SlideShare ist ein Scribd-Unternehmen logo
1 von 58
Fastenzeit 2020
Eine ohrenbetäubende
Stille
Tag 1
Ich sah noch nie so viele Menschen, es
waren wohl Touristen aus aller Welt, an
einem beliebigen Tag in der Mitte einer
Woche, Katholiken nannten diesen Tag
Aschermittwoch, vor einem Restaurant,
das stadt-, ja weltbekannt war für sein
Wiener Schnitzel, Schlange stehen.
Tag 2
Ich sah Checklisten für den Notfall auftauchen. Von Pilzen in
Dosen, Volleipulver, Sägemessern, Schlafsäcken, Garten-
oder Autowaschschläuchen, Kübelspritzen oder
Einstellspritzen, Löschdecken, faltbaren Wasserkanistern, ja
sogar von jederzeit griffbereitem Notgepäck stand da zu
lesen. Sie wurden von Bloggern, Influencern und anderen,
die sich Medizin- und Onlinejournalisten nannten, eifrig
verbreitet. Fett gedruckter Nachtrag: „Vorrat an
Hygieneartikeln nicht vergessen“.
Tag 3
Ich sah ein Land, das früher 85 Millionen
Fußballtrainer gehabt hatte, jetzt 85
Millionen Virologen und Epidemiologen
hatte und bald schon ebenso viele Jogger
haben wird.
Tag 4
Ich sah plötzlich ein leeres Regal, in dem
sonst Nudelpackungen fein säuberlich
aufgestapelt lagen. Im Regal fürWC-
Papier, Mehl, abgepacktes Brot sah es
nicht anders aus.
Tag 5
Ich sah die Kreativität sprießen: neue Lieder wurden
geschrieben, alt Bekanntes wurde neu getextet, Tanzschulen
boten ihre Schritte im Internet an, Fitness Center hielten für
jedes Fitnesslevel online Kurse parat, Museen, Opern-, Konzert-
und Theaterhäuser bespielten ihre Bühnen ab sofort online, ja
selbst Glaubensgemeinschaften erreichten ihre Gläubigen im
neuen Alltag zuhause. Alle und alles war jetzt virtuell. Jeder
kramte in seinen Fotoalben und erinnerte sich an Geschichten
aus seiner Kindheit, teilte sie, und manch einer nahm die
Herausforderung an.
Tag 6
Ich sah Gläser mit frisch eingekochter
Orangenmarmelade fein säuberlich vor mir aufgetürmt.
Die Nachbarschaftshilfe konnte beginnen.
Tag 7
Ich sah eine C-Wort-freie Statistik mit der
Zahl 38 Millionen. So viele Menschen waren
seit den 1980er Jahren an HIV/Aids
gestorben. Und ich sah eine Welt, die sich
trotzdem weiterdrehte.
Tag 8
Ich sah, las und hörte eine Sprache sich völlig
ungeniert in jede andere Sprache hineinfressen
und so, einer Raupe gleich, die sich durch ein
Blatt arbeitet, Spuren hinterlassen, die doch nur
von einer Handvoll Experten dechiffrierbar
blieben: stay home, social distancing, lock down,
spreader, contact tracing, containment, prepper,
backlash, home schooling, community mask.
Tag 9
Ich sah ein seit 1945 befriedetes Land im
Herzen Europas, das über Nacht auf Waffen
und Munition setzte. Wer wollte da nicht
gewappnet sein?
Tag 10
Ich sah eine Notiz, dass von heute auf
morgen das Befüllen von Mehrwegbechern
untersagt wurde. Wie lange – Wochen,
Monate, gar Jahre (wer erinnerte sich
jetzt noch daran) – wurde um diese
Errungenschaft einer Gemeinschaft
gefeilscht?
Tag 11
Ich sah und hörte einen Geschichtenerzähler auf dem Weg
nach Babylon, der vom MogulkaiserAkbar und jener
fernen Geisterstadt Fatehpur Sikri erzählte. „Bleibt
wachsam“, sagte er, „hört alles und bleibt misstrauisch“.
Tag 12
Ich sah eine Welt, deren Bewohner alle gleichzeitig dasselbe Vokabular lernten
und Tag für Tag wiederholten, damit es sich ihren Gehirnen unauslöschlich
einprägte: Pandemie, Patient Null, Replikationsfaktor oder R0, FFP3-Maske,
Herdenimmunität, immunsupprimiert. Nur ein Computersystem weigerte sich
beharrlich das Wort Epidemiologe als richtig geschrieben anzuerkennen und
markierte dieses weiterhin mit einer zackigen roten Unterstreichung.
Tag 13
Ich sah einen Mann in einem weißen Porsche Carrera
911 an der Ampel halten. Er saß alleine im Auto und
trug eine Schutzmaske.
Tag 14
Ich sah eine junge Frau, die sich vom Regalbetreuer im
Supermarkt alles, was es an Hygienepapier gab, auf
ihre ausgestreckten Arme auftürmen ließ, fünf, sechs
Packungen WC-Papier, Taschentücher, Küchenrollen,
und so zur Kassa wankte. Die Augenzeugen blieben
sprachlos und kopfschüttelnd zurück.
Tag 15
Ich sah eine Schutzheilige, derer sich seit Jahrhunderten keiner mehr erinnerte,
plötzlich wieder zu Leben erwachen. Vermutlich wurde sie, die Heilige Corona,
nun das erste Mal wieder seit jenem dunklen Zeitalter und jenem schwarzen Tod
um Fürsprache und Schutz angefleht.
Tag 16
Ich sah und sprach mit Menschen, die nach monatelanger
Suche eine neue Arbeitsstelle gefunden hatten, eine, die
ihnen dann unmittelbar vor Arbeitsaufnahme doch wieder
genommen wurde.
Tag 17
Ich sah plötzlich keine
Obdachlosen mehr. Die Straßen
waren wie leergefegt.
Tag 18
Ich sah volle Restaurants und
Menschen unbekümmert Pizza essen
bis zu dem Tag, als auch diesem Land
Stillstand verordnet wurde.
Tag 19
Ich sah ein Flugzeug mit blau-
oranger Zeichnung im tiefen
Flug den makellosen blauen
Himmel Frankfurts
durchpflügen.
Tag 20
Ich sah so viele Anfragen für
Second Hand-Verkäufe wie nie
zuvor in so kurzer Zeit – jeder
jederzeit bereit für einen Artikel
um 10€ seine Gesundheit und die
der anderen aufs Spiel zu setzen.
War Geiz denn immer noch geil?
Tag 21
Ich sah und las von einem Buch, das nach
Jahrzehnten des Dornröschenschlafs jetzt
wieder die Bestsellerlisten anführte und
in seiner gedruckten Form ausverkauft
war. Seit jenem Tag der
Erstveröffentlichung stand da
geschrieben: „Frage: Was tun, um seine
Zeit nicht zu verlieren? Antwort: Sie in
ihrer ganzen Länge empfinden.“
Tag 22
Ich sah jetzt auch in dieser Stadt im Wind
flatternde rot-weiß-gestreifte Bänder vor
abgeriegelten Spielplätzen.
Tag 23
Ich sah geschlossene Geschäfte und Onlinehändler für
Kosmetika und Bekleidung dieTaktung ihrer
elektronischen Newsletter erhöhen. Jeden zweitenTag,
ja jedenTag wurden da ab sofort Produkte wie die das
Immunsystem stärkende Hautcreme oder ein Parfum
angepriesen, mit dem „ein Hauch von Freiheit in der
Luft“ lag. Die Lieferung war jetzt kostenlos. Nachsatz:
„Weil Sie uns am Herzen liegen, bleiben unsere Filialen
bis aufWeiteres geschlossen.“Wem lagen denn schon die
Heerscharen an Zustellern und Müllmännern am Herzen?
Tag 24
Ich sah die Sorge eines Boulevardmagazins um
einen Menschen, der sich seit Jahren, strikt von
der Außenwelt abgeschirmt, in Isolation befand:
„Große Sorge um Schumi. Das Immunsystem des
Formel-1-Idols scheint dem Virus nicht
gewachsen“.
Tag 25
Ich sah die Eichhörnchen vom Winterschlaf erwachen.
Sie scherten sich nicht darum, ob ein Land zu Ende
besprochen, diskutiert, überlegt, ja nachgedacht hatte, ob
das Menschenleben eines Bayern durch Einschränkung der
persönlichen Bewegungsfreiheit schützenswerter sei als das
eines Hessen.
Tag 26
Ich sah Bewohner in ihrer neuen Gartenwohnung am ersten
Tag der Gültigkeit der Ausgangsbeschränkung sich Freunde
einladen, mit denen sie Schulter an Schulter und mit
Sandkastenschaufelchen ihren verwilderten Garten
bearbeiteten. Sie nahmen den Aufruf „Bleiben Sie zuhause“
wörtlich und ließen sich nach getaner Arbeit zur Belohnung
Pizzas ins neue Heim liefern.
Tag 27
Ich sah ein Land, in dem es nur noch zwei Bezirke gab, die keine
Infizierten zu beklagen hatten. Waren beide so abgelegen, dass noch
nicht einmal ein Virus dorthin wollte? Beide zählten zu den
einkommensschwächsten Regionen ihres Landes. Eine davon war
meine Heimat - so viel war sicher.
Tag 28
Ich sah geschlossene Grenzen und einen Sattelschlepper aus Holland
mit der Aufschrift "Blumen und Pflanzen", der einen Supermarkt
belieferte.
Tag 29
Ich sah und hörte Abend für Abend einen Jugendlichen
aus der Nachbarschaft am offenen Fenster, mit
Lautsprechern verstärkt und via Live-Stream in alle
Wohnzimmer übertragend, ein „Klavierkonzert gegen
die Einsamkeit“ geben. An jenem Abend war es die
Nocturne op. 20 von Chopin. Sein Name war Samuel.
Tag 30
Ich sah Frauen in himmelblauen Kimonos mit asiatisch
anmutenden Mustern durch die Straßen schlendern. Ich sah
Männer in blitzblauen, weinroten und weißen Strumpfhosen,
ja in Badeshorts und Frauen in Leggings mit roten und weißen
Kringeln auf schwarzem Untergrund, die ihre ausladenden
Hinterteile so breit erscheinen ließen, so breit wie sie eben
nun mal waren, durch die Straßen joggen. Ich sah einen
Politiker in Trainingshose vor dem Bildschirm an der virtuellen
Parlamentssitzung teilnehmen. Wo aber blieb der Respekt vor
meinen Geschmacksnerven? Er lag am Boden.
Tag 31
Ich sah und hörte einen Papst vor
einem leeren Platz, der einer der
größten der Welt war, zu einem
virtuellen Publikum von einer Zeit der
ohrenbetäubenden Stille sprechen. Er
hob die Monstranz, segnete die Stadt
und den ganzen Erdkreis und beugte
sich den weltlichen Maßnahmen.
Tag 32
Ich sah noch nie so viele Menschen, die sich an der Pracht der
soeben erblühten Magnolien erfreuten, sich gegenseitig auf die
ersten, noch nicht aufgebrochenen Knospen des Kirschlorbeers
hinwiesen, über die frühen Hyazinthen und den ebenso frühen
Lerchensporn staunten, ja selbst die zweifärbigen Märzenbecher
mit ihrem grellen Orange und Sahne farbigen Weiß riefen ein nie
dagewesenes Entzücken hervor, Gänseblümchen, Löwenzahn,
Ehrenpreis, alles fand seine Bewunderer. Am Ende aber sah
keiner die hauchfeinen Blütenblätter des Japanischen
Kirschbaums ins Blaue davonsegeln. Plötzlich nämlich war auch
dieser Park leergefegt. Für einen Augenblick.
Tag 33
Ich sah nichts von den Kerzen auf den Balkonen oder in den
Fenstern, die zum Wohl aller entzündet werden sollten, und hörte
nichts von den Kirchenglocken, die fünf Minuten lang zum Zeichen
der Solidarität läuten sollten.
Tag 34
Ich sah und hörte eine Staatsanwaltschaft Verfehlungen
anprangern in einem Ort, der wohl allen im Gedächtnis
bleiben wird. Wer aber richtete über ganze
Regierungen, die noch beratschlagten und mit ihren
Ländern konferieren mussten, über Regierungen, die
die Schutzausrüstung anderer Länder
beschlagnahmten, über Regierungen auf Inseln, die
nicht handeln wollten, über Regierungen, die ihre
Bewohner vor den Augen aller zu einem Experiment
verdonnerten, ja über medizinwissenschaftliche
Einrichtungen, die mittendrin ihre Meinung änderten?
Was und wem konnte man noch glauben?
Tag 35
Ich sah noch nie so viele Menschen in
der Öffentlichkeit eines Parks Alkohol
trinken. Männer, Frauen, eingehängt zu
zweit, alleine auf einer Bank sitzend,
gehend, stehend, sich gut gelaunt
unterhaltend.
Tag 36
Ich sah und hörte ein Land so lange "America first" in
die Welt hinausposaunen, bis sein Wunsch erhört wurde
und dieses Land seit Tagen jene Liste anführte, die die
Infizierten zählte. Damit hatte es auch jenes erste
Land, das sich selbst Reich der Mitte nannte, von
seinem vordersten Platz verdrängt. Es hielt jetzt auch
den Rekord der meisten Todesfälle innerhalb von 24
Stunden – und es sollte nicht der letzte Rekord bleiben
in diesem atemlosen Rennen um Leben und Tod.
Tag 37
Ich sah Schutzmasken tragende Politiker und
andere Menschen, die das Wort Mundschutz
wörtlich nahmen. Sie bedeckten den Mund,
ließen aber die Nase frei. Nur zum Sprechen
nahmen sie die Schutzmaske ab.
Tag 38
Ich sah und hörte Vögel ohne Unterlass zwitschern.
Sie sorgten sich nicht darum, ob in diesem oder
jenem Land die Arbeitslosenrate auf den höchsten
Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs geklettert
war.
Tag 39
Ich sah ein reiches Land im Überfluss
und doch gab es in diesem Land seit
vier Wochen kein Mehl und keine Germ
zu kaufen. Germ wurde auf dem
Schwarzmarkt mittlerweile um den
gleichen Preis wie Silber gehandelt.
Tag 40
Ich sah Schuhe, die vom vielen
Füße-im-Park-Vertreten staubig
geworden waren. Regen fiel nicht.
Wir drehen uns um und erinnern uns – der Toten und
unser selbst.
Die Überlebenden ergreifen die Hände der Toten
und wir kehren wieder zum Leben zurück, zu dem,
was unser Leben war und ist.
Vi vänder oss om och minns – de döda och oss själva.
De överlevande griper de dödas händer
och vi återvänder till livet, det som var och är vårt liv.
Cordelia Edvardson
POST SCRIPTUM  ich sah den Ölpreis verrücktspielen  ich sah und hörte einen Erzbischof die Worte
sprechen: „Wer glaubt, ist nicht allein.“  ich sah und hörte 80-jährige Frauen die ihnen angebotene Hilfe brüsk
zurückweisen  ich las Berichte über Konditoreien, die Torten in Form von Toilettenpapier buken  ich sah Alte
und Junge, die von ihrer Routine nicht abweichen wollten  ich sah Jugendliche auf Lampenmasten ihre Hilfe als
„Einkaufsheld“ anbieten  ich sah eine Notiz über den Bankrott einer traditionsreichen Fleischerei, die auf
Pferdefleisch spezialisiert war  ich sah ältere Menschen die Hilfe von Fremden dankbar annehmen  ich sah
Kinder Danke-Plakate für die Mitarbeiter von Supermärkten aufhängen  ich sah den Stephansdom bis auf den
letzten Platz gefüllt, jede Kirchenbank voll besetzt – mit den Fotos von Gläubigen  ich sah und hörte junge
Männer sich über andere lustig machen, als diese versuchten Abstand zu halten  ich sah oder vielmehr hörte
berichten über eine junge Frau, die eine ältere Frau auf der Straße ansprach und das eben gekaufte WC-Papier
mit dieser teilte, weil sie sah, dass die Ältere im Supermarkt leer ausgegangen war  ich sah die Aktienmärkte
einknicken und sich wieder erholen  ich sah Kindergärten Arbeitsblätter über E-Mail verschicken  ich sah die
Polizei patrouillieren, immer in Gruppen zu viert oder fünft, ohne Schutzmasken, ohne Handschuhe, Schulter an
Schulter  ich sah Menschen brüskiert darüber, dass sie als Berufstätige mit ihren 60 Jahren plötzlich zu
bestimmten Zeiten im Supermarkt einkaufen sollten, und sich beklagen, dass sie als hilfsbedürftige Alte
stigmatisiert wurden  ich sah Frauen sich in ihrem Home Office im roten Bikini und mit perfekt sich
ergänzendem roten Nagellack auf dem Balkon sonnen und hörte keinen, der sich über sein Home Office-Dasein
beschwerte  ich sah einen Vater und seinen Sohn ihr Tennistraining an der 100 Jahre alten Mauer einer
Universität fortsetzen  ich sah und hörte Menschen noch mehr telefonieren, noch mehr fernsehen und das
verbrauchte Datenvolumen sich vervielfachen  ich sah jüngere Männer ältere Menschen vor Supermärkten
ansprechen und Desinfektionsmittel unter der Hand verkaufen  ich sah Kinder wieder auf Bäume klettern  ich
sah Paketzusteller Stoßstange an Stoßstange durch die Straßen kriechen, unterbrochen nur von den Fahrrädern
der Essenauslieferer. Diese beschwerten sich vermutlich nicht über geschlossene Sporteinrichtungen  ich sah
Berichte über den neuen Tourismus zu Baumärkten in andere Bundesländer, die geöffnet hatten  ich sah zuhauf
Menschen ihr Mahl draußen einnehmen. Aus Aluminiumnäpfen  ich sah vieles und sah noch mehr nicht.

Weitere ähnliche Inhalte

Empfohlen

Everything You Need To Know About ChatGPT
Everything You Need To Know About ChatGPTEverything You Need To Know About ChatGPT
Everything You Need To Know About ChatGPTExpeed Software
 
Product Design Trends in 2024 | Teenage Engineerings
Product Design Trends in 2024 | Teenage EngineeringsProduct Design Trends in 2024 | Teenage Engineerings
Product Design Trends in 2024 | Teenage EngineeringsPixeldarts
 
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental Health
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental HealthHow Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental Health
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental HealthThinkNow
 
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdf
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdfAI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdf
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdfmarketingartwork
 
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024Neil Kimberley
 
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)contently
 
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024How to Prepare For a Successful Job Search for 2024
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024Albert Qian
 
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie Insights
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie InsightsSocial Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie Insights
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie InsightsKurio // The Social Media Age(ncy)
 
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024Search Engine Journal
 
5 Public speaking tips from TED - Visualized summary
5 Public speaking tips from TED - Visualized summary5 Public speaking tips from TED - Visualized summary
5 Public speaking tips from TED - Visualized summarySpeakerHub
 
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd Clark Boyd
 
Getting into the tech field. what next
Getting into the tech field. what next Getting into the tech field. what next
Getting into the tech field. what next Tessa Mero
 
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search Intent
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search IntentGoogle's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search Intent
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search IntentLily Ray
 
Time Management & Productivity - Best Practices
Time Management & Productivity -  Best PracticesTime Management & Productivity -  Best Practices
Time Management & Productivity - Best PracticesVit Horky
 
The six step guide to practical project management
The six step guide to practical project managementThe six step guide to practical project management
The six step guide to practical project managementMindGenius
 
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...RachelPearson36
 
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...Applitools
 

Empfohlen (20)

Everything You Need To Know About ChatGPT
Everything You Need To Know About ChatGPTEverything You Need To Know About ChatGPT
Everything You Need To Know About ChatGPT
 
Product Design Trends in 2024 | Teenage Engineerings
Product Design Trends in 2024 | Teenage EngineeringsProduct Design Trends in 2024 | Teenage Engineerings
Product Design Trends in 2024 | Teenage Engineerings
 
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental Health
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental HealthHow Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental Health
How Race, Age and Gender Shape Attitudes Towards Mental Health
 
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdf
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdfAI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdf
AI Trends in Creative Operations 2024 by Artwork Flow.pdf
 
Skeleton Culture Code
Skeleton Culture CodeSkeleton Culture Code
Skeleton Culture Code
 
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024
PEPSICO Presentation to CAGNY Conference Feb 2024
 
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)
Content Methodology: A Best Practices Report (Webinar)
 
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024How to Prepare For a Successful Job Search for 2024
How to Prepare For a Successful Job Search for 2024
 
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie Insights
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie InsightsSocial Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie Insights
Social Media Marketing Trends 2024 // The Global Indie Insights
 
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024
Trends In Paid Search: Navigating The Digital Landscape In 2024
 
5 Public speaking tips from TED - Visualized summary
5 Public speaking tips from TED - Visualized summary5 Public speaking tips from TED - Visualized summary
5 Public speaking tips from TED - Visualized summary
 
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd
ChatGPT and the Future of Work - Clark Boyd
 
Getting into the tech field. what next
Getting into the tech field. what next Getting into the tech field. what next
Getting into the tech field. what next
 
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search Intent
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search IntentGoogle's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search Intent
Google's Just Not That Into You: Understanding Core Updates & Search Intent
 
How to have difficult conversations
How to have difficult conversations How to have difficult conversations
How to have difficult conversations
 
Introduction to Data Science
Introduction to Data ScienceIntroduction to Data Science
Introduction to Data Science
 
Time Management & Productivity - Best Practices
Time Management & Productivity -  Best PracticesTime Management & Productivity -  Best Practices
Time Management & Productivity - Best Practices
 
The six step guide to practical project management
The six step guide to practical project managementThe six step guide to practical project management
The six step guide to practical project management
 
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...
Beginners Guide to TikTok for Search - Rachel Pearson - We are Tilt __ Bright...
 
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...
Unlocking the Power of ChatGPT and AI in Testing - A Real-World Look, present...
 

Fastenzeit 2020 - Eine ohrenbetäubende Stille

  • 2. Tag 1 Ich sah noch nie so viele Menschen, es waren wohl Touristen aus aller Welt, an einem beliebigen Tag in der Mitte einer Woche, Katholiken nannten diesen Tag Aschermittwoch, vor einem Restaurant, das stadt-, ja weltbekannt war für sein Wiener Schnitzel, Schlange stehen.
  • 3.
  • 4. Tag 2 Ich sah Checklisten für den Notfall auftauchen. Von Pilzen in Dosen, Volleipulver, Sägemessern, Schlafsäcken, Garten- oder Autowaschschläuchen, Kübelspritzen oder Einstellspritzen, Löschdecken, faltbaren Wasserkanistern, ja sogar von jederzeit griffbereitem Notgepäck stand da zu lesen. Sie wurden von Bloggern, Influencern und anderen, die sich Medizin- und Onlinejournalisten nannten, eifrig verbreitet. Fett gedruckter Nachtrag: „Vorrat an Hygieneartikeln nicht vergessen“.
  • 5. Tag 3 Ich sah ein Land, das früher 85 Millionen Fußballtrainer gehabt hatte, jetzt 85 Millionen Virologen und Epidemiologen hatte und bald schon ebenso viele Jogger haben wird.
  • 6. Tag 4 Ich sah plötzlich ein leeres Regal, in dem sonst Nudelpackungen fein säuberlich aufgestapelt lagen. Im Regal fürWC- Papier, Mehl, abgepacktes Brot sah es nicht anders aus.
  • 7.
  • 8. Tag 5 Ich sah die Kreativität sprießen: neue Lieder wurden geschrieben, alt Bekanntes wurde neu getextet, Tanzschulen boten ihre Schritte im Internet an, Fitness Center hielten für jedes Fitnesslevel online Kurse parat, Museen, Opern-, Konzert- und Theaterhäuser bespielten ihre Bühnen ab sofort online, ja selbst Glaubensgemeinschaften erreichten ihre Gläubigen im neuen Alltag zuhause. Alle und alles war jetzt virtuell. Jeder kramte in seinen Fotoalben und erinnerte sich an Geschichten aus seiner Kindheit, teilte sie, und manch einer nahm die Herausforderung an.
  • 9. Tag 6 Ich sah Gläser mit frisch eingekochter Orangenmarmelade fein säuberlich vor mir aufgetürmt. Die Nachbarschaftshilfe konnte beginnen.
  • 10.
  • 11. Tag 7 Ich sah eine C-Wort-freie Statistik mit der Zahl 38 Millionen. So viele Menschen waren seit den 1980er Jahren an HIV/Aids gestorben. Und ich sah eine Welt, die sich trotzdem weiterdrehte.
  • 12. Tag 8 Ich sah, las und hörte eine Sprache sich völlig ungeniert in jede andere Sprache hineinfressen und so, einer Raupe gleich, die sich durch ein Blatt arbeitet, Spuren hinterlassen, die doch nur von einer Handvoll Experten dechiffrierbar blieben: stay home, social distancing, lock down, spreader, contact tracing, containment, prepper, backlash, home schooling, community mask.
  • 13. Tag 9 Ich sah ein seit 1945 befriedetes Land im Herzen Europas, das über Nacht auf Waffen und Munition setzte. Wer wollte da nicht gewappnet sein?
  • 14. Tag 10 Ich sah eine Notiz, dass von heute auf morgen das Befüllen von Mehrwegbechern untersagt wurde. Wie lange – Wochen, Monate, gar Jahre (wer erinnerte sich jetzt noch daran) – wurde um diese Errungenschaft einer Gemeinschaft gefeilscht?
  • 15. Tag 11 Ich sah und hörte einen Geschichtenerzähler auf dem Weg nach Babylon, der vom MogulkaiserAkbar und jener fernen Geisterstadt Fatehpur Sikri erzählte. „Bleibt wachsam“, sagte er, „hört alles und bleibt misstrauisch“.
  • 16.
  • 17. Tag 12 Ich sah eine Welt, deren Bewohner alle gleichzeitig dasselbe Vokabular lernten und Tag für Tag wiederholten, damit es sich ihren Gehirnen unauslöschlich einprägte: Pandemie, Patient Null, Replikationsfaktor oder R0, FFP3-Maske, Herdenimmunität, immunsupprimiert. Nur ein Computersystem weigerte sich beharrlich das Wort Epidemiologe als richtig geschrieben anzuerkennen und markierte dieses weiterhin mit einer zackigen roten Unterstreichung.
  • 18. Tag 13 Ich sah einen Mann in einem weißen Porsche Carrera 911 an der Ampel halten. Er saß alleine im Auto und trug eine Schutzmaske.
  • 19. Tag 14 Ich sah eine junge Frau, die sich vom Regalbetreuer im Supermarkt alles, was es an Hygienepapier gab, auf ihre ausgestreckten Arme auftürmen ließ, fünf, sechs Packungen WC-Papier, Taschentücher, Küchenrollen, und so zur Kassa wankte. Die Augenzeugen blieben sprachlos und kopfschüttelnd zurück.
  • 20. Tag 15 Ich sah eine Schutzheilige, derer sich seit Jahrhunderten keiner mehr erinnerte, plötzlich wieder zu Leben erwachen. Vermutlich wurde sie, die Heilige Corona, nun das erste Mal wieder seit jenem dunklen Zeitalter und jenem schwarzen Tod um Fürsprache und Schutz angefleht.
  • 21. Tag 16 Ich sah und sprach mit Menschen, die nach monatelanger Suche eine neue Arbeitsstelle gefunden hatten, eine, die ihnen dann unmittelbar vor Arbeitsaufnahme doch wieder genommen wurde.
  • 22. Tag 17 Ich sah plötzlich keine Obdachlosen mehr. Die Straßen waren wie leergefegt.
  • 23. Tag 18 Ich sah volle Restaurants und Menschen unbekümmert Pizza essen bis zu dem Tag, als auch diesem Land Stillstand verordnet wurde.
  • 24.
  • 25. Tag 19 Ich sah ein Flugzeug mit blau- oranger Zeichnung im tiefen Flug den makellosen blauen Himmel Frankfurts durchpflügen.
  • 26.
  • 27. Tag 20 Ich sah so viele Anfragen für Second Hand-Verkäufe wie nie zuvor in so kurzer Zeit – jeder jederzeit bereit für einen Artikel um 10€ seine Gesundheit und die der anderen aufs Spiel zu setzen. War Geiz denn immer noch geil?
  • 28. Tag 21 Ich sah und las von einem Buch, das nach Jahrzehnten des Dornröschenschlafs jetzt wieder die Bestsellerlisten anführte und in seiner gedruckten Form ausverkauft war. Seit jenem Tag der Erstveröffentlichung stand da geschrieben: „Frage: Was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: Sie in ihrer ganzen Länge empfinden.“
  • 29.
  • 30. Tag 22 Ich sah jetzt auch in dieser Stadt im Wind flatternde rot-weiß-gestreifte Bänder vor abgeriegelten Spielplätzen.
  • 31.
  • 32. Tag 23 Ich sah geschlossene Geschäfte und Onlinehändler für Kosmetika und Bekleidung dieTaktung ihrer elektronischen Newsletter erhöhen. Jeden zweitenTag, ja jedenTag wurden da ab sofort Produkte wie die das Immunsystem stärkende Hautcreme oder ein Parfum angepriesen, mit dem „ein Hauch von Freiheit in der Luft“ lag. Die Lieferung war jetzt kostenlos. Nachsatz: „Weil Sie uns am Herzen liegen, bleiben unsere Filialen bis aufWeiteres geschlossen.“Wem lagen denn schon die Heerscharen an Zustellern und Müllmännern am Herzen?
  • 33.
  • 34. Tag 24 Ich sah die Sorge eines Boulevardmagazins um einen Menschen, der sich seit Jahren, strikt von der Außenwelt abgeschirmt, in Isolation befand: „Große Sorge um Schumi. Das Immunsystem des Formel-1-Idols scheint dem Virus nicht gewachsen“.
  • 35.
  • 36. Tag 25 Ich sah die Eichhörnchen vom Winterschlaf erwachen. Sie scherten sich nicht darum, ob ein Land zu Ende besprochen, diskutiert, überlegt, ja nachgedacht hatte, ob das Menschenleben eines Bayern durch Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit schützenswerter sei als das eines Hessen.
  • 37. Tag 26 Ich sah Bewohner in ihrer neuen Gartenwohnung am ersten Tag der Gültigkeit der Ausgangsbeschränkung sich Freunde einladen, mit denen sie Schulter an Schulter und mit Sandkastenschaufelchen ihren verwilderten Garten bearbeiteten. Sie nahmen den Aufruf „Bleiben Sie zuhause“ wörtlich und ließen sich nach getaner Arbeit zur Belohnung Pizzas ins neue Heim liefern.
  • 38. Tag 27 Ich sah ein Land, in dem es nur noch zwei Bezirke gab, die keine Infizierten zu beklagen hatten. Waren beide so abgelegen, dass noch nicht einmal ein Virus dorthin wollte? Beide zählten zu den einkommensschwächsten Regionen ihres Landes. Eine davon war meine Heimat - so viel war sicher.
  • 39. Tag 28 Ich sah geschlossene Grenzen und einen Sattelschlepper aus Holland mit der Aufschrift "Blumen und Pflanzen", der einen Supermarkt belieferte.
  • 40.
  • 41. Tag 29 Ich sah und hörte Abend für Abend einen Jugendlichen aus der Nachbarschaft am offenen Fenster, mit Lautsprechern verstärkt und via Live-Stream in alle Wohnzimmer übertragend, ein „Klavierkonzert gegen die Einsamkeit“ geben. An jenem Abend war es die Nocturne op. 20 von Chopin. Sein Name war Samuel.
  • 42. Tag 30 Ich sah Frauen in himmelblauen Kimonos mit asiatisch anmutenden Mustern durch die Straßen schlendern. Ich sah Männer in blitzblauen, weinroten und weißen Strumpfhosen, ja in Badeshorts und Frauen in Leggings mit roten und weißen Kringeln auf schwarzem Untergrund, die ihre ausladenden Hinterteile so breit erscheinen ließen, so breit wie sie eben nun mal waren, durch die Straßen joggen. Ich sah einen Politiker in Trainingshose vor dem Bildschirm an der virtuellen Parlamentssitzung teilnehmen. Wo aber blieb der Respekt vor meinen Geschmacksnerven? Er lag am Boden.
  • 43.
  • 44. Tag 31 Ich sah und hörte einen Papst vor einem leeren Platz, der einer der größten der Welt war, zu einem virtuellen Publikum von einer Zeit der ohrenbetäubenden Stille sprechen. Er hob die Monstranz, segnete die Stadt und den ganzen Erdkreis und beugte sich den weltlichen Maßnahmen.
  • 45. Tag 32 Ich sah noch nie so viele Menschen, die sich an der Pracht der soeben erblühten Magnolien erfreuten, sich gegenseitig auf die ersten, noch nicht aufgebrochenen Knospen des Kirschlorbeers hinwiesen, über die frühen Hyazinthen und den ebenso frühen Lerchensporn staunten, ja selbst die zweifärbigen Märzenbecher mit ihrem grellen Orange und Sahne farbigen Weiß riefen ein nie dagewesenes Entzücken hervor, Gänseblümchen, Löwenzahn, Ehrenpreis, alles fand seine Bewunderer. Am Ende aber sah keiner die hauchfeinen Blütenblätter des Japanischen Kirschbaums ins Blaue davonsegeln. Plötzlich nämlich war auch dieser Park leergefegt. Für einen Augenblick.
  • 46.
  • 47. Tag 33 Ich sah nichts von den Kerzen auf den Balkonen oder in den Fenstern, die zum Wohl aller entzündet werden sollten, und hörte nichts von den Kirchenglocken, die fünf Minuten lang zum Zeichen der Solidarität läuten sollten.
  • 48. Tag 34 Ich sah und hörte eine Staatsanwaltschaft Verfehlungen anprangern in einem Ort, der wohl allen im Gedächtnis bleiben wird. Wer aber richtete über ganze Regierungen, die noch beratschlagten und mit ihren Ländern konferieren mussten, über Regierungen, die die Schutzausrüstung anderer Länder beschlagnahmten, über Regierungen auf Inseln, die nicht handeln wollten, über Regierungen, die ihre Bewohner vor den Augen aller zu einem Experiment verdonnerten, ja über medizinwissenschaftliche Einrichtungen, die mittendrin ihre Meinung änderten? Was und wem konnte man noch glauben?
  • 49. Tag 35 Ich sah noch nie so viele Menschen in der Öffentlichkeit eines Parks Alkohol trinken. Männer, Frauen, eingehängt zu zweit, alleine auf einer Bank sitzend, gehend, stehend, sich gut gelaunt unterhaltend.
  • 50.
  • 51. Tag 36 Ich sah und hörte ein Land so lange "America first" in die Welt hinausposaunen, bis sein Wunsch erhört wurde und dieses Land seit Tagen jene Liste anführte, die die Infizierten zählte. Damit hatte es auch jenes erste Land, das sich selbst Reich der Mitte nannte, von seinem vordersten Platz verdrängt. Es hielt jetzt auch den Rekord der meisten Todesfälle innerhalb von 24 Stunden – und es sollte nicht der letzte Rekord bleiben in diesem atemlosen Rennen um Leben und Tod.
  • 52. Tag 37 Ich sah Schutzmasken tragende Politiker und andere Menschen, die das Wort Mundschutz wörtlich nahmen. Sie bedeckten den Mund, ließen aber die Nase frei. Nur zum Sprechen nahmen sie die Schutzmaske ab.
  • 53. Tag 38 Ich sah und hörte Vögel ohne Unterlass zwitschern. Sie sorgten sich nicht darum, ob in diesem oder jenem Land die Arbeitslosenrate auf den höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs geklettert war.
  • 54. Tag 39 Ich sah ein reiches Land im Überfluss und doch gab es in diesem Land seit vier Wochen kein Mehl und keine Germ zu kaufen. Germ wurde auf dem Schwarzmarkt mittlerweile um den gleichen Preis wie Silber gehandelt.
  • 55. Tag 40 Ich sah Schuhe, die vom vielen Füße-im-Park-Vertreten staubig geworden waren. Regen fiel nicht.
  • 56.
  • 57. Wir drehen uns um und erinnern uns – der Toten und unser selbst. Die Überlebenden ergreifen die Hände der Toten und wir kehren wieder zum Leben zurück, zu dem, was unser Leben war und ist. Vi vänder oss om och minns – de döda och oss själva. De överlevande griper de dödas händer och vi återvänder till livet, det som var och är vårt liv. Cordelia Edvardson
  • 58. POST SCRIPTUM  ich sah den Ölpreis verrücktspielen  ich sah und hörte einen Erzbischof die Worte sprechen: „Wer glaubt, ist nicht allein.“  ich sah und hörte 80-jährige Frauen die ihnen angebotene Hilfe brüsk zurückweisen  ich las Berichte über Konditoreien, die Torten in Form von Toilettenpapier buken  ich sah Alte und Junge, die von ihrer Routine nicht abweichen wollten  ich sah Jugendliche auf Lampenmasten ihre Hilfe als „Einkaufsheld“ anbieten  ich sah eine Notiz über den Bankrott einer traditionsreichen Fleischerei, die auf Pferdefleisch spezialisiert war  ich sah ältere Menschen die Hilfe von Fremden dankbar annehmen  ich sah Kinder Danke-Plakate für die Mitarbeiter von Supermärkten aufhängen  ich sah den Stephansdom bis auf den letzten Platz gefüllt, jede Kirchenbank voll besetzt – mit den Fotos von Gläubigen  ich sah und hörte junge Männer sich über andere lustig machen, als diese versuchten Abstand zu halten  ich sah oder vielmehr hörte berichten über eine junge Frau, die eine ältere Frau auf der Straße ansprach und das eben gekaufte WC-Papier mit dieser teilte, weil sie sah, dass die Ältere im Supermarkt leer ausgegangen war  ich sah die Aktienmärkte einknicken und sich wieder erholen  ich sah Kindergärten Arbeitsblätter über E-Mail verschicken  ich sah die Polizei patrouillieren, immer in Gruppen zu viert oder fünft, ohne Schutzmasken, ohne Handschuhe, Schulter an Schulter  ich sah Menschen brüskiert darüber, dass sie als Berufstätige mit ihren 60 Jahren plötzlich zu bestimmten Zeiten im Supermarkt einkaufen sollten, und sich beklagen, dass sie als hilfsbedürftige Alte stigmatisiert wurden  ich sah Frauen sich in ihrem Home Office im roten Bikini und mit perfekt sich ergänzendem roten Nagellack auf dem Balkon sonnen und hörte keinen, der sich über sein Home Office-Dasein beschwerte  ich sah einen Vater und seinen Sohn ihr Tennistraining an der 100 Jahre alten Mauer einer Universität fortsetzen  ich sah und hörte Menschen noch mehr telefonieren, noch mehr fernsehen und das verbrauchte Datenvolumen sich vervielfachen  ich sah jüngere Männer ältere Menschen vor Supermärkten ansprechen und Desinfektionsmittel unter der Hand verkaufen  ich sah Kinder wieder auf Bäume klettern  ich sah Paketzusteller Stoßstange an Stoßstange durch die Straßen kriechen, unterbrochen nur von den Fahrrädern der Essenauslieferer. Diese beschwerten sich vermutlich nicht über geschlossene Sporteinrichtungen  ich sah Berichte über den neuen Tourismus zu Baumärkten in andere Bundesländer, die geöffnet hatten  ich sah zuhauf Menschen ihr Mahl draußen einnehmen. Aus Aluminiumnäpfen  ich sah vieles und sah noch mehr nicht.