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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG EREIGNISSE UND GESTALTEN 6. MAI 2023 · NR. 105 · SEITE Z 3
Folge dem Licht, und du findest
die unsichtbare Stadt: Begegnungen in
Mardin, einem türkischen Ort am
Ausgangspunkt Mesopotamiens.
Von Deniz Utlu
WORT
UND
WEIN
du mir meine gesamte Zeit, antwortete er. Ich
überlegte, ob das der Einstieg war, um über die
finanziellen Bedingungen des Erzählens zu feil-
schen, wollte mit einem Angebot aber nicht die
heilige Welt der Märchen entzaubern. Nimm dir
nur so viel Zeit, wie du mir geben kannst oder
magst, sagte ich. Die Geschichten sind unend-
lich, sagte er. Das amüsierte mich: Was spielten
wir hier? Er sagte: Du bestimmst die Geschichte,
ich folge dir nur in der Erzählung. Dann herrsch-
te wieder eine Stille, in der ich mir ein weiteres
Mal nicht sicher war, ob es nun an mir war, das
Wort zu ergreifen oder nicht. Doch schon fuhr er
fort: Das Märchen bringe mich immer gerade so
weit, wie ich mir selbst meine eigene Wahrheit
eingestehen würde. Vielleicht liegt darin das
Geheimnis des Lesens und Schreibens, sagte ich.
Er könne weder lesen noch schreiben, antworte-
te er, und sei auch nicht darauf angewiesen.
Erzählen und Zuhören, sagte ich, was sei das
anderes als ein weiteres, vielleicht ursprüngli-
ches Feld der Literatur.
Kaum hatte ich das ausgesprochen, fiel mir
ein, dass er sehr wohl meine Kurzmitteilungen
gelesen und schriftlich auf sie geantwortet hatte,
als wir uns verabredeten. Natürlich war es mög-
lich, dass jemand, der gerade bei ihm war, an sei-
ner Stelle geantwortet hatte, aber ich vermutete,
dass die Aussage bereits Teil einer Inszenierung
war, womöglich hatte Schahmaran eben selbst
gesprochen oder war auch ich ein Tourist, der
eine „authentische“ Erfahrung machen sollte?
Jedenfalls redeten wir schon seit einer halben
Stunde, und er hatte immer noch nicht begonnen
mit dem Märchen. Er lief im Raum auf und ab,
setzte sich mal auf den Schemel mir gegenüber,
lief mal vor die Tür und sprach kurz mit den
anderen Händlern, kam zurück, fragte schließ-
lich, ob ich die Geschichte nun hören wolle oder
nicht? Eigentlich hätte er mir das Märchen rasch
erzählen und weiter seiner Arbeit nachgehen
wollen, aber das scheine nicht meine Absicht zu
sein. Ich fragte, ob ich ihn darin falsch verstan-
den habe, dass meine Interventionen Teil des
Spiels seien. Warum wolle ich eigentlich, dass er
mir das Märchen erzähle, sicher habe ich doch
schon die verschiedensten Versionen davon
gelesen, gehört und studiert. Das stimmte. Ich
kannte eine Version des Mardiner Schriftstellers
Murathan Mungan, außerdem hatte mich die
Arbeit der zu Oralität forschenden Musiker Metin
und Kemal Kahraman dazu beeindruckt. In
einem Buch zu ihrem Album „Saé Moru – Sahma-
ran“ hatten sie aus Interviews, die sie in Dersim
auf Zazaki und Kurdisch geführt hatten, eine ein-
zigartige Zusammenstellung des Märchens vor-
genommen.
Erzählt die Geschichte nicht jeder anders?,
fragte ich. Wie sie in Mardin erzählt werde, wollte
ich hören. Daraufhin spulte er den Anfang der
Erzählung ab: In einer Zeit vor der Zeit herrschte
eine Schlange über die Weiten der Tiefebene
Mesopotamiens. Erst wuchsen ihr Hörner, später
brach aus ihrem Rücken der Körper einer Frau. Als
die Menschen kamen, floh sie durch eine Öffnung
in einer Höhle tief unter die Erde. Sie verschloss
jene Öffnung mit einem Block aus Marmor, den
sie mit einem Zauber versah, und füllte die Höhle
mit Honig auf. Nur mit dem richtigen Spruch wür-
de sich der Marmor heben und der Weg zum Reich
Schahmarans, der Königin der Schlangen, öffnen.
Der Märchenerzähler wechselte plötzlich ins Ara-
bische und sprach mit tiefer Stimme lispelnd den
Zauberspruch. Was?, sagte ich, wie lautet der
Spruch? Er kann nicht wiederholt werden, ant-
wortete er. Ich habe ihn nicht verstanden, sagte
ich. Dann gibt es keinen Zutritt in die unsichtbare
Stadt, entgegnete er und verließ wieder den Laden
und unterhielt sich vor der Ladentür abermals mit
den anderen Händlern, während ich zurückblieb
auf der Bank und wartete.
Was sich von meinem Vater hier erhalten hat
Er kam wieder, und ich sagte, wir nehmen den
Eingang, den Camisan genommen hat – jener
Mensch, der in das Reich der Schlangenkönigin
gerät und im Laufe der vielen Jahre, die er bei ihr
verbringt, von ihr geliebt wird. Der Märchen-
erzähler lächelte: Camisan war allein in der Höh-
le, von seinen Freunden, die sich mit dem Honig
aus dem Staub gemacht hatten, verraten, dem Tod
überlassen, tief unter der Erde, auf dem Boden
einer Öffnung, aus der er unmöglich wieder
hinauskonnte. Lange genug in der Finsternis ver-
harrt, nach Tagen des Weinens und der Verzweif-
lung, am Ende jeder Hoffnung, seine Familie oder
einen anderen Menschen je wiederzusehen, zu
überleben, in dem Augenblick, da in der Finster-
nis der Höhle jeder Hoffnungsschimmer erlo-
schen war, überraschte Camisan eine Freude, die
in ihm aufkam, es war jene Freude, exakt dasselbe
Gefühl, wie bei der Entdeckung des Honigs, vor
dem Verrat, da er noch Freunde hatte, denen er
vertraute und mit Jubel vom Honig erzählt hatte.
Camisan grub jetzt, kratzte mit bloßen Fingern,
die bald bluteten, schabte Steine und Erde zur Sei-
te. Er grub und grub, bis sich ein winziges Loch
öffnete in der Wand und er ein kleines Licht sah.
Folge dem Licht und du findest die unsichtbare
Stadt.
Am Abend trank ich in der ersten Straße Wein
auf dem Dach des Leylan Cafés, das über eine
Buchhandlung mit einer umfangreichen Aus-
wahl kurdischsprachiger Romane verfügte. Auch
hier schmeckte der Wein nach Kirsche. Der
Dichter, der ein Winzer war, setzte sich zu mir
und anderen Menschen, die ich in der Stadt ken-
nengelernt hatte.
Im Laufe des Abends geriet er mit einem kurdi-
schen Fotografen aneinander, als er behauptete,
dass jahrhundertelang in diesen Breitengraden
nur eine Sprache gesprochen worden sei, nämlich
Aramäisch. Der Fotograf entgegnete, dass also
auch für die Assyrer genauso wie für die Türken
das Kurdische nicht zähle? Nein, nein, so habe er
das nicht gemeint, Amtssprache sei Aramäisch
gewesen, natürlich habe es auch andere Sprachen
gegeben. Allerdings lächelten alle Beteiligten bei
dieser Diskussion, auch der arabische Märchen-
erzähler saß mit am Tisch und sagte, die Sprache
der Märchen sei universell. Und das war der
Moment, an dem ich für einen Augenblick spürte,
dass sich etwas von dem Mardin meines Vaters
ins Heute gerettet hatte. Mein Vater hatte mir
einmal erzählt, dass um ihn herum viele verschie-
dene Sprachen gesprochen wurden, wobei jeder
seine eigene Sprache besonders wichtig fand.
Und weil sich alle so sicher über den Wert ihrer
eigenen Sprache waren, konnten sie die Über-
höhungen der anderen mit einem Lächeln emp-
fangen, griffen sich aus purer Streitlust an und
am Ende lachten sie wie Kinder in die Nacht.
Deniz Utlu ist Schriftsteller. Im August dieses Jahres
erscheint sein neuer Roman „Vaters Meer“ bei Suhr-
kamp. Für Auszüge daraus erhielt er 2021 den Alfred-
Döblin-Preis.
Erzählt die Geschichte nicht jeder anders? In Mardin, der alten Stadt an der Wiege der Kultur, sind die Überlieferungen zahlreich, aber im Kern berichten sie dasselbe. Foto dpa
den Strand und rieben sich mit Sonnencreme ein,
warum sollten das nur deutsche Zahnärztinnen
oder Mechaniker tun? Ich fragte mich, wann das
Konzept „Urlaub“ in Mardin Einzug gehalten hat-
te. Auf dem Globus schien es nur noch ein einzi-
ges Land zu geben. Und seine Bewohner machten
im Juli Urlaub auf einer griechischen Insel.
Ich trat ein in das Geschäft mit vielen weiteren
Schahmaran-Bildern und Kupferstichen an den
Wänden und setzte mich auf eine antike Bank aus
dunklem Holz, in dessen Lehne Tauben ge-
schnitzt waren. Was soll ich dir erzählen?, fragte
der Märchenerzähler. Ein Märchen, sagte ich.
Welches?, fragte er. Jenes, das man hier erzählt,
sagte ich. Man erzählt hier vom Alltag, sagte der
Mann, der Alltag schreibt hier die Geschichten,
einer beginnt davon zu erzählen, Umstehende
hören zu, so reden wir miteinander. Ich erinnerte
mich daran, wie mein Vater mir in meiner Kind-
heit stundenlang etwas erzählen konnte. Er
begann mit seiner Kindheit und schweifte ab in
die Märchen. Für meinen Vater war es ein und
dieselbe Welt, aus der die Erinnerungen und die
Märchen kamen. Ich konnte mich nicht daran
erinnern, dass er mir jemals von der Schlangen-
königin erzählt hätte. Hier fand ich die Begrün-
dung: Er erzählte mir sein Leben, jedes Leben
war ein Märchen, die Kunst des Erzählens erfor-
derte die Gabe des Hinhörens – ich dachte schon
lange darüber nach, wie die orale Erzähltradition
einen literarischen Ausdruck im (deutschsprachi-
gen) Roman finden konnte.
Erzähl mir von Schahmaran, bat ich den
Mann. Das kann ich machen, aber damit nimmst
M
ardin liegt auf dem
Hang eines Berges mit
dem Blick über die
Tiefebene Mesopota-
miens, eine mehrheit-
lich arabischsprachige
Stadt in einer kurdi-
schen Region, nah der
syrischen Grenze, innerhalb der türkischen Juris-
diktion. Die Region ist eines der ältesten christli-
chen Siedlungsgebiete.
Ich besuchte die Stadt, aus der mein Vater
kommt, für eine Recherchereise und mietete
mich in einem der typischen Häuser aus Sand-
stein ein, mit großer Terrasse für Außenbetten im
Sommer. Hier wollte ich unter freiem Himmel
übernachten, wie es üblich war in dieser Stadt
und wie ich es aus den alten Erzählungen kannte.
Von der Terrasse und den großen Fenstern des
Wohnzimmers schaute ich auf die Steppe, in der
Ferne wehte unaufhörlich Sand auf.
Gegen Abend fuhr ich mit dem Direktor des
städtischen Museums und seinem Fahrer in das
assyrische Dorf Bülbül. Der ursprüngliche und
im Volksmund übliche Name lautet Bilebine. Wir
ließen Mardin rechts von uns zurück und fuhren
an einem weiteren, kleineren und daher, wenn
man auf Mardin zufährt, unsichtbaren Berg vor-
bei. Auf dessen Gipfel stand noch eine zweite
Burg – die alte Burg, wie der Fahrer erklärte. Sie
war nicht beleuchtet, und ihr Stein war gelb wie
der Berg, sodass ich sie kaum erkennen konnte.
Der Fahrer erzählte, dass hier alles einmal
bewaldet gewesen sei. Wir fuhren an Weinreben
vorbei. Dies seien die berühmten schwarzen
Trauben Mardins, hier sei der Ursprung des
Weins, wie wir ihn heute kennen. Schließlich
kamen wir in Bilebine an, wo die Häuser wie in
Mardin aus Stein waren. Wir hielten vor den
Mauern der Kirche. Der Eingang auf das An-
wesen war abgesperrt. Der Fahrer erzählte, wie
er in den Neunzigern als Spediteur arbeitete und
hierher Getreide lieferte. Zu der Zeit habe nur ein
einziger Mensch in diesem Dorf gewohnt, näm-
lich der Pastor dieser Kirche, ein alter Mann, der
letzte Bewohner. Ich folgte dem Fahrer zu einem
kleinen Garten, der versteckt hinter einem gro-
ßen Walnussbaum neben der Kirche lag und wo
eine alte Frau auf einem winzigen Acker arbeite-
te. Eine assyrische Frau, die Arabisch mit uns
sprach, sie baute Petersilie und Koriander an,
auch Tomaten, genug Gemüse, um eine Familie
zu ernähren. Die Sonne ging bereits unter, und
der Fahrer stellte sich im Garten mit dem Blick
nach Mekka auf, während die alte Frau im
Schneidersitz auf dem Rasen saß, in der Hand
einen Korianderstängel. In der Abendsonne
machte der Fahrer auf dem nackten Boden die
rituellen Verbeugungen. Auch die Frau und ich
verabschiedeten in der Abendstille dieses uralten
Dorfes auf unsere Weise die Sonne.
Schließlich kam der Museumsdirektor, auf den
wir warteten, mit einem hochgewachsenen Mann
in seinen Sechzigern wieder, der einen borstigen
Schnauzer im Gesicht trug und einen Sonnenhut
aufgesetzt hatte. Der Direktor stellte ihn als
Naum Melo vor, ein Schriftsteller, der als junger
Mann, ohne jede Ausbildung nach Österreich
gegangen sei und sich selbst Deutsch beigebracht
habe. Dort habe er Anfang der Achtzigerjahre in
seinem Buch „Staub und Rauch“ vom Leben als
Christ im Zweistromland berichtet. Jetzt sei er
seit anderthalb Dekaden wieder zurück in seinem
Dorf und baue Oliven an, stelle Wein her. Wir
setzten uns auf die Terrasse und schauten auf die
Berge: ein großer, auf dessen für uns nicht sicht-
barem Hang Mardin lag, daneben der kleine mit
der alten Burg. Im Tal irritierte erst eine Beton-
fabrik mit großen dystopischen Rohren das spiri-
tuelle Gefühl, das diese Landschaft auszulösen
vermochte, doch die Sonne war stärker. Sie färbte
den Himmel und alle Dinge, ließ die Betonfabrik
in einem milchigen Teich aus blauem Licht ver-
schwinden. Der Himmel über den Bergen war ein
See, in den der Mond gefallen war.
Der Dichter, der auch Winzer war, ist Jesusist
Der Dichter, der auch ein Winzer war, öffnete einen
Rotwein, sagte, er sei aus Österreich zurückgekehrt,
als er gemerkt habe, dass das Leben endlich sei, er
wolle die verbleibende Zeit nicht damit verbringen,
Gedichte der Sehnsucht zu schreiben. Hier sei er
geboren worden, hier habe man seine Großeltern
getötet, hier habe der Onkel, nach dem er benannt
worden sei, überlebt. Den Marxisten sage er, er sei
Jesusist, ein Wort, das er erfunden habe: Er folge
der Ideologie von Jesus viel mehr als der von Marx.
Denn Jesus sei der erste Revolutionär gewesen. Er
sagte, Jesus habe Aramäisch gesprochen, die Spra-
che auch seiner Vorfahren. In der Bibel finde man
übrigens nur Informationen über den jungen Jesus
und schließlich den dreiunddreißigjährigen. Dies
liege seiner Ansicht nach daran, dass Jesus in seinen
Zwanzigern studiert und gelehrt habe, nämlich
unweit von hier, in der Stadt Harran, die zu seiner
Zeit eine der wichtigsten Universitäten der Welt
gehabt habe. In der Forschung gebe es Hinweise,
die diese These bestätigten.
Der assyrische Wein – so wird der Rotwein aus
Mardin genannt – schmeckte nach Kirsche und
Erde, die Sonne verschwand nun ganz hinter den
Bergen und saugte von dort aus das Blau der
Nacht auf. Die Muslime, die den Wein ver-
schmähten, würden den Koran völlig falsch ver-
stehen, sagte der Dichter, der Winzer. Ich schielte
zu dem Fahrer, der verzichtet hatte, er schwieg
höflich. Im Koran heiße es, du sollest nicht beten,
wenn du berauscht seist, da stehe nicht, es sei
Sünde, Wein zu trinken. Wie könne man sich
denn hier, im Land der Trauben, dieses köstliche
Getränk nicht gönnen? Am Ende des Abends
schenkte er mir seinen Gedichtband. Auf dem
Buchcover war ein blutendes Kreuz abgebildet,
der Titel des Bandes lautet „Vatansiz“, was auf
deutsch „heimatlos“ heißt. Ich wollte ihm eine
Flasche Wein abkaufen, er schenkte sie mir.
Zurück in der Wohnung, die ich gemietet hatte,
legte ich mich aufs Bett auf der Terrasse. Die Bri-
se der Tiefebene streichelte mich wie ein Vor-
hang aus Seide, bis ich einschlief. In der Nacht
weckten mich die Hunde, aber ihr Gebell störte
mich kaum.
Am nächsten Morgen traf ich auf dem Markt
vor seinem Laden einen Märchenerzähler. Ebu
Burak war ein Mann, dessen Alter ich nicht ein-
schätzen konnte. Er trug einen langen grauen
Bart. Auch sein Haar war ganz ergraut, allerdings
war es dicht und voll geblieben. Der Mann hätte
in seinen Vierzigern oder Fünfzigern sein, die
sechzig überschritten haben oder Ende dreißig
sein können. Er war jung und alt gleichzeitig.
Sein Laden befand sich inmitten der anderen
unter den Kolonnaden. Von seinem Großvater
habe er die Kunst des Kupferstechens erlernt.
Und er selbst habe das traditionelle Handwerk
des Glasbemalens perfektioniert. An einer Säule
hingen die bunten Gläser in Holzrahmen, die die
Frau mit Hörnern und Schlangenkörper zeigten –
die Schlangenkönigin Schahmaran. Der Schwanz
war ein Schlangenkopf, so wie auch die vielen
Füße als je eine Schlange aus dem gebogenen
Körper wuchsen. Das auf den verschiedenen
Gemälden immer gleiche Gesicht mit den
schwarzen Augenbrauen wirkte auf jedem Bild
unterschiedlich. Mal schaute die Schlangenköni-
gin bedrohlich, mal verärgert, manchmal liebe-
voll. Doch die Unterschiede wirkten nicht
berechnet, sondern wie aus Versehen.
Wir setzten uns vor die Ladentür, wo ein Mann
Muster in einen Kupferteller einarbeitete. Neben
ihm hockte ein Händler von etwa dreißig Jahren
mit zusammengebundenen langen Haaren und
fummelte an seinem Telefon herum. Wir tranken
Tee. Eine Ungeduld kam in mir auf. Das war mein
letzter Tag in der Stadt, und es gab noch so viel zu
erfahren. Vielleicht war es genau dieses Gefühl,
das mich zum Fremden machte. Der jüngere
Händler, der Taschen und Souvenirs verkaufte,
sagte, dass er urlaubsreif sei. Der Märchenerzäh-
ler fragte, wo es hingehen solle. Nach Griechen-
land, antwortete der Händler. Da waren wir doch
schon letztes Jahr, entgegnete der Märchenerzäh-
ler. Und ich dachte: Natürlich legten sich auch
Märchenerzähler aus Mardin in Griechenland an

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Vielleicht liegt darin das Geheimnis des Lesens und Schreibens, sagte ich. Er könne weder lesen noch schreiben, antworte- te er, und sei auch nicht darauf angewiesen. Erzählen und Zuhören, sagte ich, was sei das anderes als ein weiteres, vielleicht ursprüngli- ches Feld der Literatur. Kaum hatte ich das ausgesprochen, fiel mir ein, dass er sehr wohl meine Kurzmitteilungen gelesen und schriftlich auf sie geantwortet hatte, als wir uns verabredeten. Natürlich war es mög- lich, dass jemand, der gerade bei ihm war, an sei- ner Stelle geantwortet hatte, aber ich vermutete, dass die Aussage bereits Teil einer Inszenierung war, womöglich hatte Schahmaran eben selbst gesprochen oder war auch ich ein Tourist, der eine „authentische“ Erfahrung machen sollte? Jedenfalls redeten wir schon seit einer halben Stunde, und er hatte immer noch nicht begonnen mit dem Märchen. Er lief im Raum auf und ab, setzte sich mal auf den Schemel mir gegenüber, lief mal vor die Tür und sprach kurz mit den anderen Händlern, kam zurück, fragte schließ- lich, ob ich die Geschichte nun hören wolle oder nicht? Eigentlich hätte er mir das Märchen rasch erzählen und weiter seiner Arbeit nachgehen wollen, aber das scheine nicht meine Absicht zu sein. Ich fragte, ob ich ihn darin falsch verstan- den habe, dass meine Interventionen Teil des Spiels seien. Warum wolle ich eigentlich, dass er mir das Märchen erzähle, sicher habe ich doch schon die verschiedensten Versionen davon gelesen, gehört und studiert. Das stimmte. Ich kannte eine Version des Mardiner Schriftstellers Murathan Mungan, außerdem hatte mich die Arbeit der zu Oralität forschenden Musiker Metin und Kemal Kahraman dazu beeindruckt. In einem Buch zu ihrem Album „Saé Moru – Sahma- ran“ hatten sie aus Interviews, die sie in Dersim auf Zazaki und Kurdisch geführt hatten, eine ein- zigartige Zusammenstellung des Märchens vor- genommen. Erzählt die Geschichte nicht jeder anders?, fragte ich. Wie sie in Mardin erzählt werde, wollte ich hören. Daraufhin spulte er den Anfang der Erzählung ab: In einer Zeit vor der Zeit herrschte eine Schlange über die Weiten der Tiefebene Mesopotamiens. Erst wuchsen ihr Hörner, später brach aus ihrem Rücken der Körper einer Frau. Als die Menschen kamen, floh sie durch eine Öffnung in einer Höhle tief unter die Erde. Sie verschloss jene Öffnung mit einem Block aus Marmor, den sie mit einem Zauber versah, und füllte die Höhle mit Honig auf. Nur mit dem richtigen Spruch wür- de sich der Marmor heben und der Weg zum Reich Schahmarans, der Königin der Schlangen, öffnen. Der Märchenerzähler wechselte plötzlich ins Ara- bische und sprach mit tiefer Stimme lispelnd den Zauberspruch. Was?, sagte ich, wie lautet der Spruch? Er kann nicht wiederholt werden, ant- wortete er. Ich habe ihn nicht verstanden, sagte ich. Dann gibt es keinen Zutritt in die unsichtbare Stadt, entgegnete er und verließ wieder den Laden und unterhielt sich vor der Ladentür abermals mit den anderen Händlern, während ich zurückblieb auf der Bank und wartete. Was sich von meinem Vater hier erhalten hat Er kam wieder, und ich sagte, wir nehmen den Eingang, den Camisan genommen hat – jener Mensch, der in das Reich der Schlangenkönigin gerät und im Laufe der vielen Jahre, die er bei ihr verbringt, von ihr geliebt wird. Der Märchen- erzähler lächelte: Camisan war allein in der Höh- le, von seinen Freunden, die sich mit dem Honig aus dem Staub gemacht hatten, verraten, dem Tod überlassen, tief unter der Erde, auf dem Boden einer Öffnung, aus der er unmöglich wieder hinauskonnte. Lange genug in der Finsternis ver- harrt, nach Tagen des Weinens und der Verzweif- lung, am Ende jeder Hoffnung, seine Familie oder einen anderen Menschen je wiederzusehen, zu überleben, in dem Augenblick, da in der Finster- nis der Höhle jeder Hoffnungsschimmer erlo- schen war, überraschte Camisan eine Freude, die in ihm aufkam, es war jene Freude, exakt dasselbe Gefühl, wie bei der Entdeckung des Honigs, vor dem Verrat, da er noch Freunde hatte, denen er vertraute und mit Jubel vom Honig erzählt hatte. Camisan grub jetzt, kratzte mit bloßen Fingern, die bald bluteten, schabte Steine und Erde zur Sei- te. Er grub und grub, bis sich ein winziges Loch öffnete in der Wand und er ein kleines Licht sah. Folge dem Licht und du findest die unsichtbare Stadt. Am Abend trank ich in der ersten Straße Wein auf dem Dach des Leylan Cafés, das über eine Buchhandlung mit einer umfangreichen Aus- wahl kurdischsprachiger Romane verfügte. Auch hier schmeckte der Wein nach Kirsche. Der Dichter, der ein Winzer war, setzte sich zu mir und anderen Menschen, die ich in der Stadt ken- nengelernt hatte. Im Laufe des Abends geriet er mit einem kurdi- schen Fotografen aneinander, als er behauptete, dass jahrhundertelang in diesen Breitengraden nur eine Sprache gesprochen worden sei, nämlich Aramäisch. Der Fotograf entgegnete, dass also auch für die Assyrer genauso wie für die Türken das Kurdische nicht zähle? Nein, nein, so habe er das nicht gemeint, Amtssprache sei Aramäisch gewesen, natürlich habe es auch andere Sprachen gegeben. Allerdings lächelten alle Beteiligten bei dieser Diskussion, auch der arabische Märchen- erzähler saß mit am Tisch und sagte, die Sprache der Märchen sei universell. Und das war der Moment, an dem ich für einen Augenblick spürte, dass sich etwas von dem Mardin meines Vaters ins Heute gerettet hatte. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass um ihn herum viele verschie- dene Sprachen gesprochen wurden, wobei jeder seine eigene Sprache besonders wichtig fand. Und weil sich alle so sicher über den Wert ihrer eigenen Sprache waren, konnten sie die Über- höhungen der anderen mit einem Lächeln emp- fangen, griffen sich aus purer Streitlust an und am Ende lachten sie wie Kinder in die Nacht. Deniz Utlu ist Schriftsteller. Im August dieses Jahres erscheint sein neuer Roman „Vaters Meer“ bei Suhr- kamp. Für Auszüge daraus erhielt er 2021 den Alfred- Döblin-Preis. Erzählt die Geschichte nicht jeder anders? In Mardin, der alten Stadt an der Wiege der Kultur, sind die Überlieferungen zahlreich, aber im Kern berichten sie dasselbe. Foto dpa den Strand und rieben sich mit Sonnencreme ein, warum sollten das nur deutsche Zahnärztinnen oder Mechaniker tun? Ich fragte mich, wann das Konzept „Urlaub“ in Mardin Einzug gehalten hat- te. Auf dem Globus schien es nur noch ein einzi- ges Land zu geben. Und seine Bewohner machten im Juli Urlaub auf einer griechischen Insel. Ich trat ein in das Geschäft mit vielen weiteren Schahmaran-Bildern und Kupferstichen an den Wänden und setzte mich auf eine antike Bank aus dunklem Holz, in dessen Lehne Tauben ge- schnitzt waren. Was soll ich dir erzählen?, fragte der Märchenerzähler. Ein Märchen, sagte ich. Welches?, fragte er. Jenes, das man hier erzählt, sagte ich. Man erzählt hier vom Alltag, sagte der Mann, der Alltag schreibt hier die Geschichten, einer beginnt davon zu erzählen, Umstehende hören zu, so reden wir miteinander. Ich erinnerte mich daran, wie mein Vater mir in meiner Kind- heit stundenlang etwas erzählen konnte. Er begann mit seiner Kindheit und schweifte ab in die Märchen. Für meinen Vater war es ein und dieselbe Welt, aus der die Erinnerungen und die Märchen kamen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er mir jemals von der Schlangen- königin erzählt hätte. Hier fand ich die Begrün- dung: Er erzählte mir sein Leben, jedes Leben war ein Märchen, die Kunst des Erzählens erfor- derte die Gabe des Hinhörens – ich dachte schon lange darüber nach, wie die orale Erzähltradition einen literarischen Ausdruck im (deutschsprachi- gen) Roman finden konnte. Erzähl mir von Schahmaran, bat ich den Mann. Das kann ich machen, aber damit nimmst M ardin liegt auf dem Hang eines Berges mit dem Blick über die Tiefebene Mesopota- miens, eine mehrheit- lich arabischsprachige Stadt in einer kurdi- schen Region, nah der syrischen Grenze, innerhalb der türkischen Juris- diktion. Die Region ist eines der ältesten christli- chen Siedlungsgebiete. Ich besuchte die Stadt, aus der mein Vater kommt, für eine Recherchereise und mietete mich in einem der typischen Häuser aus Sand- stein ein, mit großer Terrasse für Außenbetten im Sommer. Hier wollte ich unter freiem Himmel übernachten, wie es üblich war in dieser Stadt und wie ich es aus den alten Erzählungen kannte. Von der Terrasse und den großen Fenstern des Wohnzimmers schaute ich auf die Steppe, in der Ferne wehte unaufhörlich Sand auf. Gegen Abend fuhr ich mit dem Direktor des städtischen Museums und seinem Fahrer in das assyrische Dorf Bülbül. Der ursprüngliche und im Volksmund übliche Name lautet Bilebine. Wir ließen Mardin rechts von uns zurück und fuhren an einem weiteren, kleineren und daher, wenn man auf Mardin zufährt, unsichtbaren Berg vor- bei. Auf dessen Gipfel stand noch eine zweite Burg – die alte Burg, wie der Fahrer erklärte. Sie war nicht beleuchtet, und ihr Stein war gelb wie der Berg, sodass ich sie kaum erkennen konnte. Der Fahrer erzählte, dass hier alles einmal bewaldet gewesen sei. Wir fuhren an Weinreben vorbei. Dies seien die berühmten schwarzen Trauben Mardins, hier sei der Ursprung des Weins, wie wir ihn heute kennen. Schließlich kamen wir in Bilebine an, wo die Häuser wie in Mardin aus Stein waren. Wir hielten vor den Mauern der Kirche. Der Eingang auf das An- wesen war abgesperrt. Der Fahrer erzählte, wie er in den Neunzigern als Spediteur arbeitete und hierher Getreide lieferte. Zu der Zeit habe nur ein einziger Mensch in diesem Dorf gewohnt, näm- lich der Pastor dieser Kirche, ein alter Mann, der letzte Bewohner. Ich folgte dem Fahrer zu einem kleinen Garten, der versteckt hinter einem gro- ßen Walnussbaum neben der Kirche lag und wo eine alte Frau auf einem winzigen Acker arbeite- te. Eine assyrische Frau, die Arabisch mit uns sprach, sie baute Petersilie und Koriander an, auch Tomaten, genug Gemüse, um eine Familie zu ernähren. Die Sonne ging bereits unter, und der Fahrer stellte sich im Garten mit dem Blick nach Mekka auf, während die alte Frau im Schneidersitz auf dem Rasen saß, in der Hand einen Korianderstängel. In der Abendsonne machte der Fahrer auf dem nackten Boden die rituellen Verbeugungen. Auch die Frau und ich verabschiedeten in der Abendstille dieses uralten Dorfes auf unsere Weise die Sonne. Schließlich kam der Museumsdirektor, auf den wir warteten, mit einem hochgewachsenen Mann in seinen Sechzigern wieder, der einen borstigen Schnauzer im Gesicht trug und einen Sonnenhut aufgesetzt hatte. Der Direktor stellte ihn als Naum Melo vor, ein Schriftsteller, der als junger Mann, ohne jede Ausbildung nach Österreich gegangen sei und sich selbst Deutsch beigebracht habe. Dort habe er Anfang der Achtzigerjahre in seinem Buch „Staub und Rauch“ vom Leben als Christ im Zweistromland berichtet. Jetzt sei er seit anderthalb Dekaden wieder zurück in seinem Dorf und baue Oliven an, stelle Wein her. Wir setzten uns auf die Terrasse und schauten auf die Berge: ein großer, auf dessen für uns nicht sicht- barem Hang Mardin lag, daneben der kleine mit der alten Burg. Im Tal irritierte erst eine Beton- fabrik mit großen dystopischen Rohren das spiri- tuelle Gefühl, das diese Landschaft auszulösen vermochte, doch die Sonne war stärker. Sie färbte den Himmel und alle Dinge, ließ die Betonfabrik in einem milchigen Teich aus blauem Licht ver- schwinden. Der Himmel über den Bergen war ein See, in den der Mond gefallen war. Der Dichter, der auch Winzer war, ist Jesusist Der Dichter, der auch ein Winzer war, öffnete einen Rotwein, sagte, er sei aus Österreich zurückgekehrt, als er gemerkt habe, dass das Leben endlich sei, er wolle die verbleibende Zeit nicht damit verbringen, Gedichte der Sehnsucht zu schreiben. Hier sei er geboren worden, hier habe man seine Großeltern getötet, hier habe der Onkel, nach dem er benannt worden sei, überlebt. Den Marxisten sage er, er sei Jesusist, ein Wort, das er erfunden habe: Er folge der Ideologie von Jesus viel mehr als der von Marx. Denn Jesus sei der erste Revolutionär gewesen. Er sagte, Jesus habe Aramäisch gesprochen, die Spra- che auch seiner Vorfahren. In der Bibel finde man übrigens nur Informationen über den jungen Jesus und schließlich den dreiunddreißigjährigen. Dies liege seiner Ansicht nach daran, dass Jesus in seinen Zwanzigern studiert und gelehrt habe, nämlich unweit von hier, in der Stadt Harran, die zu seiner Zeit eine der wichtigsten Universitäten der Welt gehabt habe. In der Forschung gebe es Hinweise, die diese These bestätigten. Der assyrische Wein – so wird der Rotwein aus Mardin genannt – schmeckte nach Kirsche und Erde, die Sonne verschwand nun ganz hinter den Bergen und saugte von dort aus das Blau der Nacht auf. Die Muslime, die den Wein ver- schmähten, würden den Koran völlig falsch ver- stehen, sagte der Dichter, der Winzer. Ich schielte zu dem Fahrer, der verzichtet hatte, er schwieg höflich. Im Koran heiße es, du sollest nicht beten, wenn du berauscht seist, da stehe nicht, es sei Sünde, Wein zu trinken. Wie könne man sich denn hier, im Land der Trauben, dieses köstliche Getränk nicht gönnen? Am Ende des Abends schenkte er mir seinen Gedichtband. Auf dem Buchcover war ein blutendes Kreuz abgebildet, der Titel des Bandes lautet „Vatansiz“, was auf deutsch „heimatlos“ heißt. Ich wollte ihm eine Flasche Wein abkaufen, er schenkte sie mir. Zurück in der Wohnung, die ich gemietet hatte, legte ich mich aufs Bett auf der Terrasse. Die Bri- se der Tiefebene streichelte mich wie ein Vor- hang aus Seide, bis ich einschlief. In der Nacht weckten mich die Hunde, aber ihr Gebell störte mich kaum. Am nächsten Morgen traf ich auf dem Markt vor seinem Laden einen Märchenerzähler. Ebu Burak war ein Mann, dessen Alter ich nicht ein- schätzen konnte. Er trug einen langen grauen Bart. Auch sein Haar war ganz ergraut, allerdings war es dicht und voll geblieben. Der Mann hätte in seinen Vierzigern oder Fünfzigern sein, die sechzig überschritten haben oder Ende dreißig sein können. Er war jung und alt gleichzeitig. Sein Laden befand sich inmitten der anderen unter den Kolonnaden. Von seinem Großvater habe er die Kunst des Kupferstechens erlernt. Und er selbst habe das traditionelle Handwerk des Glasbemalens perfektioniert. An einer Säule hingen die bunten Gläser in Holzrahmen, die die Frau mit Hörnern und Schlangenkörper zeigten – die Schlangenkönigin Schahmaran. Der Schwanz war ein Schlangenkopf, so wie auch die vielen Füße als je eine Schlange aus dem gebogenen Körper wuchsen. Das auf den verschiedenen Gemälden immer gleiche Gesicht mit den schwarzen Augenbrauen wirkte auf jedem Bild unterschiedlich. Mal schaute die Schlangenköni- gin bedrohlich, mal verärgert, manchmal liebe- voll. Doch die Unterschiede wirkten nicht berechnet, sondern wie aus Versehen. Wir setzten uns vor die Ladentür, wo ein Mann Muster in einen Kupferteller einarbeitete. Neben ihm hockte ein Händler von etwa dreißig Jahren mit zusammengebundenen langen Haaren und fummelte an seinem Telefon herum. Wir tranken Tee. Eine Ungeduld kam in mir auf. Das war mein letzter Tag in der Stadt, und es gab noch so viel zu erfahren. Vielleicht war es genau dieses Gefühl, das mich zum Fremden machte. Der jüngere Händler, der Taschen und Souvenirs verkaufte, sagte, dass er urlaubsreif sei. Der Märchenerzäh- ler fragte, wo es hingehen solle. Nach Griechen- land, antwortete der Händler. Da waren wir doch schon letztes Jahr, entgegnete der Märchenerzäh- ler. Und ich dachte: Natürlich legten sich auch Märchenerzähler aus Mardin in Griechenland an