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»Ihr wisst doch gar nicht, wer ich bin«
Wenn es ganz schlimm wurde mit der Sucht nach Essen, wog Hector     
Seinen Körper empfand er wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrin nen gibt. Er war ein liebenswerter Mann mit einem großen Herzen,
sagen seine Verwandten. Die Fotografin Lisa Krantz hat Garcia vier     
 FOTOGRAFIE
Von Alexandra Kraft
     Garcia jr. 288 Kilogramm. An besseren Tagen hundert Kilo weniger.
Seinen Körper empfand er wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrin nen gibt. Er war ein liebenswerter Mann mit einem großen Herzen,      
Jahre lang bei seinem verzweifelten Kampf um sein Leben begleitet
Hector Garcia
verließ nur selten
sein Zimmer.
Seine Verwandten
besuchten ihn
jedoch regelmäßig,
wie hier an seinem
45. Geburtstag
im November 2010
4.5.2016 93
»Als Kind nannten mich die
anderen ›Hamburger‹. Sie
wollten einfach nicht mit mir
zusammen sein. Wenn ich zu
ihnen ging, schubsten sie mich
weg. Ich hatte schon früh das
Gefühl, nichts wert zu sein.
Das ist ein Gefühl, das sich für
immer in mir festgesetzt hat.
Wenn ich ein Bild von mir malen
sollte, dann wäre das ein Kind,
das hinter einem Fenster sitzt
und das ganze Leben an sich
vorbeiziehen sieht. Niemand,
niemand will das dicke Kind.
Fettsucht raubt dir die Würde,
nimmt dir alles, was du hast.
Du kannst dich nicht verstecken,
dein Körper ist ja immer da.
Die anderen Menschen treffen
ihre Urteile über mich, nur weil
ich fett bin. Dabei haben sie
nicht die leiseste Ahnung, wer
ich eigentlich bin. Dass ich fett
bin, macht mich doch noch nicht
zu einem schlechten Menschen.
Die Leute nehmen sich selten
die Zeit, mich besser kennenzu-
lernen. Selbst ich verstehe das.
Ich weiß, wie die Welt ist.«
Jeder Schritt
war für den
Mann eine Tortur.
Schon der kurze
Weg ins Bade-
zimmer brachte
Hector Garcia
an den Rand des
Zusammenbruchs
4.5.2016 95
Bei einer Augen­
untersuchung 2011
in San Antonio
scherzte er mit
einer Optikerin;
zu Hause mit
seinen Nichten (r.)
Für die Knie­
operation im Juli
2012 hatte Garcia
150 Kilo ab­
genommen und
fühlte sich gut
wie lange nicht.
Doch bei der
OP kam es zu
Komplikationen.
Während der
Physiothe­rapie
kurz nach dem
Eingriff hatte er
Schmerzen (v. l.)
»Essen hat mich nie zurückge-
wiesen, hat nie etwas Schlechtes
zu mir gesagt. Essen hat mir
­immer Trost gegeben, Essen
war mein Freund – und das hat
alles nur noch schlimmer
gemacht. Ich habe nie gelernt,
anders glücklich zu sein als
beim Essen. Ich habe mich selbst
zerstört dabei, und es hat
viel zu lange gedauert, bis ich
das merkte. Essen kann man
nicht einfach kalt entziehen wie
andere Drogen. Man muss ja
etwas essen, du kannst ja nicht
einfach damit aufhören, das
macht es so verdammt hart.
Ich wünsche das niemandem.
An einen Stuhl gefesselt
zu sein und nicht am Leben
teilnehmen zu können. Ich
werde niemals heiraten, ich
werde niemals Kinder haben.
Dabei denke ich, dass ich ein
guter Vater wäre. Gott hat mir
ein großes Herz gegeben.«
4.5.2016 97
»Als ich den Kampf aufnahm
und versuchte, mit Sport
abzunehmen, habe ich ein
Bild von mir an die Wand des
Studios gehängt. Darauf habe
ich geschrieben: ›Niemals
wieder! Wenn du erschöpft
bist und nicht mehr kannst,
erinnere dich immer daran,
wo du herkommst und wer du
sein möchtest. Du musst leben.
Deine Familie zählt auf dich,
Gott zählt auf dich! Wenn
du jetzt aufgibst, wirst du
sterben. Es gibt keinen Weg
zurück.‹ Doch nach meinen
vier Knieoperationen habe ich
den Weg nicht mehr zurück-
gefunden. Ich konnte nicht
mehr ins Wasser, ich konnte
nicht mehr auf das Laufband,
gar nichts. Ich hatte das
Gefühl, dass mich mein Körper
immer im Stich lassen würde.
Es hat mich sehr entmutigt,
weil ich wirklich dachte, ich
finde da heraus. Aber es war
immer wieder das Gleiche.
Nach einem Jahr hatte ich mein
ganzes Gewicht wieder drauf.«
Aus dem Wasser-
becken kam
er nur, indem er
sich herausrollte.
Demütigend.
Doch Garcia
wollte unbedingt
abnehmen, damit
der Arzt ihm
neue Kniegelenke
einsetzt
4.5.2016 99
»Es ist hart, für mein Leben
zu kämpfen, wenn ich fühle,
dass mein Leben kein Leben
ist. Es ist Existenz. Existenz
ist mir nicht genug. Ich bin
48 Jahre alt, und ich habe nie
richtig gelebt. So empfinde
ich das. Ich werde mich damit
abfinden müssen. Ich möchte
nicht, dass mich die Leute
bedauern. Ich möchte nur,
dass die Leute sich einfühlen
können in Menschen, die
so sind wie ich.«
Zum Schluss
wusch Elena
Garcia ihren Sohn.
Nur selten fuhren
die beiden mit
den elektrischen
Rollstühlen in
den Supermarkt.
Als er in kein Auto
mehr passte,
kamen die Ärzte
zu ihm nach
Haus (l. u.)
4.5.2016 101
Ein Onlinevideo
über Hector Garcia
finden Sie unter
www.lisakrantz.com
FOTOS:LISAKRANTZ/ZUMAPRESS
Am Ende wurde das Kinderzim-
merzuseinemGefängnis.ZehnJah-
re zuvor hatte Hector Garcia sich
dort vor der Welt verkrochen. Da-
malswarer39Jahrealtundwogfast
300 Kilo. Allein leben konnte er
nicht mehr.Das Gewicht lastete so
schweraufseinenKnochen,dasssie
drohten, bei jedem Schritt zu bre-
chen.Wieessoweitkommenkonn-
te? Hector Garcia sagte: „Ich habe
niegelernt,andersglücklichzusein,
als wenn ich esse.“
Über das Leben des Texaners
haben viele geurteilt. „Schon als
kleinen Jungen nannten mich alle
nurHamburger“,sagteer.Erwusste,
dass Leute über ihn lachten und
Grimassen schnitten. Bei einem
Job-Interview nahm der Chef, als
erihnsah,dieBewerbung,zerknüll-
te sie und schmiss sie in den Müll-
eimer.„SolcheErlebnissehabenihn
gebrochen“,sagt die Fotografin Lisa
Krantz, die Garcia vier Jahre lang
begleitete. „Er wollte, dass ich sein
Leben dokumentiere, er sagte: Ich
bin hoffentlich das abschreckende
Beispiel.“Seine Knie waren kaputt,
dieLastdes KörpershattedieBeine
in ein unnatürliches O gezwungen.
SeinRisikofürDiabetes,Krebsoder
Herz-Kreislauf-Erkrankungen war
groß. Menschen wie Hector Garcia
werden selten alt.
Seine Seele litt mindestens so wie
seinKörper.„Übergewichtnimmtdir
jede Würde“,sagte er zu Lisa Krantz.
„Für viele bin ich nur der faule Sack,
der keine Selbstdisziplin hat.“
DieWahrheitwarvielkomplizier-
ter.Je mehr er zunahm,umso tiefer
versank er in der Depression. Und
er kannte nur ein Mittel dagegen.
„Essenhatmichnieschlechtbehan-
delt, es war nie gemein zu mir. Ich
bin süchtig.“
Alle seine fünf Geschwister sind
zu schwer, Mutter und Vater auch.
Wahrscheinlich haben sie eine
genetische Veranlagung für Adipo-
sitas.Aber erst Armut und schlech-
te Bildung machten daraus ein
Schicksal.Garcia,dersogernPfarrer
geworden wäre, sagte über seine
Mutter Elena: „Sie wusste nicht,
was sie tat,sie gab uns,was sie hat-
te.“ Nur das Billigste kam auf den
Tisch – Bohnen,Reis,Nudeln,alles
in Schweineschmalz gekocht.
Garcia ließ sich einen Magen-
bypasslegen,dawarerMitte30.Die
OperationbezahltedieKrankenver-
sicherung.AbernichtdieBetreuung
durch Psychologen,die sein krank-
haftes Essverhalten hätte ändern
können. Trotzdem nahm er knapp
200 Kilo ab. Als seine Schwester
Tessa wenig später an Krebs starb,
stopfte er sich wieder voll.Er verlor
seine Arbeit, seine Versicherung
und – als er in sein Kinderzimmer
zog – auch seine Unabhängigkeit.
Seine Mutter wurde zur Pflegerin.
Anfang 2011 fasste er neuen Mut.
„ScheiternistkeineOption“,sagteer
damals. Ein Arzt wollte ihm künst-
liche Kniegelenke einsetzen, wenn
er abnehme. Der 270-Kilo-Koloss
begann, Sport zu treiben. Erst mit
einem Handfahrrad im Sessel sit-
zend, später stapfte er durch das
WasserdesörtlichenSchwimmbads.
Er ließ sich selbst dann nicht ent-
mutigen,als er kaum mehr aus dem
Becken kam und vor den anderen
BadegästenüberdenBodenkriechen
musste. Lisa Krantz, die dabei war,
sagt: „Es war einer der entwürdi-
gendsten Momente seines Lebens,
aber er wollte so fotografiert wer-
den.“Wieder nahm er rund 150 Kilo
ab. Wer Garcia damals sah, sagt, er
sei glücklich gewesen.Wann immer
möglich, besuchten ihn seine Ver-
wandten. Dann lachte er viel und
redete von einer Zukunft mit Frau
und Kindern.
Mitte2012kamderersehnteEin-
griff.AberstattErlösungzubringen,
führteerzuKomplikationen.Zwei-
mal musste nachoperiert werden.
TrotzmonatelangerRehakonnteer
vielschlechterlaufenalszuvor.Mit
20er-Packungen Chicken McNug-
gets versuchte er,seine Depression
zu betäuben.Innerhalb von 24 Mo-
natenhatteerfastwieder seinaltes
Gewichterreicht.Erbekamschlecht
Luft,zu einem Arzt wollte er nicht.
Stattdessen resignierte er: „Es ist
hart, um mein Leben zu kämpfen,
denn ich weiß, dass es keins ist.
Sondern nur eine Existenz. Das ist
mir nicht genug.“
Es waren etwa 40 Schritte, die
Hector Garcia umbrachten: der
WegvonseinemKinderzimmerzur
Haustür,an der es geklingelt hatte.
Vor den Füßen seiner Mutter brach
der 49-Jährige im Dezember 2014
zusammen.SeineletztenWortewa-
ren: „Ich bekomme keine Luft.“ 2
A Durch eine Freun-
din lernte die
Fotografin Lisa
Krantz Garcia
kennen und doku-
mentierte vier
Jahre lang seinen
Kampf
Wenige Stunden
nach dem Tod
von Hector
Garcia legte sich
Familienhund
Crumb in das
leere Bett
102 4.5.2016
Alexandra Kraft reist viel in den
USA. Manchmal werden in kleineren
Flugzeugen die Passagiere
umgesetzt, damit die Maschine
im Gleichgewicht ist. Etwa 35 Prozent der
Amerikaner sind stark übergewichtig

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Garcia 1916

  • 1. »Ihr wisst doch gar nicht, wer ich bin« Wenn es ganz schlimm wurde mit der Sucht nach Essen, wog Hector      Seinen Körper empfand er wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrin nen gibt. Er war ein liebenswerter Mann mit einem großen Herzen, sagen seine Verwandten. Die Fotografin Lisa Krantz hat Garcia vier       FOTOGRAFIE Von Alexandra Kraft      Garcia jr. 288 Kilogramm. An besseren Tagen hundert Kilo weniger. Seinen Körper empfand er wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrin nen gibt. Er war ein liebenswerter Mann mit einem großen Herzen,       Jahre lang bei seinem verzweifelten Kampf um sein Leben begleitet Hector Garcia verließ nur selten sein Zimmer. Seine Verwandten besuchten ihn jedoch regelmäßig, wie hier an seinem 45. Geburtstag im November 2010 4.5.2016 93
  • 2. »Als Kind nannten mich die anderen ›Hamburger‹. Sie wollten einfach nicht mit mir zusammen sein. Wenn ich zu ihnen ging, schubsten sie mich weg. Ich hatte schon früh das Gefühl, nichts wert zu sein. Das ist ein Gefühl, das sich für immer in mir festgesetzt hat. Wenn ich ein Bild von mir malen sollte, dann wäre das ein Kind, das hinter einem Fenster sitzt und das ganze Leben an sich vorbeiziehen sieht. Niemand, niemand will das dicke Kind. Fettsucht raubt dir die Würde, nimmt dir alles, was du hast. Du kannst dich nicht verstecken, dein Körper ist ja immer da. Die anderen Menschen treffen ihre Urteile über mich, nur weil ich fett bin. Dabei haben sie nicht die leiseste Ahnung, wer ich eigentlich bin. Dass ich fett bin, macht mich doch noch nicht zu einem schlechten Menschen. Die Leute nehmen sich selten die Zeit, mich besser kennenzu- lernen. Selbst ich verstehe das. Ich weiß, wie die Welt ist.« Jeder Schritt war für den Mann eine Tortur. Schon der kurze Weg ins Bade- zimmer brachte Hector Garcia an den Rand des Zusammenbruchs 4.5.2016 95
  • 3. Bei einer Augen­ untersuchung 2011 in San Antonio scherzte er mit einer Optikerin; zu Hause mit seinen Nichten (r.) Für die Knie­ operation im Juli 2012 hatte Garcia 150 Kilo ab­ genommen und fühlte sich gut wie lange nicht. Doch bei der OP kam es zu Komplikationen. Während der Physiothe­rapie kurz nach dem Eingriff hatte er Schmerzen (v. l.) »Essen hat mich nie zurückge- wiesen, hat nie etwas Schlechtes zu mir gesagt. Essen hat mir ­immer Trost gegeben, Essen war mein Freund – und das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ich habe nie gelernt, anders glücklich zu sein als beim Essen. Ich habe mich selbst zerstört dabei, und es hat viel zu lange gedauert, bis ich das merkte. Essen kann man nicht einfach kalt entziehen wie andere Drogen. Man muss ja etwas essen, du kannst ja nicht einfach damit aufhören, das macht es so verdammt hart. Ich wünsche das niemandem. An einen Stuhl gefesselt zu sein und nicht am Leben teilnehmen zu können. Ich werde niemals heiraten, ich werde niemals Kinder haben. Dabei denke ich, dass ich ein guter Vater wäre. Gott hat mir ein großes Herz gegeben.« 4.5.2016 97
  • 4. »Als ich den Kampf aufnahm und versuchte, mit Sport abzunehmen, habe ich ein Bild von mir an die Wand des Studios gehängt. Darauf habe ich geschrieben: ›Niemals wieder! Wenn du erschöpft bist und nicht mehr kannst, erinnere dich immer daran, wo du herkommst und wer du sein möchtest. Du musst leben. Deine Familie zählt auf dich, Gott zählt auf dich! Wenn du jetzt aufgibst, wirst du sterben. Es gibt keinen Weg zurück.‹ Doch nach meinen vier Knieoperationen habe ich den Weg nicht mehr zurück- gefunden. Ich konnte nicht mehr ins Wasser, ich konnte nicht mehr auf das Laufband, gar nichts. Ich hatte das Gefühl, dass mich mein Körper immer im Stich lassen würde. Es hat mich sehr entmutigt, weil ich wirklich dachte, ich finde da heraus. Aber es war immer wieder das Gleiche. Nach einem Jahr hatte ich mein ganzes Gewicht wieder drauf.« Aus dem Wasser- becken kam er nur, indem er sich herausrollte. Demütigend. Doch Garcia wollte unbedingt abnehmen, damit der Arzt ihm neue Kniegelenke einsetzt 4.5.2016 99
  • 5. »Es ist hart, für mein Leben zu kämpfen, wenn ich fühle, dass mein Leben kein Leben ist. Es ist Existenz. Existenz ist mir nicht genug. Ich bin 48 Jahre alt, und ich habe nie richtig gelebt. So empfinde ich das. Ich werde mich damit abfinden müssen. Ich möchte nicht, dass mich die Leute bedauern. Ich möchte nur, dass die Leute sich einfühlen können in Menschen, die so sind wie ich.« Zum Schluss wusch Elena Garcia ihren Sohn. Nur selten fuhren die beiden mit den elektrischen Rollstühlen in den Supermarkt. Als er in kein Auto mehr passte, kamen die Ärzte zu ihm nach Haus (l. u.) 4.5.2016 101
  • 6. Ein Onlinevideo über Hector Garcia finden Sie unter www.lisakrantz.com FOTOS:LISAKRANTZ/ZUMAPRESS Am Ende wurde das Kinderzim- merzuseinemGefängnis.ZehnJah- re zuvor hatte Hector Garcia sich dort vor der Welt verkrochen. Da- malswarer39Jahrealtundwogfast 300 Kilo. Allein leben konnte er nicht mehr.Das Gewicht lastete so schweraufseinenKnochen,dasssie drohten, bei jedem Schritt zu bre- chen.Wieessoweitkommenkonn- te? Hector Garcia sagte: „Ich habe niegelernt,andersglücklichzusein, als wenn ich esse.“ Über das Leben des Texaners haben viele geurteilt. „Schon als kleinen Jungen nannten mich alle nurHamburger“,sagteer.Erwusste, dass Leute über ihn lachten und Grimassen schnitten. Bei einem Job-Interview nahm der Chef, als erihnsah,dieBewerbung,zerknüll- te sie und schmiss sie in den Müll- eimer.„SolcheErlebnissehabenihn gebrochen“,sagt die Fotografin Lisa Krantz, die Garcia vier Jahre lang begleitete. „Er wollte, dass ich sein Leben dokumentiere, er sagte: Ich bin hoffentlich das abschreckende Beispiel.“Seine Knie waren kaputt, dieLastdes KörpershattedieBeine in ein unnatürliches O gezwungen. SeinRisikofürDiabetes,Krebsoder Herz-Kreislauf-Erkrankungen war groß. Menschen wie Hector Garcia werden selten alt. Seine Seele litt mindestens so wie seinKörper.„Übergewichtnimmtdir jede Würde“,sagte er zu Lisa Krantz. „Für viele bin ich nur der faule Sack, der keine Selbstdisziplin hat.“ DieWahrheitwarvielkomplizier- ter.Je mehr er zunahm,umso tiefer versank er in der Depression. Und er kannte nur ein Mittel dagegen. „Essenhatmichnieschlechtbehan- delt, es war nie gemein zu mir. Ich bin süchtig.“ Alle seine fünf Geschwister sind zu schwer, Mutter und Vater auch. Wahrscheinlich haben sie eine genetische Veranlagung für Adipo- sitas.Aber erst Armut und schlech- te Bildung machten daraus ein Schicksal.Garcia,dersogernPfarrer geworden wäre, sagte über seine Mutter Elena: „Sie wusste nicht, was sie tat,sie gab uns,was sie hat- te.“ Nur das Billigste kam auf den Tisch – Bohnen,Reis,Nudeln,alles in Schweineschmalz gekocht. Garcia ließ sich einen Magen- bypasslegen,dawarerMitte30.Die OperationbezahltedieKrankenver- sicherung.AbernichtdieBetreuung durch Psychologen,die sein krank- haftes Essverhalten hätte ändern können. Trotzdem nahm er knapp 200 Kilo ab. Als seine Schwester Tessa wenig später an Krebs starb, stopfte er sich wieder voll.Er verlor seine Arbeit, seine Versicherung und – als er in sein Kinderzimmer zog – auch seine Unabhängigkeit. Seine Mutter wurde zur Pflegerin. Anfang 2011 fasste er neuen Mut. „ScheiternistkeineOption“,sagteer damals. Ein Arzt wollte ihm künst- liche Kniegelenke einsetzen, wenn er abnehme. Der 270-Kilo-Koloss begann, Sport zu treiben. Erst mit einem Handfahrrad im Sessel sit- zend, später stapfte er durch das WasserdesörtlichenSchwimmbads. Er ließ sich selbst dann nicht ent- mutigen,als er kaum mehr aus dem Becken kam und vor den anderen BadegästenüberdenBodenkriechen musste. Lisa Krantz, die dabei war, sagt: „Es war einer der entwürdi- gendsten Momente seines Lebens, aber er wollte so fotografiert wer- den.“Wieder nahm er rund 150 Kilo ab. Wer Garcia damals sah, sagt, er sei glücklich gewesen.Wann immer möglich, besuchten ihn seine Ver- wandten. Dann lachte er viel und redete von einer Zukunft mit Frau und Kindern. Mitte2012kamderersehnteEin- griff.AberstattErlösungzubringen, führteerzuKomplikationen.Zwei- mal musste nachoperiert werden. TrotzmonatelangerRehakonnteer vielschlechterlaufenalszuvor.Mit 20er-Packungen Chicken McNug- gets versuchte er,seine Depression zu betäuben.Innerhalb von 24 Mo- natenhatteerfastwieder seinaltes Gewichterreicht.Erbekamschlecht Luft,zu einem Arzt wollte er nicht. Stattdessen resignierte er: „Es ist hart, um mein Leben zu kämpfen, denn ich weiß, dass es keins ist. Sondern nur eine Existenz. Das ist mir nicht genug.“ Es waren etwa 40 Schritte, die Hector Garcia umbrachten: der WegvonseinemKinderzimmerzur Haustür,an der es geklingelt hatte. Vor den Füßen seiner Mutter brach der 49-Jährige im Dezember 2014 zusammen.SeineletztenWortewa- ren: „Ich bekomme keine Luft.“ 2 A Durch eine Freun- din lernte die Fotografin Lisa Krantz Garcia kennen und doku- mentierte vier Jahre lang seinen Kampf Wenige Stunden nach dem Tod von Hector Garcia legte sich Familienhund Crumb in das leere Bett 102 4.5.2016 Alexandra Kraft reist viel in den USA. Manchmal werden in kleineren Flugzeugen die Passagiere umgesetzt, damit die Maschine im Gleichgewicht ist. Etwa 35 Prozent der Amerikaner sind stark übergewichtig