigen-
tums (93,34% im März 2006; BTI 2007: 10), kehrte nur etwa die Hälfte aller Flüchtlinge
zurück. Die Rückkehr von Angehörigen, die an ihrem ursprünglichen Wohnort nicht der
Ethnie der jeweils ansässigen Mehrheitsbevölkerung entstammten, wurde immer wieder
durch gewalttätige Übergriffe, Diskriminierung und Einschüchterungen verhindert, so dass
sich ein Großteil in den Siedlungsgebieten „ihrer“ Volksgruppe niederließ. Der Anteil der
Bosniaken hat sich so seit 1991 bis heute in der Föderation von 52% auf 73% erhöht, wäh-
rend sich etwa der Anteil der Serben dort von 18% auf 2% verringerte, aber in der RS von
54% auf 97% anstieg (vgl. Peters 2003: 51ff.). Der Anteil der Kroaten an der Gesamtbevöl-
kerung sank von 17% vor dem Krieg auf heute etwa 14% (4,8% in der RS, 16,5% in der
Föderation) (Bieber 2008: 40f.). Die Vergangenheitsbewältigung, insbesondere die (juristi-
sche) Aufarbeitung eigener (Kriegs-)Verbrechen sowie die rechtmäßige Bestrafung der Täter
gestaltete sich innerhalb und zwischen den Volksgruppen besonders schwierig (BTI 2007:
25). Die Justizbehörden zeigten sich lange noch unwillig, Menschenrechtsverletzungen auf-
zuklären. Gerade die Aufarbeitung minderer, nichtsdestotrotz gewalttätiger Verbrechen in
den Kommunen kam nicht ins Rollen, so dass beispielsweise Polizisten, die sich Vergehen
schuldig gemacht hatten, weiterhin unbehelligt die Staatsmacht vertraten. Die Kooperation
mit dem ICTY war lange Jahre mangelhaft. Eine speziell eingerichtete Gerichtskammer für
Kriegsverbrechen im Gerichtshof Bosnien und Hercegovinas nahm schließlich erst im März
2005 in Sarajevo ihre Arbeit auf. Mittlerweile erreichten einheimische Kriegsverbrecherpro-
zesse und die Arbeit des unabhängigen Zentrums für Forschung und Dokumentation in Sara-
jevo einige Fortschritte bei einer sachlichen Aufarbeitung der jüngsten Geschichte. Sie er-
zielten jedoch keine große politische Wirkung (BTI 2007: 25). Die mangelnde Aufarbeitung
der Vergangenheit nährte jedoch die interethnischen Antagonismen weiter, schließlich hatte
jede Volksgruppe ihre eigene Version der Ereignisse und fühlte sich in der Opferrolle. Histo-
rische Unrechtstaten werden in der politischen Auseinandersetzung daher weiterhin instru-
mentalisiert und propagiert.
      Die staatliche Transformation begann mit dem Zerfall des alten Jugoslawien, mündete
in die Unabhängigkeit und endete 1995 formal mit der Neugründung des Staates Bosnien
und Hercegovina. Das Streben nach Frieden führte letztlich dazu, dass in der Verfassungs-
struktur von Dayton den drei konstituierenden Völkern eine sehr starke Veto- und Blockade-
position eingeräumt wurde. Dayton etablierte zudem einen extrem dezentralisierten Staat mit
zwei Entitäten, von denen eine Teilrepublik – die Föderation – selbst noch einmal stark zer-
gliedert ist. Die durch das Friedensabkommen und die umfassende Präsenz der internationa-
len Gemeinschaft garantierte Sicherheit und Stabilität in den ersten Nachkriegsjahren mün-
dete jedoch nicht in ein erfolgreiches, integrierendes Staatsprojekt (Richter 2009). Bosnien
und Hercegovina kämpfte von Beginn an mit eklatanten Stabilitäts- und Legitimitätsdefizi-
ten. Während sich die Bosniaken mit „ihrem Staat“ identifizierten, lehnten Serben und Kroa-
ten das Dayton-Konstrukt lange Zeit ab und forderten die Unabhängigkeit ihrer Siedlungs-
gebiete oder den Anschluss an ihre Mutterländer. Mit den demokratischen Umbrüchen und
Regierungswechseln 2000 in der Bundesrepublik Jugoslawien und Kroatien fiel zwar deren
Unterstützung für die sezessionistischen Absichten der bosnischen Serben und Kroaten weg,
so dass sich der „meist unausgesprochene Konflikt um den dauerhaften Fortbestand Bos-
niens als Staat“ (BTI 2003: 17) auf Diskussionen um die Kompetenzverteilung im Land
verlagerte. Dennoch ermöglichte es das Machtgefüge in Bosnien und Hercegovina den zent-
rifugalen Kräften, eine Stärkung des Gesamtstaates weitestgehend zu usurpieren. Ein Fenster
der Gelegenheiten für eine umfassende Reform der staatlichen Struktur öffnete sich 2006, als
sich die wichtigsten Vertreter der drei Volksgruppen auf eine Verfassungsreform verständig-
6                                                                         Solveig Richter/Saša Gavrić

ten, die dem Gesamtstaat eine Zukunftsperspektive hätte sichern können. Das Reformpaket
scheiterte jedoch im Parlament an nur wenigen Stimmen. Einige Abgeordnete hatten sich
den Plänen ihrer Parteiführung bzw. Vertretern der Volksgruppe widersetzt. De facto ist die
staatliche Einheit somit nach wie vor umstritten, und die beständige Bedrohung eines Zer-
falls bestimmt das politische Leben im Land weiterhin. Der Staat Bosnien und Hercegovina
besitzt zudem weiterhin nur eingeschränkte Souveränität: Der Hohe Repräsentant kann im
zivilen Bereich souveräne Entscheidungen aushebeln, und das staatliche Gewaltmonopol
wird seit 1995 durch internationale Friedenstruppen, die Sicherheit garantieren konnten,
begrenzt (1995-1996 IFOR, 1996-2004 SFOR, seit 2004 EUFOR).
      Der politische Transformationsprozess wurde durch die Ablösung des autokratischen
Regimes bereits mit den ersten freien Wahlen 1990 eingeleitet, geriet jedoch durch die
Instrumentalisierung der nationalen Frage sogleich ins Stocken. Die drei nationalistischen
Parteien der Bosniaken, Kroaten und Serben gewannen die Wahlen und bildeten eine fragi-
le Koalition, die jedoch keinen Konsens über die staatliche Zukunft fand und zerbrach
(Woodward 1995: 233). Die Ausgangsbedingungen für eine (fortgesetzte) Transformation
waren daher 1995 im Anschluss an einen zerstörerischen Krieg ungünstig, um nicht zu
sagen düster (Richter 2009). Nach einer Neugründung des Staates durch den Vertrag von
Dayton mündeten die Gründungswahlen (1996) daher nicht in den Sieg eines demokrati-
schen Reformbündnisses, welches die Konstituierung und Festigung demokratischer Insti-
tutionen hätte voran treiben können. Die Wahlen brachten hingegen einen klaren Sieg der
alten Kräfte, die nun demokratisch legitimiert den Krieg mit anderen Mitteln fortsetzten.
Die nationalistischen Parteien konservierten ihre illegalen Netzwerke und konterkarierten
somit die staatliche Verfassungsstruktur. Das jahrelange Gegeneinander formaler Institutio-
nen und realer Machtstrukturen verhinderte die Demokratisierung und den Wiederaufbau
(Oschlies 2004: 741). Das Jahr 2000 brachte mit dem Wahlsieg gemäßigter Parteien („Alli-
anz des Wandels“) eine positive Zäsur, eine progressive Periode folgte. Interne politische
Differenzen verhinderten jedoch grundlegende Reformen, bereits nach einem Jahr polari-
sierte der Wahlkampf erneut die politische Landschaft. 2002 und 2006 gewannen wieder
nationalistische oder national gesinnte Parteien. Erfolgreiche, freie und faire Wahlen fanden
somit mittlerweile zwar regelmäßig statt und mündeten in Regierungswechseln auf allen
Ebenen. Dennoch erweist sich Huntingtons Kriterium des zweimaligen Machtwechsels für
eine gefestigte Demokratie (Huntington 1991: 266) als irreführend (Richter 2009). Bosnien
und Hercegovina gehört keineswegs zum „illustren“ Kreis gefestigter Demokratien (Gro-
mes 2006b: 18), sondern besitzt eher ein hybrides Regime in der Grauzone zwischen einem
autoritären und liberal-demokratischen politischen System (vgl. auch BTI 2007: 5). Die
Effekte der teils missglückten staatlichen Transformation auf den Demokratisierungspro-
zess sind nicht zu unterschätzen. Die mangelnde Konsensbildung zum gemeinsamen staat-
lichen Zusammenleben und zur Durchführung einer reformorientierten Politik stellte die
„größte Hürde“ dar (BTI 2003: 17). Das komplexe Regierungssystem zur Befriedung nati-
onaler Interessen sowie die Ethnisierung des demos und damit des gesamten öffentlichen
und politischen Lebens hemmten die Demokratisierung. Andererseits sicherten demokrati-
sche Verfahren und Rechte wiederum den nationalistischen Kräften Einflusskanäle (Richter
2009). Daraus resultierten Reformblockaden; die unklare vertikale Kompetenzverteilung6
behinderte zusätzlich transparente Entscheidungsprozesse und Gewaltenkontrolle (Richter

6   Insgesamt gibt es etwa ca. 140 Ministerien, mit teilweise gleichen oder ähnlichen Zuständigkeiten (z.B.
    in den Bereichen Justiz und Bildung), insgesamt 14 Regierungen und 14 parlamentarische Versamm-
    lungen mit legislativen Kompetenzen (BTI 2007: 22; vgl. Kap. 14).
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                                    7

2009). Vorstöße, die auf eine Steigerung der Funktionalität und Behebung zentraler Defekte
des Regierungssystems abzielten, sind nach dem Scheitern der Verfassungsreform 2006
durch den Antagonismus um die staatliche Struktur blockiert und daher chancenlos (BTI
2007: 2).
      Die Transformation von einer kommunistischen Plan- zu einer modernen Marktwirt-
schaft nahm in den 1990er Jahren leider den Umweg über die Ausprägung einer informel-
len Kriegswirtschaft und steckt daher weiterhin nur in den Anfängen. Trotz einiger Fort-
schritte bleibt die wirtschaftliche Lage Bosnien und Hercegovinas prekär. Der internationa-
le Währungsfond warnte im Juni 2008 vor steigenden Risiken (Inflation, Handelsdefizit)
für die makroökonomische Stabilität und das Wachstum des Landes (Economist Intelligen-
ce Unit 2008: 11). Kriegszerstörungen und die dichten Netzwerke zwischen politischen
Eliten und wirtschaftlichen Institutionen, die sich während des Krieges bildeten und direkt
im Anschluss daran weiter konsolidierten, verhinderten bisher den Aufbau einer funktionie-
renden Marktwirtschaft. Zudem prägt der umfangreiche informelle Sektor, dessen Größe
nach unterschiedlichen Quellen auf 20-50% des BIP geschätzt wird, auch weiterhin ent-
scheidend die wirtschaftliche Entwicklung (BTI 2007: 13f.). Erschwerend für den Aufbau
eines einheitlichen Marktes kommt die dezentralisierte Struktur des politischen Systems
hinzu. Die ökonomische und fiskalische Politik ist fragmentiert und auf verschiedene Ebe-
nen und Institutionen verteilt. Zwar hat der Hohe Repräsentant in den letzten Jahren wichti-
ge Schritte zur Vereinheitlichung unternommen, etwa die Einführung einer landesweiten
Mehrwertsteuer 2006 oder die Initiative zur Gründung eines Wirtschafts- und Sozialrats
2008, in welchem u.a. die Finanzminister die Staats- und Entitätsbudgets abgleichen (BTI
2007: 14). Dennoch stehen insgesamt noch zu viele Hürden für die Entwicklung eines
wettbewerbsorientierten gemeinsamen Wirtschaftsraums im Wege. Positiv ist, dass BiH
immerhin eine starke und unabhängige Zentralbank ebenso wie eine stabile Währung be-
sitzt. Die Konvertible Mark (KM) ist mit einem Wechselkurs von 1.96 (der frühere DM-
Wert) fest an den Euro gekoppelt (Economist Intelligence Unit 2008: 6). Das Bruttoin-
landsprodukt lag 2007 bei 10.6 Mrd. € (das macht ca. 2.734 € pro Kopf; Quelle: Auswärti-
ges Amt7), die Inflationsrate im April 2008 bei 7,5% (Economist Intelligence Unit 2008: 2).
Das wirtschaftliche Wachstum ist zwar relativ hoch (2007 5,5%; Economist Intelligence
Unit 2008: 7), reicht jedoch bei weitem für Bosnien und Hercegovina nicht aus, wirtschaft-
lich an die anderen Länder der Region aufzuschließen. Der Privatisierungsprozess nahm
erst in den letzten Jahren an Fahrt auf, und ist daher de facto auch für den Großteil des
Wachstums und den gestiegenen Anteil an Direktinvestitionen, gleichzeitig aber auch für
steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich (BTI 2007: 16f.). Wirtschaftliche Investitionen
durch den Staat sind somit minimal, geht doch der größte Einzelanteil des Haushaltes allein
in die Finanzierung der Administration (40,5%; BTI 2007: 22). Nur etwa 42,6% der er-
wachsenen Bevölkerung sind beschäftigt, die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 40-45%.
Wenn auch für die Konsolidierung des Staatshaushaltes hinderlich, so ist doch für die all-
gemeine wirtschaftliche Lage zumindest positiv festzuhalten, dass diese sich auf 20% ver-
ringert, zählt man die Beschäftigten im informellen und somit offiziell nicht erfassten Sek-
tor hinzu. Etwa die Hälfte der Haushalte lebt dennoch in Armut oder an der Schwelle dazu
(BTI 2007: 12). Das soziale Sicherungsnetz und somit die staatlichen Sozialausgaben wer-
den zusätzlich durch die Kriegsfolgen (Veteranen, Invaliden etc.) immens belastet und
brachten die Föderation jüngst (Juli 2008) an den Rande der Insolvenz (Economist Intelli-

7   www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/BosnienUndHerzegowina.html
    (Abruf vom 08.10.2008).
8                                                                Solveig Richter/Saša Gavrić

gence Unit 2008: 2). Bosnien und Hercegovina leidet zudem in wirtschaftlicher Hinsicht
unter seiner schwierigen Geographie, so dass die infrastrukturellen Voraussetzungen neben
der komplexen administrativen Struktur, den langsamen Entscheidungsprozessen und der
unsicheren staatlichen Zukunft bisher ausländische Direktinvestoren abschreckten (nur
3,45% des BIP; Balkan Insight 2008). Die durchaus vorhandenen wirtschaftlichen Potentia-
le durch den Tourismus konnte Bosnien und Hercegovina aufgrund seines schlechten
Images sowie einer weithin verminten Landschaft im Gegensatz etwa zu Kroatien bisher
nicht annäherungsweise ausschöpfen.
     Das von Dayton geschaffene politische System ist somit reich an Komplexität und in-
neren Widersprüchen. Aufgrund des Status als ein Quasi-Protektorat der internationalen
Gemeinschaft, die zum Teil noch souveräne Hoheitsfunktionen ausübt, kann der Transfor-
mationsprozess Bosnien und Hercegovinas wie auch der derzeitige Demokratisierungsstand
kaum mit anderen post-kommunistischen Ländern verglichen werden. Während an gleicher
Stelle vor einigen Jahren Wolf Oschlies noch die Spezifika unterstrich und die Fallsticke
des Friedensprozesses präzise herausarbeitete (Oschlies 2004), stellt der folgende Artikel
den Versuch dar, mit dem Instrumentarien der Vergleichenden Regierungslehre das politi-
sche System Bosnien und Hercegovinas in seiner Normalität zu erfassen. Dem besonderen
Umstand der Rolle externer Akteure trägt der Beitrag jedoch mit einem gesonderten Kapitel
(vgl. Kap. 3) Rechnung.


2. Verfassungsentwicklung und Verfassungsprinzipien

2.1 Verfassungsentwicklung und Reformdiskussion
Die Verfassung Bosnien und Hercegovinas wurde als Annex 4 in das Friedensabkommen
von Dayton integriert und somit direkt im Anschluss an die kriegerischen Auseinanderset-
zungen ausgehandelt und angenommen. Sie ist daher kein Produkt eines Systemwechsels
und demokratischen Gründungskonsenses: Weder wurde die Verfassung unter Einschluss
der Bevölkerung konzipiert noch durch demokratische Prozeduren im Nachhinein legiti-
miert. Sie ist vor allem ein Werk ausländischer, allen voran amerikanischer Friedensver-
mittler. Die Verfassung ist darüber hinaus auch insofern ein Unikum der jüngeren Verfas-
sungsgeschichte, als sie bisher nie in die Landessprachen offiziell übersetzt und darin veröf-
fentlicht wurde, sondern formell gesehen nur in einer fremden Sprache, Englisch, vorliegt
(Peters 2003: 51). Das Abkommen sieht eine Übersetzung vor, jedoch kamen die Verant-
wortlichen in Bosnien und Hercegovina, im Wesentlichen die Präsidentschaft und der Mi-
nisterrat, ihrer Pflicht bisher nicht nach. Konstitutionell unterliegt Bosnien und Hercegovi-
na damit weiterhin der „Suprematie internationaler Normen“ (Oschlies 2004: 764). Die
zentralen Verfassungsprinzipien und Arrangements des Regierungssystems (vgl. Kap. 2.2)
sind somit nur vor dem spezifischen Entstehungshintergrund eines verhandelten Friedens
zur Beendigung des bewaffneten Kampfes nachzuvollziehen. Ähnliches gilt für die Verfas-
sungstexte der Entitäten: Die Verfassung der Föderation wurde im Juni 1994 ebenso als
Verhandlungskompromiss zwischen Bosniaken und Kroaten (unter amerikanischer Ver-
mittlung) in das Washingtoner Friedensabkommens integriert, welches in seinen Grundzü-
gen auch den Friedensschluss von Dayton prägte, wie sich etwa in der verwirrenden Dop-
pelung der Namen vieler Institutionen widerspiegelt (Gromes 2007: 164). Hingegen wurde
die Verfassung der Republika Srpska bereits kurz vor Beginn des Bürgerkrieges 1992 ver-
abschiedet und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Republika Srpska eine separatistische
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                             9

Teilregion bildete. Die Verfassung konzipierte daher einen unitaren Staat, dessen Ziel in
der Unabhängigkeit der serbischen Siedlungsgebiete und somit gerade nicht in der Integra-
tion im damals erst unabhängig gewordenen Staat Bosnien und Hercegovina bestand
(Council of Europe 2005: 2f., 16; vgl. ausführlich Kap. 14.1). Damit entstanden alle Ver-
fassungstexte weniger im Kontext einer politischen Transformation, sondern sie sind vor
allem ein Produkt des blutigen Staats- und Nationsbildungsprozesses.
     Die Verfassungsgrundlage Bosnien und Hercegovinas weist neben den gravierenden
demokratischen Defiziten bei der Genese weitere rechtliche und funktionale Schwächen
auf. Ein Gutachten des Europarates monierte 2005, dass zentrale Normen der Verfassung
nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind (vgl. ausführlich
Kap. 2.2). Bereits 2000 hatte das Verfassungsgericht in Sarajevo festgestellt, dass die Enti-
tätsverfassungen nicht mit der gesamtstaatlichen Verfassung kompatibel waren und diskri-
minierende Effekte entfalteten. Dieser Mangel wurde 2002 durch den Hohen Repräsentan-
ten behoben, der Veränderungen an den Entitätsverfassungen verfügte. Die institutionellen
Korrekturen (vgl. ausführlich Kap. 2.2 und 14.1) erhöhten jedoch die Komplexität des Re-
gierungssystems weiter. Die vielfältigen Schutzinstanzen für die Interessen der konstituie-
renden Völker führten zu Blockaden, der überbordende Parlaments- und Regierungsapparat
zu horrenden Staatsausgaben und ineffizientem Regieren (Council of Europe 2005: 13).
Der Reformbedarf der Verfassung, insbesondere der damit verbundenen Staatsstruktur, ist
somit evident. Doch die Ansprüche nach einem primär national gesteuerten Novellierungs-
prozess und die verfassungsrechtlichen Hürden mit einer Zweidrittelmehrheit in der ersten
Kammer des Parlaments inklusive der Zustimmung mindestens jeweils eines Drittels der
Abgeordneten beider Entitäten sind recht hoch (Council of Europe 2005: 8ff.; de facto
können somit die Serben der RS ein Veto gegen eine Verfassungsänderung einlegen.).
Zudem gehen die Vorstellungen über die zukünftige Gestalt des Staates diametral ausein-
ander. Sie reichen von einem Bestand der bisherigen Föderalstruktur (Serben) über eine
noch stärkere Konföderalisierung (Forderung nach einer dritten Entität unter Teilen der
Kroaten) bis hin zu einer Zentralisierung (Bosniaken) in Form von multiethnischen Regio-
nen, was sich wiederum auf die konkrete institutionelle Prägung des politischen Systems,
etwa des Parlaments oder der Präsidentschaft, auswirken würde. Trotz dieser Hindernisse
gab es 2005/2006 einen ersten ernsthaften Reformversuch, der von der damaligen politi-
schen Führung der Bosniaken und Kroaten, namentlich Sulejman Tihić und Dragan Čović,
ausging. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere der vormalige amerikanische stell-
vertretende Hohe Repräsentant Donald Hays, vermittelte aktiv und initiierte mit Unterstüt-
zung der Europäischen Union und des Europarates im April 2005 eine Reihe von vertrauli-
chen Gesprächen unter den Parteien, die letztlich in offiziellen Verhandlungen und in einem
Übereinkommen zwischen allen Beteiligten mündeten. Das im März 2006 auf Elitenebene
vereinbarte Reformpaket sah eine veränderte und geschwächte Präsidentschaft, neue Kom-
petenzen für den Gesamtstaat, vereinfachte Strukturen im vergrößerten Parlament und die
Stärkung des Ministerrates vor. Die Änderungen hätten somit eine Akzentverschiebung in
Richtung eines parlamentarischen Regierungssystems mit sich gebracht. Die vorgeschlage-
nen Verfassungsänderungen erhielten jedoch im April 2006 im Repräsentantenhaus mit nur
zwei fehlenden Stimmen (von 42 Abgeordneten) nicht die entscheidende Zweidrittelmehr-
heit. Hintergrund waren vor allem die fundamentalen Unstimmigkeiten innerhalb der
Gruppen der Bosniaken und der Kroaten gewesen. Während alle wesentlichen serbischen
Parteien (SDS, SNSD und PDP), die bosniakische Partei SDA, die SDP sowie die kroati-
sche Partei HDZ BiH zustimmten, hatten die bosniakische Partei SBiH und die kroatische
Partei HDZ 1990, die sich erst kurz zuvor von der HDZ abgespalten hatte, zusammen mit
10                                                             Solveig Richter/Saša Gavrić

einigen unabhängigen Abgeordneten der Verfassungsreform ihre Stimme versagt (zum
Parteiensystem vgl. Kap. 9). Im Gegensatz zur SBiH, die unter Führung des heutigen bos-
niakischen Mitglieds der Präsidentschaft Haris Silajdžić primär eine rein kosmetische Natur
des Reformpakets anprangerte und dem wahltaktische Motive unterstellt werden, kritisierte
die HDZ 1990 eine Einschränkung der Rechte der kroatischen Volksgruppe. Sie genoss
dabei die Unterstützung der katholischen Kirche und des kroatischen Business (Sebastián
2007: 46ff.).
     Mit dem Scheitern der Verfassungsreform 2006 verstummten die Debatten jedoch
nicht. Ganz im Gegenteil: Die Polarisierung und Radikalität der politischen Positionen
nahmen zwischen und innerhalb der Volksgruppen weiter zu und übertrugen sich auch auf
sachliche Reformvorhaben, so etwa im Polizeisektor. Die Parteiführer konnten sich im
April 2008 nur auf minimale Veränderungen einigen und koppelten die wesentliche Frage
des Verhältnisses staatlicher Organe zu jenen der Entitäten an eine grundlegende Regelung
in einer möglichen zukünftigen Verfassungsreform (Richter 2008: 3). Offensichtlich wird
an diesem Beispiel die somit weiterhin bestehende Dysfunktionalität und Ineffizienz des
Regierungssystems in Bosnien und Hercegovina. Erschwerend wirkt sich daher aus, dass
der öffentliche Reformdiskurs und -druck selbst mehr und mehr kontraproduktive Effekte
entfaltet. Er provoziert Abwehrreaktionen bis hin zu Drohungen mit einem Unabhängig-
keitsreferendum bei den serbischen Politikern, die den Bestand der Entität der Republika
Srpska gefährdet sehen. Dies wiederum schürt Existenzängste bei den Bosniaken, die den
Bestand „ihres“ Staates in Gefahr sehen. Auch die Kroaten verstummen mit ihren Ansprü-
chen nach einer eigenen Entität nicht. Die derzeitige Situation ist somit verfahren und of-
fenbart ein Handlungsdilemma: Jene Eckpfeiler von Dayton, die bis heute die staatliche
Einheit garantieren, wirken gleichzeitig kontraproduktiv und hemmen eine positive Dyna-
mik im Land – Stabilität bedeutet derzeit Stagnation (Richter 2008: 5). Eine grundlegende
Neustrukturierung der konstitutionellen Ordnung in Bosnien und Hercegovina ist somit
zwar dringend nötig, so wurde vom Europarat (Council of Europe 2005) und der Europäi-
schen Union (European Commission 2007) auch immer wieder betont (BTI 2007: 10).
Allerdings verlangt nüchtern betrachtet eine konstruktive Auflösung des Gordischen Kno-
tens der gegenwärtigen Reformdebatte in einen ethnien- und parteienübergreifenden Kon-
sens von allen Beteiligten eine immense Flexibilisierung eigener Positionen.


2.2 Verfassungsprinzipien und Verfassungswirklichkeit
Die wesentlichen Charakterzüge und Verfassungsprinzipien des derzeitigen politischen
Systems sind vor dem Hintergrund eines frischen, ethno-politischen Konflikts entstanden.
Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen misstrauten einander und fürchteten nichts
stärker als eine Marginalisierung ihrer Interessen im neu begründeten Staat Bosnien und
Hercegovina. Dies bedingte eine Abkehr vom Mehrheitsprinzip und die Integration speziel-
ler Sicherungsinstrumente, die garantieren konnten, dass alle wesentlichen Volksgruppen
sich von der Verfassung geschützt fühlten und dem Friedensvertrag zustimmen konnten. So
wurde das politische System nicht nur mit speziellen territorialen Arrangements unterfüttert
sondern auch die Zusammensetzung der wesentlichen Regierungsinstitutionen zur Reflexi-
on der Interessen der Volksgruppen angepasst (Council of Europe 2005: 2, 8).
     Die Verfassung sieht „eine parlamentarische Demokratie mit präsidentiellen Zügen
und stark ausgeprägten Elementen der Konkordanzdemokratie“ vor (Gromes 2007: 155).
Neben der ersten Kammer des Parlaments (Repräsentantenhaus) wird auch die kollektive
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                              11

Präsidentschaft direkt vom Volk bestimmt. Der Ministerrat als Kabinett muss sich jedoch
vor dem Repräsentantenhaus der Parlamentarischen Versammlung verantworten, weshalb
die Präsidentschaft in ihrer Machtfülle den Legislativen nachsteht. Der Präsidentschaft
kommt nach Art V.3(e) der Verfassung die Aufgabe zu, die Entscheidungen des Parlaments
auszuführen, während der Ministerrat dafür zuständig ist, die Politik auf Staatsebene durch-
zuführen (Art. V Abs. 4 (a)). Die exekutiven Kompetenzen sind somit zwischen Präsident-
schaft und Ministerrat nicht klar voneinander abgegrenzt, so etwa bei der Außenpolitik, und
es besteht das Risiko einer Überschneidung von Verantwortlichkeiten (Gromes 2007:
160ff., 171; vgl. auch Council of Europe 2005: 11).
      Eines der Kernprinzipien der Verfassung, das bereits in der Einleitung erwähnt wurde,
stellt die dezentrale Staatsorganisation dar. Nach Art. III Abs. 1 der Verfassung sind die
Zuständigkeiten des Staates klar und eng gefasst, darunter:

–    Außen- und Außenhandelspolitik,
–    Zoll- und Währungspolitik,
–    Migrationspolitik und
–    Verkehrspolitik (vgl. ausführlich Savić 2003: 18).

Die Verfassung schreibt alle anderen Zuständigkeiten, die nicht explizit genannt werden,
den Entitäten zu, darunter auch so bedeutsame Politikfelder wie die Verteidigungspolitik
(Art. III Abs. 3). Bis zu einer Neuregelung 2006 war der Staat sogar abhängig von den
finanziellen Zuwendungen der Entitäten (Council of Europe 2005: 7). Die Verfassung sieht
zudem nur wenige Institutionen auf staatlicher Ebene vor, darunter ein Zwei-Kammern-
Parlament, eine dreiköpfige Präsidentschaft, den Ministerrat und eine Zentralbank (Artt. 4-7
der Verfassung). Das einzige Gericht, welches explizit auf staatlicher Ebene verortet wird,
ist das Verfassungsgericht. Die extrem geringen Kompetenzen, die die Verfassung dem
Staat explizit zuschreibt, erwiesen sich schnell als unzureichend, die Funktionalität eines
modernen Staates gewährleisten zu können. In einem schleichenden Prozess, den die inter-
nationale Gemeinschaft aktiv forcierte, hat der Gesamtstaat einige verfassungsrechtliche
Spielräume und Sonderregelungen genutzt und seine Macht sukzessive ausgeweitet. Art. III
Abs. 5 der Verfassung sieht einerseits die Möglichkeit vor, dass die Entitäten Kompetenzen
abtreten können. Andererseits kann der Staat sich Kompetenzen zueigen machen, um die
Souveränität, territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit und internationale Rechtsper-
sönlichkeit zu gewährleisten, und zu diesem Zwecke auch zusätzliche Institutionen schaf-
fen. Darauf basierend fand ein Kompetenztransfer in den durchaus bedeutenden Politikfel-
dern Verteidigung, Geheimdienste, Justiz und Steuerwesen statt (BTI 2006: 16; Bliesemann
de Guevara 2007).
     Neben dieser dezentralen Struktur wurden in Dayton auch eine Reihe von Machttei-
lungsarrangements vereinbart, die die Interessen der drei konstituierenden Völker gegen
eine Überstimmung schützen sowie diesen Zugang zu allen wichtigen Entscheidungsin-
stanzen ermöglichen sollen und so dem politischen System einen starken konsensdemokra-
tischen Charakter verleihen: eine kollektive Präsidentschaft, ein Haus der Völker als zweite
Parlamentskammer und das Veto des vitalen nationalen Interesses (Council of Europe
2005: 3). Die kollektive Präsidentschaft (vgl. ausführlich Kap. 4) besteht aus jeweils einem
Vertreter der drei konstituierenden Völker; der Vorsitz rotiert. Entscheidungen werden in
diesem Gremium de facto nur im Konsens getroffen, auch wenn de jure eine Mehrheitsent-
scheidung möglich wäre. Jedoch könnte das überstimmte Mitglied die Entscheidung als
destruktiv für die vitalen Interessen seiner Entität erklären und ein Veto einlegen, so dass in
12                                                               Solveig Richter/Saša Gavrić

der politischen Praxis bisher stets ein Ausgleich gesucht wurde (Council of Europe 2005:
11). Weitaus bedeutender war das Entitätenveto jedoch im Repräsentantenhaus (vgl. Kap.
7). Das Haus der Völker ist in der Praxis im Vergleich zu anderen föderalen Systemen wie
etwa Deutschland verhältnismäßig ähnlich wie das Repräsentantenhaus (die erste Kammer)
besetzt, auch wenn die Mitgliedschaft auf die drei Volksgruppen (jeweils fünf Delegierte)
beschränkt bleibt. Zudem stimmen die Zuständigkeiten beider Kammern nahezu komplett
überein (vgl. ausführlich Kap. 5). Im politischen System Bosnien und Hercegovinas besteht
dessen institutionelle Funktion denn auch vor allem in der Möglichkeit für die Volksgrup-
pen, neben dem Entitätsveto hier ein Veto des vitalen nationalen Interesses einzulegen
(nach Art. IV Abs. 3(e) der Verfassung). Eine Mehrheit der bosniakischen, der kroatischen
und der serbischen Abgeordneten kann erklären, dass ein (Gesetzes-)Vorschlag gegen die
vitalen Interessen ihrer Volksgruppe verstößt. In diesem Fall muss im Repräsentantenhaus
noch einmal jeweils die Mehrheit aller Volksgruppen dafür stimmen. Die Mehrheit einer
anderen Volksgruppe kann wiederum gegen die Nutzung des Veto-Mechanismus Einspruch
erheben (Art. IV Abs. 3(f) der Verf.). In diesem Fall ist ein Schiedsverfahren vorgesehen.
Gelingt dieses nicht, entscheidet das Verfassungsgericht – allerdings nur zur prozeduralen
Seite und nicht in der Sache (Gromes 2007: 160). Die Verfassung nimmt keine exakte the-
matische Eingrenzung vor, was dazu führen kann, dass alle Sachfragen als ein nationales
Interesse definiert werden können. Das Instrument des Vetos des vitalen nationalen Interes-
ses wurde bisher nur sehr selten genutzt, jedoch ist die präventive, abschreckende Wirkung
nicht zu unterschätzen (Council of Europe 2005: 8ff.). In der parlamentarischen Praxis
spielte hingegen das Entitätsveto eine weitaus größere Rolle. Die Abgeordneten der RS
konnten so mit sehr wenigen Stimmen eine Entscheidung blocken und nutzten dieses In-
strument entsprechend oft (vgl. auch Kap. 7). Alles in allem eröffneten diese Schutzinstru-
mente in der Vergangenheit Tür und Tor für Entscheidungsblockaden und machten ein
effektives Regieren unmöglich. Die gesunde und funktionierende Balance zwischen Parti-
zipation und Regierungsfähigkeit ist daher im heutigen politischen System Bosnien und
Hercegovinas nicht mehr gegeben.
      Neben einem klaren Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirt-
schaft (Präambel, Abs. 3, 4; Art. I Abs. 2) inkorporiert die Verfassung alle relevanten inter-
nationalen Menschenrechtsabkommen, institutionalisiert umfangreiche Schutzinstanzen wie
etwa Ombudsmänner (vgl. Kap. 13) und sichert somit den Bürgern des Landes das „höchste
Niveau von international anerkannten Menschenrechten und grundlegenden Freiheiten“
(Allgemeines Rahmenabkommen für Frieden 1995: Annex 6, Art. 1; Übersetzung d. Auto-
ren). Die Verfassung ist auch insofern bemerkenswert, als dass sie der Europäischen Men-
schenrechtskonvention Priorität über alle anderen Gesetze und somit direkte Geltung im
innerstaatlichen Recht einräumt (Council of Europe 2005: 11). Auf dem Papier besitzt das
Land somit eines der besten Schutzsysteme der Welt (Richter 2009).
      Trotz dieser umfangreichen verfassungsrechtlich kodifizierten Normen widersprechen
nicht nur einige zentrale Verfassungsprinzipien nach Auffassung des Europarates der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention (siehe ausführlich Council of Europe 2005: 16ff.),
sondern zeichnet auch die Verfassungswirklichkeit ein anderes Bild. Der Kern des Pro-
blems liegt in der Verknüpfung der territorialen und der ethnischen Komponente, die somit
zwar die kollektive Gleichheit der konstituierenden Völker, und somit von Gruppen, garan-
tiert, damit allerdings das Prinzip der individuellen Rechte und Gleichheit der Bürger ver-
letzt (Stoessel 2001: 19). Der kombinierte Effekt der verschiedenen Schutzmechanismen
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                              13

Abbildung 1: Das politische System Bosnien und Hercegovinas (ohne Brčko).




Eigene Darstellung in Anlehnung an Oschlies 2004: 759.
14                                                                    Solveig Richter/Saša Gavrić

macht nicht nur ein effektives Regieren unmöglich, sondern schließt eben bestimmte Indi-
viduen von politischen Rechten aus und „institutionalisiert [...]den Konflikt zwischen den
Volksgruppen“ (Gromes 2007: 170). Insbesondere die Verfassungsbestimmungen zur Zu-
sammensetzung und Wahl der Präsidentschaft und des Hauses der Völker sind nicht mit
zentralen Menschenrechtsstandards, darunter dem Gleichheitsgrundsatz der Wahl nach Art.
25 des Internationalen Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie dem
Diskriminierungsverbot der Rahmenkonvention für nationale Minderheiten, kompatibel
(vgl. Kap. 4, 5, 8). Zu der rechtlichen gesellt sich eine praktische Problematik: Der Aufbau
der staatlichen Institutionen dient primär dem Ziel der Repräsentation der konstituierenden
Völker. Will ein individueller Bürger somit seine Interessen vertreten sehen, wird er ge-
zwungen sein, sich möglicherweise künstlich einer Volksgruppe anzuschließen, obgleich
seine persönliche Identität eher multiethnisch ist. Dies hat in der Tat zu einer „Ethnisie-
rung“ des politischen Systems geführt, in dem nicht mehr das Gemeinwohl des Staates
sondern jenes der einzelnen Volksgruppen im Vordergrund steht, in dem de facto keine
echte Wahlalternative zwischen Mehrheit und Opposition besteht, denn Parteien repräsen-
tieren primär ethnische Gruppen, und in dem die Interessen von Minderheiten ignoriert
werden (Council of Europe 2005: 12).


3. „Wohlwollende Diktatoren“: zur Rolle externer Akteure
Das politische System Bosnien und Hercegovinas ist ohne die Rolle der internationalen
Gemeinschaft, insbesondere der Institution des Büros des Hohen Repräsentanten, nicht zu
verstehen. Bosnien und Hercegovina ist – mit Ausnahme des Kosovo, dessen Eigenstaat-
lichkeit jedoch völkerrechtlich noch umstritten ist – das einzige Land in Osteuropa, welches
keine volle staatliche Souveränität besitzt und daher weiterhin als ein Quasi-Protektorat
gilt. Ursprünglich war die militärische und zivile Intervention der internationalen Gemein-
schaft nur für eine Übergangszeit von einem Jahr gedacht. Sie wurde jedoch 1996 zunächst
um zwei Jahre und anschließend auf unbestimmte Zeit verlängert, und entwickelte sich so
zu einem unbefristeten Unterfangen zum Aufbau eines kompletten, demokratischen Staates
(Chandler 1999: 158). Personal und Finanzen wurden immerhin in den letzten Jahren mas-
siv reduziert (von 884 Mio. US$ und 19,6 % des BIP 1998 auf 288 Mio. US$ und 6,9 %
des BIP 2002; BTI 2006: 21). Weiterhin ist auf Basis eines Mandats des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen mit der EUFOR-Mission Althea internationales Militär zur Frie-
denssicherung und Garantierung der Sicherheit im Land (mit einer Truppenstärke von
2.100 Mann, Stand Juli 2008 nach Angaben der Homepage von EUFOR BiH).
      Der wichtigste Einzelakteur ist der Hohe Repräsentant (bzw. als Institution das Büro
des Hohen Repräsentanten). Er wurde im Annex 10 des Friedensabkommens als primus
inter pares unter allen externen Akteuren vor Ort mandatiert, die Implementierung der
zivilen Bestandteile zu überwachen und zu koordinieren.8 Er ist politisch dem Friedensimp-
lementierungsrat, einem Gremium aus 55 Staaten und internationalen Organisationen, ver-
antwortlich (Vetter 2002: 480). Sein exekutiver Arm, der sogenannte Lenkungsausschuss,
übt eine Art Richtlinienkompetenz in wöchentlichen Treffen in Sarajevo aus. Angesichts
offener Obstruktion des Friedensprozesses durch die nationalistischen Parteien erweiterte


8    Amtsträger bisher: Carl Bildt 1995-1997, Carlos Westendorp 1997-1999, Wolfgang Petritsch 1999-
     2002, Paddy Ashdown 2002-2006, Christian Schwarz-Schilling 2006-2007, seit 2007 Miroslav Lajčák.
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                          15

der Friedensimplementierungsrat auf seinem Treffen im Dezember 1997 die Kompetenzen
des Hohen Repräsentanten. Die sogenannten Bonner Vollmachten umfassen die Befugnis-
se, endgültige Entscheidungen treffen, Gesetze erlassen sowie Politiker aus ihren Ämtern
entfernen zu können (Calic 1998: 221). Der stete Machtzuwachs hin zu einem „wohlwol-
lenden Diktator“, wie sich einer der Amtsinhaber, Wolfgang Petritsch, 2002 selbst bezeich-
nete, lag auch in der Besonderheit begründet, dass der Hohe Repräsentant selbst die Autori-
tät zur Interpretation seines Mandats besaß (Allgemeines Rahmenabkommen für Frieden
Annex 10, Art. V; Steiner/Ademović 2003: 117f.). Seit 2002 übt der Hohe Repräsentant
zusätzlich in Personalunion das Amt eines Sonderbeauftragten der EU aus, koordiniert
deren Programme vor Ort und berät die Brüsseler Institutionen.
      De facto besitzt der Hohe Repräsentant exekutive, legislative und judikative Rechte,
ohne von einer weiteren Instanz innerhalb des Regierungssystems kontrolliert zu werden.
Das Verfassungsgericht Bosnien und Hercegovinas verneinte in einer Entscheidung aus-
drücklich die eigene Zugständigkeit zur Überprüfung der Befugnisse des Hohen Repräsen-
tanten, da dessen Mandat internationaler Natur und er damit Teil eines anderen Rechtssys-
tems sei (Steiner/Ademović 2003: 120). Der Europarat kritisierte in einem vielbeachteten
Gutachten 2005 diese extrakonstitutionellen Rechte des Hohen Repräsentanten. Dies heble
das Prinzip der Gewaltenteilung aus (BTI 2007: 8). Zudem sei eine politische Verantwor-
tung gegenüber dem Elektorat und somit dem Souverän nicht gegeben. Der Hohe Reprä-
sentant stehe letztlich über dem Gesetz, da er sein Mandat selbst interpretieren und somit
erweitern könne. Damit werden Grundelemente eines demokratischen Systems durch eine
internationale Instanz selbst beschädigt (Council of Europe 2005; vgl. auch Richter 2009).
      Für den Demokratisierungsprozess erwies sich das Instrumentarium des Hohen Reprä-
sentanten gleichsam als Fluch und Segen: Einerseits gelang ihm durch die Bonner Voll-
machten die Etablierung zentraler Eckpfeiler einer Demokratie (etwa die Reform des Me-
dien- und des Justizsektors), die Zerschlagung illegaler Machtstrukturen und die Rückgabe
besetzten Eigentums (Richter 2009): „Durch die undemokratischen Mittel des Protektors
wurde Bosnien und Hercegovina demokratischer“ (Gromes 2006b: 9; Übersetzung d. Auto-
ren). Zwischen Dezember 1997 und 2005 entließ der Hohe Repräsentant 190 Politiker und
traf 750 Verfügungen, zum Teil auf Gesetzesebene (Gromes 2006b: 8). Von den zwischen
1997 und 2007 verabschiedeten Gesetzen verfügte somit der Hohe Repräsentant allein 29
% (Fondacija Konrad Adenauer 2008). Doch dies ging mit kontraproduktiven Nebenwir-
kungen einher, darunter eine sich ausbreitende Passivität und überzogene Erwartungshal-
tung bei Eliten und Bürgern. Der Hohe Repräsentant hatte einen gewissen Anteil an der
Degradation eines auf Konsens angelegten politischen Meinungsbildungsprozesses zu Kon-
frontation und Blockade, da kein Politiker schmerzhafte Zugeständnisse machen musste,
schließlich entschied er ja meist selbst. Der Hohe Repräsentant scheute sich auch nicht
davor, vom Parlament und damit einem demokratisch legitimierten Gremium bereits ange-
nommene Rechtsakte zu widerrufen und somit das Prinzip der demokratischen Verantwor-
tung auszuhebeln (Chandler 1999). Obgleich Christian Schwarz-Schilling und Miroslav
Lajčák nur noch zurückhaltend von den Bonner Vollmachten Gebrauch machten (BTI
2007: 7), überwogen die Defizite des Handelns dennoch zunehmend die positiven Aspekte:
Was in den turbulenten Transformationsphasen durchaus kurzfristig angebracht war, trug
langfristig aber zu gravierenden Fehlentwicklungen und zur Ausbildung eines hybriden
Regimes bei (Richter 2009). Dies erkannte auch der Friedensimplementierungsrat, der 2006
einen Rückzugsprozess einleitete. Der vollständige Abzug des Hohen Repräsentanten bzw.
die Übergabe einer Reihe von Verantwortungsbereichen an den zukünftigen EU-Sonder-
16                                                             Solveig Richter/Saša Gavrić

beauftragten ist nunmehr an die Erfüllung einiger weniger verbleibender Kriterien geknüpft
und ist daher in den nächsten ein bis zwei Jahren zu erwarten (Richter 2008: 6f.).
      Neben dem Hohen Repräsentanten intervenierte auch eine Reihe weiterer ziviler Or-
ganisationen stark in den Demokratisierungsprozess und griff zum Teil immer wieder auf
die Bonner Vollmachten zurück. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE) organisierte etwa alle Wahlen bis 2000 (vgl. ausführlich Kap. 8). Der Eu-
roparat nahm und nimmt aktiv an der Diskussion um die Verfassungsreform teil. Darüber
hinaus sind – auch dies eine osteuropäische Besonderheit – einige zentrale einheimische
Institutionen mit ausländischen Mitarbeitern besetzt. So bestimmt der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte in Straßburg nach Konsultation mit der bosnisch-hercegovi-
nischen Präsidentschaft drei Mitglieder des Verfassungsgerichts, die weder Bürger von
Bosnien und Hercegovina selbst noch der Nachbarländer sein dürfen (Gromes 2007: 163).
Auch der Gouverneur der Zentralbank darf kein Staatsangehöriger des Landes oder der
Nachbarstaaten sein (Savić 2003: 26). Die zukünftig wichtigste externe Institution ist je-
doch die Europäische Union, die bereits seit einigen Jahren stärker Einfluss nimmt. Sie hat
die Verantwortung für den militärischen (EUFOR) und polizeilichen Bereich (EUPM)
übernommen (vgl. hierzu auch Kap. 15).


4. Staatspräsidentschaft
Die Präsidentschaft (Predsjedništvo) Bosnien und Hercegovinas bildet das kollektive Ober-
haupt der komplexen staatlichen Gemeinschaft. Dies setzt eine jugoslawische Tradition
fort, da kollektive Präsidentschaften bereits 1974 in Bosnien und Hercegovina und 1971 auf
jugoslawischer Bundesstaatsebene eingerichtet worden waren (Bieber 2008: 62; Pejanović
2005: 67). Die bosnisch-hercegovinische Präsidentschaft hatte während der jugoslawischen
Ära sieben Mitglieder (zwei Serben, zwei Kroaten, zwei Muslime, wie die heutigen Bosni-
aken bis 1993 noch offiziell hießen, und ein Repräsentant der „Sonstigen“), die vom Parla-
ment gewählt wurden und den Vorsitz jährlich untereinander rotieren ließen. Die Direkt-
wahl der Mitglieder der Präsidentschaft wurde erst 1990 eingeführt. Damit ist die heutige,
durch die Daytoner Verfassung begründete kollektive Präsidentschaft keine Innovation der
Friedensverhandlungen unter amerikanischer Vermittlung, sondern eine Institution mit
Tradition.
      Die Präsidentschaft ist mit einem Bosniaken, einem Kroaten und einem Serben ein
dreiköpfiges Gremium. Neben der gängigen Parität der Volksgruppen, die wir unter ande-
rem auch im Haus der Völker des gesamtstaatlichen Parlaments vorfinden, beruht die Prä-
sidentschaft zusätzlich auf einer territorialen Komponente, die im Wahlverfahren zum Aus-
druck kommt. Die Wahlberechtigten in der Föderation wählen direkt einen Bosniaken und
einen Kroaten, während die Bürger der Republika Srpska den serbischen Vertreter bestim-
men (Art. V der Verfassung). Eine Übersicht über die bisherigen Präsidentschaftsmitglieder
gibt die Tabelle 2.
      Serben aus der Föderation bzw. Kroaten und Bosniaken aus der Republika Srpska, wie
auch alle anderen Staatsbürger, die sich nicht zu einer der drei großen Volksgruppen zuge-
hörig fühlen, haben kein passives Wahlrecht und werden damit von einem Amt im obersten
Staatsgremium ausgeschlossen (Bieber 2008: 62).
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                                    17

Tabelle 2:   Mitglieder der Präsidentschaft seit 1996
Zeitraum        Bosniakisches Mitglied          Serbisches Mitglied        Kroatisches Mitglied
1996-1998       Alija Izetbegović, SDA          Momčilo Krajišnik, SDS     Krešimir Zubak, HDZ
1998-2002       Alija Izetbegović, SDA          Živko Radišić, SPRS        Ante Jelavić, HDZ
                (bis Oktober 2000);                                        (bis März 2001);
                Halid Genjac, SDA                                          Jozo Križanović, SDP
                (ab Oktober 2000)                                          (ab März 2001)
2002-2006       Sulejman Tihić, SDA             Mirko Šarović, SDS         Dragan Čović, HDZ
                                                (bis April 2003);          (bis März 2005);
                                                Borislav Paravac           Ivo Miro Jović, HDZ
                                                (ab April 2003)            (ab März 2005)
seit 2006       Haris Silajdžić, SBiH           Nebojša Radmanović, SNSD   Željko Komšić, SDP
Quelle: Eigene Zusammenstellung. Parteinamen siehe Tabelle 6.


Das Wahlverfahren selbst beinhaltet eine Reihe weiterer Besonderheiten. So wird das serbi-
sche Präsidentschaftsmitglied nicht nur von der serbischen Mehrheitsbevölkerung in der
Republika Srpska gewählt. Bosniaken und Kroaten, die ihren Wohnsitz in dieser Entität
haben, dürfen ebenso mitbestimmen, welcher Kandidat das Rennen macht. Bei knappen
Wahlentscheidungen können die bosniakischen und kroatischen Stimmen somit von hoher
Bedeutung sein. Wie in der RS haben auch in der Föderation die Bürger nur eine Stimme, so
dass sie, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, frei entscheiden können, ob sie für
das kroatische oder das bosniakische Mitglied ihre Stimme abgeben. Für die Wahl des bos-
niakischen Kandidaten hat dies keine große Auswirkung, doch kann die bosniakische Bevöl-
kerungsmehrheit durch die Wahl eines eigenen kroatischen Kandidaten sehr leicht einen
mehrheitlich von Kroaten gewählten Kandidaten überstimmen (Gromes 2007: 161). So zog
2006 tatsächlich der kroatische SDP-Kandidat Željko Komšić in die Präsidentschaft ein,
obwohl seine Wahl mehrheitlich auf Stimmen der gemäßigten bosniakischen Wähler beruh-
te. Dies zeigt, dass die Interessen der kroatischen Bevölkerungsgruppe in der Präsidentschaft
geringer geschützt sind als die der beiden anderen Volksgruppen (Gromes 2007: 161).
      Dieses Wahl- und damit auch Repräsentationsverfahren wurde in vielen Studien kriti-
siert. Das bereits angeführte Gutachten des Europarates von 2005 mahnt auch hier eine
Reform an (Council of Europe 2005). Eine Lösung wäre die Aufhebung der kollektiven
Präsidentschaft und die Einführung eines indirekt gewählten Präsidenten, mit stark be-
grenzten Zuständigkeiten. Eine ähnliche Struktur sah in der Tat bereits der dritte Ände-
rungsantrag des gescheiterten Verfassungsreformpaketes von 2006 vor, nach welchem die
neue, rein repräsentative Aufgaben wahrnehmende Präsidentschaft aus einem Präsidenten
und zwei Stellvertretern bestehen sollte (Parlamentarna skupština 2006: 8).
      Die Präsidentschaftsmitglieder werden auf vier Jahre gewählt (nur bei den ersten
Nachkriegswahlen 1996 wurde die Präsidentschaft auf zwei Jahre gewählt) und können sich
anschließend für eine zweite Amtszeit zur Wahl stellen. Danach dürfen sie jedoch vier
Jahre kein Mandat annehmen (Art. V der Verfassung). Das Wahlgesetz (2001) bestimmt,
dass die drei Präsidentschaftsmitglieder für den Zeitraum von acht Monaten einen Vorsit-
zenden wählen und anschließend der Vorsitz unter den verbleibenden zwei Mitgliedern
rotiert (danach erneut von vorn). Dies stärkt den kollektiven Charakter des Gremiums. Eine
formelle Abwahl der kollektiven Präsidentschaft oder einzelner Mitglieder ist nicht mög-
lich, doch wurden mehrere Präsidentschaftsmitglieder nach einem Beschluss des Hohen
Repräsentanten unter Nutzung der Bonner Vollmachten ihres Amtes enthoben. Das jüngste
Beispiel ist die Abwahl des HDZ-Vorsitzenden Dragan Čović 2005, bis dahin kroatisches
Mitglied.
18                                                                   Solveig Richter/Saša Gavrić

     Die Kompetenzen der Präsidentschaft sprechen für eine Kombination von Elementen
der parlamentarischen und der präsidentiellen Demokratie. Neben den klassischen Vertre-
tungsaufgaben nimmt sie auch politische Aufgaben wahr. Die wichtigsten sind (nach Artt.
V Abs. 3 und V Abs. 4 der Verfassung und der Geschäftsordnung der Präsidentschaft
2002):

–     Leitung der Außenpolitik Bosnien und Hercegovinas (u.a. Ernennung der Botschafter
      und anderer diplomatischer Vertreter, Vertretung des Landes in internationalen und
      europäischen Organisationen und Institutionen, Abschluss von internationalen Verträ-
      gen etc.),
–     die Ernennung des Vorsitzenden des Ministerrates (mit notwendiger Bestätigung durch
      das Repräsentantenhaus),
–     Vorschlag des Jahreshaushaltes an die Parlamentarische Versammlung (wiederum auf
      Vorschlag des Ministerrates),
–     Befehlsgewalt über die Streitkräfte (bis zur Zentralisierung auch Oberbefehl über die
      Entitätsstreitkräfte) und
–     Ernennung von fünf Mitgliedern des Verwaltungsrates der Zentralbank.

Jedes einzelne Mitglied der Präsidentschaft hat zudem das Recht, Klage beim Verfassungs-
gericht einzureichen sowie das Haus der Völker der parlamentarischen Versammlung auf-
zulösen.
     Grundsätzlich sollte die Präsidentschaft im Konsens entscheiden (Savić 2003: 23).
Wird allerdings im Einzelfall ein Mitglied überstimmt, so kann dieses den Beschluss als
destruktiv gegen die Interessen seiner Entität erklären. Soweit die entsprechende Erklärung
von einem Mitglied aus der Republika Srpska stammt, wird sie sofort der Volksversamm-
lung (obere Kammer) dieser Entität vorgelegt. Wird die Erklärung von dem bosniakischen
oder dem kroatischen Mitglied abgegeben, wird diese den bosniakischen bzw. den kroati-
schen Delegierten im Haus der Völker der Föderation unterbreitet. Wenn das Veto des
vitalen Interesses jeweils von einer Zweidrittelmehrheit bestätigt wird, tritt der umstrittene
Präsidiumsbeschluss nicht in Kraft (Art. V Abs. 2 der Verfassung).
     Diese unterschiedlichen Vetoelemente haben die Arbeit der Präsidentschaft, insbeson-
dere kurz nach dem Krieg, alles andere als einfach gemacht. Die fehlende institutionelle
Infrastruktur9 und die nicht-vereinbaren Gegensätze der Politik der drei nationalistischen
Parteien (SDA, HDZ und SDS; Parteinamen vgl. Kap. 9), aus denen in den ersten Jahren
die drei Präsidentschaftsmitglieder kamen, führten zu ständigen Blockaden. Erst mit der
Wahl gemäßigter Mitglieder begann die produktive Arbeit und der institutionelle Aufbau
der Präsidentschaft. Heute hat jedes Präsidentschaftsmitglied ein eigenes Team mit sechs
bis sieben Beratern. Daneben gibt es seit 1999 drei weitere Verwaltungsorgane: das Gene-
ralsekretariat (Arbeitsbereiche: Öffentlichkeitsarbeit, Protokoll, Finanzen, Archiv sowie
Dokumentation und Logistik), das Sekretariat für Normfragen und das Sekretariat für orga-
nisatorisch-finanzielle Fragen (Art. 14 der Geschäftsordnung der Präsidentschaft), die durch
die fachliche, administrative und technische Hilfe die Arbeit der Präsidentschaft erleichtern
sollen.


9    Unter anderem war das Büro des serbischen Mitglieds nicht in Sarajevo sondern in der serbischen
     Kriegshauptstadt Pale, einer Vorstadtgemeinde Sarajevos (Gligorić 2002).
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                           19

     Wie alle gesamtstaatlichen Institutionen, hängt auch die Funktionalität der Präsident-
schaft sehr stark vom allgemeinen politischen Klima und den Verhältnissen zwischen den
großen Parteien der drei ethnischen Gruppen ab. Blockadesituationen gehören somit wei-
terhin zum Alltag. Wie schon erwähnt, sah das Verfassungsreformpaket vom April 2006
vor, dass der Kompetenzbereich des Staatsoberhaupts stark reduziert wird und das politi-
sche System stärker parlamentarische Elemente aufnimmt. Eine Reform in dieser Richtung
wäre in der Tat von großer Bedeutung, da das bisherige System zu viele Blockade- und
Vetomöglichkeiten aufweist und ein starkes Staatsoberhaupt für konsensdemokratische
Staaten zudem eher untypisch ist.


5. Parlamentarische Versammlung
Bosnien und Hercegovina hat keine lange parlamentarische Tradition. Erste Vorgänger
eines Parlaments wurden 1900 mit der Einrichtung des Bosnischen Landtags (Sabor) unter
Österreichisch-Ungarischer Herrschaft geschaffen. Dem damaligen Landesstatut Bosnien
und Hercegovinas nach konnte das mit 92 Mitgliedern besetzte Gremium Gesetze beraten
und ausarbeiten, diese aber nicht verabschieden. Dies war der Zentralverwaltung in Wien
vorbehalten. Durch ein festes und klares Quotensystem waren offizielle Repräsentanten der
vier Religionsgemeinschaften (katholische, orthodoxe, islamische und jüdische Religion)
und Angehörige dieser Religionen im Landtag vertreten (Kasapović 2005: 97; Vrankić
1998: 44f.). Während der Zeit des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, später
Königreich Jugoslawiens, bildete Bosnien und Hercegovina kein einheitliches Verwal-
tungsgebiet und hatte entsprechend kein Parlament. Erst mit der Gründung des sozialisti-
schen Jugoslawiens begann eine kontinuierliche parlamentarischen Tradition. 1990 wurde
schließlich ein Zwei-Kammern-Parlament eingerichtet, mit einem Bürgerrat (130 Abgeord-
nete) und einem Gemeinderat (110 Abgeordnete) (Bieber 2008: 30). Mit dem Kriegsbeginn
in der Region und der Gründung der Versammlung des serbischen Volkes in Bosnien und
Hercegovina 1991 verließ die Mehrheit der serbischen Abgeordneten das Parlament, so
dass eine reguläre Parlamentsarbeit bis 1996 nicht möglich gewesen war. Nach dem Ende
des Krieges wurde die Struktur des Zwei-Kammern-Parlaments verändert. Die Verfassung
von Dayton stattete das Parlament, die Parlamentarische Versammlung (Parlamentarna
skupština), nicht mit einem Gemeinde- und Bürgerrat, sondern mit einem Repräsentanten-
haus (Predstavnički/Zastupnički dom) und einem Haus der Völker (Dom naroda) aus.
     Die 42 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden direkt gewählt, zwei Drittel
aus der Föderation und ein Drittel aus der Republika Srpska (Art. IV Abs. 1 der Verfas-
sung; vgl. zum Wahlsystem Kap. 8). Die Anzahl der Mandate wird nicht nach ethnischen
Kriterien, sondern territorial auf die zwei Entitäten aufgeteilt. Das Haus der Völker hat 15
Mitglieder: fünf bosniakische, fünf kroatische und fünf serbische Delegierte. Während die
fünf serbischen Delegierten von der Nationalversammlung der Republika Srpska (der ersten
Kammer) gewählt werden, werden die bosniakischen und kroatischen Mitglieder von den
bosniakischen bzw. kroatischen Delegierten des Hauses der Völker der Föderation be-
stimmt (Art. IV Abs. 1 der Verfassung). Die Zusammensetzung und Wahl der beiden Kam-
mern der Parlamentarischen Versammlung von Bosnien und Hercegovina gründet demnach
auf dem Prinzip der Parität – eine Parität der Entitäten (beide Kammern) sowie der Volks-
gruppen (Haus der Völker). Wie bei der Wahl zur Präsidentschaft, werden auch zur Wahl
zum Haus der Völker Serben in der Föderation und Kroaten und Bosniaken in der Republi-
ka Srpska sowie Angehörige aller anderen Gruppen in beiden Entitäten ausgeschlossen.
20                                                                    Solveig Richter/Saša Gavrić

Darüber hinaus werden die kroatischen und bosniakischen Delegierten nur von Bosniaken
bzw. Kroaten im Haus der Völker der Föderation gewählt, so dass es den serbischen und
sonstigen Delegierten in der Föderation nicht möglich ist, aktiv an der Wahl teilzunehmen
(Council of Europe 2005). In der Republika Srpska bestimmen hingegen alle Abgeordneten
der Nationalversammlung die fünf serbischen Mitglieder des gesamtstaatlichen Hauses der
Völker.
     Die Zuständigkeiten der Parlamentarischen Versammlung Bosnien und Hercegovinas
werden in der Verfassung und in den Geschäftsordnungen der beiden Kammern festgelegt.
Ihre Aufgaben umfassen demnach unter anderem: Verfassungsänderungen, Gesetzgebung,
Ratifizierung von internationalen Verträgen, Verabschiedung des Staatshaushaltes sowie
die Bestätigung und Kontrolle des Ministerrates.
     Spätestens 30 Tage nach der offiziellen Bekanntgabe der Wahlresultate muss das Rep-
räsentantenhaus zusammenkommen. Die erste Sitzung wird vom ältesten Abgeordneten
geleitet. Die Abgeordneten wählen unter den eigenen Mitgliedern einen Vorsitzenden10, der
nicht der gleichen Volksgruppe entstammen darf wie der Vorsitzende der Präsidentschaft
und der des Ministerrates, und zwei Stellvertreter. Der Vorsitzende des Repräsentantenhau-
ses und die zwei Stellvertreter (die alle acht Monate untereinander den Vorsitz rotieren)
bilden zugleich auch das „Kollegium“, welches unter anderem folgende Aufgaben wahr-
nimmt (nach Art. 4 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses): die Einberufung,
Vorbereitung und Leitung der Sitzungen der Kammer; die Koordination mit dem Haus der
Völker, der Präsidentschaft sowie dem Ministerrat; die Kooperation mit politischen Partei-
en, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen. Zusammen mit den Vorsitzenden der
Parlamentsfraktionen (klubovi), die zumeist aus allen Angehörigen einer Partei und aus
einem Zusammenschluss unabhängiger Kandidaten bestehen, arbeitet das Kollegium in
einem „Erweiterten Kollegium“ mit, welches sich bezüglich der Vorbereitung und Durch-
führung der Parlamentssitzungen berät und einen einjährigen Arbeitsplan beschließt. Die
Kollegien beider Kammern bilden wiederum das „Gemeinsame Kollegium“ der beiden
Häuser, das Fragen der interparlamentarischen Kooperation und allgemeine, beide Kam-
mern betreffende Fragen berät und Vorlagen zur Verabschiedung vorbereitet.
     Das Repräsentantenhaus hat ständige Ausschüsse (komisije) und Ad-hoc-Ausschüsse.
Ständige Ausschüsse setzen sich fix aus neun Mitgliedern zusammen, während Ad-hoc-
Ausschüsse auch weniger Mitglieder haben können. Die Ausschüsse geben proportional in
etwa die Struktur der Abgeordnetenfraktionen wieder und bestehen gleichzeitig zu einem
Drittel aus Abgeordneten der Republika Srpska bzw. zwei Dritteln der Abgeordneten aus
der Föderation (Art. 30 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Damit ist in der
Praxis der territoriale und ethnische Proporz garantiert.11
     Das Haus der Völker besteht im Gegensatz zum Repräsentantenhaus aus drei festen
Fraktionen: den Fraktionen der bosniakischen, der kroatischen und der serbischen Delegier-
ten. Diese wählen den Kammervorsitzenden und zwei Stellvertreter, die dem Rotations-
prinzip nach die Arbeit des Hauses der Völker leiten. Das Haus der Völker hat folgende
Ausschüsse, die aus je sechs Mitgliedern bestehen und den ethnischen und territorialen

10 Der Vorsitzende ist kein Parlamentspräsident im engeren Sinne, da die Parlamentarische Versammlung
   ja aus zwei Kammern mit jeweils einem Kollegium an der Spitze besteht.
11 Zurzeit gibt es folgende ständige Ausschüsse des Repräsentantenhauses: Verfassungsausschuss; außen-
   politischer Ausschuss; Ausschüsse für Außenhandelspolitik und Zölle; Ausschuss für Finanzen und
   Haushalt; Ausschuss für Verkehr und Kommunikation; Ausschuss zu Fragen der Gleichberechtigung
   und Ausschuss zur Vorbereitung der Wahl des Ministerrates.
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                                        21

Proporz widerspiegeln: Verfassungsausschuss; Ausschuss für Außenhandelspolitik, für
Zölle, Verkehr und Kommunikation sowie Ausschuss für Finanzen und Haushalt.
      Beide Kammern haben für bestimmte Arbeitsbereiche gemeinsame Ausschüsse. Diese
haben zwölf Mitglieder, je sechs aus beiden Kammern, und sind wie die anderen Ausschüs-
se auch durch den territorialen und ethnischen Proporz geprägt.12 Alle Ausschüsse tagen in
der Regel öffentlich, können aber beschließen, die Öffentlichkeit auszuschließen.
      Ein 2003 verabschiedetes Gesetz über den Schutz der Rechte der nationalen Minder-
heiten sieht zur Vertretung der 17 anerkannten Minderheiten in Fragen der Sprache, Kultur,
Bildung, Medien etc. als ein beratendes Gremium die Einberufung eines Rates der Nationa-
len Minderheiten (Vijeće nacionalnih manjina) vor (Fond otvoreno društvo 2006: 32). Die-
ser wurde allerdings mit großer Verspätung erst im April 2008 durch die Parlamentarische
Versammlung gegründet und umfasst bisher Vertreter von nur zehn statt der 17 gesetzlich
anerkannten Minderheiten. Immerhin besteht damit seit kurzem eine explizite und garan-
tierte Vertretung der Minderheiten. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Repräsentation
von Minderheiten im Haus der Völker bewusst ausgeschlossen ist.

Tabelle 3:   Verhältnis männlicher und weiblicher Abgeordneter im Repräsentantenhaus zwischen 1996-2006
Wahlen                Ingesamt             Weibliche Abgeordnete             Männliche Abgeordnete
1996                     42                 1               2,4 %            41              97,6 %
1998                     42                13               31 %             29               69 %
2000                     42                 3               7,1 %            39              92,9 %
2002                     42                 6              14,3 %            36              85,7 %
2006                     42                 5              11,9 %            37              88,1 %
Quelle: Eigene Zusammenstellung, nach Fond otvoreno društvo 2006.


Schaut man sich die Sozialstruktur des Repräsentantenhauses in der aktuellen Wahlperiode
an, so fällt auf, dass Frauen mit nur fünf Sitzen (11,9 %) im Gegensatz zu den 37 männli-
chen Abgeordneten unterrepräsentiert sind. Das Verhältnis zwischen den weiblichen und
männlichen Abgeordneten seit 1996 geht aus Tabelle 3 hervor. 93 % der Abgeordneten der
derzeitigen Wahlperiode haben einen Hochschulabschluss, 4,7 % einen Fachhochschulab-
schluss und nur ein Abgeordneter (2,3 %) eine reine Berufsausbildung. Die Abgeordneten
sind alle älter als 30 Jahre, und nur drei Abgeordnete sind zwischen 30 und 40 Jahren alt.
Den Großteil bilden die 40- bis 60jährigen, insgesamt somit 78,5 % der Abgeordneten.
Sechs Abgeordnete oder 14,2 % sind schließlich über 60 Jahre alt. In Bezug auf die Berufs-
struktur sind die meisten Abgeordneten, insgesamt 24, in den Bereichen Wirtschaft, Medi-
zin, Recht und Maschinenbau/Elektrotechnik zu verorten.
     Zur parlamentarischen Kontrolle des Ministerrates stehen mehrere Instrumente zur
Verfügung. Eine Abgeordnetenfraktion oder mindestens drei Abgeordnete aus der Reprä-
sentantenkammer können die Initiative für ein Misstrauensvotum (nepovjerenje) gegenüber
dem Ministerrat ergreifen (Art. 143 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Be-
vor das Repräsentantenhaus sich damit befasst, hat die Regierung jedoch das Recht, eine
schriftliche Stellungnahme an die Abgeordneten zu überreichen. Nach einem erfolgreichen
Misstrauensantrag und der Abwahl des Ministerrates muss die Information an die Präsi-
dentschaft gegeben werden, so dass ein Prozedere der Neuwahl der Regierung in Angriff

12 Derzeit gibt es sechs gemeinsame Ausschüsse: Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit; Ausschuss
   zur Kontrolle der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden; Ausschuss zu Wirtschaftsreformen und
   Entwicklung, Ausschuss zur Europäischen Integration, Ausschuss für administrative Aufgaben sowie
   Ausschuss für Menschen- und Kinderrechte, Jugendliche, Immigration, Flüchtlinge, Asyl und Ethik.
22                                                              Solveig Richter/Saša Gavrić

genommen werden kann. Ein weniger radikaler Kontrollmechanismus ist die „Abgeordne-
tenfrage“ (poslaničko pitanje) im Repräsentantenhaus, worauf die Regierung oder ein ein-
zelnes Ministerium innerhalb von 30 Tagen schriftlich oder mündlich, abhängig von der
Anfrage, antworten müssen (Artt. 151-155 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhau-
ses). Daneben wird zwei Mal im Jahr eine gemeinsame Sitzung der beiden Kammern und
des Ministerrates unter dem Thema: „Die Abgeordneten fragen – der Ministerrat von BiH
antwortet“ organisiert, die informativen Charakter hat und sich mit den Arbeitsbereichen
befasst, die in die Zuständigkeit des Ministerrates fallen. Die Mitglieder des Ministerrates
können zu informativen Zwecken ebenfalls zu den Sitzungen der einzelnen Ausschüsse
eingeladen werden.
      Während das Haus der Völker durch die Präsidentschaft aufgelöst werden kann, kann
das Repräsentantenhaus nur durch eine Selbstauflösung seine Arbeit einstellen. Dieser Fall
trat bisher noch nicht ein, obwohl es seit 1996 immer wieder mehrmonatige Blockadepha-
sen gegeben hatte und die Bedingungen für vorgezogene Neuwahlen eigentlich gegeben
waren.
      Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung entwickelte sich in der Phase nach
Abschluss des Friedensabkommens von Dayton alles andere als einfach. Das Repräsentan-
tenhaus hielt am 5.10.1996 zwar seine erste Sitzung ab, doch nahmen die Abgeordneten aus
der Republika Srpska mehrheitlich nicht teil. Bis April 1997 gab es nur eine weitere Sit-
zung (Gromes 2007: 207). Die Anzahl der verabschiedeten Gesetze (vgl. Kap. 7) ist dabei
der beste Nachweis, dass die Arbeit des Parlaments in den Anfangsjahren sehr beschränkt
gewesen war. Erst mit der Wahlperiode von 2000 bis 2002 und insbesondere ab 2002 stieg
die Zahl der beratenen und verabschiedeten Gesetze an. So wurden im Zeitraum 2002-2006
fünfmal so viele Gesetze verabschiedet wie in den Wahlperioden 1996-1998 bzw. 1998-
2000 (vgl. Kap. 7). Im regionalen Vergleich und im Hinblick der Anpassung der Gesetzge-
bung an den acquis communautaire der Europäischen Union ist dies aber noch immer nicht
zufriedenstellend, was für die Parlamentarische Versammlung in den nächsten Jahren eine
große Herausforderung sein wird. Eine institutionelle Reform der beiden Kammern ist
deswegen unabdingbar, da sonst eine Überforderung der bisherigen 42 Abgeordneten bzw.
15 Delegierten im Haus der Völker bei dem immer stärker zunehmenden Umfang der Par-
lamentsaufgaben droht und eine effiziente Arbeit nicht mehr zu leisten ist.


6. Regierung und Verwaltung
Auch der Ministerrat (Vijeće/Savjet ministara) Bosnien und Hercegovinas, wie die gesamt-
staatliche Regierung offiziell genannt wird, ist durch eine durchgängig institutionalisierte
Machtteilung zwischen den konstituierenden Völkern geprägt. Das erste Gesetz über den
Ministerrat aus dem Jahr 1997 sah eine rigide Form der Parität der drei ethnischen Gruppen
vor. Alle Entscheidungen mussten durch Konsens des gesamten Kabinetts verabschiedet
werden (Art. 17 des Gesetzes über den Ministerrat 1997). Zusätzlich dazu mussten je nach
betroffenem Ministerium neben dem jeweiligen Minister auch seine zwei Stellvertreter, die
aus den entsprechend anderen beiden Volksgruppen kommen müssen, den Entscheidungen
zustimmen. Der Ministerrat wurde von zwei Ko-Vorsitzenden, die untereinander den Vor-
sitz alle acht Monate rotierten, und einem stellvertretenden Vorsitzenden geleitet. Dieses
komplizierte und stark verflochtene System führte zu einer Regierungsschwäche.
      1999 erklärte das Verfassungsgericht die spezifische, institutionalisierte Form des Ko-
Vorsitzes für verfassungswidrig. Diese Entscheidung ermöglichte es damit auch erstmals,
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                                           23

das damalige System mit den vielen Blockade- und Vetomöglichkeiten in Frage zu stellen,
da es noch weit über die gängige Proporzstruktur hinaus ging (Verfassungsgericht 1999:
U1/99). 2002 verfügte letztlich der Hohe Repräsentant ein neues Gesetz über den Minister-
rat, da dieses, aufgrund der großen Streitigkeiten, nicht von der Parlamentarischen Ver-
sammlung verabschiedet worden war. Das System der Ko-Vorsitzenden wurde abgeschafft
und durch die Form eines Vorsitzenden und zweier Stellvertreter ersetzt. Diese repräsentie-
ren weiterhin die drei Volksgruppen, rotieren aber nicht mehr untereinander. Auch wurde
den Fachministern nunmehr ein Stellvertreter an die Seite gestellt, der während der Regie-
rungszeit seine Position mit dem Minister nicht mehr tauschen muss. Nur der Verteidi-
gungsminister hat, aufgrund der dreigeteilten Struktur der Verteidigungskräfte, zwei Stell-
vertreter. Erstmals musste nun auch ein Minister oder der Generalsekretär des Ministerrates
aus den Reihen der „sonstigen“ Bevölkerungsgruppen stammen, was 2002 mit dem damali-
gen Justizminister Slobodan Kovač sofort umgesetzt wurde (Bieber 2008: 65). In der jetzi-
gen Regierung ist mit dem Außenminister Sven Alkalaj ein Mitglied der jüdischen Bevölke-
rungsgruppe vertreten.
      Die Anzahl der Ministerien hat sich seit 1997 kontinuierlich vergrößert. So hatte der
erste Ministerrat 1997 nur drei Ministerien: Zivile Angelegenheiten und Kommunikation,
Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen sowie Außenpolitik – die letzten beiden als
Pflichtministerien der Verfassung (Art. V Abs. 4). 2001 und 2003 wurden jeweils drei neue
Ministerien eingerichtet, so dass seit der Regierungsbildung nach den Wahlen 2002 der
Ministerrat aus dem Vorsitzenden13 und neun Ministerien besteht:

–    Ministerium für Außenpolitik,
–    Ministerium für Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen,
–    Ministerium für Finanzen und Tresor,
–    Ministerium für Kommunikation und Verkehr,
–    Ministerium für zivile Angelegenheiten,
–    Ministerium für Menschenrechte und Flüchtlinge,
–    Ministerium für Justiz,
–    Ministerium für Sicherheit und
–    Ministerium für Verteidigung.

Das gescheiterte Verfassungsreformpaket vom April 2006 sah die Einrichtung von zwei
weiteren Ministerien vor: ein Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umwelt-
schutz sowie ein Ministerium für Landwirtschaft (Nezavisne novine, 19.3.2006). Ein weite-
rer Vorschlag, der seit Sommer 2008 diskutiert wird, ist die Ersetzung des Ministeriums für
Menschenrechte und Flüchtlinge durch ein neues Ministerium für europäische Integration.
Diese Idee wird sich allerdings nur schwer realisieren lassen, da die bosniakischen Parteien
gegen die Auflösung des Menschenrechtsministeriums sind, solange die Rückkehr aller
Flüchtlinge nicht erfolgreich abgeschlossen ist. Dem gegenüber steht aber die tatsächlich
Notwendigkeit nach einem EU-Ministerium, da die bisherige Direktion für europäische
Integration, ein Verwaltungsorgan des Ministerrates, im jetzigen Rahmen auf keinem Fall
alle Aufgaben wahrnehmen kann, die mit der EU-Annäherung verbunden sind. Eine dar-
über hinaus reichende Erweiterung der Zuständigkeiten des Gesamtstaates, die sich in einer


13 Der Ministerratsvorsitzende leitet selbst kein Ressort, wie dies in der Nachkriegszeit noch der Fall war.
24                                                             Solveig Richter/Saša Gavrić

Reform und einem Tätigkeitszuwachs des Ministerrates widerspiegeln würde, ist jedoch
nur im Rahmen einer veritablen Institutionen- und Verfassungsreform zu erwarten.
     Der Vorsitzende des Ministerrates wird, nach Beratung mit den Parlamentsparteien,
von der Präsidentschaft ernannt und muss spätestens 22 Tage nach der konstituierenden
Sitzung des Repräsentantenhauses von derselben Kammer bestätigt werden. Sollte das
Repräsentantenhaus den Vorsitzenden nicht bestätigen, muss die Präsidentschaft im Laufe
von acht Tagen einen neuen Vorsitzenden ernennen. Spätestens 70 Tage nach der konstitu-
ierenden Sitzung des Repräsentantenhauses muss der Ministerratsvorsitzende sein Kabinett
zur Vertrauensabstimmung vorstellen. Dabei kann die Abgeordnetenkammer einzelne Mi-
nister ablehnen und vom Vorsitzenden neue Kandidaten einfordern. Alle Ministerratsmit-
glieder müssen vor Ernennung und Bestätigung ein Untersuchungsverfahren durchlaufen,
im Rahmen dessen ihre Aktivitäten während des Bürgerkriegs, ihre bisherige Berufslauf-
bahn sowie Straftaten etc. einer genauen Überprüfung durch die Zentrale Wahlkommission
und den Geheimdienst, die Staatliche Agentur für Untersuchung und Sicherheit (SIPA),
unterzogen werden (Gesetz über den Ministerrat 2002 und Gesetz über die Änderungen und
Ergänzungen des Gesetzes über den Ministerrat 2006). In den Nachkriegsjahren übernahm
noch der OHR diese Aufgabe, die jetzt aber ganz an die staatlichen Institutionen überge-
gangen ist.
     Zusammen mit seinen zwei Stellvertretern repräsentiert der Ministerratsvorsitzende
die drei konstituierenden Volksgruppen. Das Proporzprinzip wird auch bei der Ernennung
der Fachminister und ihrer Stellvertreter angewendet, so dass in der Regierung die gleiche
Anzahl an Ministern bzw. Stellvertretern aus allen drei Volksgruppen vertreten sind. So
sitzen in der jetzigen Regierung neben dem serbischen Ministerratsvorsitzenden drei bosni-
akische, drei kroatische und zwei serbische Minister. Der Außenminister Sven Alkalaj ge-
hört wie bereits erwähnt als Jude zu der Bevölkerungsgruppe der „Sonstigen“.
     Der Ministerratsvorsitzende kann ohne Begründung zurücktreten, womit auch die gan-
ze Regierung abgesetzt wird. Das Repräsentantenhaus kann aber auch seinerseits den kom-
pletten Ministerrat durch ein Misstrauensvotum absetzen und damit die Neuwahl eines
neuen Ministerrates quasi erzwingen. Die Wahlprozedur ist die gleiche wie zur Wahl des
Ministerrates nach Neuwahlen. Verglichen mit anderen parlamentarischen Demokratien
entspricht der Ministerratsvorsitzende seinem Arbeitsspektrum nach nur bedingt den Eigen-
schaften eines Premierministers. Neben den selbständigen Aufgaben wie der Koordination
der Arbeit innerhalb der Regierung sowie mit den anderen gesamtstaatlichen Organisatio-
nen, den Entitäten und dem Distrikt Brčko, sowie der Einberufung, Vorbereitung und Lei-
tung der Regierungssitzungen muss er jedoch die Politikgestaltung mit seinen Stellvertre-
tern abstimmen. Die Richtlinienkompetenz liegt also nicht beim Vorsitzenden.
     Der Ministerrat hat folgende ständige Gremien und Unterorganisationen: die Direktion
für Europäische Integration, das Generalsekretariat, das Büro für Gesetzgebung, das Büro
des Koordinators des Distrikts Brčko, den Ausschuss für Innenpolitik, den Ausschuss für
Wirtschaft und die Direktion für Wirtschaftsplanung. Diese beraten den Ministerrat in fach-
lichen Fragen und arbeiten in jeweiligen Sachthemen zu.
     Aufgrund der spezifischen Konstellation der Regierungsbildung waren bis auf die Re-
gierungsmehrheit der Regierung Matić-Lagumdžija-Mikerević alle anderen Regierungen
überdimensioniert, da durch des Quotensystems (Vertretung von Entitäten und Ethnien) zu
viele Parteien eingebunden werden mussten (siehe Tabelle 4). Einparteienkabinette gab es
in Bosnien und Hercegovina bisher gar nicht (Gavrić 2007: 25). So kann man von einem
hohen Grad der Aufteilung der Exekutivmacht sprechen, was durch die Verfassungsstruktur
auch bedingt wird.
Das politische System Bosnien und Hercegovinas                                              25

Tabelle 4:   Regierungen in Bosnien und Hercegovina 1996-2008
Regierungsvorsitz                    Parteienzusammensetzung         Regierungszeitraum
Bosić-Silajdžić                      SDS-HDZ-SDA-SBiH                3.1.1997-4.2.1999
Silajdžić                            KCD-Sloga-HDZ                   4.2.1999-22.6.2000
Mihajlović
Tusevljak                            KCD-Sloga-HDZ                  22.6.2000-18.10.2000
Raguz                                                               18.10.2000-22.2.2001
Matić                                SDP-SBiH-NHI-BPS-Demokratische 22.2.2001-18.7.2001
Lagumdžija                           Pensionärspartei-SNS-PDP-SNSD- 18.7.2001-15.2.2002
Mikerević                            SPRS                           22.2.2002-13.1.2003
Terzić                               SDA-SBiH-SDS-PDP-HDZ           13.1.2003-9.2.2007
Špirić                               SNSD-PDP-SBiH-SDA-HDZ-HDZ1990 Seit 9.2.2007
Quelle: Eigene Zusammenstellung. Parteinamen siehe Tabelle 6.


Obgleich natürlich SDA, SDS und HDZ als langjährig dominante Parteien ihrer jeweiligen
Volksgruppen in den meisten Regierungen vertreten waren, geht aus der Tabelle doch her-
vor, dass es keine festen Koalitionspartner gibt. So waren bisher fast alle Kombinationen
möglich, die auf eine möglichst einfache Art und Weise die territorialen und ethnischen
Quoten erfüllen. Als durchgehend stärkste Partei in Bosnien und Hercegovina war die bos-
niakische SDA bisher mit Ausnahme von 2000-2002 immer Teil der gesamtstaatlichen
Regierungen. Nur die SDP ist in ihrer Politik konsistent, insofern sie auf Staatsebene seit
1996 nie Teil einer Regierung mit nationalistischen Parteien gewesen ist.
      Der durch die Daytoner Verfassung eingeführte Ministerrat sollte ursprünglich als ge-
samtstaatliche Regierung fungieren und zusammen mit der Präsidentschaft die exekutive
Macht ausüben. In den Nachkriegsjahren arbeitete er jedoch mehr als Koordinationsbüro.
Die Minister genossen einen hohen Grad an Autonomie, so dass es dem Rat oft an Kohäsi-
on mangelte (Bieber 2008: 65). Dies stärkte insgesamt die Macht der drei nationalistischen
Parteien, so dass vor allem die SDS und die HDZ ihre sezessionistischen Absichten behal-
ten und die Stärkung des Gesamtstaates gerade in einem gesamtstaatlichen Organ verlang-
samen konnten. Die bosniakische SDA dominierte hingegen über die wenigen funktionie-
renden Elemente des Gesamtstaates, insbesondere über den diplomatischen Dienst. Erst
Ende der 1990er, mit der Regierungszeit der Allianz des Wandels (2000-2002) und der
damit verbundenen Exklusion der Nationalparteien aus der Regierung, begann die Fortent-
wicklung und Stärkung der Regierung (Bieber 2008: 65), was sich unter anderem in der
Einführung von neuen Ministerien zeigte. Weiterhin ist aber der Ministerrat in seiner Poli-
tik stark zersplittert. Die einzelnen Minister vertreten nicht selten Staats- sondern Parteiin-
teressen, was sich eben in den mageren Resultaten der Regierungsarbeit widerspiegelt.


7. Gesetzgebungsprozess
Für den Gesetzgebungsprozess auf gesamtstaatlicher Ebene ist die Kompetenzverteilung
zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften in Bosnien und Hercegovina von gro-
ßer Bedeutung. Die Verfassung stattet den Gesamtstaat hierbei mit minimalen Zuständig-
keiten aus, was sogar für föderale Staatsgebilde untypisch ist (Savić 2003: 17). Die weni-
gen expliziten Kompetenzen wurden nach und nach auf Druck der internationalen Gemein-
schaft erweitert (vgl. Kap. 2), was zu einer faktischen Modifizierung der Verfassung ge-
führt hat. Dies spiegelte sich auch in der Gesetzgebung wider, wie die Tabelle 5 anschau-
lich zeigt. Die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der
EU und die damit verbundene Angleichung an den acquis communautaire der EU macht
26                                                                          Solveig Richter/Saša Gavrić

jedoch die Übergabe weiterer Zuständigkeiten an den Zentralstaat im Bereich der Gesetz-
gebung erforderlich. Dieser Aspekt wird auch im Rahmen der derzeitigen Verfassungsre-
formdiskussion immer wieder thematisiert.

Tabelle 5:   Anzahl der verabschiedeten Gesetze seit 1996
Regierungszeitraum                       Zahl der verabschiedeten Gesetze
1996-1998                                               18
1998-2000                                               25
2000-2002                                               63
2002-2006                                               229
Quelle: Eigene Zusammenstellung unter Bezug auf Daten der Parlamentarischen Versammlung.


Im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzverteilung nimmt die Parla-
mentarische Versammlung Bosnien und Hercegovinas die Aufgabe der Gesetzgebung
wahr. Den gültigen Geschäftsordnungen der beiden Kammern nach, gestaltet sich der Ge-
setzgebungsprozess folgendermaßen: Gesetzentwürfe können von jedem Abgeordneten und
jedem Ausschuss des Repräsentantenhauses, jedem Delegierten und jedem Ausschuss des
Hauses der Völker, von gemeinsamen Ausschüssen der beiden Kammern, der Präsident-
schaft und dem Ministerrat beim jeweiligen Vorsitzenden einer der beiden Kammern einge-
reicht werden (Art. 99 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses, Art. 92 der Ge-
schäftsordnung des Hauses der Völker). Gesetzentwürfe sollen zuerst dem Repräsentanten-
haus vorgelegt werden, doch behält sich das Haus der Völker die Möglichkeit vor, über
Gesetze und andere Rechtsakte als erste Kammer zu beraten (Art. 94 der Geschäftsordnung
des Hauses der Völker). In der Praxis hat dies aber keine Bedeutung, da die Gesetze in der
Regel erst durch das Repräsentantenhaus gehen und erst bei einer Annahme im Haus der
Völker beraten werden.
     Ein Gesetzentwurf wird durch den Kammervorsitzenden an das Kollegium der Abge-
ordnetenkammer gegeben, die diesen an den Verfassungs- und den zuständigen Fachaus-
schuss weiterleitet. Beide Ausschüsse müssen innerhalb von 15 Tagen ihre Stellungnahme
an den Vorsitzenden der Kammer reichen, der erst dann den Gesetzentwurf auf die Tages-
ordnung des Plenums setzen kann. Initiieren ein Abgeordneter oder ein Ausschuss ein Ge-
setzgebungsverfahren, muss das Gemeinsame Kollegium der beiden Kammern feststellen,
ob der Entwurf einem der Gemeinsamen Ausschüsse vorgelegt werden muss (Artt. 102-105
der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Der Präsidentschaft und dem Ministerrat
werden die Entwürfe ebenfalls dann vorgelegt, wenn eine Gesetzesinitiative nicht von der
jeweiligen Institution selbst stammt.
     Nachdem die Ausschüsse ihre Stellungnahmen bei dem Kollegium eingereicht haben,
wird der Entwurf zum ersten Mal im Plenum der Repräsentantenkammer diskutiert. Dabei
werden die Meinungen der Ausschüsse vorgestellt, die meist auch die Basis der Abstim-
mung bilden. Sollten die Ausschüsse ein ablehnendes Votum vorschlagen, wenn das vorge-
schlagene Gesetz nicht mit der Verfassung oder dem Rechtssystem übereinstimmt (Verfas-
sungsausschuss) bzw. die Prinzipien des Gesetzes nicht nachvollziehbar sind (Fachaus-
schuss), kann die Kammer diese Meinung bestätigen und das Gesetz damit ablehnen oder
aber eine revidierte Stellungnahme anfordern (Artt. 106-107 der Geschäftsordnung des
Repräsentantenhauses).
     Wird das Gesetz in der ersten Lesung zum Verfahren angenommen, beginnt die ei-
gentliche Bearbeitung durch das Parlament (Art. 106 der Geschäftsordnung des Repräsen-
tantenhauses). Abgeordnete, Fraktionen, der zuständige Ausschuss und der Ministerrat
können Änderungs- und Ergänzungsvorschläge einreichen, über die im jeweils zuständigen
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  • 1. Solveig Richter/Saša Gavrić Das politische System Bosnien und Hercegovinas 1. Einleitung „Auch diese Stadt ist ein Setzkasten europäischer Erinnerungsstücke, jede Epoche, jede Kultur hat ein Haus hingestellt, von Rom über christliches Mittelalter, jüdische Diaspora und türkische Besetzung. Österreich-Ungarn, Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und American Dream, Bürgerkrieg und europäische Integration. Man könnte irgendwo eine holländische Windmühle hinbauen, der Vollständigkeit halber. Erst jetzt [...] begreife ich, dass ich mit eigenen Augen sehe, was man den Schnittpunkt europäischer Kulturen, die Grenze zwischen Morgen- und Abendland, den Vielvölkerstaat nennt.“ So beschreibt Juli Zeh ihre Emotionen in Sarajevo (Zeh 2003: 67), der Hauptstadt Bosnien und Hercegovinas, eines gerade mal 51.000 km2 großen multiethnischen Landes zwischen Kroatien, Serbien und Montenegro, welches in den 1990er Jahren einen prominenten Platz in unseren Abend- nachrichten einnahm und heute fast schon in Vergessenheit gerät. Dabei weisen die Verfas- sungsstruktur und das politische System so viele Besonderheiten auf, dass es sich in jedem Fall lohnt, diese näher zu studieren. Bosnien und Hercegovina ist ein sehr junges souveränes Land und kann auf keine jün- geren Erfahrungen moderner Eigenstaatlichkeit zurückblicken, obgleich es natürlich inner- halb Jugoslawiens als eigenständige Republik bereits als abgeschlossene administrative Einheit fungierte (Calic 1996: 45). Wer durch die Straßen von Sarajevo streift, wird die Spuren jahrhundertelanger Fremdherrschaft an nahezu jeder Straßenecke finden. Die Hauptstadt Bosnien und Hercegovinas, Sarajevo, war 1914 Schauplatz des Attentats auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, das den Ersten Weltkrieg auslöste. 1918 wurde das Land Bestandteil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slo- wenen, 1929 offiziell umbenannt in Königreich Jugoslawien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land in seinen jetzigen Staatsgrenzen in die Föderative Volksrepublik Jugosla- wien (Verfassung von 1946), seit 1963 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien integriert. Die Verfassung von 1974 gewährte den Republiken und autonomen Provinzen weitreichende Kompetenzen nach dem Prinzip der Selbstverwaltung, was heute als eine der Ursachen für das Auseinanderdriften der Republiken und letztlich den Zerfall Jugoslawiens gilt (Calic 1996: 17). Angesichts der Diskussion um eine staatliche Reform und des Sys- temgegensatzes zwischen den Kroaten und den Serben bemühte sich das Land vergeblich um den Erhalt des Gesamtstaats (Imbusch 1999: 176). Nach den Unabhängigkeitserklärun- gen Sloweniens und Kroatiens erklärte schließlich am 15.10.1991 auch das Parlament in Sarajevo seine Souveränität. Den Forderungen der Europäischen Gemeinschaft nach folgte schließlich am 29.2./1.3.1992 ein Referendum. Darin sprach sich zwar eine deutliche Mehrheit der Bürger für die Unabhängigkeit aus (99,4%). Dies spiegelte jedoch nicht die Gesamtheit der Bevölkerung wider, denn der Großteil der bosnischen Serben hatte das Referendum boykottiert. Die EG und die USA erkannten Bosnien und Hercegovina schließ-
  • 2. 2 Solveig Richter/Saša Gavrić lich am 17.4.1992 an, die Aufnahme in die Vereinten Nationen erfolgte am 22.5.1992 (Ca- lic 1996: 44). Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu blutigen Auseinandersetzungen zwi- schen Kroatien und der jugoslawischen Volksarmee gekommen. Als multiethnisches Land in einer geostrategischen Mittellage wurde Bosnien und Hercegovina von dem Konflikt mitge- und zerrissen: Der serbisch-kroatische Krieg wirkte als „Katalysator weitreichender Segregations- und Desintegrationsprozesse“ (Calic 1996: 70) und trieb die Menschen zu exzeptioneller Grausamkeit: Massenzerstörungen, Vertreibungen und Massaker (Oschlies 2004: 749). Drei ethnische Gruppen fochten mit diametral entgegen gesetzten Interessen um dasselbe Territorium. Kroaten und Serben sahen in BiH nicht ihre Heimat, sondern wünschten den Anschluss ihrer Siedlungsgebiete an den Mutterstaat; Franjo Tuđman und Slobodan Milošević hatten schon die Teilung unter sich ausgehandelt. Die serbische Teilre- publik hatte am 9.1.1992 ihre Unabhängigkeit erklärt, wurde jedoch von der Staatenge- meinschaft nicht anerkannt. Die Bosniaken kämpften für den Erhalt „ihres“ Staates (Gro- mes 2007: 143). 1993/1994 kam es zum bosniakisch-kroatischen Krieg innerhalb Bosnien und Hercegovinas. Die Kroaten lenkten schließlich am 1.3.1994 unter dem Druck der inter- nationalen Gemeinschaft im Washingtoner Abkommen in einen Separatfrieden ein, welches die Föderation Bosnien und Hercegovinas begründete. Das Massaker von Srebrenica, wel- ches erstmals 2001 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (In- ternational Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia – ICTY) in einer Entscheidung als Völkermord qualifizierte, führte im Sommer 1995 der Weltöffentlichkeit ihre Hilflosig- keit und Handlungsunfähigkeit vor Augen und provozierten ein energischeres Vorgehen der Vereinten Nationen unter militärischer Führung der NATO. Die Unterstützung kroatischer und bosniakischer Truppen zwang die Serben nahezu in die militärische Niederlage und so an den Verhandlungstisch. In Dayton, Ohio, USA, wurde schließlich am 21.11.1995 das Friedensabkommen (General Framework Agreement for Peace) ausgehandelt und am 14.12.1995 in Paris unterzeichnet. Dieses Abkommen brachte Frieden, schuf durch detail- lierte Bestimmungen und Annexe den Staat Bosnien und Hercegovina nahezu vollständig neu, bestätigte aber durch die Aufsplittung in die beiden Entitäten, die serbische Republik (Republika Srpska – RS, 49% des Territoriums) und die bosniakisch-kroatische Föderation (51% des Territoriums, im Folg. kurz Föderation), die ethnische Teilung (Burg 1997: 141). Der Korridor Brčko wurde bis zu einem endgültigen Schiedsspruch unter internationale Supervision gestellt. Der Friedensvertrag von Dayton suchte unter dem Motto „Ein Staat, zwei Entitäten, drei Nationen“ (Oschlies 2004: 704) die Interessen auszutarieren und die zentrifugalen Kräfte zu bändigen. Es entstand ein komplexes politisches System, welches einen föderalen Staatsaufbau mit teilweise bis zu vier territorialen Gliederungsebenen mit konsensdemokra- tischen Elementen und weitreichenden Vetorechten für die jeweiligen Volksgruppen kom- biniert. Es basiert somit paradoxerweise weitestgehend auf ethnisch definierten Territorien und Institutionen, sieht aber gleichzeitig individuelle Menschenrechte, die Rückkehr aller Flüchtlinge und Freizügigkeit vor (Gromes 2007: 154). Das Friedensabkommen errichtete zudem das Amt des Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative – OHR) zur Koordination und Überwachung der Implementierung der zivilen Bestandteile des Ab- kommens (vgl. Kap. 3). Wichtiger als diese primären Aufgaben war jedoch seit 1997 seine Kompetenz, Gesetze erlassen und unkooperative Politiker aus ihren Ämtern entfernen zu können, die sogenannten Bonner Vollmachten. Im Rahmen des Friedensplans wurde zudem eine internationale Friedenstruppe zur militärischen Absicherung unter NATO-, seit 2004 unter EU-Führung stationiert. Der Frieden von Dayton hat zur Verwunderung mancher gehalten (Riegler 1999: 9). Bosnien-Hercegovina gilt dennoch als eines der Paradebeispie-
  • 3. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 3 le, wie Demokratisierung als Friedensstrategie von externen Akteuren offensiv genutzt wurde, aber Defizite im Demokratisierungsprozess Frieden und Aussöhnung verhinderten (Richter 2009). Die Verfassung von Dayton bestätigte die Rechtsnachfolge der Republik Bosnien und Hercegovina, die sich 1992 von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) unabhängig erklärte, durch den neugegründeten Staat Bosnien und Hercegovina (Bosna i Hercegovina, im Folg. auch abgekürzt BiH; Council of Europe 2005: 3). Heute leben nach Schätzungen etwa 3,78 Millionen Bürger im Land (vgl. Tabelle 1). Anders als vor dem Krieg basiert die Definition des demos durch die Verfassung jedoch nun aus- schließlich auf dem ethnischen Prinzip und benennt explizit nur die in Bosnien und Herce- govina lebenden Bosniaken1, Kroaten und Serben als „konstituierende Völker“2 (Consti- tuent peoples3; Verfassung: Präambel, Abs. 10). Angehörige anderer Ethnien oder Minder- heiten (z.B. Roma oder Juden; in der Verfassung Others – „Andere“) werden zwar von der Staatsbürgerschaft nicht ausgeschlossen, können allerdings zahlreiche politische Posten nicht besetzen (vgl. Kap. 2.1). Diese Restriktionen treffen nicht nur die nationalen Minder- heiten, sondern allen voran auch eine große Gruppe von Staatsbürgern, die zum einen aus Mischehen stammen oder zum anderen zwar eine klare ethnische Herkunft haben, sich aber selbst dezidiert nicht einer der Volksgruppen zuordnen wollen (müssen). Das Verfassungs- gericht traf im Frühjahr/Sommer 2000 eine Reihe wegweisender Entscheidungen, wonach die Gleichberechtigung der drei konstituierenden Völker sich nicht nur auf die Gesamt- staats-, sondern auch auf Entitätsebene erstreckt, folglich Serben in der Föderation und Bosniaken/Kroaten in der RS sowie „Andere“ die gleichen Rechte und den Schutz nationa- ler Interessen genießen (vgl. auch Kap. 13). Die Verfassung fußt daher nicht auf einer Gleichheit der Bürger, sondern vor allem auf einer Gleichheit der Gruppen. Entsprechend sind auch die offiziellen Landessprachen bosnisch, kroatisch und serbisch.4 Formell sind 1 Der Begriff Bosniake (bošnjak) stammt aus dem Mittelalter und bezeichnet heute die primär in Bosnien und Hercegovina, teilweise auch in Serbien und Montenegro lebenden Muslime. Diese Bezeichnung wurde 1993 zur Abgrenzung der ethnischen Zugehörigkeit von der rein religiösen (Islam und Muslime) eingeführt. Erstmals tauchte bei der Volkszählung 1948 die Gruppe der damals so bezeichneten „Mus- lime“ (im religiösen Sinne) auf. Die Verfassung von 1963 nannte in der Präambel „Serben, Kroaten und Muslime“, was impliziert, dass darunter eine eigene Volksgruppe verstanden wurde. Die Volkszählung 1971 verwendete explizit „Muslim“ (im Sinne einer Volksgruppe), was bis 1993 die offizielle Bezeich- nung war. 1993 wurde in Sarajevo im Rahmen der Bosniakischen Versammlung (Bošnjački sabor), an welcher alle wichtigen Intellektuellen und Politiker der Bosniaken teilnahmen, per Abstimmung der Begriff Bošnjak als Name der Nation bestimmt (zur Geschichte siehe Malcolm 1996). Der Begriff Bos- nier (bosanac) steht für eine geographische Herkunft und umfasst alle Staatsbürger Bosnien und Herce- govinas unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Erfasst werden mit diesem Begriff auch jene Bürger, die aus Mischehen stammen und/oder sich nicht dezidiert einer der Volksgruppen und somit einer ethnischen Identität zuordnen lassen möchten. 2 Die Begriffe „Ethnie“ und „konstituierendes Volk“/„Volksgruppe“ unterscheiden sich. Während eine „Ethnie“ eine Gruppe von Menschen umfasst, die Geschichte, Kultur, Religion oder ein spezielles Sied- lungsgebiet auch unabhängig von Staatsgrenzen teilen, steht der Begriff des „konstituierenden Vol- kes“/der „Volksgruppe“ in diesem Beitrag eher politisch für jene Gruppe von Menschen, die sowohl Staatsbürger Bosnien und Hercegovinas sind als auch einer speziellen Ethnie angehören – eben die Bosniaken, bosnischen Kroaten und bosnischen Serben. Vgl. zur Problematik z.B. Gurr 2000: 69ff. 3 Zur Problematik der Verfassungssprache vgl. Kap. 2. 4 Im Rahmen der Nationswerdung 1991/1992 kam es im ex-jugoslawischen Raum auch zu einer Redefi- nition und Aufsplittung der bis dahin offiziellen Landessprache des Serbokroatischen in die heute offi- ziell anerkannten Sprachen bosnisch, kroatisch, montenegrinisch und serbisch (zur den Nachfolgespra- chen des Serbokroatischen siehe Kordić 2002).
  • 4. 4 Solveig Richter/Saša Gavrić Staat und Religion getrennt. Allerdings definieren sich die unterschiedlichen Ethnien und somit auch die Volksgruppen zu einem großen Teil über ihre religiöse Zugehörigkeit (Bos- niaken/Islam – Kroaten/Katholizismus – Serben/Orthodoxie), so dass Vertreter der religiö- sen Gemeinschaften zur Sicherung der nationalen Interessen sich immer wieder in politi- sche Kampagnen einmischten (BTI 2007: 6). Die starke Vermischung von ethnischer Zu- gehörigkeit und politischen Rechten hat über Jahre hinweg zu einer stetigen Ethnisierung der gesamten gesellschaftlichen Sphäre geführt. Tabelle 1: Ethnische Gliederung Bosnien und Hercegovina 1991 und 2008 Zensus 1991 Schätzungen 2008 Insgesamt (in Millionen) 4,35 3,78 Bosniaken (1991: Muslime) (in %) 44 48 Kroaten (in %) 17 14,3 Serben (in %) 31 37,1 Quelle: Eigene Zusammenstellung nach dem Zensus 1991, CIA Worldfactbook 2008 und Balkan Insight 2008. Bosnien und Hercegovina kämpfte seit 1995 mit vier Transformationsprozessen gleichzei- tig: dem Wandlungsprozess einer Kriegs- in eine zivile Friedensgesellschaft, dem staatli- chen Neuaufbau, der politischen Demokratisierung des Landes und dem Übergang von einer kommunistischen Plan-, anschließend Kriegs- hin zu einer liberalen Marktwirtschaft (BTI 2007: 3). „Der Krieg ging 1995 militärisch zu Ende, politisch sind die Gräben auch heute noch tief.“ So beschrieb 2004 Wolf Oschlies die Situation im Land nach nahezu zehnjährigem Friedensprozess (Oschlies 2004: 739). Leider hat sich im Wesentlichen in den vergangenen fünf Jahren daran wenig geändert. Der Friedens- und Versöhnungsprozess in Bosnien und Hercegovina wird noch Jahre, wenn nicht Generationen in Anspruch nehmen. Das Erbe des Kriegs liegt wie ein Schatten über dem Land. Nahezu jede Familie hatte Opfer zu beklagen und war von ethnischen Säuberungen betroffen. Nach dem Friedensschluss 1995 fand das geschundene Land zunächst keine Ruhe, denn die nationalistischen Parteien des Krieges entpuppten sich auch nach dem Krieg als Vetospieler mit antidemokratischen Praktiken (BTI 2007: 23). Allein der Hohe Repräsentant hatte trotz der vielen kontraproduktiven Effekte, die mit seiner Tätigkeit einher gingen (vgl. Kap. 3), einen positiven Einfluss, entfernte er doch mit Hilfe seiner Bonner Vollmachten zahlreiche Offizielle für eine Obstruktion des Friedensprozesses oder wegen ihrer Verwicklungen in Kriegsverbrechen aus ihren Ämtern. Zwar hat sich die Sicherheitslage im Land weiter verbessert. Das Monopol der physischen Gewalt liegt in den Händen staatlicher Organe (bzw. der internationalen Gemeinschaft). Nach einer umfassenden Verteidigungsreform wurden zudem 2006 die Armeen der Entitäten durch eine kleine gesamtstaatliche Berufsarmee ersetzt und ein gesamtstaatliches Verteidi- gungsministerium etabliert (BTI 2006: 5). Doch die sozial-strukturellen Nachwirkungen sind noch immer zu spüren. Der Krieg löste kaum vorstellbare Bevölkerungsverschiebungen aus. Die ethnische Landkarte hat sich massiv verändert – von einem bunten Patchwork, wie es sich noch 1991 darstellte, kann nicht mehr die Rede sein. Nach den jüngsten Zahlen des Zentrums für Forschung und Dokumentation in Sarajevo nach zwölfjähriger Recherche sind insgesamt 96.000 Kriegsopfer (verstorben oder vermisst) nachgewiesen und 440 Gefängnis- se oder Konzentrationscamps sowie 320 Massengräber lokalisiert.5 Über die Hälfte der Bür- ger lebte 1995 als Flüchtling oder Vertriebener fern ab der Heimat an einem anderen Ort. 5 Quelle: www.idc.org.ba/aboutus.html (letzter Abruf 6.8.2008).
  • 5. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 5 Trotz der nahezu vollständigen Rückgabe des im Krieg enteigneten oder besetzten Eigen- tums (93,34% im März 2006; BTI 2007: 10), kehrte nur etwa die Hälfte aller Flüchtlinge zurück. Die Rückkehr von Angehörigen, die an ihrem ursprünglichen Wohnort nicht der Ethnie der jeweils ansässigen Mehrheitsbevölkerung entstammten, wurde immer wieder durch gewalttätige Übergriffe, Diskriminierung und Einschüchterungen verhindert, so dass sich ein Großteil in den Siedlungsgebieten „ihrer“ Volksgruppe niederließ. Der Anteil der Bosniaken hat sich so seit 1991 bis heute in der Föderation von 52% auf 73% erhöht, wäh- rend sich etwa der Anteil der Serben dort von 18% auf 2% verringerte, aber in der RS von 54% auf 97% anstieg (vgl. Peters 2003: 51ff.). Der Anteil der Kroaten an der Gesamtbevöl- kerung sank von 17% vor dem Krieg auf heute etwa 14% (4,8% in der RS, 16,5% in der Föderation) (Bieber 2008: 40f.). Die Vergangenheitsbewältigung, insbesondere die (juristi- sche) Aufarbeitung eigener (Kriegs-)Verbrechen sowie die rechtmäßige Bestrafung der Täter gestaltete sich innerhalb und zwischen den Volksgruppen besonders schwierig (BTI 2007: 25). Die Justizbehörden zeigten sich lange noch unwillig, Menschenrechtsverletzungen auf- zuklären. Gerade die Aufarbeitung minderer, nichtsdestotrotz gewalttätiger Verbrechen in den Kommunen kam nicht ins Rollen, so dass beispielsweise Polizisten, die sich Vergehen schuldig gemacht hatten, weiterhin unbehelligt die Staatsmacht vertraten. Die Kooperation mit dem ICTY war lange Jahre mangelhaft. Eine speziell eingerichtete Gerichtskammer für Kriegsverbrechen im Gerichtshof Bosnien und Hercegovinas nahm schließlich erst im März 2005 in Sarajevo ihre Arbeit auf. Mittlerweile erreichten einheimische Kriegsverbrecherpro- zesse und die Arbeit des unabhängigen Zentrums für Forschung und Dokumentation in Sara- jevo einige Fortschritte bei einer sachlichen Aufarbeitung der jüngsten Geschichte. Sie er- zielten jedoch keine große politische Wirkung (BTI 2007: 25). Die mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit nährte jedoch die interethnischen Antagonismen weiter, schließlich hatte jede Volksgruppe ihre eigene Version der Ereignisse und fühlte sich in der Opferrolle. Histo- rische Unrechtstaten werden in der politischen Auseinandersetzung daher weiterhin instru- mentalisiert und propagiert. Die staatliche Transformation begann mit dem Zerfall des alten Jugoslawien, mündete in die Unabhängigkeit und endete 1995 formal mit der Neugründung des Staates Bosnien und Hercegovina. Das Streben nach Frieden führte letztlich dazu, dass in der Verfassungs- struktur von Dayton den drei konstituierenden Völkern eine sehr starke Veto- und Blockade- position eingeräumt wurde. Dayton etablierte zudem einen extrem dezentralisierten Staat mit zwei Entitäten, von denen eine Teilrepublik – die Föderation – selbst noch einmal stark zer- gliedert ist. Die durch das Friedensabkommen und die umfassende Präsenz der internationa- len Gemeinschaft garantierte Sicherheit und Stabilität in den ersten Nachkriegsjahren mün- dete jedoch nicht in ein erfolgreiches, integrierendes Staatsprojekt (Richter 2009). Bosnien und Hercegovina kämpfte von Beginn an mit eklatanten Stabilitäts- und Legitimitätsdefizi- ten. Während sich die Bosniaken mit „ihrem Staat“ identifizierten, lehnten Serben und Kroa- ten das Dayton-Konstrukt lange Zeit ab und forderten die Unabhängigkeit ihrer Siedlungs- gebiete oder den Anschluss an ihre Mutterländer. Mit den demokratischen Umbrüchen und Regierungswechseln 2000 in der Bundesrepublik Jugoslawien und Kroatien fiel zwar deren Unterstützung für die sezessionistischen Absichten der bosnischen Serben und Kroaten weg, so dass sich der „meist unausgesprochene Konflikt um den dauerhaften Fortbestand Bos- niens als Staat“ (BTI 2003: 17) auf Diskussionen um die Kompetenzverteilung im Land verlagerte. Dennoch ermöglichte es das Machtgefüge in Bosnien und Hercegovina den zent- rifugalen Kräften, eine Stärkung des Gesamtstaates weitestgehend zu usurpieren. Ein Fenster der Gelegenheiten für eine umfassende Reform der staatlichen Struktur öffnete sich 2006, als sich die wichtigsten Vertreter der drei Volksgruppen auf eine Verfassungsreform verständig-
  • 6. 6 Solveig Richter/Saša Gavrić ten, die dem Gesamtstaat eine Zukunftsperspektive hätte sichern können. Das Reformpaket scheiterte jedoch im Parlament an nur wenigen Stimmen. Einige Abgeordnete hatten sich den Plänen ihrer Parteiführung bzw. Vertretern der Volksgruppe widersetzt. De facto ist die staatliche Einheit somit nach wie vor umstritten, und die beständige Bedrohung eines Zer- falls bestimmt das politische Leben im Land weiterhin. Der Staat Bosnien und Hercegovina besitzt zudem weiterhin nur eingeschränkte Souveränität: Der Hohe Repräsentant kann im zivilen Bereich souveräne Entscheidungen aushebeln, und das staatliche Gewaltmonopol wird seit 1995 durch internationale Friedenstruppen, die Sicherheit garantieren konnten, begrenzt (1995-1996 IFOR, 1996-2004 SFOR, seit 2004 EUFOR). Der politische Transformationsprozess wurde durch die Ablösung des autokratischen Regimes bereits mit den ersten freien Wahlen 1990 eingeleitet, geriet jedoch durch die Instrumentalisierung der nationalen Frage sogleich ins Stocken. Die drei nationalistischen Parteien der Bosniaken, Kroaten und Serben gewannen die Wahlen und bildeten eine fragi- le Koalition, die jedoch keinen Konsens über die staatliche Zukunft fand und zerbrach (Woodward 1995: 233). Die Ausgangsbedingungen für eine (fortgesetzte) Transformation waren daher 1995 im Anschluss an einen zerstörerischen Krieg ungünstig, um nicht zu sagen düster (Richter 2009). Nach einer Neugründung des Staates durch den Vertrag von Dayton mündeten die Gründungswahlen (1996) daher nicht in den Sieg eines demokrati- schen Reformbündnisses, welches die Konstituierung und Festigung demokratischer Insti- tutionen hätte voran treiben können. Die Wahlen brachten hingegen einen klaren Sieg der alten Kräfte, die nun demokratisch legitimiert den Krieg mit anderen Mitteln fortsetzten. Die nationalistischen Parteien konservierten ihre illegalen Netzwerke und konterkarierten somit die staatliche Verfassungsstruktur. Das jahrelange Gegeneinander formaler Institutio- nen und realer Machtstrukturen verhinderte die Demokratisierung und den Wiederaufbau (Oschlies 2004: 741). Das Jahr 2000 brachte mit dem Wahlsieg gemäßigter Parteien („Alli- anz des Wandels“) eine positive Zäsur, eine progressive Periode folgte. Interne politische Differenzen verhinderten jedoch grundlegende Reformen, bereits nach einem Jahr polari- sierte der Wahlkampf erneut die politische Landschaft. 2002 und 2006 gewannen wieder nationalistische oder national gesinnte Parteien. Erfolgreiche, freie und faire Wahlen fanden somit mittlerweile zwar regelmäßig statt und mündeten in Regierungswechseln auf allen Ebenen. Dennoch erweist sich Huntingtons Kriterium des zweimaligen Machtwechsels für eine gefestigte Demokratie (Huntington 1991: 266) als irreführend (Richter 2009). Bosnien und Hercegovina gehört keineswegs zum „illustren“ Kreis gefestigter Demokratien (Gro- mes 2006b: 18), sondern besitzt eher ein hybrides Regime in der Grauzone zwischen einem autoritären und liberal-demokratischen politischen System (vgl. auch BTI 2007: 5). Die Effekte der teils missglückten staatlichen Transformation auf den Demokratisierungspro- zess sind nicht zu unterschätzen. Die mangelnde Konsensbildung zum gemeinsamen staat- lichen Zusammenleben und zur Durchführung einer reformorientierten Politik stellte die „größte Hürde“ dar (BTI 2003: 17). Das komplexe Regierungssystem zur Befriedung nati- onaler Interessen sowie die Ethnisierung des demos und damit des gesamten öffentlichen und politischen Lebens hemmten die Demokratisierung. Andererseits sicherten demokrati- sche Verfahren und Rechte wiederum den nationalistischen Kräften Einflusskanäle (Richter 2009). Daraus resultierten Reformblockaden; die unklare vertikale Kompetenzverteilung6 behinderte zusätzlich transparente Entscheidungsprozesse und Gewaltenkontrolle (Richter 6 Insgesamt gibt es etwa ca. 140 Ministerien, mit teilweise gleichen oder ähnlichen Zuständigkeiten (z.B. in den Bereichen Justiz und Bildung), insgesamt 14 Regierungen und 14 parlamentarische Versamm- lungen mit legislativen Kompetenzen (BTI 2007: 22; vgl. Kap. 14).
  • 7. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 7 2009). Vorstöße, die auf eine Steigerung der Funktionalität und Behebung zentraler Defekte des Regierungssystems abzielten, sind nach dem Scheitern der Verfassungsreform 2006 durch den Antagonismus um die staatliche Struktur blockiert und daher chancenlos (BTI 2007: 2). Die Transformation von einer kommunistischen Plan- zu einer modernen Marktwirt- schaft nahm in den 1990er Jahren leider den Umweg über die Ausprägung einer informel- len Kriegswirtschaft und steckt daher weiterhin nur in den Anfängen. Trotz einiger Fort- schritte bleibt die wirtschaftliche Lage Bosnien und Hercegovinas prekär. Der internationa- le Währungsfond warnte im Juni 2008 vor steigenden Risiken (Inflation, Handelsdefizit) für die makroökonomische Stabilität und das Wachstum des Landes (Economist Intelligen- ce Unit 2008: 11). Kriegszerstörungen und die dichten Netzwerke zwischen politischen Eliten und wirtschaftlichen Institutionen, die sich während des Krieges bildeten und direkt im Anschluss daran weiter konsolidierten, verhinderten bisher den Aufbau einer funktionie- renden Marktwirtschaft. Zudem prägt der umfangreiche informelle Sektor, dessen Größe nach unterschiedlichen Quellen auf 20-50% des BIP geschätzt wird, auch weiterhin ent- scheidend die wirtschaftliche Entwicklung (BTI 2007: 13f.). Erschwerend für den Aufbau eines einheitlichen Marktes kommt die dezentralisierte Struktur des politischen Systems hinzu. Die ökonomische und fiskalische Politik ist fragmentiert und auf verschiedene Ebe- nen und Institutionen verteilt. Zwar hat der Hohe Repräsentant in den letzten Jahren wichti- ge Schritte zur Vereinheitlichung unternommen, etwa die Einführung einer landesweiten Mehrwertsteuer 2006 oder die Initiative zur Gründung eines Wirtschafts- und Sozialrats 2008, in welchem u.a. die Finanzminister die Staats- und Entitätsbudgets abgleichen (BTI 2007: 14). Dennoch stehen insgesamt noch zu viele Hürden für die Entwicklung eines wettbewerbsorientierten gemeinsamen Wirtschaftsraums im Wege. Positiv ist, dass BiH immerhin eine starke und unabhängige Zentralbank ebenso wie eine stabile Währung be- sitzt. Die Konvertible Mark (KM) ist mit einem Wechselkurs von 1.96 (der frühere DM- Wert) fest an den Euro gekoppelt (Economist Intelligence Unit 2008: 6). Das Bruttoin- landsprodukt lag 2007 bei 10.6 Mrd. € (das macht ca. 2.734 € pro Kopf; Quelle: Auswärti- ges Amt7), die Inflationsrate im April 2008 bei 7,5% (Economist Intelligence Unit 2008: 2). Das wirtschaftliche Wachstum ist zwar relativ hoch (2007 5,5%; Economist Intelligence Unit 2008: 7), reicht jedoch bei weitem für Bosnien und Hercegovina nicht aus, wirtschaft- lich an die anderen Länder der Region aufzuschließen. Der Privatisierungsprozess nahm erst in den letzten Jahren an Fahrt auf, und ist daher de facto auch für den Großteil des Wachstums und den gestiegenen Anteil an Direktinvestitionen, gleichzeitig aber auch für steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich (BTI 2007: 16f.). Wirtschaftliche Investitionen durch den Staat sind somit minimal, geht doch der größte Einzelanteil des Haushaltes allein in die Finanzierung der Administration (40,5%; BTI 2007: 22). Nur etwa 42,6% der er- wachsenen Bevölkerung sind beschäftigt, die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 40-45%. Wenn auch für die Konsolidierung des Staatshaushaltes hinderlich, so ist doch für die all- gemeine wirtschaftliche Lage zumindest positiv festzuhalten, dass diese sich auf 20% ver- ringert, zählt man die Beschäftigten im informellen und somit offiziell nicht erfassten Sek- tor hinzu. Etwa die Hälfte der Haushalte lebt dennoch in Armut oder an der Schwelle dazu (BTI 2007: 12). Das soziale Sicherungsnetz und somit die staatlichen Sozialausgaben wer- den zusätzlich durch die Kriegsfolgen (Veteranen, Invaliden etc.) immens belastet und brachten die Föderation jüngst (Juli 2008) an den Rande der Insolvenz (Economist Intelli- 7 www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/BosnienUndHerzegowina.html (Abruf vom 08.10.2008).
  • 8. 8 Solveig Richter/Saša Gavrić gence Unit 2008: 2). Bosnien und Hercegovina leidet zudem in wirtschaftlicher Hinsicht unter seiner schwierigen Geographie, so dass die infrastrukturellen Voraussetzungen neben der komplexen administrativen Struktur, den langsamen Entscheidungsprozessen und der unsicheren staatlichen Zukunft bisher ausländische Direktinvestoren abschreckten (nur 3,45% des BIP; Balkan Insight 2008). Die durchaus vorhandenen wirtschaftlichen Potentia- le durch den Tourismus konnte Bosnien und Hercegovina aufgrund seines schlechten Images sowie einer weithin verminten Landschaft im Gegensatz etwa zu Kroatien bisher nicht annäherungsweise ausschöpfen. Das von Dayton geschaffene politische System ist somit reich an Komplexität und in- neren Widersprüchen. Aufgrund des Status als ein Quasi-Protektorat der internationalen Gemeinschaft, die zum Teil noch souveräne Hoheitsfunktionen ausübt, kann der Transfor- mationsprozess Bosnien und Hercegovinas wie auch der derzeitige Demokratisierungsstand kaum mit anderen post-kommunistischen Ländern verglichen werden. Während an gleicher Stelle vor einigen Jahren Wolf Oschlies noch die Spezifika unterstrich und die Fallsticke des Friedensprozesses präzise herausarbeitete (Oschlies 2004), stellt der folgende Artikel den Versuch dar, mit dem Instrumentarien der Vergleichenden Regierungslehre das politi- sche System Bosnien und Hercegovinas in seiner Normalität zu erfassen. Dem besonderen Umstand der Rolle externer Akteure trägt der Beitrag jedoch mit einem gesonderten Kapitel (vgl. Kap. 3) Rechnung. 2. Verfassungsentwicklung und Verfassungsprinzipien 2.1 Verfassungsentwicklung und Reformdiskussion Die Verfassung Bosnien und Hercegovinas wurde als Annex 4 in das Friedensabkommen von Dayton integriert und somit direkt im Anschluss an die kriegerischen Auseinanderset- zungen ausgehandelt und angenommen. Sie ist daher kein Produkt eines Systemwechsels und demokratischen Gründungskonsenses: Weder wurde die Verfassung unter Einschluss der Bevölkerung konzipiert noch durch demokratische Prozeduren im Nachhinein legiti- miert. Sie ist vor allem ein Werk ausländischer, allen voran amerikanischer Friedensver- mittler. Die Verfassung ist darüber hinaus auch insofern ein Unikum der jüngeren Verfas- sungsgeschichte, als sie bisher nie in die Landessprachen offiziell übersetzt und darin veröf- fentlicht wurde, sondern formell gesehen nur in einer fremden Sprache, Englisch, vorliegt (Peters 2003: 51). Das Abkommen sieht eine Übersetzung vor, jedoch kamen die Verant- wortlichen in Bosnien und Hercegovina, im Wesentlichen die Präsidentschaft und der Mi- nisterrat, ihrer Pflicht bisher nicht nach. Konstitutionell unterliegt Bosnien und Hercegovi- na damit weiterhin der „Suprematie internationaler Normen“ (Oschlies 2004: 764). Die zentralen Verfassungsprinzipien und Arrangements des Regierungssystems (vgl. Kap. 2.2) sind somit nur vor dem spezifischen Entstehungshintergrund eines verhandelten Friedens zur Beendigung des bewaffneten Kampfes nachzuvollziehen. Ähnliches gilt für die Verfas- sungstexte der Entitäten: Die Verfassung der Föderation wurde im Juni 1994 ebenso als Verhandlungskompromiss zwischen Bosniaken und Kroaten (unter amerikanischer Ver- mittlung) in das Washingtoner Friedensabkommens integriert, welches in seinen Grundzü- gen auch den Friedensschluss von Dayton prägte, wie sich etwa in der verwirrenden Dop- pelung der Namen vieler Institutionen widerspiegelt (Gromes 2007: 164). Hingegen wurde die Verfassung der Republika Srpska bereits kurz vor Beginn des Bürgerkrieges 1992 ver- abschiedet und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Republika Srpska eine separatistische
  • 9. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 9 Teilregion bildete. Die Verfassung konzipierte daher einen unitaren Staat, dessen Ziel in der Unabhängigkeit der serbischen Siedlungsgebiete und somit gerade nicht in der Integra- tion im damals erst unabhängig gewordenen Staat Bosnien und Hercegovina bestand (Council of Europe 2005: 2f., 16; vgl. ausführlich Kap. 14.1). Damit entstanden alle Ver- fassungstexte weniger im Kontext einer politischen Transformation, sondern sie sind vor allem ein Produkt des blutigen Staats- und Nationsbildungsprozesses. Die Verfassungsgrundlage Bosnien und Hercegovinas weist neben den gravierenden demokratischen Defiziten bei der Genese weitere rechtliche und funktionale Schwächen auf. Ein Gutachten des Europarates monierte 2005, dass zentrale Normen der Verfassung nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind (vgl. ausführlich Kap. 2.2). Bereits 2000 hatte das Verfassungsgericht in Sarajevo festgestellt, dass die Enti- tätsverfassungen nicht mit der gesamtstaatlichen Verfassung kompatibel waren und diskri- minierende Effekte entfalteten. Dieser Mangel wurde 2002 durch den Hohen Repräsentan- ten behoben, der Veränderungen an den Entitätsverfassungen verfügte. Die institutionellen Korrekturen (vgl. ausführlich Kap. 2.2 und 14.1) erhöhten jedoch die Komplexität des Re- gierungssystems weiter. Die vielfältigen Schutzinstanzen für die Interessen der konstituie- renden Völker führten zu Blockaden, der überbordende Parlaments- und Regierungsapparat zu horrenden Staatsausgaben und ineffizientem Regieren (Council of Europe 2005: 13). Der Reformbedarf der Verfassung, insbesondere der damit verbundenen Staatsstruktur, ist somit evident. Doch die Ansprüche nach einem primär national gesteuerten Novellierungs- prozess und die verfassungsrechtlichen Hürden mit einer Zweidrittelmehrheit in der ersten Kammer des Parlaments inklusive der Zustimmung mindestens jeweils eines Drittels der Abgeordneten beider Entitäten sind recht hoch (Council of Europe 2005: 8ff.; de facto können somit die Serben der RS ein Veto gegen eine Verfassungsänderung einlegen.). Zudem gehen die Vorstellungen über die zukünftige Gestalt des Staates diametral ausein- ander. Sie reichen von einem Bestand der bisherigen Föderalstruktur (Serben) über eine noch stärkere Konföderalisierung (Forderung nach einer dritten Entität unter Teilen der Kroaten) bis hin zu einer Zentralisierung (Bosniaken) in Form von multiethnischen Regio- nen, was sich wiederum auf die konkrete institutionelle Prägung des politischen Systems, etwa des Parlaments oder der Präsidentschaft, auswirken würde. Trotz dieser Hindernisse gab es 2005/2006 einen ersten ernsthaften Reformversuch, der von der damaligen politi- schen Führung der Bosniaken und Kroaten, namentlich Sulejman Tihić und Dragan Čović, ausging. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere der vormalige amerikanische stell- vertretende Hohe Repräsentant Donald Hays, vermittelte aktiv und initiierte mit Unterstüt- zung der Europäischen Union und des Europarates im April 2005 eine Reihe von vertrauli- chen Gesprächen unter den Parteien, die letztlich in offiziellen Verhandlungen und in einem Übereinkommen zwischen allen Beteiligten mündeten. Das im März 2006 auf Elitenebene vereinbarte Reformpaket sah eine veränderte und geschwächte Präsidentschaft, neue Kom- petenzen für den Gesamtstaat, vereinfachte Strukturen im vergrößerten Parlament und die Stärkung des Ministerrates vor. Die Änderungen hätten somit eine Akzentverschiebung in Richtung eines parlamentarischen Regierungssystems mit sich gebracht. Die vorgeschlage- nen Verfassungsänderungen erhielten jedoch im April 2006 im Repräsentantenhaus mit nur zwei fehlenden Stimmen (von 42 Abgeordneten) nicht die entscheidende Zweidrittelmehr- heit. Hintergrund waren vor allem die fundamentalen Unstimmigkeiten innerhalb der Gruppen der Bosniaken und der Kroaten gewesen. Während alle wesentlichen serbischen Parteien (SDS, SNSD und PDP), die bosniakische Partei SDA, die SDP sowie die kroati- sche Partei HDZ BiH zustimmten, hatten die bosniakische Partei SBiH und die kroatische Partei HDZ 1990, die sich erst kurz zuvor von der HDZ abgespalten hatte, zusammen mit
  • 10. 10 Solveig Richter/Saša Gavrić einigen unabhängigen Abgeordneten der Verfassungsreform ihre Stimme versagt (zum Parteiensystem vgl. Kap. 9). Im Gegensatz zur SBiH, die unter Führung des heutigen bos- niakischen Mitglieds der Präsidentschaft Haris Silajdžić primär eine rein kosmetische Natur des Reformpakets anprangerte und dem wahltaktische Motive unterstellt werden, kritisierte die HDZ 1990 eine Einschränkung der Rechte der kroatischen Volksgruppe. Sie genoss dabei die Unterstützung der katholischen Kirche und des kroatischen Business (Sebastián 2007: 46ff.). Mit dem Scheitern der Verfassungsreform 2006 verstummten die Debatten jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Die Polarisierung und Radikalität der politischen Positionen nahmen zwischen und innerhalb der Volksgruppen weiter zu und übertrugen sich auch auf sachliche Reformvorhaben, so etwa im Polizeisektor. Die Parteiführer konnten sich im April 2008 nur auf minimale Veränderungen einigen und koppelten die wesentliche Frage des Verhältnisses staatlicher Organe zu jenen der Entitäten an eine grundlegende Regelung in einer möglichen zukünftigen Verfassungsreform (Richter 2008: 3). Offensichtlich wird an diesem Beispiel die somit weiterhin bestehende Dysfunktionalität und Ineffizienz des Regierungssystems in Bosnien und Hercegovina. Erschwerend wirkt sich daher aus, dass der öffentliche Reformdiskurs und -druck selbst mehr und mehr kontraproduktive Effekte entfaltet. Er provoziert Abwehrreaktionen bis hin zu Drohungen mit einem Unabhängig- keitsreferendum bei den serbischen Politikern, die den Bestand der Entität der Republika Srpska gefährdet sehen. Dies wiederum schürt Existenzängste bei den Bosniaken, die den Bestand „ihres“ Staates in Gefahr sehen. Auch die Kroaten verstummen mit ihren Ansprü- chen nach einer eigenen Entität nicht. Die derzeitige Situation ist somit verfahren und of- fenbart ein Handlungsdilemma: Jene Eckpfeiler von Dayton, die bis heute die staatliche Einheit garantieren, wirken gleichzeitig kontraproduktiv und hemmen eine positive Dyna- mik im Land – Stabilität bedeutet derzeit Stagnation (Richter 2008: 5). Eine grundlegende Neustrukturierung der konstitutionellen Ordnung in Bosnien und Hercegovina ist somit zwar dringend nötig, so wurde vom Europarat (Council of Europe 2005) und der Europäi- schen Union (European Commission 2007) auch immer wieder betont (BTI 2007: 10). Allerdings verlangt nüchtern betrachtet eine konstruktive Auflösung des Gordischen Kno- tens der gegenwärtigen Reformdebatte in einen ethnien- und parteienübergreifenden Kon- sens von allen Beteiligten eine immense Flexibilisierung eigener Positionen. 2.2 Verfassungsprinzipien und Verfassungswirklichkeit Die wesentlichen Charakterzüge und Verfassungsprinzipien des derzeitigen politischen Systems sind vor dem Hintergrund eines frischen, ethno-politischen Konflikts entstanden. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen misstrauten einander und fürchteten nichts stärker als eine Marginalisierung ihrer Interessen im neu begründeten Staat Bosnien und Hercegovina. Dies bedingte eine Abkehr vom Mehrheitsprinzip und die Integration speziel- ler Sicherungsinstrumente, die garantieren konnten, dass alle wesentlichen Volksgruppen sich von der Verfassung geschützt fühlten und dem Friedensvertrag zustimmen konnten. So wurde das politische System nicht nur mit speziellen territorialen Arrangements unterfüttert sondern auch die Zusammensetzung der wesentlichen Regierungsinstitutionen zur Reflexi- on der Interessen der Volksgruppen angepasst (Council of Europe 2005: 2, 8). Die Verfassung sieht „eine parlamentarische Demokratie mit präsidentiellen Zügen und stark ausgeprägten Elementen der Konkordanzdemokratie“ vor (Gromes 2007: 155). Neben der ersten Kammer des Parlaments (Repräsentantenhaus) wird auch die kollektive
  • 11. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 11 Präsidentschaft direkt vom Volk bestimmt. Der Ministerrat als Kabinett muss sich jedoch vor dem Repräsentantenhaus der Parlamentarischen Versammlung verantworten, weshalb die Präsidentschaft in ihrer Machtfülle den Legislativen nachsteht. Der Präsidentschaft kommt nach Art V.3(e) der Verfassung die Aufgabe zu, die Entscheidungen des Parlaments auszuführen, während der Ministerrat dafür zuständig ist, die Politik auf Staatsebene durch- zuführen (Art. V Abs. 4 (a)). Die exekutiven Kompetenzen sind somit zwischen Präsident- schaft und Ministerrat nicht klar voneinander abgegrenzt, so etwa bei der Außenpolitik, und es besteht das Risiko einer Überschneidung von Verantwortlichkeiten (Gromes 2007: 160ff., 171; vgl. auch Council of Europe 2005: 11). Eines der Kernprinzipien der Verfassung, das bereits in der Einleitung erwähnt wurde, stellt die dezentrale Staatsorganisation dar. Nach Art. III Abs. 1 der Verfassung sind die Zuständigkeiten des Staates klar und eng gefasst, darunter: – Außen- und Außenhandelspolitik, – Zoll- und Währungspolitik, – Migrationspolitik und – Verkehrspolitik (vgl. ausführlich Savić 2003: 18). Die Verfassung schreibt alle anderen Zuständigkeiten, die nicht explizit genannt werden, den Entitäten zu, darunter auch so bedeutsame Politikfelder wie die Verteidigungspolitik (Art. III Abs. 3). Bis zu einer Neuregelung 2006 war der Staat sogar abhängig von den finanziellen Zuwendungen der Entitäten (Council of Europe 2005: 7). Die Verfassung sieht zudem nur wenige Institutionen auf staatlicher Ebene vor, darunter ein Zwei-Kammern- Parlament, eine dreiköpfige Präsidentschaft, den Ministerrat und eine Zentralbank (Artt. 4-7 der Verfassung). Das einzige Gericht, welches explizit auf staatlicher Ebene verortet wird, ist das Verfassungsgericht. Die extrem geringen Kompetenzen, die die Verfassung dem Staat explizit zuschreibt, erwiesen sich schnell als unzureichend, die Funktionalität eines modernen Staates gewährleisten zu können. In einem schleichenden Prozess, den die inter- nationale Gemeinschaft aktiv forcierte, hat der Gesamtstaat einige verfassungsrechtliche Spielräume und Sonderregelungen genutzt und seine Macht sukzessive ausgeweitet. Art. III Abs. 5 der Verfassung sieht einerseits die Möglichkeit vor, dass die Entitäten Kompetenzen abtreten können. Andererseits kann der Staat sich Kompetenzen zueigen machen, um die Souveränität, territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit und internationale Rechtsper- sönlichkeit zu gewährleisten, und zu diesem Zwecke auch zusätzliche Institutionen schaf- fen. Darauf basierend fand ein Kompetenztransfer in den durchaus bedeutenden Politikfel- dern Verteidigung, Geheimdienste, Justiz und Steuerwesen statt (BTI 2006: 16; Bliesemann de Guevara 2007). Neben dieser dezentralen Struktur wurden in Dayton auch eine Reihe von Machttei- lungsarrangements vereinbart, die die Interessen der drei konstituierenden Völker gegen eine Überstimmung schützen sowie diesen Zugang zu allen wichtigen Entscheidungsin- stanzen ermöglichen sollen und so dem politischen System einen starken konsensdemokra- tischen Charakter verleihen: eine kollektive Präsidentschaft, ein Haus der Völker als zweite Parlamentskammer und das Veto des vitalen nationalen Interesses (Council of Europe 2005: 3). Die kollektive Präsidentschaft (vgl. ausführlich Kap. 4) besteht aus jeweils einem Vertreter der drei konstituierenden Völker; der Vorsitz rotiert. Entscheidungen werden in diesem Gremium de facto nur im Konsens getroffen, auch wenn de jure eine Mehrheitsent- scheidung möglich wäre. Jedoch könnte das überstimmte Mitglied die Entscheidung als destruktiv für die vitalen Interessen seiner Entität erklären und ein Veto einlegen, so dass in
  • 12. 12 Solveig Richter/Saša Gavrić der politischen Praxis bisher stets ein Ausgleich gesucht wurde (Council of Europe 2005: 11). Weitaus bedeutender war das Entitätenveto jedoch im Repräsentantenhaus (vgl. Kap. 7). Das Haus der Völker ist in der Praxis im Vergleich zu anderen föderalen Systemen wie etwa Deutschland verhältnismäßig ähnlich wie das Repräsentantenhaus (die erste Kammer) besetzt, auch wenn die Mitgliedschaft auf die drei Volksgruppen (jeweils fünf Delegierte) beschränkt bleibt. Zudem stimmen die Zuständigkeiten beider Kammern nahezu komplett überein (vgl. ausführlich Kap. 5). Im politischen System Bosnien und Hercegovinas besteht dessen institutionelle Funktion denn auch vor allem in der Möglichkeit für die Volksgrup- pen, neben dem Entitätsveto hier ein Veto des vitalen nationalen Interesses einzulegen (nach Art. IV Abs. 3(e) der Verfassung). Eine Mehrheit der bosniakischen, der kroatischen und der serbischen Abgeordneten kann erklären, dass ein (Gesetzes-)Vorschlag gegen die vitalen Interessen ihrer Volksgruppe verstößt. In diesem Fall muss im Repräsentantenhaus noch einmal jeweils die Mehrheit aller Volksgruppen dafür stimmen. Die Mehrheit einer anderen Volksgruppe kann wiederum gegen die Nutzung des Veto-Mechanismus Einspruch erheben (Art. IV Abs. 3(f) der Verf.). In diesem Fall ist ein Schiedsverfahren vorgesehen. Gelingt dieses nicht, entscheidet das Verfassungsgericht – allerdings nur zur prozeduralen Seite und nicht in der Sache (Gromes 2007: 160). Die Verfassung nimmt keine exakte the- matische Eingrenzung vor, was dazu führen kann, dass alle Sachfragen als ein nationales Interesse definiert werden können. Das Instrument des Vetos des vitalen nationalen Interes- ses wurde bisher nur sehr selten genutzt, jedoch ist die präventive, abschreckende Wirkung nicht zu unterschätzen (Council of Europe 2005: 8ff.). In der parlamentarischen Praxis spielte hingegen das Entitätsveto eine weitaus größere Rolle. Die Abgeordneten der RS konnten so mit sehr wenigen Stimmen eine Entscheidung blocken und nutzten dieses In- strument entsprechend oft (vgl. auch Kap. 7). Alles in allem eröffneten diese Schutzinstru- mente in der Vergangenheit Tür und Tor für Entscheidungsblockaden und machten ein effektives Regieren unmöglich. Die gesunde und funktionierende Balance zwischen Parti- zipation und Regierungsfähigkeit ist daher im heutigen politischen System Bosnien und Hercegovinas nicht mehr gegeben. Neben einem klaren Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirt- schaft (Präambel, Abs. 3, 4; Art. I Abs. 2) inkorporiert die Verfassung alle relevanten inter- nationalen Menschenrechtsabkommen, institutionalisiert umfangreiche Schutzinstanzen wie etwa Ombudsmänner (vgl. Kap. 13) und sichert somit den Bürgern des Landes das „höchste Niveau von international anerkannten Menschenrechten und grundlegenden Freiheiten“ (Allgemeines Rahmenabkommen für Frieden 1995: Annex 6, Art. 1; Übersetzung d. Auto- ren). Die Verfassung ist auch insofern bemerkenswert, als dass sie der Europäischen Men- schenrechtskonvention Priorität über alle anderen Gesetze und somit direkte Geltung im innerstaatlichen Recht einräumt (Council of Europe 2005: 11). Auf dem Papier besitzt das Land somit eines der besten Schutzsysteme der Welt (Richter 2009). Trotz dieser umfangreichen verfassungsrechtlich kodifizierten Normen widersprechen nicht nur einige zentrale Verfassungsprinzipien nach Auffassung des Europarates der Euro- päischen Menschenrechtskonvention (siehe ausführlich Council of Europe 2005: 16ff.), sondern zeichnet auch die Verfassungswirklichkeit ein anderes Bild. Der Kern des Pro- blems liegt in der Verknüpfung der territorialen und der ethnischen Komponente, die somit zwar die kollektive Gleichheit der konstituierenden Völker, und somit von Gruppen, garan- tiert, damit allerdings das Prinzip der individuellen Rechte und Gleichheit der Bürger ver- letzt (Stoessel 2001: 19). Der kombinierte Effekt der verschiedenen Schutzmechanismen
  • 13. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 13 Abbildung 1: Das politische System Bosnien und Hercegovinas (ohne Brčko). Eigene Darstellung in Anlehnung an Oschlies 2004: 759.
  • 14. 14 Solveig Richter/Saša Gavrić macht nicht nur ein effektives Regieren unmöglich, sondern schließt eben bestimmte Indi- viduen von politischen Rechten aus und „institutionalisiert [...]den Konflikt zwischen den Volksgruppen“ (Gromes 2007: 170). Insbesondere die Verfassungsbestimmungen zur Zu- sammensetzung und Wahl der Präsidentschaft und des Hauses der Völker sind nicht mit zentralen Menschenrechtsstandards, darunter dem Gleichheitsgrundsatz der Wahl nach Art. 25 des Internationalen Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie dem Diskriminierungsverbot der Rahmenkonvention für nationale Minderheiten, kompatibel (vgl. Kap. 4, 5, 8). Zu der rechtlichen gesellt sich eine praktische Problematik: Der Aufbau der staatlichen Institutionen dient primär dem Ziel der Repräsentation der konstituierenden Völker. Will ein individueller Bürger somit seine Interessen vertreten sehen, wird er ge- zwungen sein, sich möglicherweise künstlich einer Volksgruppe anzuschließen, obgleich seine persönliche Identität eher multiethnisch ist. Dies hat in der Tat zu einer „Ethnisie- rung“ des politischen Systems geführt, in dem nicht mehr das Gemeinwohl des Staates sondern jenes der einzelnen Volksgruppen im Vordergrund steht, in dem de facto keine echte Wahlalternative zwischen Mehrheit und Opposition besteht, denn Parteien repräsen- tieren primär ethnische Gruppen, und in dem die Interessen von Minderheiten ignoriert werden (Council of Europe 2005: 12). 3. „Wohlwollende Diktatoren“: zur Rolle externer Akteure Das politische System Bosnien und Hercegovinas ist ohne die Rolle der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der Institution des Büros des Hohen Repräsentanten, nicht zu verstehen. Bosnien und Hercegovina ist – mit Ausnahme des Kosovo, dessen Eigenstaat- lichkeit jedoch völkerrechtlich noch umstritten ist – das einzige Land in Osteuropa, welches keine volle staatliche Souveränität besitzt und daher weiterhin als ein Quasi-Protektorat gilt. Ursprünglich war die militärische und zivile Intervention der internationalen Gemein- schaft nur für eine Übergangszeit von einem Jahr gedacht. Sie wurde jedoch 1996 zunächst um zwei Jahre und anschließend auf unbestimmte Zeit verlängert, und entwickelte sich so zu einem unbefristeten Unterfangen zum Aufbau eines kompletten, demokratischen Staates (Chandler 1999: 158). Personal und Finanzen wurden immerhin in den letzten Jahren mas- siv reduziert (von 884 Mio. US$ und 19,6 % des BIP 1998 auf 288 Mio. US$ und 6,9 % des BIP 2002; BTI 2006: 21). Weiterhin ist auf Basis eines Mandats des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit der EUFOR-Mission Althea internationales Militär zur Frie- denssicherung und Garantierung der Sicherheit im Land (mit einer Truppenstärke von 2.100 Mann, Stand Juli 2008 nach Angaben der Homepage von EUFOR BiH). Der wichtigste Einzelakteur ist der Hohe Repräsentant (bzw. als Institution das Büro des Hohen Repräsentanten). Er wurde im Annex 10 des Friedensabkommens als primus inter pares unter allen externen Akteuren vor Ort mandatiert, die Implementierung der zivilen Bestandteile zu überwachen und zu koordinieren.8 Er ist politisch dem Friedensimp- lementierungsrat, einem Gremium aus 55 Staaten und internationalen Organisationen, ver- antwortlich (Vetter 2002: 480). Sein exekutiver Arm, der sogenannte Lenkungsausschuss, übt eine Art Richtlinienkompetenz in wöchentlichen Treffen in Sarajevo aus. Angesichts offener Obstruktion des Friedensprozesses durch die nationalistischen Parteien erweiterte 8 Amtsträger bisher: Carl Bildt 1995-1997, Carlos Westendorp 1997-1999, Wolfgang Petritsch 1999- 2002, Paddy Ashdown 2002-2006, Christian Schwarz-Schilling 2006-2007, seit 2007 Miroslav Lajčák.
  • 15. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 15 der Friedensimplementierungsrat auf seinem Treffen im Dezember 1997 die Kompetenzen des Hohen Repräsentanten. Die sogenannten Bonner Vollmachten umfassen die Befugnis- se, endgültige Entscheidungen treffen, Gesetze erlassen sowie Politiker aus ihren Ämtern entfernen zu können (Calic 1998: 221). Der stete Machtzuwachs hin zu einem „wohlwol- lenden Diktator“, wie sich einer der Amtsinhaber, Wolfgang Petritsch, 2002 selbst bezeich- nete, lag auch in der Besonderheit begründet, dass der Hohe Repräsentant selbst die Autori- tät zur Interpretation seines Mandats besaß (Allgemeines Rahmenabkommen für Frieden Annex 10, Art. V; Steiner/Ademović 2003: 117f.). Seit 2002 übt der Hohe Repräsentant zusätzlich in Personalunion das Amt eines Sonderbeauftragten der EU aus, koordiniert deren Programme vor Ort und berät die Brüsseler Institutionen. De facto besitzt der Hohe Repräsentant exekutive, legislative und judikative Rechte, ohne von einer weiteren Instanz innerhalb des Regierungssystems kontrolliert zu werden. Das Verfassungsgericht Bosnien und Hercegovinas verneinte in einer Entscheidung aus- drücklich die eigene Zugständigkeit zur Überprüfung der Befugnisse des Hohen Repräsen- tanten, da dessen Mandat internationaler Natur und er damit Teil eines anderen Rechtssys- tems sei (Steiner/Ademović 2003: 120). Der Europarat kritisierte in einem vielbeachteten Gutachten 2005 diese extrakonstitutionellen Rechte des Hohen Repräsentanten. Dies heble das Prinzip der Gewaltenteilung aus (BTI 2007: 8). Zudem sei eine politische Verantwor- tung gegenüber dem Elektorat und somit dem Souverän nicht gegeben. Der Hohe Reprä- sentant stehe letztlich über dem Gesetz, da er sein Mandat selbst interpretieren und somit erweitern könne. Damit werden Grundelemente eines demokratischen Systems durch eine internationale Instanz selbst beschädigt (Council of Europe 2005; vgl. auch Richter 2009). Für den Demokratisierungsprozess erwies sich das Instrumentarium des Hohen Reprä- sentanten gleichsam als Fluch und Segen: Einerseits gelang ihm durch die Bonner Voll- machten die Etablierung zentraler Eckpfeiler einer Demokratie (etwa die Reform des Me- dien- und des Justizsektors), die Zerschlagung illegaler Machtstrukturen und die Rückgabe besetzten Eigentums (Richter 2009): „Durch die undemokratischen Mittel des Protektors wurde Bosnien und Hercegovina demokratischer“ (Gromes 2006b: 9; Übersetzung d. Auto- ren). Zwischen Dezember 1997 und 2005 entließ der Hohe Repräsentant 190 Politiker und traf 750 Verfügungen, zum Teil auf Gesetzesebene (Gromes 2006b: 8). Von den zwischen 1997 und 2007 verabschiedeten Gesetzen verfügte somit der Hohe Repräsentant allein 29 % (Fondacija Konrad Adenauer 2008). Doch dies ging mit kontraproduktiven Nebenwir- kungen einher, darunter eine sich ausbreitende Passivität und überzogene Erwartungshal- tung bei Eliten und Bürgern. Der Hohe Repräsentant hatte einen gewissen Anteil an der Degradation eines auf Konsens angelegten politischen Meinungsbildungsprozesses zu Kon- frontation und Blockade, da kein Politiker schmerzhafte Zugeständnisse machen musste, schließlich entschied er ja meist selbst. Der Hohe Repräsentant scheute sich auch nicht davor, vom Parlament und damit einem demokratisch legitimierten Gremium bereits ange- nommene Rechtsakte zu widerrufen und somit das Prinzip der demokratischen Verantwor- tung auszuhebeln (Chandler 1999). Obgleich Christian Schwarz-Schilling und Miroslav Lajčák nur noch zurückhaltend von den Bonner Vollmachten Gebrauch machten (BTI 2007: 7), überwogen die Defizite des Handelns dennoch zunehmend die positiven Aspekte: Was in den turbulenten Transformationsphasen durchaus kurzfristig angebracht war, trug langfristig aber zu gravierenden Fehlentwicklungen und zur Ausbildung eines hybriden Regimes bei (Richter 2009). Dies erkannte auch der Friedensimplementierungsrat, der 2006 einen Rückzugsprozess einleitete. Der vollständige Abzug des Hohen Repräsentanten bzw. die Übergabe einer Reihe von Verantwortungsbereichen an den zukünftigen EU-Sonder-
  • 16. 16 Solveig Richter/Saša Gavrić beauftragten ist nunmehr an die Erfüllung einiger weniger verbleibender Kriterien geknüpft und ist daher in den nächsten ein bis zwei Jahren zu erwarten (Richter 2008: 6f.). Neben dem Hohen Repräsentanten intervenierte auch eine Reihe weiterer ziviler Or- ganisationen stark in den Demokratisierungsprozess und griff zum Teil immer wieder auf die Bonner Vollmachten zurück. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) organisierte etwa alle Wahlen bis 2000 (vgl. ausführlich Kap. 8). Der Eu- roparat nahm und nimmt aktiv an der Diskussion um die Verfassungsreform teil. Darüber hinaus sind – auch dies eine osteuropäische Besonderheit – einige zentrale einheimische Institutionen mit ausländischen Mitarbeitern besetzt. So bestimmt der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte in Straßburg nach Konsultation mit der bosnisch-hercegovi- nischen Präsidentschaft drei Mitglieder des Verfassungsgerichts, die weder Bürger von Bosnien und Hercegovina selbst noch der Nachbarländer sein dürfen (Gromes 2007: 163). Auch der Gouverneur der Zentralbank darf kein Staatsangehöriger des Landes oder der Nachbarstaaten sein (Savić 2003: 26). Die zukünftig wichtigste externe Institution ist je- doch die Europäische Union, die bereits seit einigen Jahren stärker Einfluss nimmt. Sie hat die Verantwortung für den militärischen (EUFOR) und polizeilichen Bereich (EUPM) übernommen (vgl. hierzu auch Kap. 15). 4. Staatspräsidentschaft Die Präsidentschaft (Predsjedništvo) Bosnien und Hercegovinas bildet das kollektive Ober- haupt der komplexen staatlichen Gemeinschaft. Dies setzt eine jugoslawische Tradition fort, da kollektive Präsidentschaften bereits 1974 in Bosnien und Hercegovina und 1971 auf jugoslawischer Bundesstaatsebene eingerichtet worden waren (Bieber 2008: 62; Pejanović 2005: 67). Die bosnisch-hercegovinische Präsidentschaft hatte während der jugoslawischen Ära sieben Mitglieder (zwei Serben, zwei Kroaten, zwei Muslime, wie die heutigen Bosni- aken bis 1993 noch offiziell hießen, und ein Repräsentant der „Sonstigen“), die vom Parla- ment gewählt wurden und den Vorsitz jährlich untereinander rotieren ließen. Die Direkt- wahl der Mitglieder der Präsidentschaft wurde erst 1990 eingeführt. Damit ist die heutige, durch die Daytoner Verfassung begründete kollektive Präsidentschaft keine Innovation der Friedensverhandlungen unter amerikanischer Vermittlung, sondern eine Institution mit Tradition. Die Präsidentschaft ist mit einem Bosniaken, einem Kroaten und einem Serben ein dreiköpfiges Gremium. Neben der gängigen Parität der Volksgruppen, die wir unter ande- rem auch im Haus der Völker des gesamtstaatlichen Parlaments vorfinden, beruht die Prä- sidentschaft zusätzlich auf einer territorialen Komponente, die im Wahlverfahren zum Aus- druck kommt. Die Wahlberechtigten in der Föderation wählen direkt einen Bosniaken und einen Kroaten, während die Bürger der Republika Srpska den serbischen Vertreter bestim- men (Art. V der Verfassung). Eine Übersicht über die bisherigen Präsidentschaftsmitglieder gibt die Tabelle 2. Serben aus der Föderation bzw. Kroaten und Bosniaken aus der Republika Srpska, wie auch alle anderen Staatsbürger, die sich nicht zu einer der drei großen Volksgruppen zuge- hörig fühlen, haben kein passives Wahlrecht und werden damit von einem Amt im obersten Staatsgremium ausgeschlossen (Bieber 2008: 62).
  • 17. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 17 Tabelle 2: Mitglieder der Präsidentschaft seit 1996 Zeitraum Bosniakisches Mitglied Serbisches Mitglied Kroatisches Mitglied 1996-1998 Alija Izetbegović, SDA Momčilo Krajišnik, SDS Krešimir Zubak, HDZ 1998-2002 Alija Izetbegović, SDA Živko Radišić, SPRS Ante Jelavić, HDZ (bis Oktober 2000); (bis März 2001); Halid Genjac, SDA Jozo Križanović, SDP (ab Oktober 2000) (ab März 2001) 2002-2006 Sulejman Tihić, SDA Mirko Šarović, SDS Dragan Čović, HDZ (bis April 2003); (bis März 2005); Borislav Paravac Ivo Miro Jović, HDZ (ab April 2003) (ab März 2005) seit 2006 Haris Silajdžić, SBiH Nebojša Radmanović, SNSD Željko Komšić, SDP Quelle: Eigene Zusammenstellung. Parteinamen siehe Tabelle 6. Das Wahlverfahren selbst beinhaltet eine Reihe weiterer Besonderheiten. So wird das serbi- sche Präsidentschaftsmitglied nicht nur von der serbischen Mehrheitsbevölkerung in der Republika Srpska gewählt. Bosniaken und Kroaten, die ihren Wohnsitz in dieser Entität haben, dürfen ebenso mitbestimmen, welcher Kandidat das Rennen macht. Bei knappen Wahlentscheidungen können die bosniakischen und kroatischen Stimmen somit von hoher Bedeutung sein. Wie in der RS haben auch in der Föderation die Bürger nur eine Stimme, so dass sie, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, frei entscheiden können, ob sie für das kroatische oder das bosniakische Mitglied ihre Stimme abgeben. Für die Wahl des bos- niakischen Kandidaten hat dies keine große Auswirkung, doch kann die bosniakische Bevöl- kerungsmehrheit durch die Wahl eines eigenen kroatischen Kandidaten sehr leicht einen mehrheitlich von Kroaten gewählten Kandidaten überstimmen (Gromes 2007: 161). So zog 2006 tatsächlich der kroatische SDP-Kandidat Željko Komšić in die Präsidentschaft ein, obwohl seine Wahl mehrheitlich auf Stimmen der gemäßigten bosniakischen Wähler beruh- te. Dies zeigt, dass die Interessen der kroatischen Bevölkerungsgruppe in der Präsidentschaft geringer geschützt sind als die der beiden anderen Volksgruppen (Gromes 2007: 161). Dieses Wahl- und damit auch Repräsentationsverfahren wurde in vielen Studien kriti- siert. Das bereits angeführte Gutachten des Europarates von 2005 mahnt auch hier eine Reform an (Council of Europe 2005). Eine Lösung wäre die Aufhebung der kollektiven Präsidentschaft und die Einführung eines indirekt gewählten Präsidenten, mit stark be- grenzten Zuständigkeiten. Eine ähnliche Struktur sah in der Tat bereits der dritte Ände- rungsantrag des gescheiterten Verfassungsreformpaketes von 2006 vor, nach welchem die neue, rein repräsentative Aufgaben wahrnehmende Präsidentschaft aus einem Präsidenten und zwei Stellvertretern bestehen sollte (Parlamentarna skupština 2006: 8). Die Präsidentschaftsmitglieder werden auf vier Jahre gewählt (nur bei den ersten Nachkriegswahlen 1996 wurde die Präsidentschaft auf zwei Jahre gewählt) und können sich anschließend für eine zweite Amtszeit zur Wahl stellen. Danach dürfen sie jedoch vier Jahre kein Mandat annehmen (Art. V der Verfassung). Das Wahlgesetz (2001) bestimmt, dass die drei Präsidentschaftsmitglieder für den Zeitraum von acht Monaten einen Vorsit- zenden wählen und anschließend der Vorsitz unter den verbleibenden zwei Mitgliedern rotiert (danach erneut von vorn). Dies stärkt den kollektiven Charakter des Gremiums. Eine formelle Abwahl der kollektiven Präsidentschaft oder einzelner Mitglieder ist nicht mög- lich, doch wurden mehrere Präsidentschaftsmitglieder nach einem Beschluss des Hohen Repräsentanten unter Nutzung der Bonner Vollmachten ihres Amtes enthoben. Das jüngste Beispiel ist die Abwahl des HDZ-Vorsitzenden Dragan Čović 2005, bis dahin kroatisches Mitglied.
  • 18. 18 Solveig Richter/Saša Gavrić Die Kompetenzen der Präsidentschaft sprechen für eine Kombination von Elementen der parlamentarischen und der präsidentiellen Demokratie. Neben den klassischen Vertre- tungsaufgaben nimmt sie auch politische Aufgaben wahr. Die wichtigsten sind (nach Artt. V Abs. 3 und V Abs. 4 der Verfassung und der Geschäftsordnung der Präsidentschaft 2002): – Leitung der Außenpolitik Bosnien und Hercegovinas (u.a. Ernennung der Botschafter und anderer diplomatischer Vertreter, Vertretung des Landes in internationalen und europäischen Organisationen und Institutionen, Abschluss von internationalen Verträ- gen etc.), – die Ernennung des Vorsitzenden des Ministerrates (mit notwendiger Bestätigung durch das Repräsentantenhaus), – Vorschlag des Jahreshaushaltes an die Parlamentarische Versammlung (wiederum auf Vorschlag des Ministerrates), – Befehlsgewalt über die Streitkräfte (bis zur Zentralisierung auch Oberbefehl über die Entitätsstreitkräfte) und – Ernennung von fünf Mitgliedern des Verwaltungsrates der Zentralbank. Jedes einzelne Mitglied der Präsidentschaft hat zudem das Recht, Klage beim Verfassungs- gericht einzureichen sowie das Haus der Völker der parlamentarischen Versammlung auf- zulösen. Grundsätzlich sollte die Präsidentschaft im Konsens entscheiden (Savić 2003: 23). Wird allerdings im Einzelfall ein Mitglied überstimmt, so kann dieses den Beschluss als destruktiv gegen die Interessen seiner Entität erklären. Soweit die entsprechende Erklärung von einem Mitglied aus der Republika Srpska stammt, wird sie sofort der Volksversamm- lung (obere Kammer) dieser Entität vorgelegt. Wird die Erklärung von dem bosniakischen oder dem kroatischen Mitglied abgegeben, wird diese den bosniakischen bzw. den kroati- schen Delegierten im Haus der Völker der Föderation unterbreitet. Wenn das Veto des vitalen Interesses jeweils von einer Zweidrittelmehrheit bestätigt wird, tritt der umstrittene Präsidiumsbeschluss nicht in Kraft (Art. V Abs. 2 der Verfassung). Diese unterschiedlichen Vetoelemente haben die Arbeit der Präsidentschaft, insbeson- dere kurz nach dem Krieg, alles andere als einfach gemacht. Die fehlende institutionelle Infrastruktur9 und die nicht-vereinbaren Gegensätze der Politik der drei nationalistischen Parteien (SDA, HDZ und SDS; Parteinamen vgl. Kap. 9), aus denen in den ersten Jahren die drei Präsidentschaftsmitglieder kamen, führten zu ständigen Blockaden. Erst mit der Wahl gemäßigter Mitglieder begann die produktive Arbeit und der institutionelle Aufbau der Präsidentschaft. Heute hat jedes Präsidentschaftsmitglied ein eigenes Team mit sechs bis sieben Beratern. Daneben gibt es seit 1999 drei weitere Verwaltungsorgane: das Gene- ralsekretariat (Arbeitsbereiche: Öffentlichkeitsarbeit, Protokoll, Finanzen, Archiv sowie Dokumentation und Logistik), das Sekretariat für Normfragen und das Sekretariat für orga- nisatorisch-finanzielle Fragen (Art. 14 der Geschäftsordnung der Präsidentschaft), die durch die fachliche, administrative und technische Hilfe die Arbeit der Präsidentschaft erleichtern sollen. 9 Unter anderem war das Büro des serbischen Mitglieds nicht in Sarajevo sondern in der serbischen Kriegshauptstadt Pale, einer Vorstadtgemeinde Sarajevos (Gligorić 2002).
  • 19. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 19 Wie alle gesamtstaatlichen Institutionen, hängt auch die Funktionalität der Präsident- schaft sehr stark vom allgemeinen politischen Klima und den Verhältnissen zwischen den großen Parteien der drei ethnischen Gruppen ab. Blockadesituationen gehören somit wei- terhin zum Alltag. Wie schon erwähnt, sah das Verfassungsreformpaket vom April 2006 vor, dass der Kompetenzbereich des Staatsoberhaupts stark reduziert wird und das politi- sche System stärker parlamentarische Elemente aufnimmt. Eine Reform in dieser Richtung wäre in der Tat von großer Bedeutung, da das bisherige System zu viele Blockade- und Vetomöglichkeiten aufweist und ein starkes Staatsoberhaupt für konsensdemokratische Staaten zudem eher untypisch ist. 5. Parlamentarische Versammlung Bosnien und Hercegovina hat keine lange parlamentarische Tradition. Erste Vorgänger eines Parlaments wurden 1900 mit der Einrichtung des Bosnischen Landtags (Sabor) unter Österreichisch-Ungarischer Herrschaft geschaffen. Dem damaligen Landesstatut Bosnien und Hercegovinas nach konnte das mit 92 Mitgliedern besetzte Gremium Gesetze beraten und ausarbeiten, diese aber nicht verabschieden. Dies war der Zentralverwaltung in Wien vorbehalten. Durch ein festes und klares Quotensystem waren offizielle Repräsentanten der vier Religionsgemeinschaften (katholische, orthodoxe, islamische und jüdische Religion) und Angehörige dieser Religionen im Landtag vertreten (Kasapović 2005: 97; Vrankić 1998: 44f.). Während der Zeit des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, später Königreich Jugoslawiens, bildete Bosnien und Hercegovina kein einheitliches Verwal- tungsgebiet und hatte entsprechend kein Parlament. Erst mit der Gründung des sozialisti- schen Jugoslawiens begann eine kontinuierliche parlamentarischen Tradition. 1990 wurde schließlich ein Zwei-Kammern-Parlament eingerichtet, mit einem Bürgerrat (130 Abgeord- nete) und einem Gemeinderat (110 Abgeordnete) (Bieber 2008: 30). Mit dem Kriegsbeginn in der Region und der Gründung der Versammlung des serbischen Volkes in Bosnien und Hercegovina 1991 verließ die Mehrheit der serbischen Abgeordneten das Parlament, so dass eine reguläre Parlamentsarbeit bis 1996 nicht möglich gewesen war. Nach dem Ende des Krieges wurde die Struktur des Zwei-Kammern-Parlaments verändert. Die Verfassung von Dayton stattete das Parlament, die Parlamentarische Versammlung (Parlamentarna skupština), nicht mit einem Gemeinde- und Bürgerrat, sondern mit einem Repräsentanten- haus (Predstavnički/Zastupnički dom) und einem Haus der Völker (Dom naroda) aus. Die 42 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden direkt gewählt, zwei Drittel aus der Föderation und ein Drittel aus der Republika Srpska (Art. IV Abs. 1 der Verfas- sung; vgl. zum Wahlsystem Kap. 8). Die Anzahl der Mandate wird nicht nach ethnischen Kriterien, sondern territorial auf die zwei Entitäten aufgeteilt. Das Haus der Völker hat 15 Mitglieder: fünf bosniakische, fünf kroatische und fünf serbische Delegierte. Während die fünf serbischen Delegierten von der Nationalversammlung der Republika Srpska (der ersten Kammer) gewählt werden, werden die bosniakischen und kroatischen Mitglieder von den bosniakischen bzw. kroatischen Delegierten des Hauses der Völker der Föderation be- stimmt (Art. IV Abs. 1 der Verfassung). Die Zusammensetzung und Wahl der beiden Kam- mern der Parlamentarischen Versammlung von Bosnien und Hercegovina gründet demnach auf dem Prinzip der Parität – eine Parität der Entitäten (beide Kammern) sowie der Volks- gruppen (Haus der Völker). Wie bei der Wahl zur Präsidentschaft, werden auch zur Wahl zum Haus der Völker Serben in der Föderation und Kroaten und Bosniaken in der Republi- ka Srpska sowie Angehörige aller anderen Gruppen in beiden Entitäten ausgeschlossen.
  • 20. 20 Solveig Richter/Saša Gavrić Darüber hinaus werden die kroatischen und bosniakischen Delegierten nur von Bosniaken bzw. Kroaten im Haus der Völker der Föderation gewählt, so dass es den serbischen und sonstigen Delegierten in der Föderation nicht möglich ist, aktiv an der Wahl teilzunehmen (Council of Europe 2005). In der Republika Srpska bestimmen hingegen alle Abgeordneten der Nationalversammlung die fünf serbischen Mitglieder des gesamtstaatlichen Hauses der Völker. Die Zuständigkeiten der Parlamentarischen Versammlung Bosnien und Hercegovinas werden in der Verfassung und in den Geschäftsordnungen der beiden Kammern festgelegt. Ihre Aufgaben umfassen demnach unter anderem: Verfassungsänderungen, Gesetzgebung, Ratifizierung von internationalen Verträgen, Verabschiedung des Staatshaushaltes sowie die Bestätigung und Kontrolle des Ministerrates. Spätestens 30 Tage nach der offiziellen Bekanntgabe der Wahlresultate muss das Rep- räsentantenhaus zusammenkommen. Die erste Sitzung wird vom ältesten Abgeordneten geleitet. Die Abgeordneten wählen unter den eigenen Mitgliedern einen Vorsitzenden10, der nicht der gleichen Volksgruppe entstammen darf wie der Vorsitzende der Präsidentschaft und der des Ministerrates, und zwei Stellvertreter. Der Vorsitzende des Repräsentantenhau- ses und die zwei Stellvertreter (die alle acht Monate untereinander den Vorsitz rotieren) bilden zugleich auch das „Kollegium“, welches unter anderem folgende Aufgaben wahr- nimmt (nach Art. 4 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses): die Einberufung, Vorbereitung und Leitung der Sitzungen der Kammer; die Koordination mit dem Haus der Völker, der Präsidentschaft sowie dem Ministerrat; die Kooperation mit politischen Partei- en, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen. Zusammen mit den Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen (klubovi), die zumeist aus allen Angehörigen einer Partei und aus einem Zusammenschluss unabhängiger Kandidaten bestehen, arbeitet das Kollegium in einem „Erweiterten Kollegium“ mit, welches sich bezüglich der Vorbereitung und Durch- führung der Parlamentssitzungen berät und einen einjährigen Arbeitsplan beschließt. Die Kollegien beider Kammern bilden wiederum das „Gemeinsame Kollegium“ der beiden Häuser, das Fragen der interparlamentarischen Kooperation und allgemeine, beide Kam- mern betreffende Fragen berät und Vorlagen zur Verabschiedung vorbereitet. Das Repräsentantenhaus hat ständige Ausschüsse (komisije) und Ad-hoc-Ausschüsse. Ständige Ausschüsse setzen sich fix aus neun Mitgliedern zusammen, während Ad-hoc- Ausschüsse auch weniger Mitglieder haben können. Die Ausschüsse geben proportional in etwa die Struktur der Abgeordnetenfraktionen wieder und bestehen gleichzeitig zu einem Drittel aus Abgeordneten der Republika Srpska bzw. zwei Dritteln der Abgeordneten aus der Föderation (Art. 30 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Damit ist in der Praxis der territoriale und ethnische Proporz garantiert.11 Das Haus der Völker besteht im Gegensatz zum Repräsentantenhaus aus drei festen Fraktionen: den Fraktionen der bosniakischen, der kroatischen und der serbischen Delegier- ten. Diese wählen den Kammervorsitzenden und zwei Stellvertreter, die dem Rotations- prinzip nach die Arbeit des Hauses der Völker leiten. Das Haus der Völker hat folgende Ausschüsse, die aus je sechs Mitgliedern bestehen und den ethnischen und territorialen 10 Der Vorsitzende ist kein Parlamentspräsident im engeren Sinne, da die Parlamentarische Versammlung ja aus zwei Kammern mit jeweils einem Kollegium an der Spitze besteht. 11 Zurzeit gibt es folgende ständige Ausschüsse des Repräsentantenhauses: Verfassungsausschuss; außen- politischer Ausschuss; Ausschüsse für Außenhandelspolitik und Zölle; Ausschuss für Finanzen und Haushalt; Ausschuss für Verkehr und Kommunikation; Ausschuss zu Fragen der Gleichberechtigung und Ausschuss zur Vorbereitung der Wahl des Ministerrates.
  • 21. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 21 Proporz widerspiegeln: Verfassungsausschuss; Ausschuss für Außenhandelspolitik, für Zölle, Verkehr und Kommunikation sowie Ausschuss für Finanzen und Haushalt. Beide Kammern haben für bestimmte Arbeitsbereiche gemeinsame Ausschüsse. Diese haben zwölf Mitglieder, je sechs aus beiden Kammern, und sind wie die anderen Ausschüs- se auch durch den territorialen und ethnischen Proporz geprägt.12 Alle Ausschüsse tagen in der Regel öffentlich, können aber beschließen, die Öffentlichkeit auszuschließen. Ein 2003 verabschiedetes Gesetz über den Schutz der Rechte der nationalen Minder- heiten sieht zur Vertretung der 17 anerkannten Minderheiten in Fragen der Sprache, Kultur, Bildung, Medien etc. als ein beratendes Gremium die Einberufung eines Rates der Nationa- len Minderheiten (Vijeće nacionalnih manjina) vor (Fond otvoreno društvo 2006: 32). Die- ser wurde allerdings mit großer Verspätung erst im April 2008 durch die Parlamentarische Versammlung gegründet und umfasst bisher Vertreter von nur zehn statt der 17 gesetzlich anerkannten Minderheiten. Immerhin besteht damit seit kurzem eine explizite und garan- tierte Vertretung der Minderheiten. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Repräsentation von Minderheiten im Haus der Völker bewusst ausgeschlossen ist. Tabelle 3: Verhältnis männlicher und weiblicher Abgeordneter im Repräsentantenhaus zwischen 1996-2006 Wahlen Ingesamt Weibliche Abgeordnete Männliche Abgeordnete 1996 42 1 2,4 % 41 97,6 % 1998 42 13 31 % 29 69 % 2000 42 3 7,1 % 39 92,9 % 2002 42 6 14,3 % 36 85,7 % 2006 42 5 11,9 % 37 88,1 % Quelle: Eigene Zusammenstellung, nach Fond otvoreno društvo 2006. Schaut man sich die Sozialstruktur des Repräsentantenhauses in der aktuellen Wahlperiode an, so fällt auf, dass Frauen mit nur fünf Sitzen (11,9 %) im Gegensatz zu den 37 männli- chen Abgeordneten unterrepräsentiert sind. Das Verhältnis zwischen den weiblichen und männlichen Abgeordneten seit 1996 geht aus Tabelle 3 hervor. 93 % der Abgeordneten der derzeitigen Wahlperiode haben einen Hochschulabschluss, 4,7 % einen Fachhochschulab- schluss und nur ein Abgeordneter (2,3 %) eine reine Berufsausbildung. Die Abgeordneten sind alle älter als 30 Jahre, und nur drei Abgeordnete sind zwischen 30 und 40 Jahren alt. Den Großteil bilden die 40- bis 60jährigen, insgesamt somit 78,5 % der Abgeordneten. Sechs Abgeordnete oder 14,2 % sind schließlich über 60 Jahre alt. In Bezug auf die Berufs- struktur sind die meisten Abgeordneten, insgesamt 24, in den Bereichen Wirtschaft, Medi- zin, Recht und Maschinenbau/Elektrotechnik zu verorten. Zur parlamentarischen Kontrolle des Ministerrates stehen mehrere Instrumente zur Verfügung. Eine Abgeordnetenfraktion oder mindestens drei Abgeordnete aus der Reprä- sentantenkammer können die Initiative für ein Misstrauensvotum (nepovjerenje) gegenüber dem Ministerrat ergreifen (Art. 143 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Be- vor das Repräsentantenhaus sich damit befasst, hat die Regierung jedoch das Recht, eine schriftliche Stellungnahme an die Abgeordneten zu überreichen. Nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag und der Abwahl des Ministerrates muss die Information an die Präsi- dentschaft gegeben werden, so dass ein Prozedere der Neuwahl der Regierung in Angriff 12 Derzeit gibt es sechs gemeinsame Ausschüsse: Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit; Ausschuss zur Kontrolle der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden; Ausschuss zu Wirtschaftsreformen und Entwicklung, Ausschuss zur Europäischen Integration, Ausschuss für administrative Aufgaben sowie Ausschuss für Menschen- und Kinderrechte, Jugendliche, Immigration, Flüchtlinge, Asyl und Ethik.
  • 22. 22 Solveig Richter/Saša Gavrić genommen werden kann. Ein weniger radikaler Kontrollmechanismus ist die „Abgeordne- tenfrage“ (poslaničko pitanje) im Repräsentantenhaus, worauf die Regierung oder ein ein- zelnes Ministerium innerhalb von 30 Tagen schriftlich oder mündlich, abhängig von der Anfrage, antworten müssen (Artt. 151-155 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhau- ses). Daneben wird zwei Mal im Jahr eine gemeinsame Sitzung der beiden Kammern und des Ministerrates unter dem Thema: „Die Abgeordneten fragen – der Ministerrat von BiH antwortet“ organisiert, die informativen Charakter hat und sich mit den Arbeitsbereichen befasst, die in die Zuständigkeit des Ministerrates fallen. Die Mitglieder des Ministerrates können zu informativen Zwecken ebenfalls zu den Sitzungen der einzelnen Ausschüsse eingeladen werden. Während das Haus der Völker durch die Präsidentschaft aufgelöst werden kann, kann das Repräsentantenhaus nur durch eine Selbstauflösung seine Arbeit einstellen. Dieser Fall trat bisher noch nicht ein, obwohl es seit 1996 immer wieder mehrmonatige Blockadepha- sen gegeben hatte und die Bedingungen für vorgezogene Neuwahlen eigentlich gegeben waren. Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung entwickelte sich in der Phase nach Abschluss des Friedensabkommens von Dayton alles andere als einfach. Das Repräsentan- tenhaus hielt am 5.10.1996 zwar seine erste Sitzung ab, doch nahmen die Abgeordneten aus der Republika Srpska mehrheitlich nicht teil. Bis April 1997 gab es nur eine weitere Sit- zung (Gromes 2007: 207). Die Anzahl der verabschiedeten Gesetze (vgl. Kap. 7) ist dabei der beste Nachweis, dass die Arbeit des Parlaments in den Anfangsjahren sehr beschränkt gewesen war. Erst mit der Wahlperiode von 2000 bis 2002 und insbesondere ab 2002 stieg die Zahl der beratenen und verabschiedeten Gesetze an. So wurden im Zeitraum 2002-2006 fünfmal so viele Gesetze verabschiedet wie in den Wahlperioden 1996-1998 bzw. 1998- 2000 (vgl. Kap. 7). Im regionalen Vergleich und im Hinblick der Anpassung der Gesetzge- bung an den acquis communautaire der Europäischen Union ist dies aber noch immer nicht zufriedenstellend, was für die Parlamentarische Versammlung in den nächsten Jahren eine große Herausforderung sein wird. Eine institutionelle Reform der beiden Kammern ist deswegen unabdingbar, da sonst eine Überforderung der bisherigen 42 Abgeordneten bzw. 15 Delegierten im Haus der Völker bei dem immer stärker zunehmenden Umfang der Par- lamentsaufgaben droht und eine effiziente Arbeit nicht mehr zu leisten ist. 6. Regierung und Verwaltung Auch der Ministerrat (Vijeće/Savjet ministara) Bosnien und Hercegovinas, wie die gesamt- staatliche Regierung offiziell genannt wird, ist durch eine durchgängig institutionalisierte Machtteilung zwischen den konstituierenden Völkern geprägt. Das erste Gesetz über den Ministerrat aus dem Jahr 1997 sah eine rigide Form der Parität der drei ethnischen Gruppen vor. Alle Entscheidungen mussten durch Konsens des gesamten Kabinetts verabschiedet werden (Art. 17 des Gesetzes über den Ministerrat 1997). Zusätzlich dazu mussten je nach betroffenem Ministerium neben dem jeweiligen Minister auch seine zwei Stellvertreter, die aus den entsprechend anderen beiden Volksgruppen kommen müssen, den Entscheidungen zustimmen. Der Ministerrat wurde von zwei Ko-Vorsitzenden, die untereinander den Vor- sitz alle acht Monate rotierten, und einem stellvertretenden Vorsitzenden geleitet. Dieses komplizierte und stark verflochtene System führte zu einer Regierungsschwäche. 1999 erklärte das Verfassungsgericht die spezifische, institutionalisierte Form des Ko- Vorsitzes für verfassungswidrig. Diese Entscheidung ermöglichte es damit auch erstmals,
  • 23. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 23 das damalige System mit den vielen Blockade- und Vetomöglichkeiten in Frage zu stellen, da es noch weit über die gängige Proporzstruktur hinaus ging (Verfassungsgericht 1999: U1/99). 2002 verfügte letztlich der Hohe Repräsentant ein neues Gesetz über den Minister- rat, da dieses, aufgrund der großen Streitigkeiten, nicht von der Parlamentarischen Ver- sammlung verabschiedet worden war. Das System der Ko-Vorsitzenden wurde abgeschafft und durch die Form eines Vorsitzenden und zweier Stellvertreter ersetzt. Diese repräsentie- ren weiterhin die drei Volksgruppen, rotieren aber nicht mehr untereinander. Auch wurde den Fachministern nunmehr ein Stellvertreter an die Seite gestellt, der während der Regie- rungszeit seine Position mit dem Minister nicht mehr tauschen muss. Nur der Verteidi- gungsminister hat, aufgrund der dreigeteilten Struktur der Verteidigungskräfte, zwei Stell- vertreter. Erstmals musste nun auch ein Minister oder der Generalsekretär des Ministerrates aus den Reihen der „sonstigen“ Bevölkerungsgruppen stammen, was 2002 mit dem damali- gen Justizminister Slobodan Kovač sofort umgesetzt wurde (Bieber 2008: 65). In der jetzi- gen Regierung ist mit dem Außenminister Sven Alkalaj ein Mitglied der jüdischen Bevölke- rungsgruppe vertreten. Die Anzahl der Ministerien hat sich seit 1997 kontinuierlich vergrößert. So hatte der erste Ministerrat 1997 nur drei Ministerien: Zivile Angelegenheiten und Kommunikation, Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen sowie Außenpolitik – die letzten beiden als Pflichtministerien der Verfassung (Art. V Abs. 4). 2001 und 2003 wurden jeweils drei neue Ministerien eingerichtet, so dass seit der Regierungsbildung nach den Wahlen 2002 der Ministerrat aus dem Vorsitzenden13 und neun Ministerien besteht: – Ministerium für Außenpolitik, – Ministerium für Außenhandel und Wirtschaftsbeziehungen, – Ministerium für Finanzen und Tresor, – Ministerium für Kommunikation und Verkehr, – Ministerium für zivile Angelegenheiten, – Ministerium für Menschenrechte und Flüchtlinge, – Ministerium für Justiz, – Ministerium für Sicherheit und – Ministerium für Verteidigung. Das gescheiterte Verfassungsreformpaket vom April 2006 sah die Einrichtung von zwei weiteren Ministerien vor: ein Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umwelt- schutz sowie ein Ministerium für Landwirtschaft (Nezavisne novine, 19.3.2006). Ein weite- rer Vorschlag, der seit Sommer 2008 diskutiert wird, ist die Ersetzung des Ministeriums für Menschenrechte und Flüchtlinge durch ein neues Ministerium für europäische Integration. Diese Idee wird sich allerdings nur schwer realisieren lassen, da die bosniakischen Parteien gegen die Auflösung des Menschenrechtsministeriums sind, solange die Rückkehr aller Flüchtlinge nicht erfolgreich abgeschlossen ist. Dem gegenüber steht aber die tatsächlich Notwendigkeit nach einem EU-Ministerium, da die bisherige Direktion für europäische Integration, ein Verwaltungsorgan des Ministerrates, im jetzigen Rahmen auf keinem Fall alle Aufgaben wahrnehmen kann, die mit der EU-Annäherung verbunden sind. Eine dar- über hinaus reichende Erweiterung der Zuständigkeiten des Gesamtstaates, die sich in einer 13 Der Ministerratsvorsitzende leitet selbst kein Ressort, wie dies in der Nachkriegszeit noch der Fall war.
  • 24. 24 Solveig Richter/Saša Gavrić Reform und einem Tätigkeitszuwachs des Ministerrates widerspiegeln würde, ist jedoch nur im Rahmen einer veritablen Institutionen- und Verfassungsreform zu erwarten. Der Vorsitzende des Ministerrates wird, nach Beratung mit den Parlamentsparteien, von der Präsidentschaft ernannt und muss spätestens 22 Tage nach der konstituierenden Sitzung des Repräsentantenhauses von derselben Kammer bestätigt werden. Sollte das Repräsentantenhaus den Vorsitzenden nicht bestätigen, muss die Präsidentschaft im Laufe von acht Tagen einen neuen Vorsitzenden ernennen. Spätestens 70 Tage nach der konstitu- ierenden Sitzung des Repräsentantenhauses muss der Ministerratsvorsitzende sein Kabinett zur Vertrauensabstimmung vorstellen. Dabei kann die Abgeordnetenkammer einzelne Mi- nister ablehnen und vom Vorsitzenden neue Kandidaten einfordern. Alle Ministerratsmit- glieder müssen vor Ernennung und Bestätigung ein Untersuchungsverfahren durchlaufen, im Rahmen dessen ihre Aktivitäten während des Bürgerkriegs, ihre bisherige Berufslauf- bahn sowie Straftaten etc. einer genauen Überprüfung durch die Zentrale Wahlkommission und den Geheimdienst, die Staatliche Agentur für Untersuchung und Sicherheit (SIPA), unterzogen werden (Gesetz über den Ministerrat 2002 und Gesetz über die Änderungen und Ergänzungen des Gesetzes über den Ministerrat 2006). In den Nachkriegsjahren übernahm noch der OHR diese Aufgabe, die jetzt aber ganz an die staatlichen Institutionen überge- gangen ist. Zusammen mit seinen zwei Stellvertretern repräsentiert der Ministerratsvorsitzende die drei konstituierenden Volksgruppen. Das Proporzprinzip wird auch bei der Ernennung der Fachminister und ihrer Stellvertreter angewendet, so dass in der Regierung die gleiche Anzahl an Ministern bzw. Stellvertretern aus allen drei Volksgruppen vertreten sind. So sitzen in der jetzigen Regierung neben dem serbischen Ministerratsvorsitzenden drei bosni- akische, drei kroatische und zwei serbische Minister. Der Außenminister Sven Alkalaj ge- hört wie bereits erwähnt als Jude zu der Bevölkerungsgruppe der „Sonstigen“. Der Ministerratsvorsitzende kann ohne Begründung zurücktreten, womit auch die gan- ze Regierung abgesetzt wird. Das Repräsentantenhaus kann aber auch seinerseits den kom- pletten Ministerrat durch ein Misstrauensvotum absetzen und damit die Neuwahl eines neuen Ministerrates quasi erzwingen. Die Wahlprozedur ist die gleiche wie zur Wahl des Ministerrates nach Neuwahlen. Verglichen mit anderen parlamentarischen Demokratien entspricht der Ministerratsvorsitzende seinem Arbeitsspektrum nach nur bedingt den Eigen- schaften eines Premierministers. Neben den selbständigen Aufgaben wie der Koordination der Arbeit innerhalb der Regierung sowie mit den anderen gesamtstaatlichen Organisatio- nen, den Entitäten und dem Distrikt Brčko, sowie der Einberufung, Vorbereitung und Lei- tung der Regierungssitzungen muss er jedoch die Politikgestaltung mit seinen Stellvertre- tern abstimmen. Die Richtlinienkompetenz liegt also nicht beim Vorsitzenden. Der Ministerrat hat folgende ständige Gremien und Unterorganisationen: die Direktion für Europäische Integration, das Generalsekretariat, das Büro für Gesetzgebung, das Büro des Koordinators des Distrikts Brčko, den Ausschuss für Innenpolitik, den Ausschuss für Wirtschaft und die Direktion für Wirtschaftsplanung. Diese beraten den Ministerrat in fach- lichen Fragen und arbeiten in jeweiligen Sachthemen zu. Aufgrund der spezifischen Konstellation der Regierungsbildung waren bis auf die Re- gierungsmehrheit der Regierung Matić-Lagumdžija-Mikerević alle anderen Regierungen überdimensioniert, da durch des Quotensystems (Vertretung von Entitäten und Ethnien) zu viele Parteien eingebunden werden mussten (siehe Tabelle 4). Einparteienkabinette gab es in Bosnien und Hercegovina bisher gar nicht (Gavrić 2007: 25). So kann man von einem hohen Grad der Aufteilung der Exekutivmacht sprechen, was durch die Verfassungsstruktur auch bedingt wird.
  • 25. Das politische System Bosnien und Hercegovinas 25 Tabelle 4: Regierungen in Bosnien und Hercegovina 1996-2008 Regierungsvorsitz Parteienzusammensetzung Regierungszeitraum Bosić-Silajdžić SDS-HDZ-SDA-SBiH 3.1.1997-4.2.1999 Silajdžić KCD-Sloga-HDZ 4.2.1999-22.6.2000 Mihajlović Tusevljak KCD-Sloga-HDZ 22.6.2000-18.10.2000 Raguz 18.10.2000-22.2.2001 Matić SDP-SBiH-NHI-BPS-Demokratische 22.2.2001-18.7.2001 Lagumdžija Pensionärspartei-SNS-PDP-SNSD- 18.7.2001-15.2.2002 Mikerević SPRS 22.2.2002-13.1.2003 Terzić SDA-SBiH-SDS-PDP-HDZ 13.1.2003-9.2.2007 Špirić SNSD-PDP-SBiH-SDA-HDZ-HDZ1990 Seit 9.2.2007 Quelle: Eigene Zusammenstellung. Parteinamen siehe Tabelle 6. Obgleich natürlich SDA, SDS und HDZ als langjährig dominante Parteien ihrer jeweiligen Volksgruppen in den meisten Regierungen vertreten waren, geht aus der Tabelle doch her- vor, dass es keine festen Koalitionspartner gibt. So waren bisher fast alle Kombinationen möglich, die auf eine möglichst einfache Art und Weise die territorialen und ethnischen Quoten erfüllen. Als durchgehend stärkste Partei in Bosnien und Hercegovina war die bos- niakische SDA bisher mit Ausnahme von 2000-2002 immer Teil der gesamtstaatlichen Regierungen. Nur die SDP ist in ihrer Politik konsistent, insofern sie auf Staatsebene seit 1996 nie Teil einer Regierung mit nationalistischen Parteien gewesen ist. Der durch die Daytoner Verfassung eingeführte Ministerrat sollte ursprünglich als ge- samtstaatliche Regierung fungieren und zusammen mit der Präsidentschaft die exekutive Macht ausüben. In den Nachkriegsjahren arbeitete er jedoch mehr als Koordinationsbüro. Die Minister genossen einen hohen Grad an Autonomie, so dass es dem Rat oft an Kohäsi- on mangelte (Bieber 2008: 65). Dies stärkte insgesamt die Macht der drei nationalistischen Parteien, so dass vor allem die SDS und die HDZ ihre sezessionistischen Absichten behal- ten und die Stärkung des Gesamtstaates gerade in einem gesamtstaatlichen Organ verlang- samen konnten. Die bosniakische SDA dominierte hingegen über die wenigen funktionie- renden Elemente des Gesamtstaates, insbesondere über den diplomatischen Dienst. Erst Ende der 1990er, mit der Regierungszeit der Allianz des Wandels (2000-2002) und der damit verbundenen Exklusion der Nationalparteien aus der Regierung, begann die Fortent- wicklung und Stärkung der Regierung (Bieber 2008: 65), was sich unter anderem in der Einführung von neuen Ministerien zeigte. Weiterhin ist aber der Ministerrat in seiner Poli- tik stark zersplittert. Die einzelnen Minister vertreten nicht selten Staats- sondern Parteiin- teressen, was sich eben in den mageren Resultaten der Regierungsarbeit widerspiegelt. 7. Gesetzgebungsprozess Für den Gesetzgebungsprozess auf gesamtstaatlicher Ebene ist die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften in Bosnien und Hercegovina von gro- ßer Bedeutung. Die Verfassung stattet den Gesamtstaat hierbei mit minimalen Zuständig- keiten aus, was sogar für föderale Staatsgebilde untypisch ist (Savić 2003: 17). Die weni- gen expliziten Kompetenzen wurden nach und nach auf Druck der internationalen Gemein- schaft erweitert (vgl. Kap. 2), was zu einer faktischen Modifizierung der Verfassung ge- führt hat. Dies spiegelte sich auch in der Gesetzgebung wider, wie die Tabelle 5 anschau- lich zeigt. Die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der EU und die damit verbundene Angleichung an den acquis communautaire der EU macht
  • 26. 26 Solveig Richter/Saša Gavrić jedoch die Übergabe weiterer Zuständigkeiten an den Zentralstaat im Bereich der Gesetz- gebung erforderlich. Dieser Aspekt wird auch im Rahmen der derzeitigen Verfassungsre- formdiskussion immer wieder thematisiert. Tabelle 5: Anzahl der verabschiedeten Gesetze seit 1996 Regierungszeitraum Zahl der verabschiedeten Gesetze 1996-1998 18 1998-2000 25 2000-2002 63 2002-2006 229 Quelle: Eigene Zusammenstellung unter Bezug auf Daten der Parlamentarischen Versammlung. Im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzverteilung nimmt die Parla- mentarische Versammlung Bosnien und Hercegovinas die Aufgabe der Gesetzgebung wahr. Den gültigen Geschäftsordnungen der beiden Kammern nach, gestaltet sich der Ge- setzgebungsprozess folgendermaßen: Gesetzentwürfe können von jedem Abgeordneten und jedem Ausschuss des Repräsentantenhauses, jedem Delegierten und jedem Ausschuss des Hauses der Völker, von gemeinsamen Ausschüssen der beiden Kammern, der Präsident- schaft und dem Ministerrat beim jeweiligen Vorsitzenden einer der beiden Kammern einge- reicht werden (Art. 99 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses, Art. 92 der Ge- schäftsordnung des Hauses der Völker). Gesetzentwürfe sollen zuerst dem Repräsentanten- haus vorgelegt werden, doch behält sich das Haus der Völker die Möglichkeit vor, über Gesetze und andere Rechtsakte als erste Kammer zu beraten (Art. 94 der Geschäftsordnung des Hauses der Völker). In der Praxis hat dies aber keine Bedeutung, da die Gesetze in der Regel erst durch das Repräsentantenhaus gehen und erst bei einer Annahme im Haus der Völker beraten werden. Ein Gesetzentwurf wird durch den Kammervorsitzenden an das Kollegium der Abge- ordnetenkammer gegeben, die diesen an den Verfassungs- und den zuständigen Fachaus- schuss weiterleitet. Beide Ausschüsse müssen innerhalb von 15 Tagen ihre Stellungnahme an den Vorsitzenden der Kammer reichen, der erst dann den Gesetzentwurf auf die Tages- ordnung des Plenums setzen kann. Initiieren ein Abgeordneter oder ein Ausschuss ein Ge- setzgebungsverfahren, muss das Gemeinsame Kollegium der beiden Kammern feststellen, ob der Entwurf einem der Gemeinsamen Ausschüsse vorgelegt werden muss (Artt. 102-105 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Der Präsidentschaft und dem Ministerrat werden die Entwürfe ebenfalls dann vorgelegt, wenn eine Gesetzesinitiative nicht von der jeweiligen Institution selbst stammt. Nachdem die Ausschüsse ihre Stellungnahmen bei dem Kollegium eingereicht haben, wird der Entwurf zum ersten Mal im Plenum der Repräsentantenkammer diskutiert. Dabei werden die Meinungen der Ausschüsse vorgestellt, die meist auch die Basis der Abstim- mung bilden. Sollten die Ausschüsse ein ablehnendes Votum vorschlagen, wenn das vorge- schlagene Gesetz nicht mit der Verfassung oder dem Rechtssystem übereinstimmt (Verfas- sungsausschuss) bzw. die Prinzipien des Gesetzes nicht nachvollziehbar sind (Fachaus- schuss), kann die Kammer diese Meinung bestätigen und das Gesetz damit ablehnen oder aber eine revidierte Stellungnahme anfordern (Artt. 106-107 der Geschäftsordnung des Repräsentantenhauses). Wird das Gesetz in der ersten Lesung zum Verfahren angenommen, beginnt die ei- gentliche Bearbeitung durch das Parlament (Art. 106 der Geschäftsordnung des Repräsen- tantenhauses). Abgeordnete, Fraktionen, der zuständige Ausschuss und der Ministerrat können Änderungs- und Ergänzungsvorschläge einreichen, über die im jeweils zuständigen