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Von Städten und Menschen
Kurzgeschichten zur artgerechten Haltung
Paul Dominik Hasler
büro für utopien
Edition büro für utopien 2016
www.utopien.com
Titelbild von Eveline Hasler: Felice Città 2011
Skizzen von Paul Dominik Hasler
Die kristalline Stadt	 6
Was ist Dichte? 	 11
Die kleinen und die grossen Räume	 15
Die Zukunft des Automobils 	 19
Statt Land	 24
Nach den Strassen 	 27
Endstation Altersheim	 33
Wir bauen ein Gewerbegebiet	 37
Wieviel Grün erträgt die Stadt	 42
Neue Altstädte	 46
Ein Berg für Berlin	 51
6 7
Die kristalline Stadt
Aus jedem Impuls wird wohl irgendwann eine Struktur. Das
einzige, was uns davor bewahrt, auszuhärten, ist die Poesie
des Lebens, jenes Element des Verzückten, Verschmitzen,
Unverholenen, das uns innewohnt. Es manifestiert sich als
Humor, als Kunst, als Leidenschaft, als Spiritualität. Es könnte
sein, dass wir unsere Städte in eine Erstarrung haben fallen
lassen, die uns heute bedrückt.
Es ist nicht so, dass man per se lebendig ist. Irgendwie muss
man sich täglich neu erfinden, wenn auch in kleinen Dosen,
um nicht das Errungene zu verschütten und zu verlieren.
Dieses Neuerfinden ist eine Kunst, weil das Bestehende, Be­
kannte immer ein bisschen sinnvoller erscheint, als das noch
nicht Bekannte, das vielleicht Werdende. Es wundert daher
nicht, dass eine Gesellschaft, die sehr auf Effizienz bedacht
ist, diesem dauernden Neuerfinden skeptisch gegenüber­
steht. Denn es könnte ja sein –und es wird auch so sein, dass
man wertvolle Zeit verliert, weil man sich eventuell einer Er­
findung widmet, die nicht eintritt, nicht wichtig ist, nicht er­
folgreich ist oder schon längst erfunden wurde.
Der effiziente Mensch leidet darunter, dass seine Entwick­
lung ebenfalls effizient sein muss, was in vielen Fällen gleich­
bedeutend ist mit einer Aneinanderreihung von bereits er­
probten Modulen, die es zu beschaffen, zu verankern und
zu stapeln gilt. Das Leben besteht aus Qualifikationsschrit­
ten, Erfolgspunkten, Eignungsebenen und Gehaltsstufen.
Der Weg dazwischen ist linear oder möglichst linear. Dieses
Raster des kürzesten Weges oder des schnellsten Erfolges
prägt unser Leben, zumindest in der Theorie.
Städte sind gebaute Theorie. Es gibt keine praktische Stadt.
Sie ist immer schon da, wenn wir einziehen. Also kommt
die Praxis nachher, füllt diese Hohlräume der Theorie, reibt
sich an ihnen, wird von ihnen begrenzt, gelenkt, portioniert.
Würden wir zuerst leben und dann bauen, würden die Städ­
te anders aussehen, improvisiert, ergänzt, verziert, unlogisch
und teilweise auch ineffizient. Es wären Korallenriffe des
Alltäglichen, Aneinanderreihungen des Ähnlichen –aber nie
gleich. Sie wären unterbrochen durch Manifestationen des
Aussergewöhnlichen, das wir mit unserer Kultur erschlossen
haben: Plätze, Kirchen, Paläste, Deponien.
Die theoretische, geplante Stadt neigt zum Kristallinen. Sie
versucht das Reine, das Vollkommene abzubilden, das sich
durch die Mathematik ergibt: Der kürzesteWeg, die schnellste
Verbindung, die einfachste Bauform. Der Kristall ist die Effi­
zienz schlechthin. Kein Platz wird verschwendet. Er ist rein
und optimal. Und er ist tot.
Das Leben und das Optimale widersprechen sich. Solange
sich etwas bewegen kann, ist es suboptimal. Es verbraucht
Energie und Platz, stört die Ordnung, erfordert Flexibilität.
Lebendigkeit ist eine Herausforderung an jeden Planer, und
es darf nicht verwundern, dass mit fortschreitender plane­
rischer Perfektion die Lebendigkeit aus den Formen ver­
schwindet. Am Schluss resultiert die perfekte Maschine, die
Wohnmaschine, die Arbeitsmaschine, kristallin, klar und rein.
Sie zu bewohnen oder für die Arbeit zu nutzen gleicht einer
Verunreinigung, einem Sündenfall. Kein Wunder, tun sich die
kristallinen Städte mit dem Auto weniger schwer als mit dem
Menschen. Es ist ihnen ähnlicher als der irrationale Zappel­
philipp mit den zwei Beinen und den kaum voraussehbaren
Wünschen zwischen 17 Uhr abends und 8 Uhr morgens.
Die kristalline Stadt ist eine Absage an die Menschlich­
keit. Obwohl sie der Theorie des Lebens entspricht, möchte
sie sich der Praxis entziehen. Bereits der Veloparkplatz vor
dem Haus kann all das zerstören, was auf dem Reissbrett an
Klarheit mühsam errungen wurde. Nun ist es dahin. Auch
Balkone stören, wenn nicht jeder den gleichen haben will.
8 9
Oder Gärten, wenn sie nicht einheitlich bepflanzt, geschnit­
ten und bestuhlt werden. Überhaupt stört alles, was sich an
Buntheit, Vielfalt und Leichtsinn in und um die Häuser an­
sammelt. Es verstopft die Lichtbahnen des Kristalls, nimmt
ihm den Schneid, die Aussage, die Richtung, die er uns vor­
geben wollte.
Es gab eine Zeit, da sollte auch die Gesellschaft kristallin sein:
Wie aus einem Guss, eine Stimme, eine Kraft, eine Silhouette.
Es sollte die Manifestation des Gemeinsamen sein, der Effizi­
enz der Masse, der Kraft einer einzigen klaren Idee oder Ideo­
logie. Leider hat sich der Mensch als zu schwach für dieses
Modell erwiesen. Es fehlt ihm letztlich der Wille zur totalen
Einsicht, wenn er auch recht nahe an sie herankam, bevor sie
ihn vernichtete.
Das Totalitäre scheint überwunden, das Kristalline ist geblie­
ben.UnsereStädteliebäugelnimmernochmitdemplanbaren
Mensch, umwerben ihn mit sauber aufgereihten Appartment­
blocks, mit gefluchteten Balkonreihen, mit schnurgeraden
Strassenzügen und Baulinien bis in die Unendlichkeit. Noch
immer glaubt der Planer an die Rückkehr der Vernunft, viel­
leicht auch nur nachts, wenn alle schlafen.
Die kristalline Stadt wäre eine gelungene Episode in einer
Science-Fiction-Operette. In Realität ist sie eine Beleidigung
für die Seele. Kein Mensch ist gerade, und ein Haus, das dies
vorgibt, übergeht ihn. Eine Siedlung, die Menschen durch­
nummeriert und in der Höhe stapelt von eins bis sieben, ist
ein Hochregallager aber kein Ausdruck von Lebendigkeit. Nur
Menschen, die keine Energie haben, sich um ihre wahren
Bedürfnisse zu kümmern, wohnen hier. Sie sind der Illusion
erlegen, dass die Wände gerade sein dürfen, solange es bunt
und krumm aus dem Fernsehen kommt. Das Virtuelle quillt
als amorphe Masse aus dem Televisionsröhren und Glasfa­
serkabeln der Batteriehaltungsanlagen und verhöhnt den
Kristall, verhöhnt das effiziente Leben, die Natur und jede
10 11
Was ist Dichte?
Wenn wir uns der Dichte als kultureller Aufgabe annähern,
müssen wir aufpassen, dass uns dabei nicht die Lust vergeht.
Anders gesagt: Die Lust ist uns eigentlich schon lange ver­
gangen. Wir leben in einer Kultur der stilisierten Einsamkeit.
Nähe wird konsumiert im Sinne selektiver Interventionen.
Kino, Essen, Facebook, Shopping.
Wenn Nähe als selektiver Akt geführt wird, entsteht dabei
nicht Dichte sondern Parallelität. Viele Menschen tun etwas
Ähnliches zur gleichen Zeit. Sie interagieren nicht. Sie konsu­
mieren nur das Gleiche. Ihre Nähe ist nicht interaktiv.
Wenn wir Dichte auf der Basis von paralleler Nähe erzeugen,
gelangen wir zu kristallinen Strukturen. Man erhält eine Ord­
nung, einen Raster. Denn Parallelität ist am besten in einer
Struktur zu erreichen. Wohnsiedlungen sprechen die Sprache
von paralleler Nähe. Es ist eine niedrige Form von Nähe, eine
organisatorische.
Wenn wir von echter, menschlicher Nähe reden, verliert sich
die Parallelität; es beginnt das Chaos oder das Leben. Man in­
teressiert sich füreinander oder nimmt sich zumindest wahr
als Bezugspunkt. Die Aufmerksamkeit wird radial, die Vernet­
zungen räumlich und divers.
In der heutigen Zeit tun wir uns schwer mit Dichte. Der Segen
unserer Zivilisation oder unseres Wohlstandes ist die gerin­
ge Dichte. Man erwirbt Raum, man leistet sich Distanz. Man
kann sich entfalten. Man muss nicht Rücksicht nehmen. Man
kann sein, wie man ist. Diese Qualität wird bedroht durch die
zunehmende Dichte. Keiner will sie. Man will nur eine selek­
tive Nähe, keine generelle. Entsprechend organisiert man sich
in selektiven Strukturen: Hauseingänge, Tiefgaragen, Fitness­
clubs, Privatschulen.
Verbundenheit zu sich selbst. Der Kristall wird verklebt mit
der zähflüssigen Masse der Unterhaltung. Wir verbringen
täglich Stunden damit, uns innerlich vom Kristallinen abzu­
lenken.
Würde man unsere Städte als Synthese aus Ordnung und
Lebendigkeit bauen, käme ein Gemisch heraus, das wir schon
lange kennen. Es ist die lesbare Stadt, die mitlebende Stadt,
die verspielte, organische, erweiterbare und veränderbare
Stadt. Wir kennen sie am ehesten in den mittelalterlichen
Formen, die wie ein Korallenriff ein Miteinander und Ne­
beneinander gebildet haben. Ihre Formen sind amorph, ihre
Aussage trotzdem ornamental. Diese Stadt hat einen gemein­
samen Duktus, ohne den Einzelnen deswegen verleugnen zu
müssen. Man kann einen Balkon anbauen, nicht überall, aber
man kann. Man kann dieWäsche aufhängen, Pflanzen ziehen
und das Dach begrünen, sofern man Lust hat. Diese Stadt
erträgt das. Sie ist nicht das Prinzip, sie ist nur der Boden.
Sie ist nicht Struktur, sondern nur Grundlage. Sie ist nicht
Kristall, sondern nur Borke.
12 13
Die generelle Nähe ist uns verloren gegangen. Dorfplatz, All­
mend, Verein, Tanzabend. Wir sind es leid, zu müssen, und
ein Wollen haben wir noch nicht entwickelt. Wir warten nach
wie vor auf die Entspannung durch den Wohlstand. Schon
morgen könnte er kommen, noch einen Tag durchhalten. Wir
befinden uns in einer dauernden Transitionsphase hin zur
Entspannung, denken wir.
Die neue Nähe ist eine Utopie, ein unbekanntes Land. Wir
glauben nicht, dass Dichte erstrebenswert sein soll. Das kann
uns auch die Architektur nicht erzählen, am wenigsten mit
Strukturen, die lediglich Parallelität postulieren.
Ein neues Land erlebt man am besten als Tourist. Man muss
Dichte in Form von Reisen oder Experimenten kennen ler­
nen. Ein Stück weit tun wir das. Der Dorfplatz in Süditalien ist
schön, weil er voll ist, belebt, ein Gemeingut. Das Ferienlager
mit den Kindern ist vielleicht auch noch schön, wild und cha­
otisch, aber ein Ereignis.
Wir brauchen neue Geschichten zur Dichte. Diese müssen
an einem anderen Ort ansetzen als am weniger gewordenen
Raum. Sie müssen eine neue Magie entfalten. Der Autor P.M.
ist ein Meister dieser neuen Dichte. Er erzählte vor 30 Jahren
in «Bolo Bolo» eineVision der neuen Dichte. Heute ist er noch
einen Schritt weiter und erzählt vom Grand Hotel, in dem wir
wohnen könnten. Dichte als Mittel zum Luxus. Ein gewagter
Kunstgriff.
Aber vielleicht muss auch die Architektur neue Geschichten
von Dichte erzählen. Gelebte Dichte, nicht organisierte Dich­
te. Wir haben genug Organisation in unserem Leben.
Gelebte Dichte ist organisch, ist divers. Der Mensch ist ein Ni­
schentier, wie ein Krebs, wie eine Spinne. Er mag sein Schne­
ckenhaus. Aber er stellt es in die Nähe einer Lebensader, eines
Biotops. Man möchte teilhaben am Plätschern des Sozialen,
manche näher, andere weniger nah. Gemeinsam formt man
ein Korallenriff, eine Stadt, einen Raum.
Dichte wird dann lebbar, wenn sie garantierte Freiräume und
einen graduellen Übergang zur Interaktion bietet. Man sollte
nicht aus der Wohnungstür in die Öffentlichkeit stürzen. Die
italienischen Altstädte haben oft Aussentreppen, Loggien,
kleine Terrassen. Der Übergang wird inszeniert. Man kann in
Lauerstellung verharren, im Beobachtungsmodus, im philo­
sophischen Rückzug, kann mithören, sich zu erkennen geben
oder auch nicht.
14 15
Die kleinen und die grossen Räume
Sowohl ein echter Held wie auch ein echter Bösewicht residie­
ren in grossen Räumen. Das lehrt uns jeder Bond-Film. Auch
unsere Architektur- und Wohnmagazine zeigen, dass wahres
Leben erst bei Rauminhalten über 100 Kubikmetern entste­
hen kann. Alles andere ist spiessig.
Da die dargelegten Formate aber kein überzeugendes Rezept
für eine allgemeine Besiedelungstypologie bieten, stellt sich
die Frage, wie man trotz reduzierten Rauminhalten zu einem
vernünftigen Leben gelangen kann. Die generelle Antwort
der Vierzimmerwohnung mit Balkon kann nicht befriedigen.
Im Gegenteil: In genau diesen Formaten werden die meisten
Neurosen entwickelt, die meisten Frauen geschlagen und die
meisten soziotrivialen Zeitschriften gelesen. Es muss also
noch etwas anderes geben als die von Immobilienfonds ge­
stützte Vernunft als resignatives Sammelbecken räumlicher
Verwirklichung.
Befragt man gänzlich unabhängige Personen, nämlich Kinder,
zu ihren Raumwünschen, kommen interessante Thesen zuta­
ge: Das Grosse ist nicht so bedeutend, wie man vermuten wür­
de. Vielmehr ist das Kleine der Ort der Entfaltung. In Nischen
und Winkeln werden Geheimbünde geschlossen, werden
seltene Paninibilder getauscht oder Zigaretten für den Lehrer
mit Schwarzpulver gefüllt. Held und Bösewicht können also
auch anders. Es fragt sich nur, wie sie das im Detail machen.
Die kindlicheVerspieltheit scheint mit einer bisher unbekann­
ten architektonischen Komponente zu operieren. So wie die
Schwerkraft wahrscheinlich ihr Gegenüber in der Leichtkraft
hat, könnten kleine Räume auf eine Energie zurückgreifen,
die der klassischen Architektur bisher verborgen geblieben
ist oder zumindest nicht auf geeignete Weise hat wahrgenom­
men werden können. Nennen wir die gesuchte Komponente
Wir haben es weit gebracht in Sachen Ökologie. Wir wissen
von vielen Tieren, wie ihnen wohl ist, wie sie sich entfal­
ten. Beim Menschen sind wir unsicher. Täuschen wir uns?
Lassen wir uns irritieren durch den Fetisch des Privaten?
Ist das Einfamilienhaus eine artgerechte Lebensform? Wir
wissen es nicht. Die Balance zwischen Privatheit und
Öffentlichkeit ist nur die eine Ebene. Noch delikater ist
die Frage nach Freiheit und Zwang. Wir wiegen uns in der
Illusion, Zwänge eliminieren zu können und enden in der
44-Stunden-Woche. Wir sind traumatisiert und erleben
Zwänge als Verletzung unserer Integrität. So kann Dichte nie
gelingen.
Dichte ist eine Odyssee, ein Abenteuer, ein Spiel. Anders ist
sie nicht auszuhalten. Wer Menschen einfach näher zusam­
menschiebt, erntet Ratlosigkeit. Erst der soziale Raum stiftet
Sinn, und dieser stützt sich auf eine Kultur der Dichte, die uns
leider fehlt. Wir sind Anfänger und könnten viel lernen von
Kulturen, die Dichte aus Leere erzeugen, nicht aus Überfluss
wie wir. Wer keine Arbeit hat, kreiert zumindest einen Ort, wo
er zusammen mit anderen auf bessere Zeiten warten kann.
Diese Fähigkeit fehlt uns. Wir haben keine Zeit zu warten.
Dichte ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Die oberste Raumplanerin der Schweiz, Maria Lezzi, be­
schrieb an einem Symposium ihre Wohnsituation: Ein Rei­
henhaus in Basel, vorbildlich dicht, draussen ein gemeinsa­
mer Raum, eine Quartierstrasse, um sich zu begegnen. Nur
ist sie als Chefbeamtin nie da. Wenn sie nach Hause kommt,
sind alle schon im Bett. Der «Dorfplatz» ist leer, die Kinder
schlafen.Wie soll Dichte entstehen, wenn die Menschen dazu
fehlen? Wie wollen wir einen gemeinsamen Raum kreieren,
wenn keiner Zeit hat? Wie sollen neue Geschichten beginnen,
wenn schon der Prolog keinen Platz hat in unseren überfüll­
ten Agenden?
Sind wir zu reich, um uns zu verdichten?
16 17
heuristische Beweis der Kleinkraft sein dürfte. Noch aber ist
man nicht soweit.
Versuche in besagten Experimentalstrukturen haben des wei­
teren ergeben, dass Badezimmer mit zwei bis drei Quadrat­
metern Grundfläche die besten Badeergebnisse bei gleich­
bleibender Sauberkeitswirkung liefern, dabei aber mehr
Schaum und eine viel schneller sich einstellende Raumtem­
peratur erzeugen. Bei fachmännischem Einsatz der Brause
kann gar der ganze Raum mit Schaum gefüllt werden, was bei
den Probanden als überaus erheiterndes Badeerlebnis, auch
mit mehreren Personen, beschrieben wird.
Ähnliche Ergebnisse liessen sich in Studierzimmern beob­
achten, die im Wohnzimmer an der Decke über dem Esstisch
mit dem Eckbank angebracht wurden. Sie sind über eine Lei­
ter zugänglich und bieten ein Fenster auf den Sofabereich,
was ihnen genau jenes Flair verleiht, welches nachweislich
die besten literarischen Kriminalromane entstehen lässt. In
einer Nische in der Wand wird eine kleine aber feine Auswahl
an Obst- oder Kornbränden samt zwei Schwenkern unterge­
bracht. Kinder werden dank hochziehbarer Vertikalverbin­
dung erfolgreich am Zugriff auf nicht auf sie zugeschnittene
Text- und Bildinhalte in ebendiesem Studierzimmer gehin­
dert.
Nachdem die Raumhöhe im Gesamten generös ist, wird man
es nicht unterlassen, das Wohnzimmer mit der bekannter­
massen glückbringenden Panoramascheibe auszustatten.
Diese erlaubt einen Blick zum Himmel oder zu den spielen­
den Kindern im Garten, die sich jederzeit durch den Geheim­
gang aus der Speisekammer dorthin schleichen können. Der
Wohnraum ist somit ausgestattet mit lokaler Grosskraft, was
der internen Balance der ganzen Wohnung überaus zuträg­
lich ist. Schliesslich hat niemand behauptet, dass wir fortan
wieder in Wohnwagen oder Ähnlichem hausen möchten.
fortan «Kleinkraft» und stellen sie in Opposition zur bereits
bestens bekannten und eingangs geschilderten Grosskraft.
Die Entwicklung dieser Kleinkraft könnte für die Architektur
eine interessante Ausgangslage bei der Lösung zukünftiger
Raumaufgaben darstellen. Kleinkraft-unterstützte Entwürfe
würden bei gleichem Flächenmass oder Rauminhalt deut­
lich weniger beengend wirken. Sie würden sehr viel seltener
zu besagten Neurosen und Auswüchsen führen. Sie würden
Menschen mit durchschnittlichem Karma zu erstaunlichen
Biographien verhelfen. Sie würden mittelgrosse Räume grös­
ser erscheinen lassen und so die Grosskraft wieder zu ihrer
eigentlichen Wirkung zurückführen, die sie durch besagte
Raumorgien gewissenloser Architekten verloren hat.
ErsteLaborversuchemitderKleinkraftweisenaufinteressante
Erkenntnisse hin. So hat sich gezeigt, dass die übliche Raum­
höhe von ca. 2.40m reichlich untauglich ist für die Entfaltung
von Kleinkraft. Sie scheint eine Art negatives Optimum darzu­
stellen, eigentlich die schlechtestmögliche Ausgangslage, um
Kleinkraftwirkungen entfalten zu lassen. Bereits eine Decken­
höhe von 3.20m oder 3.50m bietet ganz andere Möglichkei­
ten. Hier werden Schlafräume zu halb­hohen Kuschelnischen,
Badewannen in den Boden eingelassen (wo sie unten in der
Speisekammer wieder herausschauen) und Kinderzimmer
mit Geheimlogen versehen, die Erwachsene erfolgreich an ih­
rer sektiererischen Aufklärungsarbeit zugunsten vonVernunft
und Disziplin hindern.
Die Verschachtelung von zwei Ebenen auf einer Etage ist eine
der Schlüsselkomponenten zur Aktivierung von Kleinkraft.
Nun ist es nicht so, dass dabei zwei Etagen von jeweils 1.60m
resultieren würden, was nur gänzlich orthogonal verdorbene
Menschen zu vermuten wagen. Aus der Verschränkung der
Ebenen ergeben sich neue Raumbezüge und Teilhöhen, die in
der Summe ein Anwachsen des gefühlten Raumes bei gleich­
bleibendem Raumhinhalt erzeugen, was nichts weiter als der
18 19
Die Zukunft des Automobils
Das Auto bietet genau das, was wir wollen, auf eine Weise, wie
wir es genau nicht wollen.
Wer gelegentlich Automagazine liest oder dem motorisierten
Haustier nicht ganz abgeneigt ist, weiss, wieviel Liebe immer
noch in dieses kleine Monster investiert wird. Zwar mögen
wir alle seinen wilden, ungezähmten Charakter, besingen ihn
auf unzähligen Werbeplakaten und in Filmsequenzen, aber
im Grunde genommen ist das Auto ein Mitbewohner mit so
schlechten Manieren, dass wir ihm unsere Liebe eigentlich
künden müssten.
Dass wir es nicht tun oder noch nicht tun, hängt mit der Visi­
onslosigkeit zusammen, die uns gelegentlich beherrscht. Wir
haben zu viel Alltag und zu wenig Ausblick.Vielleicht hängt es
auch ein wenig mit der Inbrunst zusammen, wie eine globale
Industrie ihrem Baby immer wieder neue Jugendlichkeit ein­
haucht, obwohl es mittlerweile ein Greis ist, hundertjährig,
und aus einer Zeit stammend, in der man noch zu Marsch­
musik stramm stand.
Das Auto ist ein Relikt, auch wenn es uns jeden Tag ein gu­
tes Stück Modernität bietet. Wer seinen Charakter genau­
er studiert, lernt das Grauen: Das Auto hat in seiner kurzen
Geschichte wohl mehr Menschen umgebracht als der zweite
Weltkrieg, und jedes Jahr werden es 1,2 Millionen mehr. Diese
Zahl ist so monströs, dass die meisten Menschen sie gar nicht
glauben mögen. Bürgerkriege nehmen sich dagegen wie Ba­
gatellen aus.
Die Sündenliste aber ist viel länger: Luftverschmutzung, Ver­
seuchung der Böden, Vergiftung der Atmosphäre mit Russ
und Feinstaub, Zerstörung unserer Städte und Lebensumfel­
der durch Lärm, Gestank und tödliche Gefahr. Die Zersiede­
Wer nun glaubt, in besagter Experimentalwohnung mit dem
Helm unterwegs sein zu müssen, irrt sich glücklicherwei­
se. Die Verschachtelung von gross und klein, von hoch und
niedrig, von geheim und öffentlich führt zu einem sprung­
haften Anstieg der habtisch-motorischen Fähigkeiten der
Bewohnenden. Sie entwickeln eine natürliche Gabe, wieder
auf ihre Umgebung einzugehen, nachdem bei Bewohnen­
den von Normgeschossen nachweislich eine langsame kör­
perliche Verblödung bis hin zur taktilen Desorientierung hat
festgestellt werden müssen, die meist nur mit intensiven Rau­
fasertherapien zu mildern ist.
Die Kleinkraft scheint also eine der grössten Spielräume und
Raumreserven darzustellen, die sich der Architektur derzeit
bietet. Man spricht vom neuen Megatrend. Bereits haben ers­
te Kinder Lehrstühle für Architektur angeboten bekommen.
Eine Wolldeckenburg, die anlässlich eines Symposiums ge­
baut wurde, soll für eine halbe Million Dollar an einen grossen
Immobilienfonds verkauft worden sein. Und in einer finni­
schen Kleinstadt haben zwei Zwölfjährige ein Baumhaus der­
art umgestaltet, dass es sich grösser anfühlte als die 5-Zimmer
Wohnung der Eltern im nahegelegenen Plattenbau. All dies
lässt aufhorchen und kritisch werden beim Betrachten von
architektonischen Hochglanzmagazinen und tendenziösen
Agentenfilmen.
20 21
Trennt man die beiden Funktionen Spass und Nutzen, erken­
nen wir mehr Möglichkeiten. Die Benzinromantik lässt sich
in einem Freizeitpark ausleben, gepaart mit Eiskrembuden
und Publikum. Das klassische Auto wird zu einem Luxusgerät
wie sein Vorgänger, das Pferd, das man sich auf einer abge­
sperrten Piste hält. Wir werden sie feiern, die Helden unsere
Jugend, samt ihren Spoilern und Vierfachvergasern. Viermal
im Jahr werden wir einen Autosonntag machen, samt Abga­
sen und Motorengeheul. Aber all das hat nichts mehr mit Mo­
bilität zu tun.
Fragt man nach dem Destillat der zukünftigen Mobilität,
erhält man selbstfahrende Kabinen, die geräuschlos herum­
gleiten, Leute ein- und ausladen und sich diskret verkrümeln,
bis man sie wieder ruft. EbendieseTechnik scheint in­zwischen
greifbar nahe. Sollen wir uns damit zufrieden geben? –Nein.
Denn auch die knuffigsten Kabinen sind ein Ärgernis, eine
Blechlawine, ein Stau in Raten. Sie bieten zwar eine erheblich
gesteigerte Effizienz, sie sind aber immer noch ein Fremdkör­
per in einer Lebensumwelt, die mit ihnen nichts zu schaffen
haben will. Wir wollen Mobilität und nicht Autos.
Wenn man an die Lebensweise der Zukunft oder an die Stadt
der Zukunft denkt, merkt man, dass es keinen Platz mehr hat
für Autos, egal welcher Art. Das Leben ist schlicht zu span­
nend, um es sich mit Autos zu teilen. Also braucht es eine
bessere Lösung. Diese setzt am erwähnten Punkt an: selbst­
fahrende, flexibel einsetzbare Kabinen, die sich zusammen
mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Gesamtlösung
vernetzen. Man ist also nicht Kunde eines Autos sondern Be­
steller eines Mobilitätswunsches, der je nach Angebot über
unterschiedlicheVerkehrmittel abgewickelt wird. Je nach Prä­
ferenz kann das mehr oder weniger Komfort umfassen.
Richtig gut aber wird das System erst dann, wenn es uns nicht
mehr belästigt. Dies wird eintreten, wenn die Fahrzeuge nicht
mehr unseren Lebensraum brauchen für ihre Fortbewegung.
lung, die das Automobil in dieWelt gebracht hat, ist äusserlich
und innerlich verheerend. Wir sind uns durch das Auto nicht
nur näher gekommen, sondern auch fremd geworden. Es hat
die Gesellschaft von innen her zerrissen.
Wenn man heute von Elektroantrieb und sauberen Autos
spricht, ignoriert man, dass diese gar keinen Wandel bringen
werden. Sie werden nichts an der Aussage ändern, dass die
Zeit für Autos eigentlich vorbei ist. Sie lenken davon ab, dass
es eigentlich etwas ganz anderes bräuchte, als ein weiteres
Auto, nämlich eine Art von Mobilität, die zwar alles kann, was
ein Auto bietet, seine schlechten Sitten aber nicht erbt.
Das Auto der Zukunft soll leise sein, niemanden töten und
drangsalieren, unsere Siedlungsräume in Ruhe lassen, wenig
Energie brauchen und uns trotzdem jederzeit überall hinfah­
ren, oder zumindest in die Nähe. Wer jetzt spontan «ÖV» sagt,
ist ebenso von gestern, wie die Viertaktfanatiker unter uns.
Auch der ÖV ist hundert Jahre alt und eine Art Zwangssozia­
lismus der Fortbewegung. So richtig es sein kann, da und dort
den Zug zu nehmen, so übertrieben ist die Forderung, den
ersten Schritt in die Mobilitätszukunft mit demWarten an der
Bushaltestelle zu beginnen.
Will man dem Phänomen Auto auf die Schliche kommen,
muss man seine Konzeption freilegen wie eine Artischo­
cke. Am Schluss bleibt der Fahrwunsch, umhüllt mit einem
Bouquet an Komfort- und Geltungsbedürfnissen. Diese irra­
tionale Paarung von Mobilität und Status verhinderte bisher
eine Weiterentwicklung des Autos. Immer musste es nützlich
und sexy sein, Heilige und Hure zugleich. Das erklärt, dass der
Tesla bisher die logische Antwort auf die Frage nach der Zu­
kunft des Automobils darstellt, ein Widerspruch auf hohem
Niveau. Wir liegen einem automobilen «Double-Bind» auf,
den wir nicht lösen können. Wir können nicht mit dem Auto
ins Bett.
22 23
Tun sie es trotzdem, weil sie uns vor der Haustüre absetzen
möchten, gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 25km/h. Alles
was schneller ist, bedroht uns. Das bedeutet, dass das Auto
der Zukunft überaus langsam ist. Das mag im Moment etwas
enttäuschen, nachdem wir uns so lange den PS-Zahlen und
Breitreifen hingegeben haben.
Ausserhalb des Siedlungsgebietes darf es schneller fahren,
dafür aber nicht mehr am Boden. Die Erdoberfläche ist zu
wichtig, als dass wir sie durch Strassen zerschnitten haben
möchten. Zudem gilt auch hier die Maxime der Gefährdungs­
freiheit. Dies bewirkt, dass die Autos an einer Art Förderband
hängen, an welchem sie über Land gleiten. Dieses Trans­
portsystem ist vergleichbar mit einem Skilift, funktioniert als
Hochbahn und vermag die Autos während der Fahrt aufzula­
den. Diese Hochbahnen wären tendenziell dort angelegt, wo
heute Kantonsstrassen oder Autobahnen verlaufen. Man wür­
de also eine Verschandelung der Landschaft zugunsten einer
Befreiung von Lärm, Gefährdung und Trennwirkung bekom­
men. Ein bisschen abwägen werden wir also müssen.
Indem das Auto aus eigener Kraft nicht mehr schnell und weit
fahren muss, wird es plötzlich leicht und flexibel. Die weni­
gen Kilometer, die es autonom fährt, bedingen nur eine klei­
ne Batterie. Und die 25km/h lassen eine platzsparende Form
ohne Knautschzone und Tropfenform zu. Mehr als 80km/h
fahren die Dinger auch an der Hochschiene nicht. Schliess­
lich will man nichts von ihnen hören. So flüstern sie denn
über die Landschaft, lassen darunter freien Raum für Mensch,
Tier und Pflanze. Gelegentlich tönt ein sanftes Quietschen der
Gummiräder nach unten, wo man Velo fährt oder Rilke liest.
Irgendwann wird man sich zurückbesinnen und den Kopf
schütteln, wie man so lange Zeit mit einemVerkehrsmittel zu­
sammenleben konnte, das gar nicht zu uns passte. Aber es ist
wie mit allen Beziehungen: Die Liebe wandelt sich.
24 25
die Pedicure und der Hundesalon. Auch der Einkauf ist in
der Stadt besser, weil die auf dem Land ja keine Ahnung ha­
ben. Die Milch ist zu fettig, das Brot zu brötig und der Kaffee
untrinkbar. Im Dorfladen haben sie weder glutenfreies Müesli
noch Mandeln aus fairer Bodenhaltung. Und die Dorfgarage
kann mit ihrem veralteten Analysestecker nicht einmal einen
platten Reifen beim Lexus Hybrid GT diagnostizieren.
Die neuen Landmenschen sind wie die alten Landmenschen
echte Macher. Sie lassen sich von solchen Problemchen nicht
beirren. Ein echter Landmensch nimmt das Heft in die Hand.
Man organisiert sich, steht zusammen, zum Beispiel im Stau
Richtung Stadt. Dort holt man sich, was auf dem Land fehlt,
nämlich alles. Und weil die Städter zu dumm sind, ihre Stadt
verkehrstechnisch ordentlich auf Vordermann zu bringen,
muss auch hier der Landmensch Nägel mit Köpfen machen.
Er nimmt sich das Beste der Stadt und packt es in eine gut
erreichbare Kiste auf halbem Weg. Supermarkt, Kino und
Kegelbahn sind nun für alle erreichbar, nicht nur für die
Velofundis. Diese Art der Demokratisierung der Mobilität
war längst überfällig und musste einmal mehr vom Land
kommen, weil den Städtern jede praktische Gabe abhanden
gekommen ist.
Aber auch auf dem Land sorgen die neuen Landmenschen für
Fortschritt. Die alten Landmenschen nehmen sich ein Bei­
spiel und fahren nun auch zum Supermarkt am Stadtrand,
um sich mit allem einzudecken, was man auf dem Land so
braucht: UHT-Milch und Fertigpizza im Multipack. Aus dem
Blickwinkel der Landmenschen ist das schlicht praktisch.
Und weil das Praktische zum Land gehört, sind all die Raum­
planungsnörgler und Verkehrshysteriker lebensfremde Theo­
retiker. Der Stau ist schliesslich in der Stadt und nicht auf dem
Land. Das beweist doch alles.
Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Mit den städtischen
Annehmlichkeiten tragen die Landmenschen aber auch die
Statt Land
Wer hat etwas gegen das Land? Wohl niemand. Das Land ist
der Hort des Unberührten, der heilen Welt, der Natur und
Landschaft. Hier wohnen die Gutmenschen, die uns mit Nah­
rung versorgen und die Felder bestellen. Neuerdings pflegen
sie auch die Landschaft und streicheln die Tiere.
Unter die alten Landmenschen haben sich in letzter Zeit neue
Landmenschen gemischt. Sie gleichen den ersten, tragen
auch Karohemden und wohnen in Bauernhäusern oder der­
gleichen. Eigentlich aber sind es Städter oder Pseudostädter,
die sich hier eingenistet haben, um dem Land zu huldigen,
bzw. dem, was sie für das Land halten. Denn das Land, das
merken wir nun schmerzlich, wurde in keiner Norm festge­
halten und auch nicht patentiert. Man kann es nach seinem
Gusto abwandeln, umdeuten und neu interpretieren.
So kommt es, dass neuerdings Einfamilienhaussiedlungen
auch als Land gelten. Doppelgaragen und Roboterrasenmä­
her ebenfalls. Und Kinder, die jeden Morgen mit dem SUV
(Sonderbar übertriebenes Fahrzeug) in die Schule gebracht
werden auch. Es sind eben Landkinder. Und weil es allen so
gut geht auf dem Land, ist das Landleben gesund, erspriess­
lich und sozial erstrebenswert. Hier atmet man noch reine
Luft, gerade auch ideologisch. Man muss sich nicht mit den
geistigen Verunreinigungen der Stadt abgeben. Man muss
nicht jede Mode und jeden Gag wie Flüchtlinge oder Drogen
mitmachen. Man ist noch dem Echten, dem Wahren verbun­
den. Dafür steht man auch ein.
Schade nur, ist die Stadt so weit weg. Sie ist zwar Inbegriff für
einen gescheiterten Lebensansatz (Dreck und Lärm überall),
bietet aber so manches, das bei näherer Betrachtung nützlich
ist, z.B. einen Job oder eine Schule für die heranwachsenden
Kinder. Auch das Basketballtraining ist in der Stadt, ebenso
26 27
Nach den Strassen
Städte sind bauliche Inselgruppen im Verkehrsmeer. Die
Struktur der Strassen gibt die Stadt vor, dazwischen kann man
bauen, umbauen und abreissen. Die Strassen bleiben. Diese
Logik dauert nun schon eine Weile an. Spätestens mit dem
Automobil ist sie zur Normalität geworden. Zuvor war die
Strasse mehr eine Zierde, ein städtebaulicher Wille oder eine
Anlage. Immerhin brauchte es Jahrhunderte lang keine Stras­
sen sondern nur Gassen.
Dass wir heute notgedrungen mit Strassen leben, ist eine
Bankrotterklärung an uns selber. Wir, die wir glauben, die Be­
wohner der Stadt zu sein, müssen eingestehen, dass es einen
wichtigeren Mitbewohner gibt, der mehr Platz einnimmt, uns
tyrannisiert und uns die Areale zuweist, in denen wir leben
können, nachdem er sich seine Bereiche herausgenommen
hat. Wer immer die Frechheit hat, ungefragt in den Bereich
des Mitbewohners Auto einzudringen, wird bestenfalls an­
gehupt, im schlechteren Fall totgefahren. Die Beiläufigkeit
des Tödlichen hat etwas Groteskes in einer Umgebung, die
eigentlich dem Leben gewidmet ist. Trotzdem nimmt der Ver­
kehr zu, auch bei uns. Und würden gewisse Städte nicht ab­
sichtlich Autos schikanieren, wäre es noch viel schneller vor­
wärts gegangen mit der blechernen Vereinnahmung.
Das Auto bestimmt die Wohnlage. Entlang der befahrenen
Achsen sind die Mieten billiger, die Menschen dümmer und
die Kinder dicker. Hier wohnt man, wenn man von unten
kommt oder unten bleiben muss. Alle, die können, fliehen
vor dem Verkehr, den sie täglich miterzeugen. Am besten ha­
ben es die am Hügel, welche sich von den Strassen absetzen
können, geschützt durch ein paar Höhenlinien und etwas
Grün. Abends öffnet sich das automatische Tor, durch wel­
ches das Automobil (Tesla Model S) unschuldig hereinsummt
und suggeriert, dass alles in Ordnung ist.
städtischen Krankheiten aufs Land hinaus. Plötzlich gibt
es den ersten Verkehrstoten, und das mitten im Dorf. Der
Sohn des Nachbarn nehme Drogen, sagt man, glücklicher­
weise aber in der Stadt. Auch die Schliessung des Dorfladens
ist ein Schock. Zwar ist seit Urzeiten niemand mehr dort ein­
kaufen gewesen, aber gleich zu schliessen, ist nicht die Art des
Landes.
So langsam ist das Land nicht mehr das Land von früher. Das
merken die Landmenschen. Es sind zu viele unechte hierher
gezogen. Der ganze Hang ist voll mit ihnen, und es sollen
noch mehr kommen, dem tiefen Steuerfuss wegen. Unten auf
der Kantonsstrasse wird ein Kreisel entstehen. Und im Nach­
bardorf will man endlich die Umfahrung, weil man von den
Landmenschen endgültig die Schnauze voll hat.
Es ist eng geworden auf dem Land. Vorschriften überall, Bau­
visiere stehen, Tiere müssen an die Leine, Parkverbote schika­
nieren Bürger. Manch einer denkt sich, dass er bald ausziehen
und gehen wird, irgendwo aufs Land.
28 29
wo man sich als Mensch wohl fühlt? Und was genau soll man
auf diesen Strassen machen, wenn keine Autos mehr fahren?
Natürlich ergreifen wir Partei für Prachtsstrassen wie eine
Champs Elisée.Wir lieben die Menschenmassen, die an Sonn­
tagen auf ihnen flanieren, am liebsten in Art Déco-Kostümen.
Aber diese Strassen sind selten, ja geradezu die Ausnahme.
95% der Strassen sind banal, Zweckbauten, Verbindungs­
achsen. Nimmt man ihnen den Verkehr weg, tritt die ganze
Tristesse zu Tage. Man kann sie als Filmdécor für lebensmüde
Nachtstreuner oder verliebte Hunde verwenden. Als Lebens­
raum sind sie überaus befremdlich. Der Mensch fühlt sich
darin verloren, ausgestellt und lächerlich gemacht.
Die Parkstrasse ist wohl der erste Impuls, der uns erreicht. Das
Grün erlöst uns vom bohrenden Blick des Graus. DerTeer wird
aufgebrochen, durchstossen, bepflanzt und beblumt. Damit
gewinnt man lauschige Gartenanlagen, welche sich durch die
Stadt ziehen. Das ist hübsch, lädt zum Flanieren und zum Ve­
lofahren, –ein Verkehrsmittel, das alle Veränderungen überle­
ben wird.
Denken wir aber an eine Wehntalerstrasse oder an eine
Schaffhauserstrasse in Zürich, kommt die Frage auf, ob denn
so viel Park und Flanage Sinn macht. Immerhin sind wir nicht
dauernd schwanger und brauchen Auslauf. In den meisten
Fällen reichen schöne Fuss- und Radwege. Diese brauchen
wenig Platz. Was also machen wir mit der vielen Fläche?
Während Obelix seine sofortwachsenden Wundereicheln
werfen konnte, braucht es bei uns etwas länger, um eine
Struktur anzudenken, die in diese städtischen Zwischenräu­
me passen könnte. Nach kurzem Überlegen merken wir aber:
Zwischen der heutigen Stadt könnte nochmals eine Stadt ent­
stehen. All die Zwischenräume, die unnatürlich aufgeweitet
wurden durch unseren blechernen Mitbewohner, könnten
ins menschliche Mass zurückgeholt werden. Unsere Geh­wege
brauchen 2 Meter Breite, kombinierte Rad- und Gehwege viel­
Das Auto wird zur tragischen Notwendigkeit in einem dyna­
mischen Lebensumfeld emporstilisiert. Der Kampf ums wirt­
schaftliche Überleben erfordert diese Art Mobilität, die Opfer
mögen es verzeihen. Erst der wirtschaftliche Endsieg könnte
uns dazu bewegen, über menschenfreundlichere Verkehrs­
mittel nachzudenken. Im Moment ist dies unmöglich, da
die Konkurrenz zu stark ist, um in irgendeiner Richtung eine
Pause einzulegen. Die Lage ist zu ernst, um über Verkehrs­
opfer zu reden. Rettungswesen, Unfallchirurgie und Para­
plegikerzentren kümmern sich um die Opfer. Man lässt sie
nicht am Strassenrand verfaulen wie in Indien. Wer bei uns
im Kampf um die wirtschaftliche Prosperität fällt, kann auf
ein sauber geputztes Spitalzimmer hoffen. Kinder bekommen
noch einen Teddybären dazu.
Ob der wirtschaftliche Endsieg und der finale Wohlstand je
eintreten, darf bezweifelt werden. Der Kampf ums Überleben
ist zu spannend, als dass wir ihn einfach so hergeben würden.
Zudem haben wir keine Kultur des spielerischen Zusammen­
seins entwickelt. Was also sollten wir tun, wenn der Wecker
um halb sieben nicht mehr klingelt?
Trotzdem könnte es sein, dass wir eines Tages ohne Auto aus­
kommen. Noch kann man es sich nicht vorstellen, erschöpft
sich die Phantasie in neuen Antriebssystemen oder Rückfahr­
kameras. Und doch könnte es sein, dass wir aus verschiede­
nen Überlegungen zu Lösungen kommen, die keine Strassen
mehr im heutigen Sinn erfordern. Man würde also seine Mo­
bilität auf andereWeise abdecken, bequem, entspannt, sicher.
Man würde den Erdboden in Ruhe lassen, weil da Menschen
leben möchten. Spätestens dann würde sich die Frage stellen,
was wir mit unseren Strassen anfangen.
Es ist nichts Falsches an Strassen. Ihr Problem ist ihre Dimen­
sion und ihre Arroganz. Sie passen sehr gut in die Kasernen­
architektur der letzten 150 Jahre. Aber sind sie wirklich ein Ort,
30 31
32 33
Endstation Altersheim
Sie kennen es: Man geht seine Verwandten besuchen. Ein
Altersheim am Rande einer Kleinstadt, sittsam ins Grün
platziert, ein Parkplatz, eine formvolle Hecke, ein Blumen­
beet. Danach beginnt das Grauen. Niemand wollte es so, und
doch findet es immer wieder statt: Ein Haus voller Gestran­
deter, versorgt in Einzelzimmern, aufgereiht an langen, ge­
bohnerten Fluren. Man sieht sie herumschlurfen, das Gesicht
eingerollt in ihr Schicksal, die Aufmerksamkeit auf das Weni­
ge gerichtet, das noch zu ihnen durchdringt. Es ist ein Laza­
rett der Verlorenen, ein Abstellgleis der Ausgemusterten, eine
architektonische Euthanasie. Um 17.30Uhr gibt‘s das Abend­
essen, wer kann, gelangt bis in den Speisesaal, die anderen
bekommen es aufs Zimmer.
Niemand wird behaupten, dass man sich aufs Altersheim
oder Pflegeheim freut. Es ist eine Lösung, wenn es sonst kei­
ne Lösung mehr gibt, eine Lösung für das Unlösbare. Man
wird dem Schicksal ausgeliefert, hygienisch verwahrt, sittsam
begleitet beim letzten Gang ins Nirgendwo. Und auch wenn
all die Menschen Grossartiges leisten, die dort arbeiten und
wirken, muss doch die Frage gestellt werden: Gäbe es nicht
eine Architektur, die diesem Lebensabschnitt näher käme als
das Modell der Entsorgung auf hohem technischem Niveau?
Nachdem ich nicht wirklich alt bin, folgt nun eine Kaskade
des Spekulativen, dem man jederzeit innerlich entgegentre­
ten darf. Fragt man sich aber selber, wie man denn gerne alt
würde, tauchen mannigfaltige Bilder auf, die man mit räumli­
chen Eindrücken kombinieren kann: Der Tee am Kamin­feuer,
die Aussicht auf den See, das Kartenspiel mit den anderen
„Jungs“, der Filmabend für Schwerhörige samt Popcorn und
Nummerngirl oder der Gang in den Garten, wo Himbeeren
und Boskop in den Weg hineinragen.
leicht 5 Meter. Damit bleibt viel Platz in jedem Strassenraum.
Dazu kommen leer stehende Parkplätze in Hülle und Fülle,
ein richtiges Fest der Freiräume. Bedenkt man ferner, dass
man auf 6 Metern Tiefe ein schönes Zuhause bauen kann,
wird klar, was sich nach und nach präsentiert: Die Stadt 3.0.
Es könnte also einen Städtebau der Ritze geben. Einen, der
sich ungeachtet der bereits bestehenden Architektur an die
Nachverdichtung macht. Da die verfügbaren Flächen schmal
und bandartig sind, wäre es eine zierliche Architektur, die
sich hier manifestieren würde, also eine Art Reihenhaustypus,
ohne aber dessen Würfelzuckerstereotypie (und die daraus
resultierende Kleinbürgerdiabetes) wiederholen zu müssen.
Man könnte im Gegenteil eine Art neue Altstadt zwischen die
grossen Formen und Flächen setzen, die sich mit Gassenräu­
men zu den Nachbarflächen hin verbindet. Auf etwa zwei bis
drei Stockwerken könnte viel Lebensqualität entstehen. Die
Dachflächen wären die privaten Aussenräume, «Zahnlücken»
zwischen den Häusern würden kleine Rückzugsorte oder
Pflanzflächen bieten.
Es gibt keinen Grund, warum diese neue Stadtfüllung das
Strenge und Stereotype der alten Stadt übernehmen muss. Es
reicht, wenn man die schmalen Parzellenketten in den ehe­
maligen Strassenräumen den einzelnen Bauwilligen über­
lässt. Viel wichtiger ist es, ihnen die Bereitschaft zur sozialen
Dichte abzuverlangen. Stadt ist, wenn man zusammen lebt.
Nicht die Häuser sind in der Pflicht, sondern wir selber. Es ist
unsere Lust auf Dichte, die kultiviert werden muss. Dichte ist
zu wertvoll, um sie der Architektur zu überlassen.
Im Kontrast zu den schachbrettartigen Klingelschildern der
Nachbarn wäre hier eine kleine, lockere Gemeinschaft zu­
hause, wo die Kinder sich draussen austoben und die Alten
Halma spielen und Bohnen rüsten, mit oder ohne wirtschaft­
lichen Endsieg.
34 35
hat ein englisches Pub, ein französisches Bistro und einen
Stammtisch, an dem Karten gespielt werden. Für die Raucher
bietet sich eine Raucherecke, für Damen eine Strickecke, da­
neben eine Bibliothek mit einem Angebot an Büchern und
Filmen, dazu abendlich eine Vorleserunde mit Freiwilligen
aus dem Heim oder von auswärts.
Altsein ist in meinerVorstellung wie Jungsein, aber langsamer,
direkter. Während man früher nach Rio flog, hat man nun Rio
in sich drin und will es gerne teilen. Die neuen Alten sind
voller Eindrücke und voller Geschichten und brauchen eine
Umgebung, in der diese anklingen dürfen. Der Sandstrand ist
das Sofa am Kamin, der Caipirinha dampft aus dem Teekrug
und die Augen der lächelnden Pflegerin erzählen von lauen
Nächten im Hafenviertel.
Für all das braucht es Räume, braucht es Orte, sowohl für
das Gemeinsame wie auch das Private. Weil aber die Welt in
einem Gebäude stattfinden muss, muss das Gebäude wie eine
Welt sein. Es soll keine Anstalt oder ein Hotel sein, sondern
ein kleines Universum, das mannigfaltige Geschichten zum
Leben bringen kann, subtil, dosierbar, zugänglich.
Mein Altersheim wäre um einen Marktplatz herum gebaut.
Der Marktplatz wäre wie eine Halle im Grandhotel, überdacht,
umringt von den Galerien, und einer umlaufenden Estrade,
von welcher aus die Zimmer zugänglich wären. Diese Arena
böte auf zwei oder drei Ebenen die Möglichkeit, am Gesche­
hen auf dem Marktplatz teilzunehmen, direkt oder indirekt,
indem man von oben zuschaut oder mit dem Lift nach unten
kommt.
Alles, was sich in diesem Altersheim an Gemeinschaftlichem
ereignet, spielt sich auf dem Marktplatz ab. Hier sind die
Cafés und Restaurants, bedient von einer zentralen Küche,
die in der Mitte des Marktplatzes liegt, von oben einsehbar.
Hier kann man am Morgen schauen, wie das Mittagessen zu­
bereitet wird, ja, man kann sogar hinuntergehen, bekommt
eine Zwiebel zum Kleinhacken oder eine Kartoffel zum Schä­
len.Wenn angebraten wird, dann hört man das in der Halle, ja
man riecht es vielleicht, trotz Dampfabzug.
Auch wenn es nur eine Küche gibt, kann man sich an un­
terschiedlichen Orten hinsetzen, um sich zu verpflegen. Es
36 37
Die Arena wäre der öffentliche Teil, das Zimmer der private.
Die Balkone der Zimmer würden einen Blick auf Berge, See
oder ins Stadtzentrum bieten. Vielleicht wäre das Altersheim
ja auch ein Hotel, was die Arena noch spannender machen
würde. Die Hotelgäste würden in gläsernen Fahrstühlen in die
Höhe entschwinden. Im Erdgeschoss wären die Verwaltung
untergebracht, ebenfalls einsehbar von oben. Man würde die
Direktorin beim Telefonieren sehen, den Briefträger, die An­
lieferung der Würste. Vielleicht wäre noch ein Kindergarten
oder eine Kinderkrippe im Erdgeschoss eingemietet. Oder ein
Solarium. Oder eine Werkstatt für Oldtimer.
Es ist nicht so, dass die neuen Alten gesünder sind als die bis­
herigen Alten. Auch sie sind irgendwann reduziert und müde.
Aber ein lebendiger Ort lässt sie wach bleiben, ja vielleicht
selber am Leben teilnehmen und etwas einbringen. Das
Altersheim wandelt sich von der Versorgungsanstalt zum
kleinen Dorf.
Zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen muss es Halb­
öffentliches geben: Sitzecken auf den Galerien, geschützte Be­
reiche, wo man ebenfalls essen kann, vielleicht in der Gruppe,
die etwas mehr Betreuung benötigt. Es sollte auch möglich
sein, dass Bewohner ein Element einbringen ins gemeinsame
Dorf: eine Whiskybar, einen Filmclub, ein Makraméstudio. All
diese Angebote sollten ebenfalls Platz haben. Sie wären ge­
sponsert von einzelnen Personen und würden ihnen die Ge­
legenheit gaben, die anderen an ihrer Erlebniswelt teil­haben
zu lassen, auch wenn sie selber nur noch in beschränktem
Masse Gastgeber sein können. Im gleichen Sinn sollte es
möglich sein, dass man mit einem kleineren oder grösseren
Budget Teil dieses Dorfes sein darf. Der gemeinsame Nenner
soll nicht das Bankkonto sein, sondern das Teilhaben an ei­
ner hochwertigen Umgebung, die man vielleicht etwas mit­
gestaltet.
Wir bauen ein Gewerbegebiet
Jede Gemeinde hat es: Das Gewerbegebiet. Es dient dazu,
Firmen unterzubringen, Arbeitsplätze anzubieten und nie­
manden zu nerven. Daher liegt es in der Regel auch am Rande
des Dorfes oder der Stadt. Dort draussen findet man sie dann,
die meist eingeschossigen Kisten, in denen es hämmert,
brummt oder rattert. Meist ist es aber recht ruhig, denn die
Industrie gibt es schon lange nicht mehr, sie ist nach China
abgewandert. Geblieben ist der Fensterbauer, der Sanitär­
installateur und die Kühlkostkette. Allen gemein ist der grosse
Parkplatz vor dem Haus, auf dem die Angestellten am Morgen
ihr Auto abstellen. Und weil die Schweiz endlos Platz hat, sind
alle glücklich und zufrieden.
Wäre man nicht zufrieden, und würde sich die Frage stellen,
wie man es denn auch noch machen könnte, wären die Resul­
tate vielleicht ganz spannend.
Natürlich sind Gewerbegebiete nötig. Allein der Lieferver­
kehr ist ein Faktor, der sich mit dem Wohnen schlecht mischt.
Aber auch die Lärmemission kann ein Grund sein, warum das
Wohnen möglichst weit weg vom Gewerbe zu liegen kommen
soll. In der Praxis aber ist das Gewerbe nicht mehr so laut und
die Mehrzahl der Arbeitsplätze dreht sich um einen Compu­
ter, der auf dem Tisch steht. Die Trennung von Arbeiten und
Wohnen ist also ein Überbleibsel aus der Zeit, als es noch rau­
chen musste, um nach Arbeit auszusehen.
Kombiniert man Wohnen und Arbeiten, kollidieren zwei
komplett verschiedene Gebäudeformen. Das mag im ers­
ten Moment nachteilig erscheinen. Umgekehrt wohnen die
Menschen auch gerne an Hügeln, was sich ebenfalls aus der
Kombination von zwei unterschiedlichen Formen ergibt. Hier
der Hügel mit Südlage, da die kleinen, angepappten Häuser.
Das Gewerbegebiet bietet vielleicht eine ähnliche Situati­
on. Die grossen Flächen im Ergdeschoss könnten überdeckt
38 39
Kindergschrei und Frittierduft. Die Trennung der störenden
Emissionen vom Wohnen muss räumlich geschehen, am bes­
ten, indem das Wohnen auf der «anderen Seite des Berges»
stattfindet, was seit jeher eine bewährte Strategie im Umgang
mit dem Andersartigen darstellt. Sonnseitig also das Wohnen,
schattseitig die Produktionen und die Anlieferung. Im Inne­
ren des Hügels die flächenintensiven Nutzungen: Produktion,
Lager, Lager, Lager. Da viele Arbeitsplätze eng mit dem Com­
puter liiert sind, wünscht man sich in der Regel ein Fenster
mit Aussicht. Das Hügelmodell kommt damit wohl an seine
Grenzen. Es bietet relativ wenig Fensterfläche in Kombination
zum Innenraum. Je nach Anforderungen könnte ein «Gugel­
hopf» die bessere Lösung sein: Ein gewerblicher Innenraum
mit Zufahrt undWarenverteilung und eine ruhige Aussenseite
mit Wohnen, Terrassen und grün.
Wir müssen nicht über Gigantismus reden. Die Schweiz ist der
Hort der Mässigung. Aber auch die Summe der heutigen Ge­
werbegebiete hat etwas Unappetitliches und stellt die Frage
nach der Verhältnismässigkeit. Könnte man jeweils fünf die­
ser Gewerbegebiete in einen Gugelhopf packen, wären vier
Standorte freigespielt, was Mensch und Kuh erfreuen würde.
Der gemeinsame Standort wäre städtisch dicht, was nicht
überall passt, dafür aber neue Vorteile bietet: Die Menge an
Arbeitsplätzen erlaubt einen Busbetrieb oder den Bau einer
S-Bahn-Station, was die Abhängigkeit vom Auto reduziert.
Rechnen wir nach: 50 Firmen mit einem durchschnittlichen
Flächenbedarf von 1000 Quadratmetern ergeben eine Brutto­
geschossfläche von 50‘000 Quadratmetern. Ordnet man diese
auf fünf Ebenen an, nach oben verjüngt, umfasst die unters­
te Ebene vielleicht 15‘000 Quadratmeter. Dies liesse sich in
einem Rund von 250m Durchmesser und 150m Loch unter­
bringen. Das Gebäude hat im Erdgeschoss also eine Tiefe von
50m, was für Gewerbeanwendungen wohl sinnvoll ist.
Die darüberliegenden Ebenen sind jeweils etwas schlanker.
Unter dem Boden lassen sich Autos oder Waren lagern.
werden mit einer kleinteiligen Wohnstruktur, aufgelockert
mit durchgrünten Wegen. Das Ganze sähe dann aus wie ein
umgekehrter Schiffsrumpf samt Muschelkolonie.
Das Kombinieren von einzelnen Gewerbebetrieben zu ei­
nem grösseren Gewerbebau birgt Vor- und Nachteile. In der
heutigen Logik überwiegen die Nachteile, weshalb jeder Be­
trieb seine eigene Kiste aufstellt. Da die meisten dieser ge­
werblichen Verrichtungsboxen aber keine architektonischen
Ambitionen hegen, lassen sie sich gut kombinieren, zu­
mal aus der Addition von Flächen und Funktionen neue
Poten­ziale entstehen. Firmen können leichter wachsen und
Flächen dazumieten, man kann Infrastrukturen wie Heizung
oder Parkgarage gemeinsam nutzen und muss nur ein un­
dichtes Flachdach betreuen.
Die Kombination von Gewerbebetrieben stellt auch die Hori­
zontalität in Frage, die heute das prägende Element dieser Art
Installationen zu sein scheint. Da der Platz unbegrenzt und
die Bodenpreise bescheiden sind, breiten sich die Unterneh­
men am liebsten auf einer Ebene aus, den Parkplatz samt Ab­
standsgrün vorangestellt.
Ordnet man die Flächen vertikal an, entsteht sofort das Be­
dürfnis, die Abläufe auf mehrere Ebenen aufzuteilen, kombi­
niert mit Lastenaufzügen oder Förderbändern. Das scheint
wenig praktikabel, es sei denn, man skaliere das Problem
bis in einen Bereich, wo es wieder geht. Wenn die einzelnen
Ebenen eines Gewerbeparks genug gross sind, lassen sich
die Abläufe in der Regel auf einer Fläche abwickeln. Erst ganz
grosse Firmen benötigen mehrere Geschosse. Die damit ver­
bundenen Wege fallen aber auch an, wenn man auf einer
Fläche geblieben wäre. Es scheint also ein Potenzial für Ge­
werbeparks zu geben, die relativ gross sind, mehrere Geschos­
se haben und vielleicht sogar überwachsen sind mit Wohnen.
Es bleibt die Frage nach dem Lärm und dem Geruch. Beides
hat im Wohnen nichts zu suchen, ausser es handle sich um
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einen Bruchteil der Strasseninfrastruktur und bietet oben­
drein noch Wohnraum für 400 Personen. Wer will, kann am
Hügel wohnen und arbeiten, was durchaus etwas bieder er­
scheinen mag. Aber die Zukunft ist vielleicht viel simpler ge­
strickt als wir denken.
Der Innenraum des Gugelhopfs von 150m Durchmesser reicht
aus, um Zufahrten für Lastwagen zu errichten. Man muss die
Waren also nicht alle per Aufzug auf die einzelnen Ebenen
bringen, sondern hat die Laderampe direkt an der Werk- oder
Lagerfläche, was der Hauptgrund für den ursprünglich simp­
len Typus des Gewerbegebietes darstellt. Ein Gleisanschluss
ergänzt den Mobilitätsaspekt und lohnt sich bei dieser Nut­
zungsdichte.
Und das Wohnen? Nimmt man an, dass man auf der Hälfte
des umlaufenden Gewerbehügels wohnen kann, so kommt
dafür eine ansehnliche Fläche zusammen. Bei einer mittleren
gewerblichen Geschosshöhe von 5m ist der Hügel 25m hoch
und bietet eine Aussenfläche von ca. 20‘000 Quadratmetern.
Nutzt man diese Schräge zur Hälfte für das Wohnen, jeweils
mit einer Gebäudetiefe von 6m und einer mittleren Wohnge­
schosshöhe von 3m, resultiert eine nutzbare Wohnfläche von
20‘000 Quadratmetern, was ca. 200Wohnungen oder 400 Ein­
wohnern entspricht.
Ist das alles sinnvoll? Nimmt man an, dass der Wohn-Gewer­
behügel rundherum einen Grünraum von 25m hat, bekommt
er einen Durchmesser von 300m oder eine Grundfläche von
70‘000 Quadratmetern. Vergleicht man das mit einer norma­
len Wohnsiedlung, die eine Ausnutzungsziffer von 0.5 hat,
kommt man bei identischer Grundfläche auf eine fast doppelt
so hohe Wohnfläche. Anders gesagt: Eine heutige Siedlung
mit 800 Personen könnte auch ein Wohn-Gewerbehügel sein,
würde dann aber nur die Hälfte der Bewohner aufnehmen
können, dafür alle in bevorzugter Hanglage mit begrünter
Dachterrasse. Die Gewerbefläche würde man quasi umsonst
dazu bekommen und auch wenig von ihr merken.
Der eigentliche Vergleich aber kommt erst: Gegenüber dem
heutigen Modell des Gewerbegebietes mit einer Ausnut­
zungsziffer von 0.4 schneidet der Wohn-Gewerbehügel um
den Faktor 4 besser ab. Er braucht einen Bruchteil der Fläche,
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ein dezentes Ausrufezeichen unter das Grundstatement des
Nützlichen und Kollektiven. Leistungsgrün.
Dieses Grün ist beliebt. Es reiht sich ein in die Disziplinie­
rungsanliegen der Stadt. Dichte, Produktivität, Sicherheit
sind nur zu haben, wenn die Leute sich innerlich erholen,
sammeln und regenerieren können. Die Parkbank mit auf­
geschlagenem Feuilleton muss reichen. Mehr Grün wäre Ver­
schwendung. Minimalgrün.
Während der Urbanist und sein Auftraggeber den optimier­
ten Menschen erträumen, wächst es draussen weiter. Ritzen
gebären Notgrün. Entdeckt von der Reinigungsgruppe oder
dem Hauswart ist es bald entsorgt. Die Stadt erträgt kein
Fremdgrün. Sie will Konzeptgrün.
Dafür aber ist sie da und dort grosszügig. Der Stadtpark ist der
Beweis, dass die Stadt doch nicht so schlecht ist wie ihr Ruf.
Ja, sie ist sogar der Natur Freund und Helfer. Die Vögel zwit­
schern und verheissen eine neue Art des Denkens. Kreativität
bricht aus jedem Seitentrieb und der Mensch staunt. Wie ein
gefangener Tiger wähnt er sich im Himmel beim Anblick des
dargereichten Grünhappens. Stadtparks sind Zoogrün. Und
wir ihre Haustiere.
Die grüne Rückeroberung ist der Albtraum der Stadt.Wirklich
sicher aber ist sie nie. Im Auge des Zeitreisenden ist die Stadt
ein kurzer Funken Möbelpolitur auf einer an sich bemoos­
ten Welt. Die Stadt blitzt kurz auf, bevor sie wieder im Grün
verschwindet. Ist es diese Urangst, die uns das Grün fürchten
und domestizieren lässt? Gibt es eine Art Urgrün, das uns ho­
len wird, wenn wir nur kurz nicht aufpassen? Mittlereile gibt
es sogar Menschen, die fahrlässig mit dieser Perspektive lieb­
äugeln.Währenddessen berichtenWissenschaftler von einge­
schleppten Pflanzen, die sich an keine Regeln mehr halten.
Mit dem Urban Gardening scheint ein Versöhnungsangebot
auf den Tisch gekommen zu sein. Das gute Grün verdient un­
Wieviel Grün erträgt die Stadt?
Stadt und Grün. Ist das ein Widerspruch? Oder ist es im
Gegen­teil eine Komposition? Was wäre der Central Park ohne
Manhattan? Was wäre das Geranium ohne Dorf?
Siedlung und Grün scheinen sich gerne zu verzahnen. Das
Einfamilienhaus ist erst ein solches, wenn es von Rasen umge­
ben ist, samstags liebevoll geschnitten durch den Hausherrn.
Das Grün wird zum Klingelschild einer guten Adresse. Nicht
nützlich, aber doch unentbehrlich; also eine Dekoration.
Das Dekorative ist eine wenig geliebte Funktion in der Stadt.
Was im Dorf noch angehen mag, weckt hier Missmut. Hier,
wo Dichte Pflicht ist, greift Dekoration zu kurz. Man will den
Boden in Wert gesetzt wissen. Es hat keinen Platz für Grün­
romantik. Hochhäuser haben keine Geranien.
Das Ernsthafte der Stadt bringt das Grün in Zugzwang. Wie
will es den hohen Massstäben genügen, die sich die Men­
schen hier auferlegen und ihrer Stadt obendrein auch? Man­
cher Busch dürfte bei dieser Ausgangslage ratlos werden.
Gut, denken Büsche wenig nach. Es ist nicht einfach, in der
Stadt zu bestehen, ohne etwas zu leisten. Das Grün als Selbst­
darsteller?
Die Selbstbezogenheit ist vielleicht der Trumpf des städti­
schen Grüns. Während alles rundherum braust und brummt,
macht der Baum lautlos ein Blatt. Vielleicht aber auch nur ein
halbes. Die Natur wird zur Gegenposition, zum Kontrastmit­
tel im etwas einseitig geratenen Schauspiel der Produktivität.
Aber kann das genügen? Störgrün?
Urbanisten graut vor dem Überallgrün. Sie möchten dezi­
dierte Grünheiten, am liebsten geometrisch zurechtgestutzt
auf Fluchtlinien und Inszenierungen. Das Grün wird zum
Triangelklang in der Marschmusik der Stadtmelodie. Es setzt
44 45
nichten das Land. So wie der Landesverräter selber ein Bürger
sein muss, muss auch der Stadtverräter ein Citoyen sein. Er
hinterfragt die Dogmen der Stadt und noch schlimmer: lebt
gut damit. Wer ist er? Welche Art Grün treibt ihn um? Ist er am
Ende gar ein Grüner?
Die Unstadt ist der grösstmögliche Kontrast zur Stadt. Dieser
erscheint einzig in der Stadt selber. Alle anderen Ort sind er­
dachte Kontraste; eine gute Flugstunde von hier entfernt. Nur
was in der Stadt oder an der Stadt anders sein kann, besteht
den Antitest.
Zum Unstädtischen kommt man, wenn man die Stadt Stadt
sein lässt und gleichzeitig einen neuen Ort kreiert. Dieser ge­
nügt sich selber in der Stadt. Er ist nicht Hilfsstadt, nicht Zu­
satzstadt, nicht Trotzstadt. So, wie die Stadt ins Land hinein­
greift, muss die Unstadt in die Stadt hineingreifen. Ihre Finger
tauchen mitten drin auf. Und natürlich: Die Finger sind grün.
Nur das nicht entwurzelte Grün formuliert Sätze, die nicht ur­
baner Natur sind. Wie ein konspirativer Landstrich schlängelt
sich die Unstadt mitten in die Häuser hinein. Keine Strasse,
kein Platz unterbricht sie. Erst als Kontrast weist sich ihre
wahre Stärke. Fluchtweg, Antithese, Urgrün.
Die Stadt erkennt in der Unstadt ihre Schönheit. Sie wacht
eines morgens auf und wird sich klar, dass auch sie miss­
braucht wurde. Der Kampf war ein Vorwand. Es gibt ihn nicht
in dieser Form. Es herrscht im Gegenteil sehr viel Frieden,
wenn man ihn denn zulässt oder aufsucht. Stell dir vor, es ist
Frieden, und keiner geht hin. Alle kämpfen weiter. Das Grün
wird zum Erwachgrün für die Stadt. Sie ist schön! Sie ist schön,
weil sie Stadt ist. Das Grün lächelt ihr zu. Es braucht keine
Kosmetik. Naturschönheiten. Echte Stadt und echtes Grün.
ser Lob und darf bleiben. Es hilft uns, den täglichen Kampf
um den Wohlstand zu bestehen und regeneriert unsere See­
len. Da man es nach erfolgtem Lob essen kann, ist das Grün
zweifellos der Gattung Nutzgrün zuzuordnen. Trotzdem
bleibt ein Stück Verwilderung zurück. Der Mensch als heimli­
cher Verbündeter des Grüns in der Stadt. Werden wir langsam
wieder zu Bauern? Subversivgrün?
Die Alternative zum Grün ist der Platz. Er kann alles, was Grün
kann, zudem ist er leicht zu reinigen. Stadtplaner verstehen
Menschen nicht, die überall Bäume wollen. Der Platz ist ein
Baum, man muss ihn nur richtig verstehen. Graugrün. Und
der Platz ist nützlich. Er kann Menschen, Märkte,Verkehr und
parkierte Autos aufnehmen. Er spiegelt die Baureihe an seiner
Seite und zeigt damit, worum es in der Stadt geht. Der Platz ist
der Feldweibel des Urbanen. Hier steht in Reih und Glied, was
sonst im Dickicht der Strassen versinkt. Erst der Platz lässt er­
kennen, wie städtisch eine Stadt ist. In diesem Sinne ist er zu­
tiefst ungrün und nimmt nur widerwillig den Pflanzschmuck
auf, den eine Anwohnerinitiative ihm aufgezwungen hat.
Zwangsgrün. Die Hunde pinkeln drauf.
Wäre die Stadt nicht so unter Druck, würde sie vielleicht mehr
Grün zulassen. Aber es herrscht Krieg, und Grün ist nun mal
ein Luxus, den man sich nicht leisten kann, ja nicht leisten
will. Alkoholkonsum, Müssiggang und Littering zeigen, dass
der Mensch mit Grün nicht umgehen kann. Der internationa­
le Wettbewerb erträgt keinen Durchhänger, jetzt nicht. Später
vielleicht, wenn der Wohlstand erreicht ist. Dann lösen wir
die Stadt auf und wohnen im Grünen. Das Grün wird zum
Walhalla der geschundenen Krieger, es ist der Ort, wo Sorgen,
Pflicht und Kampf von uns abfallen. Rein schon deswegen
darf es kein übermässiges Grün geben in der Stadt. Die Regie­
rung spricht von Destabilisierungsgrün.
Nachdem das Ungrün bereits mehrfach gedacht wurde, wäre
es vielleicht an der Zeit, die Unstadt zu denken. Das ist mit­
46 47
ner Altstadt keine Gestaltungsregeln gibt. Sie sind schlicht un­
nötig. Die einzigen Regeln sind die Grundstückgrösse und die
Bauhöhe. Das Kleinteilige macht aus jeder Gestaltung einen
Mosaikstein, lässt ihn aufgehen im Gesamtbild eines Orna­
ments.
Durch die Grundstückgrösse sind die Masse des Hauses vor­
gegeben. Mehr geht nicht, weniger durchaus. Da die Grund­
stücke sehr klein sind, wird man sie in der Regel füllen, zumin­
dest auf der Gassenseite. Seitlich muss man zusammenbauen.
Auf der Hofseite ist Raum für Nebenbauten, Grünes und Trep­
pen. Die Gebäudehöhe ist im Prinzip vorgegeben, lässt sich
aber durch die Form der Aufbauten frei interpretieren und zu
kleinen Türmen drapieren.
Eine Altstadt darf reifen. Nach einigen Jahren sind bei jedem
Haus kleine Erweiterungen möglich, abhängig vom bereits
Gebauten und jenem der Nachbarn. Dem Weiterbauen wird
so eine positive soziale Dynamik verliehen, was man bei kon­
ventionellen Siedlungen nicht gerade sagen kann. Die Altstadt
wird damit zu einem iterativen Bauwerk, wo jeder Bauschritt
andere Bauschritte ermöglicht.
Die Altstadt soll quasi auf einem irrationalen Grundriss ste­
hen, was an sich widersinnig erscheint, da Geplantes per Defi­
nition vernünftig ist. Bei der Altstadt aber muss dieses Parado­
xon auszuhalten sein. Es wird ein Grundplan entstehen, den
man in keiner Art und Weise logisch begründen muss, ausser
mit dem Umstand, dass die einzelnen Parzellen allesamt für
ein Haus reichen. Aber die Unterschiede sind beträchtlich:
Bautiefe, Hausbreite, vorspringende Ecken, zurückgesetzte
Parzellen, abweichende Bauhöhen. Es ist eine Ansammlung
von Ungerechtigkeiten, die nur durch geläuterte Seelen zu er­
tragen wären, Altstadtseelen eben.
Fängt man einmal an zu bauen, ist die Erheiterung gross. Es
ist dem Stolz des Bauherrn und seinen Architekten inne, ein
Neue Altstädte
Ich gebe es zu: ich würde gerne eine Altstadt bauen. Ich habe
sogar das Gefühl, dass wir viele neue Altstädte brauchen
könnten. Orte, die dicht sind, Lebensfreude ausstrahlen und
vom menschlichen Mass erzählen. Unsere Welt ist voll vom
Gegenteil.
Während ziemlich klar ist, wie es am Schluss in meine Altstadt
aussehen soll, ist derWeg dorthin nicht ganz einfach. Seit lan­
ger Zeit ist nichts mehr in der Art gebaut worden. Und vieles,
was sich am Duktus der Altstadt orientiert, ist nicht Altstadt,
sondern Siedlung.
Es soll keine Siedlung werden. Es soll städtisch sein, dicht,
aber auch inhomogen. Siedlungen leiden unter der Allgewalt
einer einzigen Idee, einer Art Schöpfertum des Architekten,
der Kraft seiner Brillanz das Verspielte bereits vorgesehen,
eingeplant und umgesetzt hat. Es ist, wie wenn man 15 Mal
den gleichen Witz erzählt, nur mit geänderten Namen der
Protagonisten. Das soll es nicht sein. Eine Altstadt erzählt ihre
eigene Geschichte, und die ist nur beschränkt planbar.
Was also kann man planen, ohne die Pointe schon zu erzäh­
len? Planen muss man den öffentlichen Raum. Der müsste
altstädtisch sein, also verwinkelt, eng, mit Plätzen, Öffnun­
gen, Durchbrüchen. Meine Altstadt darf etwas Märchenhaftes
haben, etwas Verspieltes, anders als viele Schweizer Altstädte,
die schon ganz im Zeichen von Zucht und Ordnung entstan­
den sind. Zucht und Ordnung haben wir schon genug, die
ganze Stadtplanung trieft davon. Also keine Zucht und Ord­
nung, dafür Nischen und Verführung.
Die Verführung darf mehrfach wirken. Bauherren sollen die
Verführung zum Eigenständigen spüren, zum Sonderbaren,
zum Einzigartigen. Das ist auch der Grund, warum es in mei­
48 49
Um die Buntheit zu garantieren, wird pro Bauherr nur eine
Parzelle zu kaufen sein. Man kann auch keine Parzellen zu­
sammenlegen. Vielleicht ist sogar ein Stück Zufall bei der Ver­
gabe. Die Stadt könnte die Bedürfnisse nach Fläche sammeln,
ordnen und auslosen. Wäre man überaus unglücklich mit
dem eigenen Los, bliebe der Tauschhandel.
Die neue Altstadt ist also je nach Blickwinkel ein gebauter
Albtraum der Spinner oder eine Wagenburg für Idealisten.
Nachdem wir die Schweiz aber mit ausreichend Strukturen
für innovationsferne Wohnkonformisten ausgestattet haben,
wären jetzt die Idealisten an der Reihe.
Haus zu bauen, das überrascht. Dem Handwerklichen, Skur­
rilen wird Platz geboten. Aber auch dem Architektonischen
wird Raum gegeben. Auf kleinem Raum soll etwas Lebens­
wertes entstehen. Dies ist auch darum möglich, weil nur we­
nig Geld für den Baugrund aufgebracht werden muss, der im
Baurecht genutzt ist.
50 51
Ein Berg für Berlin
Die Metropole Preussens ist auch 100 Jahre nach dem Rück­
tritt von Kaiser Willhelm nicht ganz erwacht aus ihrer Garde­
haltung. Kasernenartig stehen die Häuserreihen stramm, bil­
den Strassenschluchten und Fluchtpunkte, die zum Defilee
einladen. Das bisschen Stuck kann nicht darüber hinwegtäu­
schen, dass hier eine sehr ordentliche Stadt geplant und ge­
baut, später aber etwas verhunzt wurde.Weniger der Krieg als
vielmehr die Moderne haben dem Stadtkörper zugesetzt, ha­
ben dem Preussischen noch das Pseudoliberale aufgepfropft,
Grosssiedlungen und Implantate aus dem Sozialinkubator
der 1960er und 70er.
Gut, hat Berlin diesen städtebaulichen Gewaltnippes mit ei­
nem Sozialprogramm pariert. Die gefühlten drei Millionen
Türken haben nicht nur eine neue Lebensweise sondern auch
eine neue Sichtweise in die Stadt gebracht. «Stadt ist, wo wir
sind.» Niemand sonst hat sich mit so viel Inbrunst der Häss­
lichkeit Berlins angenommen, bleibt 24 Stunden am Tag in
schmuddeligen Erdgeschossen wach, um Kekse (mit Schoko)
und Zigaretten (mit Filter) zu verkaufen, bietet auch an den
lautesten Kreuzungen Orangen und Feigen feil. Auch wenn
der türkische Kulturimpuls noch in der Melassephase steckt,
darf er doch bereits als wesentlichste Zutat zur ansonsten eher
verklemmten Metropole gelten. Denn, was niemand weiss:
Der Berliner ist ein Spiesser. Erst mit der Uniform wächst sei­
ne Statur.
Der Hang zu Grösse hat sich leider nur in zwei Dimensio­
nen ergiessen können. Das Grossomelett Berlin wabert träge
im Märkischen Sand. Es fehlt eine Zäsur, eine gemeinsame
Vision. Einsam ragt der Fernsehturm dem Himmel entgegen,
der unerklärlich oft grau ist. Gerade der Winter wird zur Be­
lastungsprobe für die innerlich wenig gefestigten Berliner.
Ihnen fehlt die Sonne des Südens, der innerliche Basilikum­
Kochbuch für neue Altstädte:
1.	 Man zeichne einen Grundrissplan der Altstadt oder des
Quartiers. Darin sind die Gassen, Parzellen und Plätze
eingezeichnet.
2.	 Auf jeder Parzelle ist die maximale Hausfläche eingetra­
gen. Der Rest ist Grün- und Erweiterungsfläche.
3.	 Die Häuser müssen seitlich zusammengebaut werden.
4.	 Die Gebäudehöhe ist in der Regel auf allen Parzellen
gleich, darf aber unterschiedlich interpretiert werden.
5.	 Es gibt keine Gestaltungsvorgaben.
6.	 Nach 10 Jahren darf max. 10% des Gebäudevolumens
hinzugefügt werden, vorausgesetzt, beide Nachbarn
haben das auch schon gemacht. Hat nur ein oder kein
Nachbar gebaut, sind es 5%.
7.	 Nach weiteren 10 Jahren darf man erneut 10% des
Gebäudevolumens und 2m in der mittleren Gebäude­
höhe hinzufügen.
52 53
schattseitig hügelig abfallend. Man will ja keinen unnötigen
Schattenwurf erzeugen.
Die felsige Seite würde den eher ambitiösen Besucher anspre­
chen, der sich auf insgesamt 17 unterschiedlichen Bergwegen
der Spitze annähern kann. Dazwischen wären noch zwei Pass­
strassen für Radler eingepflanzt, die eine in Kopfsteinpflas­
ter, der Tremola am Gotthard nachempfunden und von der
Schweiz als Zeichen der neuen Bergfreundschaft gesponsert.
Am besagten Felsen würden Nischen zum Zwischenhalt und
Berghütten zur Jause einladen. EinWasserfall würde nach Ein­
wurf eines Fünfeuro-Stückes (ab 2020 im Umlauf) zu reich­
lich Kinderkreischen und Abkühlung im Sommer führen.
Mikroklimatische Effekte würden einen passablen Cabernet
und eine erstaunliche Feige gedeihen lassen. Von den Toma­
tenhainen ehemaliger Aussiedler ganz zu schweigen.
Wem diese Vertikalität noch nicht reicht, dürfte an den man­
nigfaltigen Felswänden sein Klettergeschick ausprobieren.
Mit immerhin fast 600 Höhenmetern würde der Berg zum Pu­
blikumsmagneten der ganzen Region.
Auf der Nordseite wäre wie erwähnt die sanftere Topgrafie an­
zutreffen, durchwoben von weiteren Spazierwegen, die etwas
flacher bergan führten, ein Teil rollator-gängig und sanft aus­
geteert. Im Winter wären Schlittelwege im Angebot, die auch
waghalsige Papster mit ihren 3D-verwöhnten Kids zu fordern
wüssten. Eine kleine Zahnradbahn würde all jenen den Auf­
stieg erleichtern, die der Schwerkraft skeptisch gegenüberste­
hen. Sogar eine Standseilbahn mit gläsernem Boden (kreisch)
wäre im Angebot.
Oben auf dem Berg dann logischerweise ein kleiner Bergsee,
umringt von 23 Kneipen und Pommesbuden. Ohne diese
kann in Berlin kein vernünftiger Ausflug arrangiert werden.
Selten im Nebel, wäre der See im Winter eine Natureisfläche
an strahlender Sonne. Tickets für das Eis wären allerdings
duft, das Vertrauen auf den nächsten Frühling. Anders als
ihren nordischen Kollegen fehlt ihnen die seelische Fett­
schicht der Melancholie. Der Berliner läuft schnell blank.
Es fehlt ihm an Heimat.
Gut kamen die anderen. Nach den Türken die Aussteiger und
Hipster. Zusammen haben sie das «New Berlin» gegründet,
diesen städtischen Bionadesprudel mit Goldkante. Es gibt
nichts Vergleichbares weltweit. Diese Mischung aus verbaler
Selbsterkenntnis, Techno und schwach dosiertem Bier war
die erste wirklich neue Idee seit Willhelm. Und sie hat funk­
tioniert, nächtelang. Inzwischen aber ist sie wie jede Welle
gebrandet, schäumt nach in den teuer gewordenen Quar­
tieren PB und KB, wo Kleinkinder schreien und Mamas und
Papas früh los müssen zu Google und Mediaspree. Das gibt
viel zu jammern, hilft aber nicht. Lasst uns daher den nächs­
ten Schritt andenken.
Berlin braucht einen Berg. Was bei W. mit der Pickelhaube
als pure Vertikalität angedacht war, hat sich unter H. zum 45-
Grad Programm gemässigt und unter Merkel mit der gleich­
berechtigten Gesellschaft komplett verflacht. Damit sollte
der Boden endlich stark genug sein, um die dritte Dimension
anzugehen. Zufälligerweise findet sich in Berlin ein Flecken
Erde, der dazu überaus geeignet ist: DasTempelhofer Feld, Ex-
Flughafen samt baulichem Dessertbuffet aus H.‘s Zeiten. Der
Platz reicht aus, um einen echten Berg zu bauen. Angesichts
des erwähnten, ungerechtfertigten und impertinenten Hoch­
nebels müsste die Höhe der Spitze leicht über dieser Suppe
liegen, die Berlin zu den bekannten psychosomatischen Stö­
rungen führt. Alleine deren Behebung dürfte die Baukosten
des Huckels bei weitem einspielen.
Ich schätze den Hügel auf 600m Höhe, was in der Sprache der
Preussen ein Berg ist. Bei einem Durchmesser des Bauplatzes
von 2 Kilometern wird es kein Matterhorn, sondern ein wohl­
proportionierter Klumpen, sonnseitig etwas felsig schroff,
54 55
zu spassen ist. Aus der Elektroszene würde der Bergtechno re­
sultieren.
Rein baulich ist der Berg kein Problem, nachdem man solche
Volumen schon immer zu bewegen wusste, zuletzt in Form
von Braunkohle, die man nach Berlin gebracht hat. Nun also
ist es Sand, vermengt mit etwas Zement und den gespendeten
Steinen aus Andalusien, woher eine Welle der Solidarität für
das Projekt kam.
Im Inneren ist der Berg hohl, indem er zwei Reservoirs birgt,
dazwischen eine Kraftwerkskaskade, welche Wasser turbi­
nieren lässt; und umgekehrt. Damit kann Berlin Tages- und
Wochenschwankungen aus dem bis dann üppig ausgebauten
Solar- und Windkraftangebot ausgleichen. Nachts, wenn alle
schlafen, summt also der Berg und versorgt die Menschen mit
Sonnenkraft und Wärme.
schon im Herbst ausverkauft oder im türkisch beherrschten
Schwarzmarkt erhältlich.
Der Berg wird Berlin plötzlich einen Bezugspunkt bieten. Man
muss weniger teure Autos kaufen, sich seltener über­essen
und kann politisch sorgfältiger argumentieren, schliesslich
hat man jetzt eine Perspektive. Erst jetzt sähe man, woran
es Jahrhunderte gefehlt hatte. Kein Wunder musste man die
Nachbarn plagen und sich obendrein.
Mit dem neuen Bezugspunkt würde eine gewisse alpenländi­
sche Ruhe und süddeutsche Geschäftigkeit in Berlin Einzug
halten. Man würde am Sonntag im Schnitt 30 Minuten früher
aufstehen (gegen 11.30 statt 12.00 Uhr), um rechtzeitig zum
Nachmittagsbier auf dem Gipfel zu sein. Rote Socken wären
nicht weiter tabu und ein Schlitten das neue Markenzeichen
von echten Draufgängern. Mädels würden schon im Sommer
Eisschuhe herumtragen, um zu zeigen, dass nicht mit ihnen
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  • 1. Von Städten und Menschen Kurzgeschichten zur artgerechten Haltung Paul Dominik Hasler büro für utopien
  • 2.
  • 3. Edition büro für utopien 2016 www.utopien.com Titelbild von Eveline Hasler: Felice Città 2011 Skizzen von Paul Dominik Hasler Die kristalline Stadt 6 Was ist Dichte? 11 Die kleinen und die grossen Räume 15 Die Zukunft des Automobils 19 Statt Land 24 Nach den Strassen 27 Endstation Altersheim 33 Wir bauen ein Gewerbegebiet 37 Wieviel Grün erträgt die Stadt 42 Neue Altstädte 46 Ein Berg für Berlin 51
  • 4. 6 7 Die kristalline Stadt Aus jedem Impuls wird wohl irgendwann eine Struktur. Das einzige, was uns davor bewahrt, auszuhärten, ist die Poesie des Lebens, jenes Element des Verzückten, Verschmitzen, Unverholenen, das uns innewohnt. Es manifestiert sich als Humor, als Kunst, als Leidenschaft, als Spiritualität. Es könnte sein, dass wir unsere Städte in eine Erstarrung haben fallen lassen, die uns heute bedrückt. Es ist nicht so, dass man per se lebendig ist. Irgendwie muss man sich täglich neu erfinden, wenn auch in kleinen Dosen, um nicht das Errungene zu verschütten und zu verlieren. Dieses Neuerfinden ist eine Kunst, weil das Bestehende, Be­ kannte immer ein bisschen sinnvoller erscheint, als das noch nicht Bekannte, das vielleicht Werdende. Es wundert daher nicht, dass eine Gesellschaft, die sehr auf Effizienz bedacht ist, diesem dauernden Neuerfinden skeptisch gegenüber­ steht. Denn es könnte ja sein –und es wird auch so sein, dass man wertvolle Zeit verliert, weil man sich eventuell einer Er­ findung widmet, die nicht eintritt, nicht wichtig ist, nicht er­ folgreich ist oder schon längst erfunden wurde. Der effiziente Mensch leidet darunter, dass seine Entwick­ lung ebenfalls effizient sein muss, was in vielen Fällen gleich­ bedeutend ist mit einer Aneinanderreihung von bereits er­ probten Modulen, die es zu beschaffen, zu verankern und zu stapeln gilt. Das Leben besteht aus Qualifikationsschrit­ ten, Erfolgspunkten, Eignungsebenen und Gehaltsstufen. Der Weg dazwischen ist linear oder möglichst linear. Dieses Raster des kürzesten Weges oder des schnellsten Erfolges prägt unser Leben, zumindest in der Theorie. Städte sind gebaute Theorie. Es gibt keine praktische Stadt. Sie ist immer schon da, wenn wir einziehen. Also kommt die Praxis nachher, füllt diese Hohlräume der Theorie, reibt sich an ihnen, wird von ihnen begrenzt, gelenkt, portioniert. Würden wir zuerst leben und dann bauen, würden die Städ­ te anders aussehen, improvisiert, ergänzt, verziert, unlogisch und teilweise auch ineffizient. Es wären Korallenriffe des Alltäglichen, Aneinanderreihungen des Ähnlichen –aber nie gleich. Sie wären unterbrochen durch Manifestationen des Aussergewöhnlichen, das wir mit unserer Kultur erschlossen haben: Plätze, Kirchen, Paläste, Deponien. Die theoretische, geplante Stadt neigt zum Kristallinen. Sie versucht das Reine, das Vollkommene abzubilden, das sich durch die Mathematik ergibt: Der kürzesteWeg, die schnellste Verbindung, die einfachste Bauform. Der Kristall ist die Effi­ zienz schlechthin. Kein Platz wird verschwendet. Er ist rein und optimal. Und er ist tot. Das Leben und das Optimale widersprechen sich. Solange sich etwas bewegen kann, ist es suboptimal. Es verbraucht Energie und Platz, stört die Ordnung, erfordert Flexibilität. Lebendigkeit ist eine Herausforderung an jeden Planer, und es darf nicht verwundern, dass mit fortschreitender plane­ rischer Perfektion die Lebendigkeit aus den Formen ver­ schwindet. Am Schluss resultiert die perfekte Maschine, die Wohnmaschine, die Arbeitsmaschine, kristallin, klar und rein. Sie zu bewohnen oder für die Arbeit zu nutzen gleicht einer Verunreinigung, einem Sündenfall. Kein Wunder, tun sich die kristallinen Städte mit dem Auto weniger schwer als mit dem Menschen. Es ist ihnen ähnlicher als der irrationale Zappel­ philipp mit den zwei Beinen und den kaum voraussehbaren Wünschen zwischen 17 Uhr abends und 8 Uhr morgens. Die kristalline Stadt ist eine Absage an die Menschlich­ keit. Obwohl sie der Theorie des Lebens entspricht, möchte sie sich der Praxis entziehen. Bereits der Veloparkplatz vor dem Haus kann all das zerstören, was auf dem Reissbrett an Klarheit mühsam errungen wurde. Nun ist es dahin. Auch Balkone stören, wenn nicht jeder den gleichen haben will.
  • 5. 8 9 Oder Gärten, wenn sie nicht einheitlich bepflanzt, geschnit­ ten und bestuhlt werden. Überhaupt stört alles, was sich an Buntheit, Vielfalt und Leichtsinn in und um die Häuser an­ sammelt. Es verstopft die Lichtbahnen des Kristalls, nimmt ihm den Schneid, die Aussage, die Richtung, die er uns vor­ geben wollte. Es gab eine Zeit, da sollte auch die Gesellschaft kristallin sein: Wie aus einem Guss, eine Stimme, eine Kraft, eine Silhouette. Es sollte die Manifestation des Gemeinsamen sein, der Effizi­ enz der Masse, der Kraft einer einzigen klaren Idee oder Ideo­ logie. Leider hat sich der Mensch als zu schwach für dieses Modell erwiesen. Es fehlt ihm letztlich der Wille zur totalen Einsicht, wenn er auch recht nahe an sie herankam, bevor sie ihn vernichtete. Das Totalitäre scheint überwunden, das Kristalline ist geblie­ ben.UnsereStädteliebäugelnimmernochmitdemplanbaren Mensch, umwerben ihn mit sauber aufgereihten Appartment­ blocks, mit gefluchteten Balkonreihen, mit schnurgeraden Strassenzügen und Baulinien bis in die Unendlichkeit. Noch immer glaubt der Planer an die Rückkehr der Vernunft, viel­ leicht auch nur nachts, wenn alle schlafen. Die kristalline Stadt wäre eine gelungene Episode in einer Science-Fiction-Operette. In Realität ist sie eine Beleidigung für die Seele. Kein Mensch ist gerade, und ein Haus, das dies vorgibt, übergeht ihn. Eine Siedlung, die Menschen durch­ nummeriert und in der Höhe stapelt von eins bis sieben, ist ein Hochregallager aber kein Ausdruck von Lebendigkeit. Nur Menschen, die keine Energie haben, sich um ihre wahren Bedürfnisse zu kümmern, wohnen hier. Sie sind der Illusion erlegen, dass die Wände gerade sein dürfen, solange es bunt und krumm aus dem Fernsehen kommt. Das Virtuelle quillt als amorphe Masse aus dem Televisionsröhren und Glasfa­ serkabeln der Batteriehaltungsanlagen und verhöhnt den Kristall, verhöhnt das effiziente Leben, die Natur und jede
  • 6. 10 11 Was ist Dichte? Wenn wir uns der Dichte als kultureller Aufgabe annähern, müssen wir aufpassen, dass uns dabei nicht die Lust vergeht. Anders gesagt: Die Lust ist uns eigentlich schon lange ver­ gangen. Wir leben in einer Kultur der stilisierten Einsamkeit. Nähe wird konsumiert im Sinne selektiver Interventionen. Kino, Essen, Facebook, Shopping. Wenn Nähe als selektiver Akt geführt wird, entsteht dabei nicht Dichte sondern Parallelität. Viele Menschen tun etwas Ähnliches zur gleichen Zeit. Sie interagieren nicht. Sie konsu­ mieren nur das Gleiche. Ihre Nähe ist nicht interaktiv. Wenn wir Dichte auf der Basis von paralleler Nähe erzeugen, gelangen wir zu kristallinen Strukturen. Man erhält eine Ord­ nung, einen Raster. Denn Parallelität ist am besten in einer Struktur zu erreichen. Wohnsiedlungen sprechen die Sprache von paralleler Nähe. Es ist eine niedrige Form von Nähe, eine organisatorische. Wenn wir von echter, menschlicher Nähe reden, verliert sich die Parallelität; es beginnt das Chaos oder das Leben. Man in­ teressiert sich füreinander oder nimmt sich zumindest wahr als Bezugspunkt. Die Aufmerksamkeit wird radial, die Vernet­ zungen räumlich und divers. In der heutigen Zeit tun wir uns schwer mit Dichte. Der Segen unserer Zivilisation oder unseres Wohlstandes ist die gerin­ ge Dichte. Man erwirbt Raum, man leistet sich Distanz. Man kann sich entfalten. Man muss nicht Rücksicht nehmen. Man kann sein, wie man ist. Diese Qualität wird bedroht durch die zunehmende Dichte. Keiner will sie. Man will nur eine selek­ tive Nähe, keine generelle. Entsprechend organisiert man sich in selektiven Strukturen: Hauseingänge, Tiefgaragen, Fitness­ clubs, Privatschulen. Verbundenheit zu sich selbst. Der Kristall wird verklebt mit der zähflüssigen Masse der Unterhaltung. Wir verbringen täglich Stunden damit, uns innerlich vom Kristallinen abzu­ lenken. Würde man unsere Städte als Synthese aus Ordnung und Lebendigkeit bauen, käme ein Gemisch heraus, das wir schon lange kennen. Es ist die lesbare Stadt, die mitlebende Stadt, die verspielte, organische, erweiterbare und veränderbare Stadt. Wir kennen sie am ehesten in den mittelalterlichen Formen, die wie ein Korallenriff ein Miteinander und Ne­ beneinander gebildet haben. Ihre Formen sind amorph, ihre Aussage trotzdem ornamental. Diese Stadt hat einen gemein­ samen Duktus, ohne den Einzelnen deswegen verleugnen zu müssen. Man kann einen Balkon anbauen, nicht überall, aber man kann. Man kann dieWäsche aufhängen, Pflanzen ziehen und das Dach begrünen, sofern man Lust hat. Diese Stadt erträgt das. Sie ist nicht das Prinzip, sie ist nur der Boden. Sie ist nicht Struktur, sondern nur Grundlage. Sie ist nicht Kristall, sondern nur Borke.
  • 7. 12 13 Die generelle Nähe ist uns verloren gegangen. Dorfplatz, All­ mend, Verein, Tanzabend. Wir sind es leid, zu müssen, und ein Wollen haben wir noch nicht entwickelt. Wir warten nach wie vor auf die Entspannung durch den Wohlstand. Schon morgen könnte er kommen, noch einen Tag durchhalten. Wir befinden uns in einer dauernden Transitionsphase hin zur Entspannung, denken wir. Die neue Nähe ist eine Utopie, ein unbekanntes Land. Wir glauben nicht, dass Dichte erstrebenswert sein soll. Das kann uns auch die Architektur nicht erzählen, am wenigsten mit Strukturen, die lediglich Parallelität postulieren. Ein neues Land erlebt man am besten als Tourist. Man muss Dichte in Form von Reisen oder Experimenten kennen ler­ nen. Ein Stück weit tun wir das. Der Dorfplatz in Süditalien ist schön, weil er voll ist, belebt, ein Gemeingut. Das Ferienlager mit den Kindern ist vielleicht auch noch schön, wild und cha­ otisch, aber ein Ereignis. Wir brauchen neue Geschichten zur Dichte. Diese müssen an einem anderen Ort ansetzen als am weniger gewordenen Raum. Sie müssen eine neue Magie entfalten. Der Autor P.M. ist ein Meister dieser neuen Dichte. Er erzählte vor 30 Jahren in «Bolo Bolo» eineVision der neuen Dichte. Heute ist er noch einen Schritt weiter und erzählt vom Grand Hotel, in dem wir wohnen könnten. Dichte als Mittel zum Luxus. Ein gewagter Kunstgriff. Aber vielleicht muss auch die Architektur neue Geschichten von Dichte erzählen. Gelebte Dichte, nicht organisierte Dich­ te. Wir haben genug Organisation in unserem Leben. Gelebte Dichte ist organisch, ist divers. Der Mensch ist ein Ni­ schentier, wie ein Krebs, wie eine Spinne. Er mag sein Schne­ ckenhaus. Aber er stellt es in die Nähe einer Lebensader, eines Biotops. Man möchte teilhaben am Plätschern des Sozialen, manche näher, andere weniger nah. Gemeinsam formt man ein Korallenriff, eine Stadt, einen Raum. Dichte wird dann lebbar, wenn sie garantierte Freiräume und einen graduellen Übergang zur Interaktion bietet. Man sollte nicht aus der Wohnungstür in die Öffentlichkeit stürzen. Die italienischen Altstädte haben oft Aussentreppen, Loggien, kleine Terrassen. Der Übergang wird inszeniert. Man kann in Lauerstellung verharren, im Beobachtungsmodus, im philo­ sophischen Rückzug, kann mithören, sich zu erkennen geben oder auch nicht.
  • 8. 14 15 Die kleinen und die grossen Räume Sowohl ein echter Held wie auch ein echter Bösewicht residie­ ren in grossen Räumen. Das lehrt uns jeder Bond-Film. Auch unsere Architektur- und Wohnmagazine zeigen, dass wahres Leben erst bei Rauminhalten über 100 Kubikmetern entste­ hen kann. Alles andere ist spiessig. Da die dargelegten Formate aber kein überzeugendes Rezept für eine allgemeine Besiedelungstypologie bieten, stellt sich die Frage, wie man trotz reduzierten Rauminhalten zu einem vernünftigen Leben gelangen kann. Die generelle Antwort der Vierzimmerwohnung mit Balkon kann nicht befriedigen. Im Gegenteil: In genau diesen Formaten werden die meisten Neurosen entwickelt, die meisten Frauen geschlagen und die meisten soziotrivialen Zeitschriften gelesen. Es muss also noch etwas anderes geben als die von Immobilienfonds ge­ stützte Vernunft als resignatives Sammelbecken räumlicher Verwirklichung. Befragt man gänzlich unabhängige Personen, nämlich Kinder, zu ihren Raumwünschen, kommen interessante Thesen zuta­ ge: Das Grosse ist nicht so bedeutend, wie man vermuten wür­ de. Vielmehr ist das Kleine der Ort der Entfaltung. In Nischen und Winkeln werden Geheimbünde geschlossen, werden seltene Paninibilder getauscht oder Zigaretten für den Lehrer mit Schwarzpulver gefüllt. Held und Bösewicht können also auch anders. Es fragt sich nur, wie sie das im Detail machen. Die kindlicheVerspieltheit scheint mit einer bisher unbekann­ ten architektonischen Komponente zu operieren. So wie die Schwerkraft wahrscheinlich ihr Gegenüber in der Leichtkraft hat, könnten kleine Räume auf eine Energie zurückgreifen, die der klassischen Architektur bisher verborgen geblieben ist oder zumindest nicht auf geeignete Weise hat wahrgenom­ men werden können. Nennen wir die gesuchte Komponente Wir haben es weit gebracht in Sachen Ökologie. Wir wissen von vielen Tieren, wie ihnen wohl ist, wie sie sich entfal­ ten. Beim Menschen sind wir unsicher. Täuschen wir uns? Lassen wir uns irritieren durch den Fetisch des Privaten? Ist das Einfamilienhaus eine artgerechte Lebensform? Wir wissen es nicht. Die Balance zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist nur die eine Ebene. Noch delikater ist die Frage nach Freiheit und Zwang. Wir wiegen uns in der Illusion, Zwänge eliminieren zu können und enden in der 44-Stunden-Woche. Wir sind traumatisiert und erleben Zwänge als Verletzung unserer Integrität. So kann Dichte nie gelingen. Dichte ist eine Odyssee, ein Abenteuer, ein Spiel. Anders ist sie nicht auszuhalten. Wer Menschen einfach näher zusam­ menschiebt, erntet Ratlosigkeit. Erst der soziale Raum stiftet Sinn, und dieser stützt sich auf eine Kultur der Dichte, die uns leider fehlt. Wir sind Anfänger und könnten viel lernen von Kulturen, die Dichte aus Leere erzeugen, nicht aus Überfluss wie wir. Wer keine Arbeit hat, kreiert zumindest einen Ort, wo er zusammen mit anderen auf bessere Zeiten warten kann. Diese Fähigkeit fehlt uns. Wir haben keine Zeit zu warten. Dichte ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Die oberste Raumplanerin der Schweiz, Maria Lezzi, be­ schrieb an einem Symposium ihre Wohnsituation: Ein Rei­ henhaus in Basel, vorbildlich dicht, draussen ein gemeinsa­ mer Raum, eine Quartierstrasse, um sich zu begegnen. Nur ist sie als Chefbeamtin nie da. Wenn sie nach Hause kommt, sind alle schon im Bett. Der «Dorfplatz» ist leer, die Kinder schlafen.Wie soll Dichte entstehen, wenn die Menschen dazu fehlen? Wie wollen wir einen gemeinsamen Raum kreieren, wenn keiner Zeit hat? Wie sollen neue Geschichten beginnen, wenn schon der Prolog keinen Platz hat in unseren überfüll­ ten Agenden? Sind wir zu reich, um uns zu verdichten?
  • 9. 16 17 heuristische Beweis der Kleinkraft sein dürfte. Noch aber ist man nicht soweit. Versuche in besagten Experimentalstrukturen haben des wei­ teren ergeben, dass Badezimmer mit zwei bis drei Quadrat­ metern Grundfläche die besten Badeergebnisse bei gleich­ bleibender Sauberkeitswirkung liefern, dabei aber mehr Schaum und eine viel schneller sich einstellende Raumtem­ peratur erzeugen. Bei fachmännischem Einsatz der Brause kann gar der ganze Raum mit Schaum gefüllt werden, was bei den Probanden als überaus erheiterndes Badeerlebnis, auch mit mehreren Personen, beschrieben wird. Ähnliche Ergebnisse liessen sich in Studierzimmern beob­ achten, die im Wohnzimmer an der Decke über dem Esstisch mit dem Eckbank angebracht wurden. Sie sind über eine Lei­ ter zugänglich und bieten ein Fenster auf den Sofabereich, was ihnen genau jenes Flair verleiht, welches nachweislich die besten literarischen Kriminalromane entstehen lässt. In einer Nische in der Wand wird eine kleine aber feine Auswahl an Obst- oder Kornbränden samt zwei Schwenkern unterge­ bracht. Kinder werden dank hochziehbarer Vertikalverbin­ dung erfolgreich am Zugriff auf nicht auf sie zugeschnittene Text- und Bildinhalte in ebendiesem Studierzimmer gehin­ dert. Nachdem die Raumhöhe im Gesamten generös ist, wird man es nicht unterlassen, das Wohnzimmer mit der bekannter­ massen glückbringenden Panoramascheibe auszustatten. Diese erlaubt einen Blick zum Himmel oder zu den spielen­ den Kindern im Garten, die sich jederzeit durch den Geheim­ gang aus der Speisekammer dorthin schleichen können. Der Wohnraum ist somit ausgestattet mit lokaler Grosskraft, was der internen Balance der ganzen Wohnung überaus zuträg­ lich ist. Schliesslich hat niemand behauptet, dass wir fortan wieder in Wohnwagen oder Ähnlichem hausen möchten. fortan «Kleinkraft» und stellen sie in Opposition zur bereits bestens bekannten und eingangs geschilderten Grosskraft. Die Entwicklung dieser Kleinkraft könnte für die Architektur eine interessante Ausgangslage bei der Lösung zukünftiger Raumaufgaben darstellen. Kleinkraft-unterstützte Entwürfe würden bei gleichem Flächenmass oder Rauminhalt deut­ lich weniger beengend wirken. Sie würden sehr viel seltener zu besagten Neurosen und Auswüchsen führen. Sie würden Menschen mit durchschnittlichem Karma zu erstaunlichen Biographien verhelfen. Sie würden mittelgrosse Räume grös­ ser erscheinen lassen und so die Grosskraft wieder zu ihrer eigentlichen Wirkung zurückführen, die sie durch besagte Raumorgien gewissenloser Architekten verloren hat. ErsteLaborversuchemitderKleinkraftweisenaufinteressante Erkenntnisse hin. So hat sich gezeigt, dass die übliche Raum­ höhe von ca. 2.40m reichlich untauglich ist für die Entfaltung von Kleinkraft. Sie scheint eine Art negatives Optimum darzu­ stellen, eigentlich die schlechtestmögliche Ausgangslage, um Kleinkraftwirkungen entfalten zu lassen. Bereits eine Decken­ höhe von 3.20m oder 3.50m bietet ganz andere Möglichkei­ ten. Hier werden Schlafräume zu halb­hohen Kuschelnischen, Badewannen in den Boden eingelassen (wo sie unten in der Speisekammer wieder herausschauen) und Kinderzimmer mit Geheimlogen versehen, die Erwachsene erfolgreich an ih­ rer sektiererischen Aufklärungsarbeit zugunsten vonVernunft und Disziplin hindern. Die Verschachtelung von zwei Ebenen auf einer Etage ist eine der Schlüsselkomponenten zur Aktivierung von Kleinkraft. Nun ist es nicht so, dass dabei zwei Etagen von jeweils 1.60m resultieren würden, was nur gänzlich orthogonal verdorbene Menschen zu vermuten wagen. Aus der Verschränkung der Ebenen ergeben sich neue Raumbezüge und Teilhöhen, die in der Summe ein Anwachsen des gefühlten Raumes bei gleich­ bleibendem Raumhinhalt erzeugen, was nichts weiter als der
  • 10. 18 19 Die Zukunft des Automobils Das Auto bietet genau das, was wir wollen, auf eine Weise, wie wir es genau nicht wollen. Wer gelegentlich Automagazine liest oder dem motorisierten Haustier nicht ganz abgeneigt ist, weiss, wieviel Liebe immer noch in dieses kleine Monster investiert wird. Zwar mögen wir alle seinen wilden, ungezähmten Charakter, besingen ihn auf unzähligen Werbeplakaten und in Filmsequenzen, aber im Grunde genommen ist das Auto ein Mitbewohner mit so schlechten Manieren, dass wir ihm unsere Liebe eigentlich künden müssten. Dass wir es nicht tun oder noch nicht tun, hängt mit der Visi­ onslosigkeit zusammen, die uns gelegentlich beherrscht. Wir haben zu viel Alltag und zu wenig Ausblick.Vielleicht hängt es auch ein wenig mit der Inbrunst zusammen, wie eine globale Industrie ihrem Baby immer wieder neue Jugendlichkeit ein­ haucht, obwohl es mittlerweile ein Greis ist, hundertjährig, und aus einer Zeit stammend, in der man noch zu Marsch­ musik stramm stand. Das Auto ist ein Relikt, auch wenn es uns jeden Tag ein gu­ tes Stück Modernität bietet. Wer seinen Charakter genau­ er studiert, lernt das Grauen: Das Auto hat in seiner kurzen Geschichte wohl mehr Menschen umgebracht als der zweite Weltkrieg, und jedes Jahr werden es 1,2 Millionen mehr. Diese Zahl ist so monströs, dass die meisten Menschen sie gar nicht glauben mögen. Bürgerkriege nehmen sich dagegen wie Ba­ gatellen aus. Die Sündenliste aber ist viel länger: Luftverschmutzung, Ver­ seuchung der Böden, Vergiftung der Atmosphäre mit Russ und Feinstaub, Zerstörung unserer Städte und Lebensumfel­ der durch Lärm, Gestank und tödliche Gefahr. Die Zersiede­ Wer nun glaubt, in besagter Experimentalwohnung mit dem Helm unterwegs sein zu müssen, irrt sich glücklicherwei­ se. Die Verschachtelung von gross und klein, von hoch und niedrig, von geheim und öffentlich führt zu einem sprung­ haften Anstieg der habtisch-motorischen Fähigkeiten der Bewohnenden. Sie entwickeln eine natürliche Gabe, wieder auf ihre Umgebung einzugehen, nachdem bei Bewohnen­ den von Normgeschossen nachweislich eine langsame kör­ perliche Verblödung bis hin zur taktilen Desorientierung hat festgestellt werden müssen, die meist nur mit intensiven Rau­ fasertherapien zu mildern ist. Die Kleinkraft scheint also eine der grössten Spielräume und Raumreserven darzustellen, die sich der Architektur derzeit bietet. Man spricht vom neuen Megatrend. Bereits haben ers­ te Kinder Lehrstühle für Architektur angeboten bekommen. Eine Wolldeckenburg, die anlässlich eines Symposiums ge­ baut wurde, soll für eine halbe Million Dollar an einen grossen Immobilienfonds verkauft worden sein. Und in einer finni­ schen Kleinstadt haben zwei Zwölfjährige ein Baumhaus der­ art umgestaltet, dass es sich grösser anfühlte als die 5-Zimmer Wohnung der Eltern im nahegelegenen Plattenbau. All dies lässt aufhorchen und kritisch werden beim Betrachten von architektonischen Hochglanzmagazinen und tendenziösen Agentenfilmen.
  • 11. 20 21 Trennt man die beiden Funktionen Spass und Nutzen, erken­ nen wir mehr Möglichkeiten. Die Benzinromantik lässt sich in einem Freizeitpark ausleben, gepaart mit Eiskrembuden und Publikum. Das klassische Auto wird zu einem Luxusgerät wie sein Vorgänger, das Pferd, das man sich auf einer abge­ sperrten Piste hält. Wir werden sie feiern, die Helden unsere Jugend, samt ihren Spoilern und Vierfachvergasern. Viermal im Jahr werden wir einen Autosonntag machen, samt Abga­ sen und Motorengeheul. Aber all das hat nichts mehr mit Mo­ bilität zu tun. Fragt man nach dem Destillat der zukünftigen Mobilität, erhält man selbstfahrende Kabinen, die geräuschlos herum­ gleiten, Leute ein- und ausladen und sich diskret verkrümeln, bis man sie wieder ruft. EbendieseTechnik scheint in­zwischen greifbar nahe. Sollen wir uns damit zufrieden geben? –Nein. Denn auch die knuffigsten Kabinen sind ein Ärgernis, eine Blechlawine, ein Stau in Raten. Sie bieten zwar eine erheblich gesteigerte Effizienz, sie sind aber immer noch ein Fremdkör­ per in einer Lebensumwelt, die mit ihnen nichts zu schaffen haben will. Wir wollen Mobilität und nicht Autos. Wenn man an die Lebensweise der Zukunft oder an die Stadt der Zukunft denkt, merkt man, dass es keinen Platz mehr hat für Autos, egal welcher Art. Das Leben ist schlicht zu span­ nend, um es sich mit Autos zu teilen. Also braucht es eine bessere Lösung. Diese setzt am erwähnten Punkt an: selbst­ fahrende, flexibel einsetzbare Kabinen, die sich zusammen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Gesamtlösung vernetzen. Man ist also nicht Kunde eines Autos sondern Be­ steller eines Mobilitätswunsches, der je nach Angebot über unterschiedlicheVerkehrmittel abgewickelt wird. Je nach Prä­ ferenz kann das mehr oder weniger Komfort umfassen. Richtig gut aber wird das System erst dann, wenn es uns nicht mehr belästigt. Dies wird eintreten, wenn die Fahrzeuge nicht mehr unseren Lebensraum brauchen für ihre Fortbewegung. lung, die das Automobil in dieWelt gebracht hat, ist äusserlich und innerlich verheerend. Wir sind uns durch das Auto nicht nur näher gekommen, sondern auch fremd geworden. Es hat die Gesellschaft von innen her zerrissen. Wenn man heute von Elektroantrieb und sauberen Autos spricht, ignoriert man, dass diese gar keinen Wandel bringen werden. Sie werden nichts an der Aussage ändern, dass die Zeit für Autos eigentlich vorbei ist. Sie lenken davon ab, dass es eigentlich etwas ganz anderes bräuchte, als ein weiteres Auto, nämlich eine Art von Mobilität, die zwar alles kann, was ein Auto bietet, seine schlechten Sitten aber nicht erbt. Das Auto der Zukunft soll leise sein, niemanden töten und drangsalieren, unsere Siedlungsräume in Ruhe lassen, wenig Energie brauchen und uns trotzdem jederzeit überall hinfah­ ren, oder zumindest in die Nähe. Wer jetzt spontan «ÖV» sagt, ist ebenso von gestern, wie die Viertaktfanatiker unter uns. Auch der ÖV ist hundert Jahre alt und eine Art Zwangssozia­ lismus der Fortbewegung. So richtig es sein kann, da und dort den Zug zu nehmen, so übertrieben ist die Forderung, den ersten Schritt in die Mobilitätszukunft mit demWarten an der Bushaltestelle zu beginnen. Will man dem Phänomen Auto auf die Schliche kommen, muss man seine Konzeption freilegen wie eine Artischo­ cke. Am Schluss bleibt der Fahrwunsch, umhüllt mit einem Bouquet an Komfort- und Geltungsbedürfnissen. Diese irra­ tionale Paarung von Mobilität und Status verhinderte bisher eine Weiterentwicklung des Autos. Immer musste es nützlich und sexy sein, Heilige und Hure zugleich. Das erklärt, dass der Tesla bisher die logische Antwort auf die Frage nach der Zu­ kunft des Automobils darstellt, ein Widerspruch auf hohem Niveau. Wir liegen einem automobilen «Double-Bind» auf, den wir nicht lösen können. Wir können nicht mit dem Auto ins Bett.
  • 12. 22 23 Tun sie es trotzdem, weil sie uns vor der Haustüre absetzen möchten, gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 25km/h. Alles was schneller ist, bedroht uns. Das bedeutet, dass das Auto der Zukunft überaus langsam ist. Das mag im Moment etwas enttäuschen, nachdem wir uns so lange den PS-Zahlen und Breitreifen hingegeben haben. Ausserhalb des Siedlungsgebietes darf es schneller fahren, dafür aber nicht mehr am Boden. Die Erdoberfläche ist zu wichtig, als dass wir sie durch Strassen zerschnitten haben möchten. Zudem gilt auch hier die Maxime der Gefährdungs­ freiheit. Dies bewirkt, dass die Autos an einer Art Förderband hängen, an welchem sie über Land gleiten. Dieses Trans­ portsystem ist vergleichbar mit einem Skilift, funktioniert als Hochbahn und vermag die Autos während der Fahrt aufzula­ den. Diese Hochbahnen wären tendenziell dort angelegt, wo heute Kantonsstrassen oder Autobahnen verlaufen. Man wür­ de also eine Verschandelung der Landschaft zugunsten einer Befreiung von Lärm, Gefährdung und Trennwirkung bekom­ men. Ein bisschen abwägen werden wir also müssen. Indem das Auto aus eigener Kraft nicht mehr schnell und weit fahren muss, wird es plötzlich leicht und flexibel. Die weni­ gen Kilometer, die es autonom fährt, bedingen nur eine klei­ ne Batterie. Und die 25km/h lassen eine platzsparende Form ohne Knautschzone und Tropfenform zu. Mehr als 80km/h fahren die Dinger auch an der Hochschiene nicht. Schliess­ lich will man nichts von ihnen hören. So flüstern sie denn über die Landschaft, lassen darunter freien Raum für Mensch, Tier und Pflanze. Gelegentlich tönt ein sanftes Quietschen der Gummiräder nach unten, wo man Velo fährt oder Rilke liest. Irgendwann wird man sich zurückbesinnen und den Kopf schütteln, wie man so lange Zeit mit einemVerkehrsmittel zu­ sammenleben konnte, das gar nicht zu uns passte. Aber es ist wie mit allen Beziehungen: Die Liebe wandelt sich.
  • 13. 24 25 die Pedicure und der Hundesalon. Auch der Einkauf ist in der Stadt besser, weil die auf dem Land ja keine Ahnung ha­ ben. Die Milch ist zu fettig, das Brot zu brötig und der Kaffee untrinkbar. Im Dorfladen haben sie weder glutenfreies Müesli noch Mandeln aus fairer Bodenhaltung. Und die Dorfgarage kann mit ihrem veralteten Analysestecker nicht einmal einen platten Reifen beim Lexus Hybrid GT diagnostizieren. Die neuen Landmenschen sind wie die alten Landmenschen echte Macher. Sie lassen sich von solchen Problemchen nicht beirren. Ein echter Landmensch nimmt das Heft in die Hand. Man organisiert sich, steht zusammen, zum Beispiel im Stau Richtung Stadt. Dort holt man sich, was auf dem Land fehlt, nämlich alles. Und weil die Städter zu dumm sind, ihre Stadt verkehrstechnisch ordentlich auf Vordermann zu bringen, muss auch hier der Landmensch Nägel mit Köpfen machen. Er nimmt sich das Beste der Stadt und packt es in eine gut erreichbare Kiste auf halbem Weg. Supermarkt, Kino und Kegelbahn sind nun für alle erreichbar, nicht nur für die Velofundis. Diese Art der Demokratisierung der Mobilität war längst überfällig und musste einmal mehr vom Land kommen, weil den Städtern jede praktische Gabe abhanden gekommen ist. Aber auch auf dem Land sorgen die neuen Landmenschen für Fortschritt. Die alten Landmenschen nehmen sich ein Bei­ spiel und fahren nun auch zum Supermarkt am Stadtrand, um sich mit allem einzudecken, was man auf dem Land so braucht: UHT-Milch und Fertigpizza im Multipack. Aus dem Blickwinkel der Landmenschen ist das schlicht praktisch. Und weil das Praktische zum Land gehört, sind all die Raum­ planungsnörgler und Verkehrshysteriker lebensfremde Theo­ retiker. Der Stau ist schliesslich in der Stadt und nicht auf dem Land. Das beweist doch alles. Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Mit den städtischen Annehmlichkeiten tragen die Landmenschen aber auch die Statt Land Wer hat etwas gegen das Land? Wohl niemand. Das Land ist der Hort des Unberührten, der heilen Welt, der Natur und Landschaft. Hier wohnen die Gutmenschen, die uns mit Nah­ rung versorgen und die Felder bestellen. Neuerdings pflegen sie auch die Landschaft und streicheln die Tiere. Unter die alten Landmenschen haben sich in letzter Zeit neue Landmenschen gemischt. Sie gleichen den ersten, tragen auch Karohemden und wohnen in Bauernhäusern oder der­ gleichen. Eigentlich aber sind es Städter oder Pseudostädter, die sich hier eingenistet haben, um dem Land zu huldigen, bzw. dem, was sie für das Land halten. Denn das Land, das merken wir nun schmerzlich, wurde in keiner Norm festge­ halten und auch nicht patentiert. Man kann es nach seinem Gusto abwandeln, umdeuten und neu interpretieren. So kommt es, dass neuerdings Einfamilienhaussiedlungen auch als Land gelten. Doppelgaragen und Roboterrasenmä­ her ebenfalls. Und Kinder, die jeden Morgen mit dem SUV (Sonderbar übertriebenes Fahrzeug) in die Schule gebracht werden auch. Es sind eben Landkinder. Und weil es allen so gut geht auf dem Land, ist das Landleben gesund, erspriess­ lich und sozial erstrebenswert. Hier atmet man noch reine Luft, gerade auch ideologisch. Man muss sich nicht mit den geistigen Verunreinigungen der Stadt abgeben. Man muss nicht jede Mode und jeden Gag wie Flüchtlinge oder Drogen mitmachen. Man ist noch dem Echten, dem Wahren verbun­ den. Dafür steht man auch ein. Schade nur, ist die Stadt so weit weg. Sie ist zwar Inbegriff für einen gescheiterten Lebensansatz (Dreck und Lärm überall), bietet aber so manches, das bei näherer Betrachtung nützlich ist, z.B. einen Job oder eine Schule für die heranwachsenden Kinder. Auch das Basketballtraining ist in der Stadt, ebenso
  • 14. 26 27 Nach den Strassen Städte sind bauliche Inselgruppen im Verkehrsmeer. Die Struktur der Strassen gibt die Stadt vor, dazwischen kann man bauen, umbauen und abreissen. Die Strassen bleiben. Diese Logik dauert nun schon eine Weile an. Spätestens mit dem Automobil ist sie zur Normalität geworden. Zuvor war die Strasse mehr eine Zierde, ein städtebaulicher Wille oder eine Anlage. Immerhin brauchte es Jahrhunderte lang keine Stras­ sen sondern nur Gassen. Dass wir heute notgedrungen mit Strassen leben, ist eine Bankrotterklärung an uns selber. Wir, die wir glauben, die Be­ wohner der Stadt zu sein, müssen eingestehen, dass es einen wichtigeren Mitbewohner gibt, der mehr Platz einnimmt, uns tyrannisiert und uns die Areale zuweist, in denen wir leben können, nachdem er sich seine Bereiche herausgenommen hat. Wer immer die Frechheit hat, ungefragt in den Bereich des Mitbewohners Auto einzudringen, wird bestenfalls an­ gehupt, im schlechteren Fall totgefahren. Die Beiläufigkeit des Tödlichen hat etwas Groteskes in einer Umgebung, die eigentlich dem Leben gewidmet ist. Trotzdem nimmt der Ver­ kehr zu, auch bei uns. Und würden gewisse Städte nicht ab­ sichtlich Autos schikanieren, wäre es noch viel schneller vor­ wärts gegangen mit der blechernen Vereinnahmung. Das Auto bestimmt die Wohnlage. Entlang der befahrenen Achsen sind die Mieten billiger, die Menschen dümmer und die Kinder dicker. Hier wohnt man, wenn man von unten kommt oder unten bleiben muss. Alle, die können, fliehen vor dem Verkehr, den sie täglich miterzeugen. Am besten ha­ ben es die am Hügel, welche sich von den Strassen absetzen können, geschützt durch ein paar Höhenlinien und etwas Grün. Abends öffnet sich das automatische Tor, durch wel­ ches das Automobil (Tesla Model S) unschuldig hereinsummt und suggeriert, dass alles in Ordnung ist. städtischen Krankheiten aufs Land hinaus. Plötzlich gibt es den ersten Verkehrstoten, und das mitten im Dorf. Der Sohn des Nachbarn nehme Drogen, sagt man, glücklicher­ weise aber in der Stadt. Auch die Schliessung des Dorfladens ist ein Schock. Zwar ist seit Urzeiten niemand mehr dort ein­ kaufen gewesen, aber gleich zu schliessen, ist nicht die Art des Landes. So langsam ist das Land nicht mehr das Land von früher. Das merken die Landmenschen. Es sind zu viele unechte hierher gezogen. Der ganze Hang ist voll mit ihnen, und es sollen noch mehr kommen, dem tiefen Steuerfuss wegen. Unten auf der Kantonsstrasse wird ein Kreisel entstehen. Und im Nach­ bardorf will man endlich die Umfahrung, weil man von den Landmenschen endgültig die Schnauze voll hat. Es ist eng geworden auf dem Land. Vorschriften überall, Bau­ visiere stehen, Tiere müssen an die Leine, Parkverbote schika­ nieren Bürger. Manch einer denkt sich, dass er bald ausziehen und gehen wird, irgendwo aufs Land.
  • 15. 28 29 wo man sich als Mensch wohl fühlt? Und was genau soll man auf diesen Strassen machen, wenn keine Autos mehr fahren? Natürlich ergreifen wir Partei für Prachtsstrassen wie eine Champs Elisée.Wir lieben die Menschenmassen, die an Sonn­ tagen auf ihnen flanieren, am liebsten in Art Déco-Kostümen. Aber diese Strassen sind selten, ja geradezu die Ausnahme. 95% der Strassen sind banal, Zweckbauten, Verbindungs­ achsen. Nimmt man ihnen den Verkehr weg, tritt die ganze Tristesse zu Tage. Man kann sie als Filmdécor für lebensmüde Nachtstreuner oder verliebte Hunde verwenden. Als Lebens­ raum sind sie überaus befremdlich. Der Mensch fühlt sich darin verloren, ausgestellt und lächerlich gemacht. Die Parkstrasse ist wohl der erste Impuls, der uns erreicht. Das Grün erlöst uns vom bohrenden Blick des Graus. DerTeer wird aufgebrochen, durchstossen, bepflanzt und beblumt. Damit gewinnt man lauschige Gartenanlagen, welche sich durch die Stadt ziehen. Das ist hübsch, lädt zum Flanieren und zum Ve­ lofahren, –ein Verkehrsmittel, das alle Veränderungen überle­ ben wird. Denken wir aber an eine Wehntalerstrasse oder an eine Schaffhauserstrasse in Zürich, kommt die Frage auf, ob denn so viel Park und Flanage Sinn macht. Immerhin sind wir nicht dauernd schwanger und brauchen Auslauf. In den meisten Fällen reichen schöne Fuss- und Radwege. Diese brauchen wenig Platz. Was also machen wir mit der vielen Fläche? Während Obelix seine sofortwachsenden Wundereicheln werfen konnte, braucht es bei uns etwas länger, um eine Struktur anzudenken, die in diese städtischen Zwischenräu­ me passen könnte. Nach kurzem Überlegen merken wir aber: Zwischen der heutigen Stadt könnte nochmals eine Stadt ent­ stehen. All die Zwischenräume, die unnatürlich aufgeweitet wurden durch unseren blechernen Mitbewohner, könnten ins menschliche Mass zurückgeholt werden. Unsere Geh­wege brauchen 2 Meter Breite, kombinierte Rad- und Gehwege viel­ Das Auto wird zur tragischen Notwendigkeit in einem dyna­ mischen Lebensumfeld emporstilisiert. Der Kampf ums wirt­ schaftliche Überleben erfordert diese Art Mobilität, die Opfer mögen es verzeihen. Erst der wirtschaftliche Endsieg könnte uns dazu bewegen, über menschenfreundlichere Verkehrs­ mittel nachzudenken. Im Moment ist dies unmöglich, da die Konkurrenz zu stark ist, um in irgendeiner Richtung eine Pause einzulegen. Die Lage ist zu ernst, um über Verkehrs­ opfer zu reden. Rettungswesen, Unfallchirurgie und Para­ plegikerzentren kümmern sich um die Opfer. Man lässt sie nicht am Strassenrand verfaulen wie in Indien. Wer bei uns im Kampf um die wirtschaftliche Prosperität fällt, kann auf ein sauber geputztes Spitalzimmer hoffen. Kinder bekommen noch einen Teddybären dazu. Ob der wirtschaftliche Endsieg und der finale Wohlstand je eintreten, darf bezweifelt werden. Der Kampf ums Überleben ist zu spannend, als dass wir ihn einfach so hergeben würden. Zudem haben wir keine Kultur des spielerischen Zusammen­ seins entwickelt. Was also sollten wir tun, wenn der Wecker um halb sieben nicht mehr klingelt? Trotzdem könnte es sein, dass wir eines Tages ohne Auto aus­ kommen. Noch kann man es sich nicht vorstellen, erschöpft sich die Phantasie in neuen Antriebssystemen oder Rückfahr­ kameras. Und doch könnte es sein, dass wir aus verschiede­ nen Überlegungen zu Lösungen kommen, die keine Strassen mehr im heutigen Sinn erfordern. Man würde also seine Mo­ bilität auf andereWeise abdecken, bequem, entspannt, sicher. Man würde den Erdboden in Ruhe lassen, weil da Menschen leben möchten. Spätestens dann würde sich die Frage stellen, was wir mit unseren Strassen anfangen. Es ist nichts Falsches an Strassen. Ihr Problem ist ihre Dimen­ sion und ihre Arroganz. Sie passen sehr gut in die Kasernen­ architektur der letzten 150 Jahre. Aber sind sie wirklich ein Ort,
  • 16. 30 31
  • 17. 32 33 Endstation Altersheim Sie kennen es: Man geht seine Verwandten besuchen. Ein Altersheim am Rande einer Kleinstadt, sittsam ins Grün platziert, ein Parkplatz, eine formvolle Hecke, ein Blumen­ beet. Danach beginnt das Grauen. Niemand wollte es so, und doch findet es immer wieder statt: Ein Haus voller Gestran­ deter, versorgt in Einzelzimmern, aufgereiht an langen, ge­ bohnerten Fluren. Man sieht sie herumschlurfen, das Gesicht eingerollt in ihr Schicksal, die Aufmerksamkeit auf das Weni­ ge gerichtet, das noch zu ihnen durchdringt. Es ist ein Laza­ rett der Verlorenen, ein Abstellgleis der Ausgemusterten, eine architektonische Euthanasie. Um 17.30Uhr gibt‘s das Abend­ essen, wer kann, gelangt bis in den Speisesaal, die anderen bekommen es aufs Zimmer. Niemand wird behaupten, dass man sich aufs Altersheim oder Pflegeheim freut. Es ist eine Lösung, wenn es sonst kei­ ne Lösung mehr gibt, eine Lösung für das Unlösbare. Man wird dem Schicksal ausgeliefert, hygienisch verwahrt, sittsam begleitet beim letzten Gang ins Nirgendwo. Und auch wenn all die Menschen Grossartiges leisten, die dort arbeiten und wirken, muss doch die Frage gestellt werden: Gäbe es nicht eine Architektur, die diesem Lebensabschnitt näher käme als das Modell der Entsorgung auf hohem technischem Niveau? Nachdem ich nicht wirklich alt bin, folgt nun eine Kaskade des Spekulativen, dem man jederzeit innerlich entgegentre­ ten darf. Fragt man sich aber selber, wie man denn gerne alt würde, tauchen mannigfaltige Bilder auf, die man mit räumli­ chen Eindrücken kombinieren kann: Der Tee am Kamin­feuer, die Aussicht auf den See, das Kartenspiel mit den anderen „Jungs“, der Filmabend für Schwerhörige samt Popcorn und Nummerngirl oder der Gang in den Garten, wo Himbeeren und Boskop in den Weg hineinragen. leicht 5 Meter. Damit bleibt viel Platz in jedem Strassenraum. Dazu kommen leer stehende Parkplätze in Hülle und Fülle, ein richtiges Fest der Freiräume. Bedenkt man ferner, dass man auf 6 Metern Tiefe ein schönes Zuhause bauen kann, wird klar, was sich nach und nach präsentiert: Die Stadt 3.0. Es könnte also einen Städtebau der Ritze geben. Einen, der sich ungeachtet der bereits bestehenden Architektur an die Nachverdichtung macht. Da die verfügbaren Flächen schmal und bandartig sind, wäre es eine zierliche Architektur, die sich hier manifestieren würde, also eine Art Reihenhaustypus, ohne aber dessen Würfelzuckerstereotypie (und die daraus resultierende Kleinbürgerdiabetes) wiederholen zu müssen. Man könnte im Gegenteil eine Art neue Altstadt zwischen die grossen Formen und Flächen setzen, die sich mit Gassenräu­ men zu den Nachbarflächen hin verbindet. Auf etwa zwei bis drei Stockwerken könnte viel Lebensqualität entstehen. Die Dachflächen wären die privaten Aussenräume, «Zahnlücken» zwischen den Häusern würden kleine Rückzugsorte oder Pflanzflächen bieten. Es gibt keinen Grund, warum diese neue Stadtfüllung das Strenge und Stereotype der alten Stadt übernehmen muss. Es reicht, wenn man die schmalen Parzellenketten in den ehe­ maligen Strassenräumen den einzelnen Bauwilligen über­ lässt. Viel wichtiger ist es, ihnen die Bereitschaft zur sozialen Dichte abzuverlangen. Stadt ist, wenn man zusammen lebt. Nicht die Häuser sind in der Pflicht, sondern wir selber. Es ist unsere Lust auf Dichte, die kultiviert werden muss. Dichte ist zu wertvoll, um sie der Architektur zu überlassen. Im Kontrast zu den schachbrettartigen Klingelschildern der Nachbarn wäre hier eine kleine, lockere Gemeinschaft zu­ hause, wo die Kinder sich draussen austoben und die Alten Halma spielen und Bohnen rüsten, mit oder ohne wirtschaft­ lichen Endsieg.
  • 18. 34 35 hat ein englisches Pub, ein französisches Bistro und einen Stammtisch, an dem Karten gespielt werden. Für die Raucher bietet sich eine Raucherecke, für Damen eine Strickecke, da­ neben eine Bibliothek mit einem Angebot an Büchern und Filmen, dazu abendlich eine Vorleserunde mit Freiwilligen aus dem Heim oder von auswärts. Altsein ist in meinerVorstellung wie Jungsein, aber langsamer, direkter. Während man früher nach Rio flog, hat man nun Rio in sich drin und will es gerne teilen. Die neuen Alten sind voller Eindrücke und voller Geschichten und brauchen eine Umgebung, in der diese anklingen dürfen. Der Sandstrand ist das Sofa am Kamin, der Caipirinha dampft aus dem Teekrug und die Augen der lächelnden Pflegerin erzählen von lauen Nächten im Hafenviertel. Für all das braucht es Räume, braucht es Orte, sowohl für das Gemeinsame wie auch das Private. Weil aber die Welt in einem Gebäude stattfinden muss, muss das Gebäude wie eine Welt sein. Es soll keine Anstalt oder ein Hotel sein, sondern ein kleines Universum, das mannigfaltige Geschichten zum Leben bringen kann, subtil, dosierbar, zugänglich. Mein Altersheim wäre um einen Marktplatz herum gebaut. Der Marktplatz wäre wie eine Halle im Grandhotel, überdacht, umringt von den Galerien, und einer umlaufenden Estrade, von welcher aus die Zimmer zugänglich wären. Diese Arena böte auf zwei oder drei Ebenen die Möglichkeit, am Gesche­ hen auf dem Marktplatz teilzunehmen, direkt oder indirekt, indem man von oben zuschaut oder mit dem Lift nach unten kommt. Alles, was sich in diesem Altersheim an Gemeinschaftlichem ereignet, spielt sich auf dem Marktplatz ab. Hier sind die Cafés und Restaurants, bedient von einer zentralen Küche, die in der Mitte des Marktplatzes liegt, von oben einsehbar. Hier kann man am Morgen schauen, wie das Mittagessen zu­ bereitet wird, ja, man kann sogar hinuntergehen, bekommt eine Zwiebel zum Kleinhacken oder eine Kartoffel zum Schä­ len.Wenn angebraten wird, dann hört man das in der Halle, ja man riecht es vielleicht, trotz Dampfabzug. Auch wenn es nur eine Küche gibt, kann man sich an un­ terschiedlichen Orten hinsetzen, um sich zu verpflegen. Es
  • 19. 36 37 Die Arena wäre der öffentliche Teil, das Zimmer der private. Die Balkone der Zimmer würden einen Blick auf Berge, See oder ins Stadtzentrum bieten. Vielleicht wäre das Altersheim ja auch ein Hotel, was die Arena noch spannender machen würde. Die Hotelgäste würden in gläsernen Fahrstühlen in die Höhe entschwinden. Im Erdgeschoss wären die Verwaltung untergebracht, ebenfalls einsehbar von oben. Man würde die Direktorin beim Telefonieren sehen, den Briefträger, die An­ lieferung der Würste. Vielleicht wäre noch ein Kindergarten oder eine Kinderkrippe im Erdgeschoss eingemietet. Oder ein Solarium. Oder eine Werkstatt für Oldtimer. Es ist nicht so, dass die neuen Alten gesünder sind als die bis­ herigen Alten. Auch sie sind irgendwann reduziert und müde. Aber ein lebendiger Ort lässt sie wach bleiben, ja vielleicht selber am Leben teilnehmen und etwas einbringen. Das Altersheim wandelt sich von der Versorgungsanstalt zum kleinen Dorf. Zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen muss es Halb­ öffentliches geben: Sitzecken auf den Galerien, geschützte Be­ reiche, wo man ebenfalls essen kann, vielleicht in der Gruppe, die etwas mehr Betreuung benötigt. Es sollte auch möglich sein, dass Bewohner ein Element einbringen ins gemeinsame Dorf: eine Whiskybar, einen Filmclub, ein Makraméstudio. All diese Angebote sollten ebenfalls Platz haben. Sie wären ge­ sponsert von einzelnen Personen und würden ihnen die Ge­ legenheit gaben, die anderen an ihrer Erlebniswelt teil­haben zu lassen, auch wenn sie selber nur noch in beschränktem Masse Gastgeber sein können. Im gleichen Sinn sollte es möglich sein, dass man mit einem kleineren oder grösseren Budget Teil dieses Dorfes sein darf. Der gemeinsame Nenner soll nicht das Bankkonto sein, sondern das Teilhaben an ei­ ner hochwertigen Umgebung, die man vielleicht etwas mit­ gestaltet. Wir bauen ein Gewerbegebiet Jede Gemeinde hat es: Das Gewerbegebiet. Es dient dazu, Firmen unterzubringen, Arbeitsplätze anzubieten und nie­ manden zu nerven. Daher liegt es in der Regel auch am Rande des Dorfes oder der Stadt. Dort draussen findet man sie dann, die meist eingeschossigen Kisten, in denen es hämmert, brummt oder rattert. Meist ist es aber recht ruhig, denn die Industrie gibt es schon lange nicht mehr, sie ist nach China abgewandert. Geblieben ist der Fensterbauer, der Sanitär­ installateur und die Kühlkostkette. Allen gemein ist der grosse Parkplatz vor dem Haus, auf dem die Angestellten am Morgen ihr Auto abstellen. Und weil die Schweiz endlos Platz hat, sind alle glücklich und zufrieden. Wäre man nicht zufrieden, und würde sich die Frage stellen, wie man es denn auch noch machen könnte, wären die Resul­ tate vielleicht ganz spannend. Natürlich sind Gewerbegebiete nötig. Allein der Lieferver­ kehr ist ein Faktor, der sich mit dem Wohnen schlecht mischt. Aber auch die Lärmemission kann ein Grund sein, warum das Wohnen möglichst weit weg vom Gewerbe zu liegen kommen soll. In der Praxis aber ist das Gewerbe nicht mehr so laut und die Mehrzahl der Arbeitsplätze dreht sich um einen Compu­ ter, der auf dem Tisch steht. Die Trennung von Arbeiten und Wohnen ist also ein Überbleibsel aus der Zeit, als es noch rau­ chen musste, um nach Arbeit auszusehen. Kombiniert man Wohnen und Arbeiten, kollidieren zwei komplett verschiedene Gebäudeformen. Das mag im ers­ ten Moment nachteilig erscheinen. Umgekehrt wohnen die Menschen auch gerne an Hügeln, was sich ebenfalls aus der Kombination von zwei unterschiedlichen Formen ergibt. Hier der Hügel mit Südlage, da die kleinen, angepappten Häuser. Das Gewerbegebiet bietet vielleicht eine ähnliche Situati­ on. Die grossen Flächen im Ergdeschoss könnten überdeckt
  • 20. 38 39 Kindergschrei und Frittierduft. Die Trennung der störenden Emissionen vom Wohnen muss räumlich geschehen, am bes­ ten, indem das Wohnen auf der «anderen Seite des Berges» stattfindet, was seit jeher eine bewährte Strategie im Umgang mit dem Andersartigen darstellt. Sonnseitig also das Wohnen, schattseitig die Produktionen und die Anlieferung. Im Inne­ ren des Hügels die flächenintensiven Nutzungen: Produktion, Lager, Lager, Lager. Da viele Arbeitsplätze eng mit dem Com­ puter liiert sind, wünscht man sich in der Regel ein Fenster mit Aussicht. Das Hügelmodell kommt damit wohl an seine Grenzen. Es bietet relativ wenig Fensterfläche in Kombination zum Innenraum. Je nach Anforderungen könnte ein «Gugel­ hopf» die bessere Lösung sein: Ein gewerblicher Innenraum mit Zufahrt undWarenverteilung und eine ruhige Aussenseite mit Wohnen, Terrassen und grün. Wir müssen nicht über Gigantismus reden. Die Schweiz ist der Hort der Mässigung. Aber auch die Summe der heutigen Ge­ werbegebiete hat etwas Unappetitliches und stellt die Frage nach der Verhältnismässigkeit. Könnte man jeweils fünf die­ ser Gewerbegebiete in einen Gugelhopf packen, wären vier Standorte freigespielt, was Mensch und Kuh erfreuen würde. Der gemeinsame Standort wäre städtisch dicht, was nicht überall passt, dafür aber neue Vorteile bietet: Die Menge an Arbeitsplätzen erlaubt einen Busbetrieb oder den Bau einer S-Bahn-Station, was die Abhängigkeit vom Auto reduziert. Rechnen wir nach: 50 Firmen mit einem durchschnittlichen Flächenbedarf von 1000 Quadratmetern ergeben eine Brutto­ geschossfläche von 50‘000 Quadratmetern. Ordnet man diese auf fünf Ebenen an, nach oben verjüngt, umfasst die unters­ te Ebene vielleicht 15‘000 Quadratmeter. Dies liesse sich in einem Rund von 250m Durchmesser und 150m Loch unter­ bringen. Das Gebäude hat im Erdgeschoss also eine Tiefe von 50m, was für Gewerbeanwendungen wohl sinnvoll ist. Die darüberliegenden Ebenen sind jeweils etwas schlanker. Unter dem Boden lassen sich Autos oder Waren lagern. werden mit einer kleinteiligen Wohnstruktur, aufgelockert mit durchgrünten Wegen. Das Ganze sähe dann aus wie ein umgekehrter Schiffsrumpf samt Muschelkolonie. Das Kombinieren von einzelnen Gewerbebetrieben zu ei­ nem grösseren Gewerbebau birgt Vor- und Nachteile. In der heutigen Logik überwiegen die Nachteile, weshalb jeder Be­ trieb seine eigene Kiste aufstellt. Da die meisten dieser ge­ werblichen Verrichtungsboxen aber keine architektonischen Ambitionen hegen, lassen sie sich gut kombinieren, zu­ mal aus der Addition von Flächen und Funktionen neue Poten­ziale entstehen. Firmen können leichter wachsen und Flächen dazumieten, man kann Infrastrukturen wie Heizung oder Parkgarage gemeinsam nutzen und muss nur ein un­ dichtes Flachdach betreuen. Die Kombination von Gewerbebetrieben stellt auch die Hori­ zontalität in Frage, die heute das prägende Element dieser Art Installationen zu sein scheint. Da der Platz unbegrenzt und die Bodenpreise bescheiden sind, breiten sich die Unterneh­ men am liebsten auf einer Ebene aus, den Parkplatz samt Ab­ standsgrün vorangestellt. Ordnet man die Flächen vertikal an, entsteht sofort das Be­ dürfnis, die Abläufe auf mehrere Ebenen aufzuteilen, kombi­ niert mit Lastenaufzügen oder Förderbändern. Das scheint wenig praktikabel, es sei denn, man skaliere das Problem bis in einen Bereich, wo es wieder geht. Wenn die einzelnen Ebenen eines Gewerbeparks genug gross sind, lassen sich die Abläufe in der Regel auf einer Fläche abwickeln. Erst ganz grosse Firmen benötigen mehrere Geschosse. Die damit ver­ bundenen Wege fallen aber auch an, wenn man auf einer Fläche geblieben wäre. Es scheint also ein Potenzial für Ge­ werbeparks zu geben, die relativ gross sind, mehrere Geschos­ se haben und vielleicht sogar überwachsen sind mit Wohnen. Es bleibt die Frage nach dem Lärm und dem Geruch. Beides hat im Wohnen nichts zu suchen, ausser es handle sich um
  • 21. 40 41 einen Bruchteil der Strasseninfrastruktur und bietet oben­ drein noch Wohnraum für 400 Personen. Wer will, kann am Hügel wohnen und arbeiten, was durchaus etwas bieder er­ scheinen mag. Aber die Zukunft ist vielleicht viel simpler ge­ strickt als wir denken. Der Innenraum des Gugelhopfs von 150m Durchmesser reicht aus, um Zufahrten für Lastwagen zu errichten. Man muss die Waren also nicht alle per Aufzug auf die einzelnen Ebenen bringen, sondern hat die Laderampe direkt an der Werk- oder Lagerfläche, was der Hauptgrund für den ursprünglich simp­ len Typus des Gewerbegebietes darstellt. Ein Gleisanschluss ergänzt den Mobilitätsaspekt und lohnt sich bei dieser Nut­ zungsdichte. Und das Wohnen? Nimmt man an, dass man auf der Hälfte des umlaufenden Gewerbehügels wohnen kann, so kommt dafür eine ansehnliche Fläche zusammen. Bei einer mittleren gewerblichen Geschosshöhe von 5m ist der Hügel 25m hoch und bietet eine Aussenfläche von ca. 20‘000 Quadratmetern. Nutzt man diese Schräge zur Hälfte für das Wohnen, jeweils mit einer Gebäudetiefe von 6m und einer mittleren Wohnge­ schosshöhe von 3m, resultiert eine nutzbare Wohnfläche von 20‘000 Quadratmetern, was ca. 200Wohnungen oder 400 Ein­ wohnern entspricht. Ist das alles sinnvoll? Nimmt man an, dass der Wohn-Gewer­ behügel rundherum einen Grünraum von 25m hat, bekommt er einen Durchmesser von 300m oder eine Grundfläche von 70‘000 Quadratmetern. Vergleicht man das mit einer norma­ len Wohnsiedlung, die eine Ausnutzungsziffer von 0.5 hat, kommt man bei identischer Grundfläche auf eine fast doppelt so hohe Wohnfläche. Anders gesagt: Eine heutige Siedlung mit 800 Personen könnte auch ein Wohn-Gewerbehügel sein, würde dann aber nur die Hälfte der Bewohner aufnehmen können, dafür alle in bevorzugter Hanglage mit begrünter Dachterrasse. Die Gewerbefläche würde man quasi umsonst dazu bekommen und auch wenig von ihr merken. Der eigentliche Vergleich aber kommt erst: Gegenüber dem heutigen Modell des Gewerbegebietes mit einer Ausnut­ zungsziffer von 0.4 schneidet der Wohn-Gewerbehügel um den Faktor 4 besser ab. Er braucht einen Bruchteil der Fläche,
  • 22. 42 43 ein dezentes Ausrufezeichen unter das Grundstatement des Nützlichen und Kollektiven. Leistungsgrün. Dieses Grün ist beliebt. Es reiht sich ein in die Disziplinie­ rungsanliegen der Stadt. Dichte, Produktivität, Sicherheit sind nur zu haben, wenn die Leute sich innerlich erholen, sammeln und regenerieren können. Die Parkbank mit auf­ geschlagenem Feuilleton muss reichen. Mehr Grün wäre Ver­ schwendung. Minimalgrün. Während der Urbanist und sein Auftraggeber den optimier­ ten Menschen erträumen, wächst es draussen weiter. Ritzen gebären Notgrün. Entdeckt von der Reinigungsgruppe oder dem Hauswart ist es bald entsorgt. Die Stadt erträgt kein Fremdgrün. Sie will Konzeptgrün. Dafür aber ist sie da und dort grosszügig. Der Stadtpark ist der Beweis, dass die Stadt doch nicht so schlecht ist wie ihr Ruf. Ja, sie ist sogar der Natur Freund und Helfer. Die Vögel zwit­ schern und verheissen eine neue Art des Denkens. Kreativität bricht aus jedem Seitentrieb und der Mensch staunt. Wie ein gefangener Tiger wähnt er sich im Himmel beim Anblick des dargereichten Grünhappens. Stadtparks sind Zoogrün. Und wir ihre Haustiere. Die grüne Rückeroberung ist der Albtraum der Stadt.Wirklich sicher aber ist sie nie. Im Auge des Zeitreisenden ist die Stadt ein kurzer Funken Möbelpolitur auf einer an sich bemoos­ ten Welt. Die Stadt blitzt kurz auf, bevor sie wieder im Grün verschwindet. Ist es diese Urangst, die uns das Grün fürchten und domestizieren lässt? Gibt es eine Art Urgrün, das uns ho­ len wird, wenn wir nur kurz nicht aufpassen? Mittlereile gibt es sogar Menschen, die fahrlässig mit dieser Perspektive lieb­ äugeln.Währenddessen berichtenWissenschaftler von einge­ schleppten Pflanzen, die sich an keine Regeln mehr halten. Mit dem Urban Gardening scheint ein Versöhnungsangebot auf den Tisch gekommen zu sein. Das gute Grün verdient un­ Wieviel Grün erträgt die Stadt? Stadt und Grün. Ist das ein Widerspruch? Oder ist es im Gegen­teil eine Komposition? Was wäre der Central Park ohne Manhattan? Was wäre das Geranium ohne Dorf? Siedlung und Grün scheinen sich gerne zu verzahnen. Das Einfamilienhaus ist erst ein solches, wenn es von Rasen umge­ ben ist, samstags liebevoll geschnitten durch den Hausherrn. Das Grün wird zum Klingelschild einer guten Adresse. Nicht nützlich, aber doch unentbehrlich; also eine Dekoration. Das Dekorative ist eine wenig geliebte Funktion in der Stadt. Was im Dorf noch angehen mag, weckt hier Missmut. Hier, wo Dichte Pflicht ist, greift Dekoration zu kurz. Man will den Boden in Wert gesetzt wissen. Es hat keinen Platz für Grün­ romantik. Hochhäuser haben keine Geranien. Das Ernsthafte der Stadt bringt das Grün in Zugzwang. Wie will es den hohen Massstäben genügen, die sich die Men­ schen hier auferlegen und ihrer Stadt obendrein auch? Man­ cher Busch dürfte bei dieser Ausgangslage ratlos werden. Gut, denken Büsche wenig nach. Es ist nicht einfach, in der Stadt zu bestehen, ohne etwas zu leisten. Das Grün als Selbst­ darsteller? Die Selbstbezogenheit ist vielleicht der Trumpf des städti­ schen Grüns. Während alles rundherum braust und brummt, macht der Baum lautlos ein Blatt. Vielleicht aber auch nur ein halbes. Die Natur wird zur Gegenposition, zum Kontrastmit­ tel im etwas einseitig geratenen Schauspiel der Produktivität. Aber kann das genügen? Störgrün? Urbanisten graut vor dem Überallgrün. Sie möchten dezi­ dierte Grünheiten, am liebsten geometrisch zurechtgestutzt auf Fluchtlinien und Inszenierungen. Das Grün wird zum Triangelklang in der Marschmusik der Stadtmelodie. Es setzt
  • 23. 44 45 nichten das Land. So wie der Landesverräter selber ein Bürger sein muss, muss auch der Stadtverräter ein Citoyen sein. Er hinterfragt die Dogmen der Stadt und noch schlimmer: lebt gut damit. Wer ist er? Welche Art Grün treibt ihn um? Ist er am Ende gar ein Grüner? Die Unstadt ist der grösstmögliche Kontrast zur Stadt. Dieser erscheint einzig in der Stadt selber. Alle anderen Ort sind er­ dachte Kontraste; eine gute Flugstunde von hier entfernt. Nur was in der Stadt oder an der Stadt anders sein kann, besteht den Antitest. Zum Unstädtischen kommt man, wenn man die Stadt Stadt sein lässt und gleichzeitig einen neuen Ort kreiert. Dieser ge­ nügt sich selber in der Stadt. Er ist nicht Hilfsstadt, nicht Zu­ satzstadt, nicht Trotzstadt. So, wie die Stadt ins Land hinein­ greift, muss die Unstadt in die Stadt hineingreifen. Ihre Finger tauchen mitten drin auf. Und natürlich: Die Finger sind grün. Nur das nicht entwurzelte Grün formuliert Sätze, die nicht ur­ baner Natur sind. Wie ein konspirativer Landstrich schlängelt sich die Unstadt mitten in die Häuser hinein. Keine Strasse, kein Platz unterbricht sie. Erst als Kontrast weist sich ihre wahre Stärke. Fluchtweg, Antithese, Urgrün. Die Stadt erkennt in der Unstadt ihre Schönheit. Sie wacht eines morgens auf und wird sich klar, dass auch sie miss­ braucht wurde. Der Kampf war ein Vorwand. Es gibt ihn nicht in dieser Form. Es herrscht im Gegenteil sehr viel Frieden, wenn man ihn denn zulässt oder aufsucht. Stell dir vor, es ist Frieden, und keiner geht hin. Alle kämpfen weiter. Das Grün wird zum Erwachgrün für die Stadt. Sie ist schön! Sie ist schön, weil sie Stadt ist. Das Grün lächelt ihr zu. Es braucht keine Kosmetik. Naturschönheiten. Echte Stadt und echtes Grün. ser Lob und darf bleiben. Es hilft uns, den täglichen Kampf um den Wohlstand zu bestehen und regeneriert unsere See­ len. Da man es nach erfolgtem Lob essen kann, ist das Grün zweifellos der Gattung Nutzgrün zuzuordnen. Trotzdem bleibt ein Stück Verwilderung zurück. Der Mensch als heimli­ cher Verbündeter des Grüns in der Stadt. Werden wir langsam wieder zu Bauern? Subversivgrün? Die Alternative zum Grün ist der Platz. Er kann alles, was Grün kann, zudem ist er leicht zu reinigen. Stadtplaner verstehen Menschen nicht, die überall Bäume wollen. Der Platz ist ein Baum, man muss ihn nur richtig verstehen. Graugrün. Und der Platz ist nützlich. Er kann Menschen, Märkte,Verkehr und parkierte Autos aufnehmen. Er spiegelt die Baureihe an seiner Seite und zeigt damit, worum es in der Stadt geht. Der Platz ist der Feldweibel des Urbanen. Hier steht in Reih und Glied, was sonst im Dickicht der Strassen versinkt. Erst der Platz lässt er­ kennen, wie städtisch eine Stadt ist. In diesem Sinne ist er zu­ tiefst ungrün und nimmt nur widerwillig den Pflanzschmuck auf, den eine Anwohnerinitiative ihm aufgezwungen hat. Zwangsgrün. Die Hunde pinkeln drauf. Wäre die Stadt nicht so unter Druck, würde sie vielleicht mehr Grün zulassen. Aber es herrscht Krieg, und Grün ist nun mal ein Luxus, den man sich nicht leisten kann, ja nicht leisten will. Alkoholkonsum, Müssiggang und Littering zeigen, dass der Mensch mit Grün nicht umgehen kann. Der internationa­ le Wettbewerb erträgt keinen Durchhänger, jetzt nicht. Später vielleicht, wenn der Wohlstand erreicht ist. Dann lösen wir die Stadt auf und wohnen im Grünen. Das Grün wird zum Walhalla der geschundenen Krieger, es ist der Ort, wo Sorgen, Pflicht und Kampf von uns abfallen. Rein schon deswegen darf es kein übermässiges Grün geben in der Stadt. Die Regie­ rung spricht von Destabilisierungsgrün. Nachdem das Ungrün bereits mehrfach gedacht wurde, wäre es vielleicht an der Zeit, die Unstadt zu denken. Das ist mit­
  • 24. 46 47 ner Altstadt keine Gestaltungsregeln gibt. Sie sind schlicht un­ nötig. Die einzigen Regeln sind die Grundstückgrösse und die Bauhöhe. Das Kleinteilige macht aus jeder Gestaltung einen Mosaikstein, lässt ihn aufgehen im Gesamtbild eines Orna­ ments. Durch die Grundstückgrösse sind die Masse des Hauses vor­ gegeben. Mehr geht nicht, weniger durchaus. Da die Grund­ stücke sehr klein sind, wird man sie in der Regel füllen, zumin­ dest auf der Gassenseite. Seitlich muss man zusammenbauen. Auf der Hofseite ist Raum für Nebenbauten, Grünes und Trep­ pen. Die Gebäudehöhe ist im Prinzip vorgegeben, lässt sich aber durch die Form der Aufbauten frei interpretieren und zu kleinen Türmen drapieren. Eine Altstadt darf reifen. Nach einigen Jahren sind bei jedem Haus kleine Erweiterungen möglich, abhängig vom bereits Gebauten und jenem der Nachbarn. Dem Weiterbauen wird so eine positive soziale Dynamik verliehen, was man bei kon­ ventionellen Siedlungen nicht gerade sagen kann. Die Altstadt wird damit zu einem iterativen Bauwerk, wo jeder Bauschritt andere Bauschritte ermöglicht. Die Altstadt soll quasi auf einem irrationalen Grundriss ste­ hen, was an sich widersinnig erscheint, da Geplantes per Defi­ nition vernünftig ist. Bei der Altstadt aber muss dieses Parado­ xon auszuhalten sein. Es wird ein Grundplan entstehen, den man in keiner Art und Weise logisch begründen muss, ausser mit dem Umstand, dass die einzelnen Parzellen allesamt für ein Haus reichen. Aber die Unterschiede sind beträchtlich: Bautiefe, Hausbreite, vorspringende Ecken, zurückgesetzte Parzellen, abweichende Bauhöhen. Es ist eine Ansammlung von Ungerechtigkeiten, die nur durch geläuterte Seelen zu er­ tragen wären, Altstadtseelen eben. Fängt man einmal an zu bauen, ist die Erheiterung gross. Es ist dem Stolz des Bauherrn und seinen Architekten inne, ein Neue Altstädte Ich gebe es zu: ich würde gerne eine Altstadt bauen. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir viele neue Altstädte brauchen könnten. Orte, die dicht sind, Lebensfreude ausstrahlen und vom menschlichen Mass erzählen. Unsere Welt ist voll vom Gegenteil. Während ziemlich klar ist, wie es am Schluss in meine Altstadt aussehen soll, ist derWeg dorthin nicht ganz einfach. Seit lan­ ger Zeit ist nichts mehr in der Art gebaut worden. Und vieles, was sich am Duktus der Altstadt orientiert, ist nicht Altstadt, sondern Siedlung. Es soll keine Siedlung werden. Es soll städtisch sein, dicht, aber auch inhomogen. Siedlungen leiden unter der Allgewalt einer einzigen Idee, einer Art Schöpfertum des Architekten, der Kraft seiner Brillanz das Verspielte bereits vorgesehen, eingeplant und umgesetzt hat. Es ist, wie wenn man 15 Mal den gleichen Witz erzählt, nur mit geänderten Namen der Protagonisten. Das soll es nicht sein. Eine Altstadt erzählt ihre eigene Geschichte, und die ist nur beschränkt planbar. Was also kann man planen, ohne die Pointe schon zu erzäh­ len? Planen muss man den öffentlichen Raum. Der müsste altstädtisch sein, also verwinkelt, eng, mit Plätzen, Öffnun­ gen, Durchbrüchen. Meine Altstadt darf etwas Märchenhaftes haben, etwas Verspieltes, anders als viele Schweizer Altstädte, die schon ganz im Zeichen von Zucht und Ordnung entstan­ den sind. Zucht und Ordnung haben wir schon genug, die ganze Stadtplanung trieft davon. Also keine Zucht und Ord­ nung, dafür Nischen und Verführung. Die Verführung darf mehrfach wirken. Bauherren sollen die Verführung zum Eigenständigen spüren, zum Sonderbaren, zum Einzigartigen. Das ist auch der Grund, warum es in mei­
  • 25. 48 49 Um die Buntheit zu garantieren, wird pro Bauherr nur eine Parzelle zu kaufen sein. Man kann auch keine Parzellen zu­ sammenlegen. Vielleicht ist sogar ein Stück Zufall bei der Ver­ gabe. Die Stadt könnte die Bedürfnisse nach Fläche sammeln, ordnen und auslosen. Wäre man überaus unglücklich mit dem eigenen Los, bliebe der Tauschhandel. Die neue Altstadt ist also je nach Blickwinkel ein gebauter Albtraum der Spinner oder eine Wagenburg für Idealisten. Nachdem wir die Schweiz aber mit ausreichend Strukturen für innovationsferne Wohnkonformisten ausgestattet haben, wären jetzt die Idealisten an der Reihe. Haus zu bauen, das überrascht. Dem Handwerklichen, Skur­ rilen wird Platz geboten. Aber auch dem Architektonischen wird Raum gegeben. Auf kleinem Raum soll etwas Lebens­ wertes entstehen. Dies ist auch darum möglich, weil nur we­ nig Geld für den Baugrund aufgebracht werden muss, der im Baurecht genutzt ist.
  • 26. 50 51 Ein Berg für Berlin Die Metropole Preussens ist auch 100 Jahre nach dem Rück­ tritt von Kaiser Willhelm nicht ganz erwacht aus ihrer Garde­ haltung. Kasernenartig stehen die Häuserreihen stramm, bil­ den Strassenschluchten und Fluchtpunkte, die zum Defilee einladen. Das bisschen Stuck kann nicht darüber hinwegtäu­ schen, dass hier eine sehr ordentliche Stadt geplant und ge­ baut, später aber etwas verhunzt wurde.Weniger der Krieg als vielmehr die Moderne haben dem Stadtkörper zugesetzt, ha­ ben dem Preussischen noch das Pseudoliberale aufgepfropft, Grosssiedlungen und Implantate aus dem Sozialinkubator der 1960er und 70er. Gut, hat Berlin diesen städtebaulichen Gewaltnippes mit ei­ nem Sozialprogramm pariert. Die gefühlten drei Millionen Türken haben nicht nur eine neue Lebensweise sondern auch eine neue Sichtweise in die Stadt gebracht. «Stadt ist, wo wir sind.» Niemand sonst hat sich mit so viel Inbrunst der Häss­ lichkeit Berlins angenommen, bleibt 24 Stunden am Tag in schmuddeligen Erdgeschossen wach, um Kekse (mit Schoko) und Zigaretten (mit Filter) zu verkaufen, bietet auch an den lautesten Kreuzungen Orangen und Feigen feil. Auch wenn der türkische Kulturimpuls noch in der Melassephase steckt, darf er doch bereits als wesentlichste Zutat zur ansonsten eher verklemmten Metropole gelten. Denn, was niemand weiss: Der Berliner ist ein Spiesser. Erst mit der Uniform wächst sei­ ne Statur. Der Hang zu Grösse hat sich leider nur in zwei Dimensio­ nen ergiessen können. Das Grossomelett Berlin wabert träge im Märkischen Sand. Es fehlt eine Zäsur, eine gemeinsame Vision. Einsam ragt der Fernsehturm dem Himmel entgegen, der unerklärlich oft grau ist. Gerade der Winter wird zur Be­ lastungsprobe für die innerlich wenig gefestigten Berliner. Ihnen fehlt die Sonne des Südens, der innerliche Basilikum­ Kochbuch für neue Altstädte: 1. Man zeichne einen Grundrissplan der Altstadt oder des Quartiers. Darin sind die Gassen, Parzellen und Plätze eingezeichnet. 2. Auf jeder Parzelle ist die maximale Hausfläche eingetra­ gen. Der Rest ist Grün- und Erweiterungsfläche. 3. Die Häuser müssen seitlich zusammengebaut werden. 4. Die Gebäudehöhe ist in der Regel auf allen Parzellen gleich, darf aber unterschiedlich interpretiert werden. 5. Es gibt keine Gestaltungsvorgaben. 6. Nach 10 Jahren darf max. 10% des Gebäudevolumens hinzugefügt werden, vorausgesetzt, beide Nachbarn haben das auch schon gemacht. Hat nur ein oder kein Nachbar gebaut, sind es 5%. 7. Nach weiteren 10 Jahren darf man erneut 10% des Gebäudevolumens und 2m in der mittleren Gebäude­ höhe hinzufügen.
  • 27. 52 53 schattseitig hügelig abfallend. Man will ja keinen unnötigen Schattenwurf erzeugen. Die felsige Seite würde den eher ambitiösen Besucher anspre­ chen, der sich auf insgesamt 17 unterschiedlichen Bergwegen der Spitze annähern kann. Dazwischen wären noch zwei Pass­ strassen für Radler eingepflanzt, die eine in Kopfsteinpflas­ ter, der Tremola am Gotthard nachempfunden und von der Schweiz als Zeichen der neuen Bergfreundschaft gesponsert. Am besagten Felsen würden Nischen zum Zwischenhalt und Berghütten zur Jause einladen. EinWasserfall würde nach Ein­ wurf eines Fünfeuro-Stückes (ab 2020 im Umlauf) zu reich­ lich Kinderkreischen und Abkühlung im Sommer führen. Mikroklimatische Effekte würden einen passablen Cabernet und eine erstaunliche Feige gedeihen lassen. Von den Toma­ tenhainen ehemaliger Aussiedler ganz zu schweigen. Wem diese Vertikalität noch nicht reicht, dürfte an den man­ nigfaltigen Felswänden sein Klettergeschick ausprobieren. Mit immerhin fast 600 Höhenmetern würde der Berg zum Pu­ blikumsmagneten der ganzen Region. Auf der Nordseite wäre wie erwähnt die sanftere Topgrafie an­ zutreffen, durchwoben von weiteren Spazierwegen, die etwas flacher bergan führten, ein Teil rollator-gängig und sanft aus­ geteert. Im Winter wären Schlittelwege im Angebot, die auch waghalsige Papster mit ihren 3D-verwöhnten Kids zu fordern wüssten. Eine kleine Zahnradbahn würde all jenen den Auf­ stieg erleichtern, die der Schwerkraft skeptisch gegenüberste­ hen. Sogar eine Standseilbahn mit gläsernem Boden (kreisch) wäre im Angebot. Oben auf dem Berg dann logischerweise ein kleiner Bergsee, umringt von 23 Kneipen und Pommesbuden. Ohne diese kann in Berlin kein vernünftiger Ausflug arrangiert werden. Selten im Nebel, wäre der See im Winter eine Natureisfläche an strahlender Sonne. Tickets für das Eis wären allerdings duft, das Vertrauen auf den nächsten Frühling. Anders als ihren nordischen Kollegen fehlt ihnen die seelische Fett­ schicht der Melancholie. Der Berliner läuft schnell blank. Es fehlt ihm an Heimat. Gut kamen die anderen. Nach den Türken die Aussteiger und Hipster. Zusammen haben sie das «New Berlin» gegründet, diesen städtischen Bionadesprudel mit Goldkante. Es gibt nichts Vergleichbares weltweit. Diese Mischung aus verbaler Selbsterkenntnis, Techno und schwach dosiertem Bier war die erste wirklich neue Idee seit Willhelm. Und sie hat funk­ tioniert, nächtelang. Inzwischen aber ist sie wie jede Welle gebrandet, schäumt nach in den teuer gewordenen Quar­ tieren PB und KB, wo Kleinkinder schreien und Mamas und Papas früh los müssen zu Google und Mediaspree. Das gibt viel zu jammern, hilft aber nicht. Lasst uns daher den nächs­ ten Schritt andenken. Berlin braucht einen Berg. Was bei W. mit der Pickelhaube als pure Vertikalität angedacht war, hat sich unter H. zum 45- Grad Programm gemässigt und unter Merkel mit der gleich­ berechtigten Gesellschaft komplett verflacht. Damit sollte der Boden endlich stark genug sein, um die dritte Dimension anzugehen. Zufälligerweise findet sich in Berlin ein Flecken Erde, der dazu überaus geeignet ist: DasTempelhofer Feld, Ex- Flughafen samt baulichem Dessertbuffet aus H.‘s Zeiten. Der Platz reicht aus, um einen echten Berg zu bauen. Angesichts des erwähnten, ungerechtfertigten und impertinenten Hoch­ nebels müsste die Höhe der Spitze leicht über dieser Suppe liegen, die Berlin zu den bekannten psychosomatischen Stö­ rungen führt. Alleine deren Behebung dürfte die Baukosten des Huckels bei weitem einspielen. Ich schätze den Hügel auf 600m Höhe, was in der Sprache der Preussen ein Berg ist. Bei einem Durchmesser des Bauplatzes von 2 Kilometern wird es kein Matterhorn, sondern ein wohl­ proportionierter Klumpen, sonnseitig etwas felsig schroff,
  • 28. 54 55 zu spassen ist. Aus der Elektroszene würde der Bergtechno re­ sultieren. Rein baulich ist der Berg kein Problem, nachdem man solche Volumen schon immer zu bewegen wusste, zuletzt in Form von Braunkohle, die man nach Berlin gebracht hat. Nun also ist es Sand, vermengt mit etwas Zement und den gespendeten Steinen aus Andalusien, woher eine Welle der Solidarität für das Projekt kam. Im Inneren ist der Berg hohl, indem er zwei Reservoirs birgt, dazwischen eine Kraftwerkskaskade, welche Wasser turbi­ nieren lässt; und umgekehrt. Damit kann Berlin Tages- und Wochenschwankungen aus dem bis dann üppig ausgebauten Solar- und Windkraftangebot ausgleichen. Nachts, wenn alle schlafen, summt also der Berg und versorgt die Menschen mit Sonnenkraft und Wärme. schon im Herbst ausverkauft oder im türkisch beherrschten Schwarzmarkt erhältlich. Der Berg wird Berlin plötzlich einen Bezugspunkt bieten. Man muss weniger teure Autos kaufen, sich seltener über­essen und kann politisch sorgfältiger argumentieren, schliesslich hat man jetzt eine Perspektive. Erst jetzt sähe man, woran es Jahrhunderte gefehlt hatte. Kein Wunder musste man die Nachbarn plagen und sich obendrein. Mit dem neuen Bezugspunkt würde eine gewisse alpenländi­ sche Ruhe und süddeutsche Geschäftigkeit in Berlin Einzug halten. Man würde am Sonntag im Schnitt 30 Minuten früher aufstehen (gegen 11.30 statt 12.00 Uhr), um rechtzeitig zum Nachmittagsbier auf dem Gipfel zu sein. Rote Socken wären nicht weiter tabu und ein Schlitten das neue Markenzeichen von echten Draufgängern. Mädels würden schon im Sommer Eisschuhe herumtragen, um zu zeigen, dass nicht mit ihnen
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