Fellow-Lecture am Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald 14.6.2016 Doz. Dr. Andreas Önnerfors
The lecture presents preliminary results from a research project on Swedish fraternal orders around 1800.
Angewandte Kognitions- und Medienwissenschaft an der Universität Duisburg_Essen
Zwischen Erfolg und Unterdrückung: Der Aufstieg der Zivilgesellschaft im Ostseeraum 1760-1810
1. ZWISCHEN ERFOLG UND UNTERDRÜCKUNG:
DER AUFSTIEG DER ZIVILGESELLSCHAFT
IM OSTSEERAUM 1760-1810
Doz. Dr. Andreas Önnerfors,
Göteborgs universitet, Schweden
andreas.onnerfors@gu.se
Zeremonial in unbekannter
gemischter Ordensgesellschaft, 18.
3. Schwedische Verordnung vom 26.3.1803
Ordensgesellschaften sollen ihre
Existenz erklären (gegen
Androhung von Geldstrafe und
Auflösung)
Staatliche Überprüfung ob in
den dort abgelegten Eiden
etwas gegen“Moral, Religion
oder Gesellschaftsordnung”
verstösst
werden angehalten ihre
Statuten/Eide und einen Bericht
einzureichen
Die Polizeibehörde erhält
unbeschränktes Recht, den
Veranstaltungen der
Ordensgesesllschaften
4. Verzeichnis der Ordensgesellschaften im
Archiv der obersten schwedischen
Polizeibehörde, Stockholms Stadsarkiv
”wordcloud”
mit den
Namen der
Ordens-
gesllschaften
5. 1
1
2
2
25
11
2
3
?
?
Wasa: 1
Heinola (Lovisa & Sysmä): 2
Åbo: 2
Gävle: 1
Västerås: 1
Karlstad: 1
Vänersborg: 2
Göteborg: 3
Stockholm: 25
TOTAL: 38 Gesellschaften
Es fehlen jedoch Berichte von
wichtigen Regionen (Län) in
Schweden, insbesondere
Helsingfors und Karlskrona, wo es
jeweils zum Zeitpunkt zirka 5
weitere Gesellschaften gab.
Karlstad gab z.B. an, eine
Tochtergesellschaft von Karlskrona
zu sein.Norway and Sweden with
their Dependencies,
London 1808
6. ZIVILGESELLSCHAFT:
• Interessengemeinschaft
• Freiwilligkeit
• Selbstorganisation
• Unabhängigkeit
• nicht auf Gewinn
ausgerichtet
• selektive Affinitäten
(Wahlverwandtschaft)
politische
Macht
ökonomische
Macht
primordiale
Instanzen (Familie,
Religion, Herkunft)
GESELLSCHAFT
Individuum
Freie Wahl
Ausdifferenzierung /
Emanzipation
Freundschaft?
7. Ulrich im Hof (Das gesellige Jahrhundert, 1982)
”Aufklärungsgesellschaft” / ” Sozietät”
Typologie:
(1) Die wissenschaftlichen Akademien und gelehrten Gesellschaften
(2) Literarische Gesellschaften und Lesegesellschaften
(3) Gemeinnützige Gesellschaften
(4) Ökonomisch-landwirtschaftliche Gesellschaften
(5) Patriotisch-politische Gesellschaften
(6) Die Freimaurerei
(7) Religiös-gemeinnützige Gesellschaften
Kriterien:
(1) Die Aktivitäten, Ziele und Gegenstände der Sozietäten stehen im
Zusammenhang mit der Reform, der „Verbesserung“ eines bisherigen, als
unbefriedigend empfundenen Zustandes. Die Sozietäten treten in eine Lücke des
bisherigen Systems.
(2) Die Organisation der Sozietät beruht auf Freiwilligkeit, Mitsprache und
Mitverantwortung der Mitglieder.
(3) Die Sozietät entwickelt durch ihre Spielregeln ein neues gesellschaftliches
Bewusstsein.
8. Die ”Ordensgesellschaft”: Kriterien anhand der schwedischen Verordnung 1803
• „Grad für Grad“ organisiert, d.h. es gibt innerhalb der Ordensgesellschaft
verschiedene Mitgliederstufen (= Idee der schrittweisen Erkenntnis)
• Die Mitglieder legen einen oder mehrere Eide ab (die schriftlich kodiert
sind = ordensinterne administrative Kultur)
• Die Mitglieder verpflichten sich zu Erfüllung dieser Eide und somit zur
Einhaltung von (normativen) Pflichten und (konkreten) Verpflichtungen (=
Pflichtethik!)
• Es gibt (einen) Vorsteher, (= ordensinterne Hierarchie)
• Es ist möglich schriftlich über die Aktivitäten der Ordensgesellschaft
Auskunft zu geben (= Chronologie, administrative Kultur)
• „Aufnahme“ ist eigentlicher Anfang der Mitgliedschaft (= Einweihung)
• Es gibt eine ordensinterne Sphäre der „Verschwiegenheit“ (= Geheimnis)
9. John Robison, 1798:
“Beweis einer Konspiration gegen alle
Religionen und Regierungen in
Europa, ausgeführt in den
Versammlungen der Freimaurer,
Illuminaten und Lesegesellschaften”
Krise der aufgeklärten Sozietät im
postrevolutionären Diskurs
12. Typologie der 1803 bekannten Ordensgesellschaften
(1) Erfüllen nicht die Kriterien der Verordnung (Warum?)
(2) Philosophisch-weltanschauliche Veredelung der Mitglieder
(säkulares ethisches Bildungsprogramm jenseits der
Kirche/organisierter Religion)
(3) Patriotisch-protonational (indirekte politische Erwartung)
(4) Reines Vergnügen / Zeitvertreib /Dulce (Freizeit)
(5) Philanthropisch sozial – erzieherisch / Utile (sozialpolitische
Erwartungen)
(6) Kombinationen von 1-5 Siegel der
Ordensgesellschaft
”Vereinigte
Freundschaft”, 1803
13. SCHLUSSFOLGERUNGEN
• Performative Internalisierung von Werten wie „Wohlfahrt, Menschenliebe,
Sicherheit, oder Glückseligkeit“ führt zur Entwicklung eines ”diskursiven
Kapitals”, das in der Interaktion mit dem Staat mobilisiert werden kann
• Leitwerte werden im Innenleben der Ordensgesellschaften utopisch inszeniert
und ausgelebt, führen aber auch zu extrovertierter Aktion wie
• Wohlfahrtseinsätzen, a) reaktiv gegen Armut, Krankheit, b) pro-aktiv für
Gesundheit und Unterricht oder
• kulturellen Initiativen (Konzerte oder Theaterveranstaltungen) und schaffen
• eine Erwartungs-/ potentielle Verhandlungshaltung gegenüber der politischen
Macht als potentiell primärer Lieferer zentraler politischer Güter
• das Wandern der zentralen Begriffe in die politische Sprache, wo sie mit der
kulturell-sozialen Agenda des Staates verschmelzen können
• die Ideenbildung erfolgt auf einer sozialen Basis, durch die performative
Lernethik der Gesellschaften
Ritueller Gegenstand
des Sing-Sang Ordens