1. UNTERNEHMEN & MÄRKTE
Nr. 03/2016 AKTUELLE PAPIER-RUNDSCHAU WELLPAPPE | www.apr.de
UNTERNEHMEN & MÄRKTE
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Andreas Tingvall, Geschäftsführer der Treneco AB
[ NOTFALLPLANUNG ]
WENN DIE KATASTROPHE EINTRITT
von Andrea Tingwall und Lothar Jacobmeyer*
Es gibt über 100.000 Produktionsstätten für Papierverpackungen auf der Welt. Da überrascht es nicht,
dass jedes Jahr mehrere Fabriken von Katastrophen betroffen werden – Cartisa Barcelona, Smurfit Kappa
Almeria, Thai Container, Orora Brisbane, Smurfit Kappa Herzberg, Cargal in Israel, Rengo in Japan, Inter
national Paper in Italien, um nur einige zu nennen.
Viele Fabriken in der Wellpappen-
branche mussten die Erfahrung ma-
chen,waszurBewältigungderschlimms-
ten Unglücke gehört. Sie alle erlebten Ka-
tastrophen, von Feuer und Flut bis zu
Sturm und Erdbeben. Es gibt wohl kaum
eine Fabrik, die noch nie mit einem klei-
neren Störfall konfrontiert war, aus dem
eine große Katastrophe hätte entstehen
können. Unternehmen sollten sich den
Gegebenheiten ihrer Umgebung und Re-
gion immer bewusst sein und entspre-
chend planen.
Im Katastrophenfall wird das
Schlimmste oft durch das beherzte Han-
deln Einzelner verhindert. Ein wichtiger
Teil des Notfallplans ist die Vorbereitung
der Manager und Mitarbeiter auf alles,
was auf sie zukommen könnte. Liegt ei-
ne Fabrik z.B. an einem Fluss, der häufig
über die Ufer tritt, oder in einem Gebiet,
in dem es häufig zu extremen Wetterer-
eignissen kommt, ist ein Notfallplan für
Naturkatastrophen unbedingt erforder-
lich. Außerdem müssen Unternehmen
auch wissen, was die Firma „nebenan“
produziert. Möglicherweise nutzt die
Nachbarfabrik riskante Produktionspro-
zesse oder Materialien – da hilft es
nicht weiter, „nichts gewusst“ zu haben,
wenn es zu einem Unfall kommt, der
auch die eigene Fabrik in Mitleiden-
schaft zieht. Während wir auf manche
Dinge wie extreme Wetterbedingungen
keinen Einfluss haben, sollten wir uns
zur Vermeidung schwerer Zwischenfälle
auf die Dinge konzentrieren, die wir
kontrollieren können.
Der Grund dafür, dass wir vorbeu-
gende Maßnahmen gern vermeiden
oder überspringen, liegt ganz einfach in
der menschlichen Natur. Unsere innere
Abwehr wird automatisch auf den Plan
gerufen, wenn wir über Ereignisse nach-
denken, die unser Leben beeinträchti-
gen könnten. Außerdem zögern wir oft,
Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, weil
sich viele Menschen davon völlig über-
fordert fühlen. Darüber hinaus fällt die
Verantwortung oft Menschen zu, die da-
rauf nicht vorbereitet sind. Manchmal
vergisst man auch, dass die Mitarbeiter,
denen die Verantwortung für einen Teil
des Notfallplans übertragen wurde, in
eine andere Position wechseln oder
schlichtweg ihr Notfalltraining verges-
sen. Unterdessen wächst und entwickelt
sich das Unternehmen weiter. Wenn es
schließlich zur Katastrophe kommt, stel-
len wir fest, dass wir nicht so gut vorbe-
reitet sind, wie wir dachten. Glücklicher-
weise stellt sich dann aber auch heraus,
welche Mitarbeiter den Herausforderun-
gen des Notfalls gewachsen sind, unter
Umständen Leben retten und das Unter-
nehmen vor noch größeren Schäden be-
wahren.
Bei Treneco AB haben wir schon di-
rekt oder indirekt mit vielen Schadens-
regulierungsfällen zu tun gehabt. Bei
unseren Fällen war von kleineren Schä-
den an einzelnen Maschinen bis zum
Verlust ganzer Produktionsstätten alles
dabei. Versicherungsgesellschaften und
Versicherungsnehmer auf der ganzen
Welt haben unsere Beratungs- und Pro-
jektmanagement-Dienste in Anspruch
genommen.
Im Geschäfts- und Privatleben ist es
nichts Ungewöhnliches, dass Menschen
nur wenig Erfahrung im Umgang mit
den unliebsamen Überraschungen des
Lebens haben. Leider ist das nur allzu
menschlich. Wir neigen dazu, unliebsa-
me Ereignisse zu ignorieren oder zu ver-
drängen. Viele Menschen glauben auch,
dass im Notfall die Versicherungsgesell-
schaft alles regeln wird. Doch da irren
sie sich. Die Versicherung übernimmt
zwar die Kosten, aber die Arbeiten wer-
den von den Unternehmen ausgeführt.
Es liegt im Interesse der Unterneh-
men, selbst über die nötigen Kenntnisse
zu verfügen, um eine Fabrik von heute
auf morgen komplett wieder aufzubau-
en. Schließlich braucht man nur an das
Versagen vieler Regierungsbehörden
rund um den Globus im Katastrophen-
fall zu denken. Selbst in Ländern mit gu-
ter Organisation gibt es bei häufig auf-
tretenden Katastrophen wie Über-
schwemmungen oder Bränden oft
Schwierigkeiten bei den Gegenmaßnah-
men. Die Fähigkeit, Notfälle zu vermei-
den und geeignete Gegenmaßnahmen
vorzubereiten, ist eine der Grundlagen
effizienter Führung. Wenn Notfälle effi-
zient und mit dem bestmöglichen Ergeb-
nis bewältigt werden, wurden vorher
viel Zeit und Ressourcen in Trainings-
und Ausbildungseinheiten investiert.
Die gute Nachricht ist, dass sich diese Fä-
higkeiten erlernen lassen.
Doch wo soll man dabei anfangen?
Hier kommt das Pareto-Prinzip zum Ein-
*Die Autoren: Andreas Tingvall ist Geschäftsführer der
Treneco AB, Göteborg. Das schwedische Unternehmen be-
treibt Filialen in Deutschland und Polen. Lothar Jacobmeyer
arbeitet als unabhängiger Berater mit Treneco AB zusammen
und ist seit vielen Jahren mit Leib und Seele in der europäi-
schen Wellpappenbranche tätig.
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satz. „Im geschäftlichen Bereich werden
80 % der Ergebnisse mit 20 % des Auf-
wands erzielt.“ Interessanterweise stim-
men viele Unternehmen sicher zu, dass
sie etwa 80 % ihres Gewinns mit 20 %
ihrer Kunden erzielen. Das ist in vielen
Branchen nichts Ungewöhnliches.
Im Hinblick auf vorbeugende Not-
fallmaßnahmen kann das bedeuten,
dass 80 % der Schäden für das Unterneh-
men mit der Befolgung von 20 % der er-
forderlichen Vorbeugungsmaßnahmen
(nach Wichtigkeit geordnet) abgewendet
werden können. Ein vergleichsweiser ge-
ringer Aufwand bei der Notfallplanung
kann beim Umgang mit Katastrophensi-
tuationen von entscheidend positiver Be-
deutung sein.
Die richtigen Fragen stellen
Zuerst sollte sich der Unternehmer darü-
ber informieren, welche Bereiche oder
Bestandteile des Unternehmens zu wel-
chen Konditionen versichert werden
sollten, und wie man Risiken durch die
entsprechende Ausbildung und Vorbe-
reitung der Mitarbeiter mindern kann.
Bei der Überprüfung des Versicherungs-
schutzes und des derzeitigen Fabrikauf-
baus sind die folgenden Fragen zu beach-
ten:
• Ist das installierte Maschinenmodell
noch erhältlich?
• Welche derzeit erhältliche Maschine
würde den Verlust ersetzen?
• Passt die neue Anlage noch in das be-
stehende Gebäude?
• Sind neue Gebäude erforderlich?
• Wie können wir der Versicherungsge-
sellschaft verständlich machen, welcher
Zusammenhang zwischen dem vorhan-
denen Raum und den Anforderungen
der neuen Maschinen besteht?
• Ist es möglich, die Genehmigungen
zum Wiederaufbau der Fabrik auf dem-
selben Gelände zu erhalten?
• Welche Umweltvorschriften gibt es
beim Wiederaufbau der Fabrik zu beach-
ten?
• Welche Betriebsmedien und -dienste
werden für die Ersatzanlage benötigt?
• Passen die Betriebsmedien zu der neu-
en Ausrüstung, und genügen sie den gel-
tenden Vorschriften?
• Wie muss die Logistik für die Ersatzan-
lage angepasst werden.
• Welches ist der richtige Versicherungs-
wert für veraltete Ausrüstung?
• Sollte die Ersatzanlage dem aktuellen
oder zukünftigen Produktionsbedarf
entsprechen?
• Brauche ich Ersatzteile und Betriebs-
stoffe für die neue Anlage?
• Sind die Stanzwerkzeuge und Kli-
schees noch für die neue Anlage geeig-
net?
• Genügen Fundament und Bau der Fab-
rikhalle den Anforderungen der Ersatz-
anlage?
• Welche Mitarbeiter benötigen Schu-
lungen, und werden die Kosten von der
Versicherung übernommen?
• Was ist während der Lieferzeit der neu-
en Anlage zu tun?
• Wie lange wird es dauern, bis die neue
Anlage mit voller Kapazität produziert?
• Wie kann ich den Verlust durch Ge-
schäftsausfall für die Maschine nach-
weisen?
• Hat das interne Team das Know-how
und die Kapazitäten, um einen wichti-
gen Teil der Anlage selbst wieder in-
standzusetzen, oder muss ein externer
Partner hinzugezogen werden?
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• Welcher Partner kann das Team unter-
stützen, und wie hoch sind die Kosten?
• Steht dem Unternehmen ein Experte
zur Beratung zu, und wie ist dieser zu
erreichen?
Zur Bewertung einer Produktions-
maschine mit möglichem Versiche-
rungsschutz gehört viel mehr als nur der
Kaufpreis im Angebot des Herstellers.
Oft stellen wir fest, dass die Versiche-
rungsgesellschaft, der Versicherungs-
nehmer und selbst die meisten professi-
onellen Gutachter nicht voll erfassen,
was im Ersatzfall benötigt wird, und
welche Kosten aus einem Maschinen
verlust in der Wellpappenbranche ent-
stehen. Betriebsmedien, Fundamente
und Logistik müssen einbezogen wer-
den.
Die meisten Gutachterfirmen holen
ein übliches Angebot von einem Maschi-
nenhersteller ein und legen es ihrem
Gutachten zugrunde, ohne dabei die be-
sonderen Anforderungen der Wellpap-
penbranche zu kennen. Wenn das Gut-
achten allein auf Angeboten basiert, ist
es für die individuelle Situation eines
Unternehmens nicht geeignet. Das Un-
ternehmen ist dann unter Umständen
unterversichert oder zahlt zu hohe Ver-
sicherungsprämien. Die Versicherung
berechnet die Prämien nach der Versi-
cherungssumme und den vertraglichen
Vereinbarungen. Daher sollten auch alle
Nebenkosten in die Versicherungssum-
me eingerechnet werden.
Geschäftsausfall
Große Risiken lassen sich versichern.
Was sich nicht versichern lässt, ist das
Geschäftsmodell. Vom Verlust des Kun-
denstamms erholt sich kein Unterneh-
men so leicht. Zuerst sollte überdacht
werden, wie das Unternehmen mit den
Anforderungen und Erwartungen der
Kunden umgeht, und wie diese Ver-
pflichtung wahrgenommen werden soll.
Viele Unternehmen, die mit kurzen Lie-
ferzeiten und niedrigen Gewinnspan-
nen arbeiten, können schon durch den
Verlust weniger profitabler Kunden dem
Ruin nahe sein.
Es gibt keinen Anwalt und keine Ver-
sicherungsgesellschaft, die einen verlo-
renen Kunden zurückbringen kann. Das
Pareto-Prinzip kann hilfreich sein, um
festzulegen, worauf sich das Unterneh-
men konzentrieren sollte.
Kunden bleiben ihren Lieferanten
treu, weil sie zuverlässig sind und die be-
stellte Ware pünktlich liefern. Die Kun-
den eines Zulieferers können es sich
nicht erlauben, ihren Betrieb zum Still-
stand kommen zu lassen, weil beim Zu-
lieferer ein Notfall eingetreten ist! Also
verliert das Unternehmen höchstwahr-
scheinlich Kunden, wenn es nicht lie-
fern kann. In großen Konzernen geht
man häufig davon aus, dass ein Schwes-
terunternehmen die Belieferung be-
stimmter Kunden übernehmen kann.
Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass dies
bei über 70 % der Aufträge nicht zutrifft.
Auch wenn es technisch möglich wäre,
die Produktion zum Schwesterunter-
nehmen zu verlegen, ist zu beachten,
dass statistisch gesehen 80 % der Kun-
denreklamationen nach einer Erstaus-
lieferung eingehen.
Angebote von Konkurrenten ein-
holen
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass
bei einem großen Ausfall in einer Fabrik
im Prinzip für alle Aufträge dieser Fab-
rik Angebote von Konkurrenten einge-
holt werden. Daher besteht kein Zweifel,
dass es für Unternehmen von entschei-
dender Bedeutung ist, auch den Ge-
schäftsausfall in die Versicherung ein-
zubeziehen.
Der Verlust durch Geschäftsausfall
ist oft größer als der Verlust materieller
Güter. Es hat keinen Sinn, nur die Pro-
duktionsgüter zu versichern. Wie allge-
mein bekannt, kann es Jahre dauern,
den Kundenstamm aufzubauen, aber
nur wenige Stunden, die Kunden zu ver-
lieren.
Nach einem Notfall wird die Situati-
on durch die Bemühungen, Kunden, Lie-
feranten und Mitarbeiter zu halten,
deutlich komplexer. Ein wichtiger Be-
standteil der Notfallplanung eines Un-
ternehmens ist daher die Einschätzung
der Bedürfnisse dieser Gruppen und ein
Plan zur Erfüllung dieser Bedürfnisse
auch in einer chaotischen Situation.
Dies stellt eine große Herausforderung
für das Führungsteam eines Unterneh-
mens dar und darf nicht auf die leichte
Schulter genommen werden.
Was ist zu tun?
Die meisten Hersteller von Papierverpa-
ckungen könnten sich in dieser Hinsicht
noch verbessern. Im Schnitt führen die
meisten Betriebe gerade mal gelegentli-
che Brandschutzübungen durch. Doch
viele Unternehmen wissen nicht, wo die
nächstgelegene Feuerwache ist und ob
diese auf die Notfälle vorbereitet ist, die
im Unternehmen auftreten können. Die
Notfallplanung ist eine der wichtigsten
Aufgaben eines Unternehmens. Dazu
muss man auch über die alltäglichen Be-
triebsabläufe hinausschauen, um sich
effektiv auf selten und unerwartet ein-
tretende Ereignisse vorzubereiten, die
das Geschäft beeinträchtigen können.
Zuerst sollte man zwei Arten von Risiken
unterscheiden: Risiken, die durch Trai-
ning, Best Practices und Information ge-
mindert werden können, und solche, für
die Lösungen außerhalb des direkten
Geschäftsbereichs benötigt werden.
Vielleicht erinnert sie dieser Artikel
daran, dass es noch viel zu tun gibt.
Manchmal kann die lange Liste der Auf-
gaben, die es zu erledigen gilt, richtigge-
hend überwältigend wirken. Denken Sie
immer daran, dass alles, was schief
gehen kann, irgendwann auch schief-
geht. Da ist es besser, gut vorbereitet zu
sein. |
Ein niedergebranntes
Wellpappenwerk in
Barcelona