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Andrea Wulf am
6300 Meter hohen
Chimborazo in
Ecuador. Humboldt
erreichte 1802
fast seinen Gipfel
 WISSEN/TECHNIK
Astronauten,die die Erde zum ersten Mal
als Ganzes gesehen haben,berichten von
einem„Overview-Effect“.DaistdieserPla-
net vor dem Schwarz des Weltalls, schön
undzugleichsoverletzlich.Humboldthat-
te ein ähnliches Erlebnis auf dem Chim-
borazo.EswirdseineSichtaufMenschund
Natur enorm bestärkt haben. Humboldt
warderersteUmweltschützerüberhaupt.
AlsichseineBriefeundTagebücherlas,gab
esGänsehautmomente.Humboldtbegriff
die Welt als lebenden Organismus.
Undstanddenengegenüber,diedasUni-
versumwieeineriesigeMaschinesahen.
Ja,er war ein Visionär,der schon vor mehr
als 200 Jahren zum Beispiel erkannt hat,
dass der Mensch das Klima verändert.
Durch Rodung, künstliche Bewässerung
und die großen Mengen Gas, die auch
schon damals aus den Industriezentren
strömten.DarumsagteHumboldtderWelt
auch eine finstere Zukunft voraus.
bestand.Fasthattensiedenrund6300Me-
ter hohen Vulkangipfel erreicht.Nur eine
unbezwingbare Spalte hielt sie bei knapp
6000 Metern auf. Trotzdem war der Auf-
stieg ein Riesenerfolg. Damals galt der
Berg noch als höchste Erhebung der Welt.
Steine vom Chim-
borazo waren da-
mals wie 1969 die
erstenSteinevomMond–eineSensation.
Ich folgte Humboldt dort hinauf,weil ich
ihn verstehen wollte.
UndwasempfandenSie,alsSiemehrals
200Jahrenachihmdortobenstanden?
Mir wurde klar, was er empfunden hat.
Der Vergleich mit dem Mondflug passt:
Stand dahinter eine romantische Ver-
klärung der unberührten Natur? Oder
hatteerGrundfürseinenPessimismus?
Letzteres. Er fand diesen Grund bei ei-
ner Expedition im heutigen Venezuela,
als er den Valencia-See erreichte. Da fiel
Humboldt neben
der Schönheit der
Natur auf, dass der
Wasserspiegel des Sees dramatisch sank.
Underverstand,warum:weilrundherum
dieWälderabgeholztwordenwaren.Heu-
te würden wir sagen, er beobachtete ein
Ökosystem, das zu kippen drohte. Hum-
boldterkannte,dassalleszusammenhängt
undinderNaturnichtsseparatbetrachtet
D
ie Natur – eine Erfindung? Ja,sagt
AndreaWulf,derenneuesBuchim
Original„TheInventionofNature“
heißt.Die preisgekrönte Autorin,
die in Deutschland Abitur mach-
te,schreibt auf Englisch.Seit zwei
Jahrzehnten lebt und forscht sie in Lon-
don. Dort entstand die fulminante Bio-
grafieeinespreußischenAbenteurers,des-
sen Einsichten bestechend aktuell sind:
Alexander von Humboldt. Die deutsche
Ausgabe ihres Werks eilte Wulf, die nach
einer Lesereise durch die USA jetzt nach
Deutschland kommen wird, voraus: Sie
erklimmt bereits die Bestsellerliste.
Frau Wulf, warum steigt eine Kultur-
historikerin wie Sie auf den höchsten
BergSüdamerikas?
Dort, auf dem Chimborazo in Ecuador,
hat Alexander von Humboldt mit seinen
Gefährten am 23.Juni 1802 einen Höhen-
rekord aufgestellt, der jahrzehntelang
4
werden darf. Nicht einmal der winzigste
Organismus existiert nur für sich. Alles
hängt zusammen, alles hängt voneinan-
der ab.Damit begriff Humboldt auch,wie
gefährdet die Natur war. Zieht man auch
nur an einem unscheinbaren Faden,kann
sich in der Folge das gesamte lebende
Gewebe auflösen.
Diese ganzheitliche Sicht hat er bild-
lich festgehalten, nachdem er heil vom
Chimborazoherabgestiegenwar.
Humboldtzeichnetedanachseinberühm-
tes Naturgemälde, einen detaillierten
Querschnitt vom Tal bis hinauf zu den
Gipfeln.Am Rand der Zeichnung notierte
eraufderjeweiligenHöhenlagediePflan-
zen, die dort vorkommen, außerdem die
Temperatur, die Feuchtigkeit, den Druck,
diechemischeZusammensetzungderLuft
und noch vieles mehr.
Heutewürdenwirsagen:Erentwarfeine
Infografik.
MitdiesenBildernwurdeaufeinmaldeut-
lich,dass die ganze Welt von Vegetations-
und Klimazonen umspannt wird. Hum-
boldt zeichnete auch Linien konstanten
LuftdrucksundeinerbestimmtenTempe-
raturaufKartenein.DassinddieIsobaren
und Isothermen …
… die auch wir noch jeden Tag auf der
Wetterkarte sehen.
Richtig.Ich habe neulich auf einer Konfe-
renz in San Diego vor 15 000 Geografen
über Humboldts Naturgemälde gespro-
chen.Dort wurden die modernsten Tech-
nikendigitalerKartografiediskutiert.Mit
den Arbeiten Humboldts aber waren die
meisten Teilnehmer nicht vertraut.Dabei
gehört er doch zu den Begründern ihrer
Disziplin!
In den USA hatte vor allem Humboldts
intensiver Austausch mit dem dama-
ligen Präsidenten Thomas Jefferson,
einemderGründerväter,tiefenEindruck
gemacht.DenkmälerwurdendemDeut-
schengesetzt,OrteundFlüssenachihm
benannt. Nun folgt gerade eine zweite
Welle der Begeisterung.Sie erleben das
auch bei Ihren Lesungen. Wie kommt
eszudieser Rückbesinnung?
VieleAmerikanerentdeckenHumboldtals
Helden und Vorkämpfer für die Umwelt-
bewegung. Gerade jetzt, wo sie mit dem
Klimawandel und den politischen Kämp-
fen um ihn konfrontiert sind.Denken Sie
nur an den Präsidentschaftswahlkampf
undalldieDiskussionen,diejetztmitdem
Übergang zur Regierung von Donald
Trump verbunden sind.
An das Pariser Klimaschutzabkommen
etwaoderdiedrohendenGefahrendurch
dieGewinnungvonRohstoffen.
Von Norbert Höfler und Alexandra Kraft
Narziss. Weiser. Visionär. Der Naturforscher
Alexander von Humboldt erkannte vor mehr als
200 Jahren die Welt als lebenden Organismus.
Historikerin Andrea Wulf über das Leben des Genies
„ER WARDERERSTE
UMWELTSCHU¨TZER“
BIOGRAFIE
1.12.2016 131
FOTOS:AKGIMAGES(2)
Das Buch Andrea Wulf:
„Alexander von Humboldt
und die Erfindung der Natur“,
Verlag C. Bertelsmann
Genau.HumboldtsahdieRück-
sichtslosigkeit im Wesen des
Menschen verankert. Selbst
wenndieMenschheitaufeinem
fernen Planeten Zuflucht su-
chenmüsste,soschrieber,wür-
deauchderwegenunsererIgno-
ranz, wegen Gier und Gewalt
„veröden“ und „verheeren“. Das
sagte er 1801 voraus!
Wie tickte einer, der mit An-
fang 30 so radikal mit altem
Gedankengutbrach?
Er war ein rastloser Mann, bis
ins hohe Alter. Wissbegierig
und fast unerträglich umtrie-
big.Humboldthatteeinesanf-
te Stimme, so heißt es, aber er redete in
einem fort.Dabei sprang er von Thema zu
Thema und sprach Deutsch, Englisch,
Französisch und Spanisch. Zudem war er
sehr ambitioniert und auch eitel.
Etlichen Zeitgenossen galt er jedenfalls
nichtals sonderlichsympathisch.
Zumindestwennerjemandennichtmoch-
te,konnte er biestig werden.Und für dum-
meLeutehatteernichtsübrig.AuchMusik
interessierte ihn nicht. Ein junger Pianist
sollte einmal für Humboldt spielen. Der
aberunterbrachseinenRedeflussdafürnur
kurz.BaldgabderPianistaufundsagte:Das
wareinDuett,dasichnichtgewinnenkonn-
te. Er war auch großzügig, unterstützte
andere Wissenschaftler und Künstler mit
seinem letzten Geld.Er teilte sein Wissen.
Schon seine Familie hielt ihn für einen
Sonderling.SeineMutterwolltediefrüh
erwachendeLiebezurNaturnichtakzep-
tieren.WarereineinsamesKind?
Der Vater starb früh. Alexander und sein
Bruder Wilhelm erlebten eine unglück-
liche Kindheit. Die Mutter wird als kalt
und seelenlos beschrieben. Sie zwang
Humboldt in den Staatsdienst.Er konnte
ihr nur abringen,dass er Geologie studie-
rendurfte,umdannalsBergbauingenieur
in den Dienst Preußens zu treten. Mehr
Nähe zur Natur erlaubte sie ihm nicht.
DieMutterstarb,alsAlexander27war.
Er ging nicht mal zu ihrer Beerdigung.
Ihr Tod berührte ihn nicht, wie er einem
Freund gestand.
WarergareineBefreiung?
Durchaus. Er erbte 100 000 Taler – ein
Handwerker in Berlin verdiente 200 Taler
im Jahr.Sofort kündigte Humboldt seine
ArbeitundbegannmitderPlanungseiner
Südamerika-Reise.Davor war er unglück-
lich,kränklich,depressiv.Danachwieaus-
gewechselt.
MitdemErbehätteeressichbequemma-
chenkönnen.Stattdessendurchlitterals
BergsteigerdieHöhenkrankheit,ließsich
von Zitteraalen Stromstöße versetzen,
riskierteseinLeben.Wastriebihndazu?
Oft habe ich das Gefühl, dass Humboldt
gegen sich selbst kämpfte.
ErschriebineinemseinerBriefedener-
staunlichenSatz:„Ichkennekeinesinn-
lichenBedürfnisse.“
Wir werden wohl nie wissen,ob er sexuell
überhaupt aktiv war. Aber es ist ziemlich
offensichtlich, dass er sich zu Männern
hingezogen fühlte. Das war natürlich ge-
sellschaftlichnichtakzeptiert.Esgibtkei-
ne Hinweise auf Verhältnisse mit Frauen,
was ungewöhnlich ist. Denn Humboldt
war einer der berühmtesten Männer der
Welt und hätte von Frauen umschwärmt
sein können.
Wie derzweiJahrzehnteältereGoethe?
Diebeidenverbandviel.Goethebewunder-
te Humboldt. Denn Goethe war nicht nur
einüberragenderDichter,sondernauchein
Naturforscher mit sehr fortschrittlichen
Ideen,demlangeeinSparringspartnerfehl-
te.Er fand ihn schließlich in Alexander von
Humboldt. Die beiden saßen in Jena und
Weimarzusammenundtauschtensichaus.
Denn mochte Humboldt auch eitel sein,so
wareseineseinerStärken,dasserseinWis-
sen gern teilte. Mit Goethe se-
zierte er sogar Leichen.
Sie vermuten,Humboldt war
einVorbildfürGoethesFaust.
Ja, denn mir fiel auf: Immer
wenn Goethe und Humboldt
sich getroffen hatten, schrieb
Goetheweiteranseinem„Faust“.
Der verschreibt seine Seele
demTeufel – imTausch gegen
grenzenloses Wissen. Und
Humboldt?
Ich könnte mir vorstellen,dass
Humboldt das sofort auch ge-
tan hätte. Goethe lässt Faust
ja sagen, warum er sich dem
Teufel ausliefert: „Dass ich er-
kenne,was die Welt im Innersten zusam-
menhält.“DasistpurerHumboldt.Goethe
schreibt,Faust sei von innerem Toben ge-
trieben,auchdaseineklareAnspielungauf
Humboldt.Erstürztesichrücksichtslosin
jede Gelegenheit, die ihm neues Wissen
versprach.Alles,was er auf seinen Reisen
sah,warneuundüberwältigend.DieLand-
schaften,die herrlichen Blüten,die Vögel
undFische,dieinihrerFarbenprachtmit-
einander wetteiferten.
AuchaufeinenweiterenGeistesgiganten
hat Humboldt starken Einfluss gehabt,
schreiben Sie: den Evolutionsbiologen
CharlesDarwin.Wasverbanddiebeiden?
Für mich ist klar: Darwin steht auf Hum-
boldts Schultern.Darwin las seine Schrif-
ten, und sie beeindruckten ihn tief. Dar-
win selbst sagt, dass er ohne Humboldt
nicht ab 1831 auf seinem Schiff „HMS
­Beagle“ die Welt umsegelt hätte. Und so
hätte er dann wohl auch nicht seine Evo-
lutionslehre entwickeln können.
Kanntensichdiebeidenpersönlich?
Ja, und das ist durchaus tragisch. Denn
HumboldtundDarwintrafensich1842.Da
war der Engländer 32, Humboldt aber
schon 72 Jahre alt. Darwin war völlig be-
geistert,seinen Helden nun endlich ken-
nenzulernen.UnddakommtdieserHum-
boldt ins Zimmer und redet ohne Punkt
und Komma! Darwin kam nicht zu Wort
undhattedochwohlschondieEvolutions-
theorie ziemlich konkret im Kopf.
Darwins revolutionäresWerk„Über die
Entstehung der Arten“ erschien im No-
vember1859.
Ja. Nur fünf Monate zuvor war Alexander
von Humboldt gestorben.Wie schade. 2
ER ERBTE EIN VERMÖGEN UND
ZOG HINAUS IN DIE WELT
Humboldt und sein französischer Reisegefährte Aimé Bonpland am
Fuße des Vulkans, gemalt 1810. Da war Humboldt schon ein Weltstar
Rastloser Preuße:
Humboldt redete,
korrespondierte und
sinnierte pausenlos
132 1.12.2016
 WISSEN/TECHNIK

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A. von Humboldt #4916

  • 1. Andrea Wulf am 6300 Meter hohen Chimborazo in Ecuador. Humboldt erreichte 1802 fast seinen Gipfel  WISSEN/TECHNIK Astronauten,die die Erde zum ersten Mal als Ganzes gesehen haben,berichten von einem„Overview-Effect“.DaistdieserPla- net vor dem Schwarz des Weltalls, schön undzugleichsoverletzlich.Humboldthat- te ein ähnliches Erlebnis auf dem Chim- borazo.EswirdseineSichtaufMenschund Natur enorm bestärkt haben. Humboldt warderersteUmweltschützerüberhaupt. AlsichseineBriefeundTagebücherlas,gab esGänsehautmomente.Humboldtbegriff die Welt als lebenden Organismus. Undstanddenengegenüber,diedasUni- versumwieeineriesigeMaschinesahen. Ja,er war ein Visionär,der schon vor mehr als 200 Jahren zum Beispiel erkannt hat, dass der Mensch das Klima verändert. Durch Rodung, künstliche Bewässerung und die großen Mengen Gas, die auch schon damals aus den Industriezentren strömten.DarumsagteHumboldtderWelt auch eine finstere Zukunft voraus. bestand.Fasthattensiedenrund6300Me- ter hohen Vulkangipfel erreicht.Nur eine unbezwingbare Spalte hielt sie bei knapp 6000 Metern auf. Trotzdem war der Auf- stieg ein Riesenerfolg. Damals galt der Berg noch als höchste Erhebung der Welt. Steine vom Chim- borazo waren da- mals wie 1969 die erstenSteinevomMond–eineSensation. Ich folgte Humboldt dort hinauf,weil ich ihn verstehen wollte. UndwasempfandenSie,alsSiemehrals 200Jahrenachihmdortobenstanden? Mir wurde klar, was er empfunden hat. Der Vergleich mit dem Mondflug passt: Stand dahinter eine romantische Ver- klärung der unberührten Natur? Oder hatteerGrundfürseinenPessimismus? Letzteres. Er fand diesen Grund bei ei- ner Expedition im heutigen Venezuela, als er den Valencia-See erreichte. Da fiel Humboldt neben der Schönheit der Natur auf, dass der Wasserspiegel des Sees dramatisch sank. Underverstand,warum:weilrundherum dieWälderabgeholztwordenwaren.Heu- te würden wir sagen, er beobachtete ein Ökosystem, das zu kippen drohte. Hum- boldterkannte,dassalleszusammenhängt undinderNaturnichtsseparatbetrachtet D ie Natur – eine Erfindung? Ja,sagt AndreaWulf,derenneuesBuchim Original„TheInventionofNature“ heißt.Die preisgekrönte Autorin, die in Deutschland Abitur mach- te,schreibt auf Englisch.Seit zwei Jahrzehnten lebt und forscht sie in Lon- don. Dort entstand die fulminante Bio- grafieeinespreußischenAbenteurers,des- sen Einsichten bestechend aktuell sind: Alexander von Humboldt. Die deutsche Ausgabe ihres Werks eilte Wulf, die nach einer Lesereise durch die USA jetzt nach Deutschland kommen wird, voraus: Sie erklimmt bereits die Bestsellerliste. Frau Wulf, warum steigt eine Kultur- historikerin wie Sie auf den höchsten BergSüdamerikas? Dort, auf dem Chimborazo in Ecuador, hat Alexander von Humboldt mit seinen Gefährten am 23.Juni 1802 einen Höhen- rekord aufgestellt, der jahrzehntelang 4 werden darf. Nicht einmal der winzigste Organismus existiert nur für sich. Alles hängt zusammen, alles hängt voneinan- der ab.Damit begriff Humboldt auch,wie gefährdet die Natur war. Zieht man auch nur an einem unscheinbaren Faden,kann sich in der Folge das gesamte lebende Gewebe auflösen. Diese ganzheitliche Sicht hat er bild- lich festgehalten, nachdem er heil vom Chimborazoherabgestiegenwar. Humboldtzeichnetedanachseinberühm- tes Naturgemälde, einen detaillierten Querschnitt vom Tal bis hinauf zu den Gipfeln.Am Rand der Zeichnung notierte eraufderjeweiligenHöhenlagediePflan- zen, die dort vorkommen, außerdem die Temperatur, die Feuchtigkeit, den Druck, diechemischeZusammensetzungderLuft und noch vieles mehr. Heutewürdenwirsagen:Erentwarfeine Infografik. MitdiesenBildernwurdeaufeinmaldeut- lich,dass die ganze Welt von Vegetations- und Klimazonen umspannt wird. Hum- boldt zeichnete auch Linien konstanten LuftdrucksundeinerbestimmtenTempe- raturaufKartenein.DassinddieIsobaren und Isothermen … … die auch wir noch jeden Tag auf der Wetterkarte sehen. Richtig.Ich habe neulich auf einer Konfe- renz in San Diego vor 15 000 Geografen über Humboldts Naturgemälde gespro- chen.Dort wurden die modernsten Tech- nikendigitalerKartografiediskutiert.Mit den Arbeiten Humboldts aber waren die meisten Teilnehmer nicht vertraut.Dabei gehört er doch zu den Begründern ihrer Disziplin! In den USA hatte vor allem Humboldts intensiver Austausch mit dem dama- ligen Präsidenten Thomas Jefferson, einemderGründerväter,tiefenEindruck gemacht.DenkmälerwurdendemDeut- schengesetzt,OrteundFlüssenachihm benannt. Nun folgt gerade eine zweite Welle der Begeisterung.Sie erleben das auch bei Ihren Lesungen. Wie kommt eszudieser Rückbesinnung? VieleAmerikanerentdeckenHumboldtals Helden und Vorkämpfer für die Umwelt- bewegung. Gerade jetzt, wo sie mit dem Klimawandel und den politischen Kämp- fen um ihn konfrontiert sind.Denken Sie nur an den Präsidentschaftswahlkampf undalldieDiskussionen,diejetztmitdem Übergang zur Regierung von Donald Trump verbunden sind. An das Pariser Klimaschutzabkommen etwaoderdiedrohendenGefahrendurch dieGewinnungvonRohstoffen. Von Norbert Höfler und Alexandra Kraft Narziss. Weiser. Visionär. Der Naturforscher Alexander von Humboldt erkannte vor mehr als 200 Jahren die Welt als lebenden Organismus. Historikerin Andrea Wulf über das Leben des Genies „ER WARDERERSTE UMWELTSCHU¨TZER“ BIOGRAFIE 1.12.2016 131
  • 2. FOTOS:AKGIMAGES(2) Das Buch Andrea Wulf: „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“, Verlag C. Bertelsmann Genau.HumboldtsahdieRück- sichtslosigkeit im Wesen des Menschen verankert. Selbst wenndieMenschheitaufeinem fernen Planeten Zuflucht su- chenmüsste,soschrieber,wür- deauchderwegenunsererIgno- ranz, wegen Gier und Gewalt „veröden“ und „verheeren“. Das sagte er 1801 voraus! Wie tickte einer, der mit An- fang 30 so radikal mit altem Gedankengutbrach? Er war ein rastloser Mann, bis ins hohe Alter. Wissbegierig und fast unerträglich umtrie- big.Humboldthatteeinesanf- te Stimme, so heißt es, aber er redete in einem fort.Dabei sprang er von Thema zu Thema und sprach Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch. Zudem war er sehr ambitioniert und auch eitel. Etlichen Zeitgenossen galt er jedenfalls nichtals sonderlichsympathisch. Zumindestwennerjemandennichtmoch- te,konnte er biestig werden.Und für dum- meLeutehatteernichtsübrig.AuchMusik interessierte ihn nicht. Ein junger Pianist sollte einmal für Humboldt spielen. Der aberunterbrachseinenRedeflussdafürnur kurz.BaldgabderPianistaufundsagte:Das wareinDuett,dasichnichtgewinnenkonn- te. Er war auch großzügig, unterstützte andere Wissenschaftler und Künstler mit seinem letzten Geld.Er teilte sein Wissen. Schon seine Familie hielt ihn für einen Sonderling.SeineMutterwolltediefrüh erwachendeLiebezurNaturnichtakzep- tieren.WarereineinsamesKind? Der Vater starb früh. Alexander und sein Bruder Wilhelm erlebten eine unglück- liche Kindheit. Die Mutter wird als kalt und seelenlos beschrieben. Sie zwang Humboldt in den Staatsdienst.Er konnte ihr nur abringen,dass er Geologie studie- rendurfte,umdannalsBergbauingenieur in den Dienst Preußens zu treten. Mehr Nähe zur Natur erlaubte sie ihm nicht. DieMutterstarb,alsAlexander27war. Er ging nicht mal zu ihrer Beerdigung. Ihr Tod berührte ihn nicht, wie er einem Freund gestand. WarergareineBefreiung? Durchaus. Er erbte 100 000 Taler – ein Handwerker in Berlin verdiente 200 Taler im Jahr.Sofort kündigte Humboldt seine ArbeitundbegannmitderPlanungseiner Südamerika-Reise.Davor war er unglück- lich,kränklich,depressiv.Danachwieaus- gewechselt. MitdemErbehätteeressichbequemma- chenkönnen.Stattdessendurchlitterals BergsteigerdieHöhenkrankheit,ließsich von Zitteraalen Stromstöße versetzen, riskierteseinLeben.Wastriebihndazu? Oft habe ich das Gefühl, dass Humboldt gegen sich selbst kämpfte. ErschriebineinemseinerBriefedener- staunlichenSatz:„Ichkennekeinesinn- lichenBedürfnisse.“ Wir werden wohl nie wissen,ob er sexuell überhaupt aktiv war. Aber es ist ziemlich offensichtlich, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Das war natürlich ge- sellschaftlichnichtakzeptiert.Esgibtkei- ne Hinweise auf Verhältnisse mit Frauen, was ungewöhnlich ist. Denn Humboldt war einer der berühmtesten Männer der Welt und hätte von Frauen umschwärmt sein können. Wie derzweiJahrzehnteältereGoethe? Diebeidenverbandviel.Goethebewunder- te Humboldt. Denn Goethe war nicht nur einüberragenderDichter,sondernauchein Naturforscher mit sehr fortschrittlichen Ideen,demlangeeinSparringspartnerfehl- te.Er fand ihn schließlich in Alexander von Humboldt. Die beiden saßen in Jena und Weimarzusammenundtauschtensichaus. Denn mochte Humboldt auch eitel sein,so wareseineseinerStärken,dasserseinWis- sen gern teilte. Mit Goethe se- zierte er sogar Leichen. Sie vermuten,Humboldt war einVorbildfürGoethesFaust. Ja, denn mir fiel auf: Immer wenn Goethe und Humboldt sich getroffen hatten, schrieb Goetheweiteranseinem„Faust“. Der verschreibt seine Seele demTeufel – imTausch gegen grenzenloses Wissen. Und Humboldt? Ich könnte mir vorstellen,dass Humboldt das sofort auch ge- tan hätte. Goethe lässt Faust ja sagen, warum er sich dem Teufel ausliefert: „Dass ich er- kenne,was die Welt im Innersten zusam- menhält.“DasistpurerHumboldt.Goethe schreibt,Faust sei von innerem Toben ge- trieben,auchdaseineklareAnspielungauf Humboldt.Erstürztesichrücksichtslosin jede Gelegenheit, die ihm neues Wissen versprach.Alles,was er auf seinen Reisen sah,warneuundüberwältigend.DieLand- schaften,die herrlichen Blüten,die Vögel undFische,dieinihrerFarbenprachtmit- einander wetteiferten. AuchaufeinenweiterenGeistesgiganten hat Humboldt starken Einfluss gehabt, schreiben Sie: den Evolutionsbiologen CharlesDarwin.Wasverbanddiebeiden? Für mich ist klar: Darwin steht auf Hum- boldts Schultern.Darwin las seine Schrif- ten, und sie beeindruckten ihn tief. Dar- win selbst sagt, dass er ohne Humboldt nicht ab 1831 auf seinem Schiff „HMS ­Beagle“ die Welt umsegelt hätte. Und so hätte er dann wohl auch nicht seine Evo- lutionslehre entwickeln können. Kanntensichdiebeidenpersönlich? 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