Good Stuff Happens in 1:1 Meetings: Why you need them and how to do them well
Reform des Mordparagrafen
1. Deutschland
Wenn es um Mord und Totschlag
geht, dann regiert im deutschen
Rechtsstaat manchmal der Zu-fall.
Dann kann das Recht sehr ungerecht
sein.
Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker
Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen
seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf
taucht unter, wochenlang suchen die eins-tigen
Freunde nach ihm. Als sie ihn
schließlich finden, fahren sie ihn an die
A7. An einer Böschung sagt Anführer
Bernd: „Auf die Knie, du Schwein!“ Ralf
kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer
Pumpgun.
Das Urteil gegen den Täter: Totschlag.
Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder
frei. Das Rockerleben kann weitergehen.
Und dann gibt es den Fall von Otto, 75.
Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jah-ren
seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht
ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben.
Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern,
wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit
und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem
Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst
die Last für Otto. Eines Morgens gehen
Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig
kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia
über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner
Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Ge-sicht,
bis sie still ist. Dann verlässt er die
Wohnung und wirft sich vor einen Bus.
Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft
klagt ihn wegen heimtückischen Mordes
an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslan-ge
Haft, frühestens nach 15 Jahren kann
ein Mörder entlassen werden.
Eine eiskalte Exekution soll ein simpler
Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung
und Mitleid ein Mord – ist das gerecht?
„Sehr unbefriedigend“ nennt Heiko
Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt
sich der Bundesjustizminister den Mord-
Paragrafen vor, mehr als 70 Jahre nach
dessen Entstehung. Er will die zentrale
Norm des Strafrechts gerechter machen
und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln,
wie schwer welche Tat wiegt und wie hart
welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Ex-pertengruppe
ist beauftragt, ihm ein Kon-zept
zu erstellen. Die 16 Juristen, Krimi-nologen
und Psychiater haben bei ihrer
Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kom-pletten
Abschaffung des Mord-Paragrafen
ist alles denkbar.
Das Vorhaben, das nicht im Koalitions-vertrag
steht, ist nicht nur juristisch hoch
anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl hei-kelste
Reform, die ein Justizminister je an-gepackt
hat. Denn wenn das Strafrecht
und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger
aufeinandertreffen, geht es selten harmo-nisch
zu. Die Deutschen haben sich schon
furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen
ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben
dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und
Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach
religiösen Regeln zu beschneiden.
Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage,
die den elementaren Grundsatz des
menschlichen Zusammenlebens verkör-pert:
Du sollst nicht morden.
Die Debatte wird die meisten Deutschen
unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debat-tieren
seit Jahrzehnten darüber, ob der Pa-ragraf
211 in einem Rechtsstaat noch trag-bar
ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss
bestraft werden, und zwar feste. Sie dis-kutieren
nicht über Tatbestandsmerkmale,
sondern über die Frage, ob die Justiz zu
nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmör-dern.
Für viele ist jeder ein Mörder, der
andere umbringt.
Was geschähe, wenn dieses Wort abge-schafft
würde?
Der Entführer des kleinen Jakob von
Metzler – nur ein Totschläger? Die Mutter,
die ihr Baby verdursten lässt – keine Mör-derin?
Der muslimische Vater, der die
Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt
und Alkohol trinkt – nach acht Jahren wie-der
auf freiem Fuß?
„Das wird eine Diskussion wie bei der
Beschneidung, aber hoch drei“, seufzt ei-ner
von Maas’ Beamten. Das Ministerium
hatte dem SPD-Mann von seinen „Mord-
Plänen“ abgeraten. Eine Reform des
schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das
die Höchststrafe von lebenslanger Haft
steht, werden sich die Koalitionspartner
CDU und CSU nur gegen zähen Wider-stand
abringen lassen. Denn eine ent -
schiedene Verbrechensbekämpfung samt
zünftiger Strafen für die Täter zählt zu
den letzten Resten ihres konservativen
Profils.
Bayerns Justizminister Winfried Baus-back
warnte bereits, niemand dürfe Le-benslang
„durch die Hintertür“ abschaffen.
„Unsere Rechtsordnung muss den absolu-ten
Geltungsanspruch des Tötungstabus
klar ausdrücken.“
Aber Maas hat auch ein moralisches
Argument für seine Reform, das schwer-wiegt:
Der Mord-Paragraf ist das Werk der
DER SPIEGEL 32 / 2014 17
FOTOS: T. HOENIG / PLAINPICTURE (L.); WERNER SCHUERING (R.)
Du sollst nicht morden
Justiz Der Mord-Paragraf ist ein Relikt aus der Nazizeit. Justizminister Heiko Maas will
das Gesetz jetzt von braunen Einflüssen reinigen und gerechter machen.
Doch das Projekt ist heikel: Diese Reform könnte den Zorn der Bürger entfachen.
Sozialdemokrat Maas: Was geschähe, wenn das Wort abgeschafft würde?
2. Nationalsozialisten. Der spätere Präsident
des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hat-te
die Vorschrift maßgeblich zu verantwor-ten;
er wollte das Mordrecht dem „gesun-den
Empfinden des Volkes“ anpassen. Sein
Gesetz schilderte den Deutschen möglichst
anschaulich die „Mördergestalten“, die
sich unter ihnen tummelten.
Mörder ist nach Freislers Umschreibung,
wer einen Menschen heimtückisch oder
grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedi-gung
seines Geschlechtstriebs oder aus
anderen „niedrigen Beweggründen“. Kaum
war die Vorschrift am 8. September 1941
im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die
Fachwelt. „Der bislang farblose Paragraf ist
einer lebensvollen, anschaulichen Tatbe-standsumschreibung
gewichen“, schwärmte
ein Schüler Freislers. Für jeden Volksge-nossen
sei nun klar: „Mörder wird man
nicht, Mörder ist man.“
Die Lehre vom Tätertypen, vom gebo-renen
Volksschädling, steht bis heute im
Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Ab-schaffung
der Todesstrafe blieb Paragraf
211 seit dem Krieg unverändert.
Ginge es Heiko Maas nur darum, das
Recht von braunen Resten zu säubern, hät-te
er auch weniger brisante Themen an-packen
können. Es gibt Dutzende deutsche
Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heil-praktikergesetz
gehört dazu oder die Vor-schriften
über die zulässige Höhe von
Kleingartenhecken. Aber die Fälle von
Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen,
dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch
vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vor-schrift
abgeliefert, die im Praxistest regel-mäßig
versagt.
Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker
passte in keine Schablone des Mord-Para-grafen.
Weder ging er heimtückisch vor
noch grausam oder habgierig. Die Richter
werteten die Tötung als Exzess. Ursprüng-lich
sei nur geplant gewesen, den Mann
zu verprügeln.
Dagegen verübte der Rentner nahezu
lehrbuchmäßig einen Überraschungsan-griff
gegen ein arg- und wehrloses Opfer –
ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia
eine Lebensversicherung abgeschlossen,
dann stünde auch noch Mord aus Habgier
im Raum.
Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschich-ten:
Der Rocker verbrachte seine letzten
Minuten an der Autobahn in Todesangst.
Die Tat hatte „Exekutionscharakter“,
schreibt das Landgericht Kassel in seinem
Urteil. „Das Opfer musste seinem Tod qua-si
ins Auge sehen.“ Der Rentner tötete aus
Verzweiflung, und vielleicht war die Tat
für seine geliebte Frau auch eine Erlösung.
Doch das spielt nach dem Gesetz keine
Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein
Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein
Mörder. Punkt. Er muss lebenslang be-straft
werden, seine Tat verjährt niemals.
Die soziale Situation, die individuelle
Schuld zählen nicht. „Die Justiz bestraft
nicht die schlimmste Tötung oder den bru-talsten
Täter am härtesten“, sagt Raban
Funk, Vorstand des Vereins Deutscher
Strafverteidiger. Als Mörder gelten aus-gerechnet
die Schwachen, die sich an-schleichen
müssen.
Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die
Richter wollen es nicht sein. In ihren Ge-richtssälen
biegen sie die Fälle und das
Recht so lange, bis beides irgendwie passt.
Die Schwurgerichte und der Bundesge-richtshof
(BGH) haben Umwege gefunden,
um nicht alle Täter pauschal mit Lebens-lang
zu bestrafen, sondern jeden nach sei-ner
persönlichen Verantwortung. Sie lassen
sich von Gutachtern attestieren, dass der
Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht
eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und
nicht wusste, was er tat.
Nicht jede Tötung, die dem Opfer be-sondere
Schmerzen zufügt, ist automatisch
ein grausamer Mord. Die Richter fordern,
dass der Täter aus einer „gefühllosen, un-barmherzigen
Gesinnung“ heraus handel-te.
Und es gilt längst nicht jeder Überra-schungsangriff
auf Ahnungslose als heim-tückischer
Mord. Die Staatsanwälte müssen
beweisen, dass der Täter dem Opfer zu-tiefst
„feindselig“ gesinnt war.
Die Kreativität der Gerichte schützt ge-prügelte
Ehefrauen, die ihren Haustyran-nen
töten, indem sie ihm ein vergiftetes
Abendessen servieren. Sie schützte auch
Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei
Jahre Haft für Totschlag in einem minder
schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit
dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerech-tigkeit.
Aber für gerechte Urteile müssen
Richter eben hart an die Grenzen ihrer
Befugnisse gehen. Das kann für den An-geklagten
gut gehen, muss es aber nicht.
„Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der
Verantwortung für den Mord-Paragrafen
ein Stück weit allein gelassen“, sagt Stefan
Caspari, Mitglied der Strafrechtskommis-sion
des Deutschen Richterbundes.
Das gilt vor allem für das Merkmal der
„niedrigen Beweggründe“, das der natio-nalsozialistischen
Ideologie in besonderer
Weise entspricht. Mit ihm konnte das Drit-te
Reich Täter nach ihren Motiven filtern:
Wer „Feinde der Volksgemeinschaft“ eli-minierte,
sollte vom Vorwurf des Mordes
verschont bleiben.
Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer
der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen
die Gesinnung des Täters entscheidet, für
welche Tat er verurteilt wird. Normaler-weise
zählen dafür objektive Kriterien:
Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt
anwendet. Die Körperverletzung ist ge-fährlich,
wenn der Täter eine Waffe
schwingt. Motive interessieren die Richter
erst, wenn sie die Höhe der Strafe festle-gen.
„Für vorsätzliche Tötungen gibt es
auch selten gute Gründe“, spottet der Vor-sitzende
Richter am Bundesgerichtshof
Thomas Fischer.
Die Gerichte müssen trotzdem täglich
schlechte gegen besonders schlechte Grün-de
abwägen. Auf Ausländerhass oder Ras-sismus
kann man sich leicht einigen. Aber
was ist mit krankhaftem Neid unter kon-kurrierenden
Kollegen? Oder der Rache
für die Tötung eines geliebten Menschen?
Zu diesen Grenzfällen, auf die der Mord-
Paragraf keine Antwort bietet, wuchert
ein Dickicht von Urteilen, das auch Juris-ten
kaum durchblicken.
Eine Tötung aus Rache muss kein Mord
sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen
Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes
Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür nie-dergeschossen,
weil er sicher war, dass die-ser
Mann seinen Vater getötet hatte. Die
Rachegefühle eines trauernden Sohnes sei-en
menschlich verständlich, urteilten die
Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen:
Der Mittäter wurde wegen Mordes verur-teilt.
Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein
System zu schaffen. Doch in der Summe
erscheinen ihre Urteile oft willkürlich.
Wie die Entscheidungen zum Mord aus
Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als
Mörder, sobald seine Gefühle „krass ei-gensüchtig“
erscheinen. Aber er kann mit
Totschlag davonkommen, wenn die Ex-freundin
ihn bei der Trennung gedemütigt
hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der
Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu ver-lieren.
Alle diese niedrigen oder hehren Motive
spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Jus-
18 DER SPIEGEL 32 / 2014
Mord und Totschlag
Tatbestandsmerkmale nach dem
Strafgesetzbuch
Mord § 211
Vorsätzliche Tötung mit Mordmerkmalen:
Niedrige Beweggründe
Mordlust, Befriedigung des Geschlechts-triebs,
Habgier oder sonstige niedrige
Beweggründe
Besonders gefährliche und
verwerfliche Begehungsweise
Heimtückisch, grausam, mit gemein-gefährlichen
Mitteln
Verwerflichkeit des Ziels
Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat
Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe
Totschlag §§ 212, 213
Vorsätzliche Tötung ohne Mordmerkmale
Strafmaß: mindestens fünf Jahre;
im besonders schweren Fall lebenslange
Freiheitsstrafe; im minder schweren Fall
ein bis zehn Jahre
3. Deutschland
tiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte
aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische
Gutachter die Seele des Täters erklären.
So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör
oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit
schicksalhaft wirken.
Die Expertengruppe von Heiko Maas
hat sich inzwischen zweimal getroffen.
Um den Tisch des Konferenzsaals in der
fünften Etage des Ministeriums sind die
Besten ihrer Zunft versammelt, ausge -
wiesene Kenner der Strafjustiz und der
menschlichen Psyche. Die pensionierte
BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van
Saan, die den Kannibalen von Rotenburg
als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei.
Neben ihr sitzt der forensische Psychiater
Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der
FU Berlin in einem Langzeitprojekt ver-urteilte
Mörder auf Gemeinsamkeiten un-tersucht.
Die Experten haben Themen
verteilt und halten Referate wie einst im
Studium. Jedes Mordmerkmal wird durch-gekaut.
Dabei kommen sie immer wieder auf
eine Frage zurück: Kann man Tötungen
überhaupt in schlimm und noch schlimmer
trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat
einfach furchtbar?
So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger
Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat
für den Deutschen Anwaltverein eines der
radikalsten Reformkonzepte für den Mord-
Paragrafen mitentwickelt. „Es ist eine Il-lusion
zu glauben, dass sich Tötungen qua-litativ
steigern lassen“, sagt Deckers. „Am
Ende haben alle Fälle nur eines gemein-sam:
Ein Mensch wurde umgebracht.
Schlimmer geht es doch nicht.“
Deshalb gibt es in Deckers’ Reformkon-zept
nur „Tötungen“, keinen Mord oder
Totschlag. Die Taten unterscheiden sich
lediglich in der Höhe der Strafzumessun-gen.
Diese sollen die Richter frei bestim-men,
auf einer Skala von fünf Jahren bis
Lebenslang.
Die Lösung klingt klar und einfach. Die
meisten Deutschen haben den Unterschied
zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie
nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein
Mörder seine Tat eiskalt geplant, während
der Totschläger ein spontaner Angreifer
ist. Genau so stand es auch früher im
Reichsstrafgesetzbuch – bis 1941. So kann
es gut sein, dass die Experten Maas am
Ende empfehlen, den gordischen Knoten
zu durchtrennen: Nie mehr Mord.
„Eine hochgefährliche Idee.“ Benedikt
Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Grün-derzeitvilla
unweit des Kölner Doms. Im
Konferenzraum mit Erker und Blick auf
den Rhein empfängt er sonst Unternehmer,
die Ärger mit der Steuerfahndung oder den
Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr
übernimmt der 43-Jährige auch mindestens
einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig
einbringen, aber die Fälle seien „juristisch
und menschlich faszinierend“.
Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist
Verteidiger Pauka „unheimlich“, wie er
sagt: „Wir sind auf dem bestem Wege,
Richtern grenzenlose Macht zu geben.“ Er
ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären
unter einem Paragrafen, der nur noch da-nach
schaut, ob jemand gewaltsam ums
Leben gekommen ist, nicht gerechter, son-dern
härter bestraft worden.
Paukas letzter Fall war der „Beton-Kil-ler“:
Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine
Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sag-te
Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tat-sächlich
lag ihre Leiche im Keller, einbe-toniert
hinter einem Weinregal. Sohn und
Tochter glaubten dem Vater; jahrelang
suchten sie ihre Mutter über die Polizei
und im Fernsehen. Der Täter suchte ge-zwungenermaßen
mit. Auf RTL weinte er
um seine „verschwundene“ Frau. Nach
fünf Jahren stand dann die Polizei vor sei-ner
Tür, Paulus gestand sofort.
Im März verurteilte ihn das Landgericht
Bonn zu acht Jahren Haft – als Totschläger.
Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich
viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kin-der
des Angeklagten, ließen sich von Me-dizinern
die Verletzungen der Toten er-klären
und von Psychiatern den Charakter
des Witwers. Am Ende glaubten sie Pau-lus,
dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass
seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und
gedemütigt habe, auch vor den Kindern.
Dass ihm eines Tages einfach die Siche-rung
durchbrannte. Und dass er seine Tat
nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf
einen Schlag beide Eltern verlieren sollten.
Von da war es nur ein kleiner Schritt zu
einem milden Urteil.
Nach dem Konzept des Deutschen An-waltvereins
hätten die Richter komplett
anders denken müssen. Sie hätten Paulus
erst für schuldig erklären und dann, nach
eigenem Ermessen, die Strafe wählen müs-sen.
„Dann könnte niemand verhindern,
dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die
Stimmung der Medien und der Öffentlich-keit“,
warnt Benedikt Pauka.
Dem „Beton-Killer“ Paulus wünschten
die Leute in Internetforen, er möge selbst
eingemauert werden, am besten lebendig.
Die Deutschen können gnadenlos sein,
wenn es um Verbrechen und Strafe geht.
Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder
Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe
verdienen.
Umgekehrt können die Leute eine irra-tionale
Sympathie für Mörder entfalten.
Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersach-sen,
der seine Großeltern auf brutalste Art
und Weise umgebracht hatte, schlug eine
Welle der Sympathie entgegen, als sich he-rausstellte,
dass er seine kleine Schwester
DER SPIEGEL 32 / 2014 19
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA
Volksgerichtshofpräsident Freisler 1944: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man“
Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen
Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert.
4. rächen wollte. Der Großvater hatte sie
missbraucht. Die Solidarität der Bürger
mit dem Mörder ging so weit, dass die
Richter bei der Urteilsverkündung warn-ten,
man möge Tobias nicht noch loben.
„Das hätte ich auch getan“, hatte die Lo-kalzeitung
Nachbarn zitiert. „Auf das
Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im
Rechtsstaat selten eine gute Idee“, sagt To-bias’
Verteidiger Raban Funk. Der neue
Mord-Paragraf müsse klare Wertungen
enthalten. „Schließlich soll er in 50 Jahren
auch noch gerechte Urteile ermöglichen.“
Vermutlich werden die Experten am
Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht
abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen.
Die niedrigen Beweggründe würden ganz
gestrichen, so wie es auch der BGH-Richter
Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Ge-spräch).
Das Gesetz muss ausdrücken, was
eine Gesellschaft als besonders verwerflich
empfindet. Verzichtet es auf diese Fest -
legung, entfernt es sich vom allgemeinen
Rechtsempfinden.
Eine andere Frage ist, ob mit der Reform
das automatische Verdikt Lebenslang fal-len
soll. Für Kriminologen hat die härteste
Strafe im deutschen Recht noch immer
einen hohen symbolischen Wert. „Sie ist
Ausdruck unserer Werte und stärkt das
Sicherheitsgefühl der Bürger“, sagt Kai
Bussmann, Kriminologe an der Uni Halle-
Wittenberg. Für notwendig hält die Wis-senschaft
es aber längst nicht mehr, dass
ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter
Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jah-ren
im Gefängnis, so wusste es das Bun-desverfassungsgericht
bereits 1977, emp-finden
die Täter keine Reue, die Haft hat
sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange
her, ihre Opfer sind so lange tot, dass bei-des
für sie bedeutungslos geworden ist.
Die Deutschen morden immer weniger.
2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406
Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft
fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die
vorsätzlich handeln, sind selten psycho -
pathische Killer, wie man sie aus dem Kino
kennt. Viele sind zuvor unbescholtene
Bürger, die eine persönliche Rechnung
zu begleichen haben. Gemordet wird
unter Freunden, Verwandten, Kollegen.
„Dass ein Fremder Sie einfach umbringt“,
sagt Kriminologe Bussmann, „gehört in
Deutschland nicht zum Lebensrisiko.“
Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner
Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird,
haben die Deutschen vielleicht weniger
Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes.
Eine Vorgabe hat er seinen Experten al-lerdings
gemacht, die einzige: Wenn sie
an das Lebenslang gehen, sollen sie die
Gemütslage der Bürger berücksichtigen.
Ganz abschaffen geht nicht, das weiß
Maas, und so hat er es den Juristen für
ihre Beratungen auch mit auf den Weg ge-geben.
Melanie Amann
20 DER SPIEGEL 32 / 2014
„Es gibt kein
Strafrecht der Moral“
SPIEGEL-Gespräch Thomas Fischer, 61, Vorsitzender
Richter am Bundesgerichtshof, über seinen
Widerwillen gegen den Mord-Paragrafen, das
Strafbedürfnis der Bürger und den Übereifer
der Justiz im Fall Edathy
5. Deutschland
SPIEGEL: Herr Fischer, das Bundesjustizmi-nisterium
plant die Reform des Mord-Para -
grafen. Sie fordern im Prinzip sogar dessen
Abschaffung. Was stört Sie so daran?
Fischer: Man müsste eher fragen, was einen
daran nicht stört. Der Mord-Paragaf sieht
eine absolute Strafe vor, nämlich die lebens-lange
Freiheitsstrafe. Wenn heute eines der
sogenannten Mordmerkmale festgestellt ist,
ist keineAbstufung der Strafe mehr möglich.
Das ist kriminologisch unsinnig, denn im
Leben gibt es eine Vielzahl von Abstufun-gen
und Sonderfällen, denen man mit einer
starren Strafe nicht gerecht werden kann.
SPIEGEL: Was den Juristen vielleicht stört,
erscheint dem Laien eher sinnvoll: dass
die Gesinnung des Täters bei der Bewer-tung
der Tat eine Rolle spielt und dass es
für Mord Lebenslang gibt.
Fischer: Die Weisheit des Laien ist eine
schwankende Sache. Fraglich ist zum
Beispiel, ob der Begriff der sogenannten
niedrigen Beweggründe, der aus einem
Totschlag einen Mord macht, überhaupt
bestimmt genug ist. Tatsächlich steht die-ses
Mordmerkmal von jeher fast beliebigen
Wertungen offen.
SPIEGEL: Kommt darin nicht zu Recht der
Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck
und damit eine besondere Straferwartung?
Fischer: Selbstverständlich kann eine heim-tückische
oder grausame oder für Dritte
besonders gefährliche Tötung eines ande-ren
Menschen härter bestraft werden als
eine Tat, die gerade eben den Tatbestand
des Totschlags erfüllt. Aber von jeder Re-gel
gibt es Ausnahmen. Das Problem des
heutigen Mord-Paragrafen ist, dass er Dif-ferenzierungen
nicht zulässt und keine
Möglichkeit bietet, Strafmilderungs- und
Strafverschärfungsgründe abzuwägen.
SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, dass be-sonders
niederträchtige Motive automa-tisch
zu einer höheren Strafe führen?
Fischer: Bei der Strafzumessung rechnen
wir persönliche Schuld in Zeitquanten um
und sagen dem Straftäter: Für deine ganz
konkrete Schuld sperren wir dich 2, 7 oder
15 Jahre lang in eine kleine Zelle. Der
Mord-Paragraf fügt dieser in sich schlüssi-gen
Korrespondenz von Schuld und Strafe
einen Punkt hinzu, an dem jede Relation
verlassen wird: Wer die Grenze zu einem
Mordmerkmal nur einen Millimeter über-schreitet,
wird in den Bereich absoluter
Schuld katapultiert, auch wenn viele Mil-derungsgründe
vorliegen. Das führt in der
Praxis zu vielen ungerechten Ergebnissen.
SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel.
Fischer: Nehmen Sie die Tötung aus Eifer-sucht.
Bei der Vernehmung sagen viele
Verdächtige: „Ich war so wütend.“ Damit
haben sie in dem Versuch, sich Verständnis
zu verschaffen, womöglich schon ein Mord-merkmal,
nämlich einen sogenannten nied-rigen
Beweggrund, eingeräumt, und nichts
kann sie dann aus dieser Nummer wieder
herausholen. Es macht aber die Qualität
eines Rechtsstaats aus, die Menschen nicht
hereinzulegen und anzuerkennen, dass kei-ne
Tat wie die andere ist.
SPIEGEL: Was wäre Ihr Vorschlag?
Fischer: Wichtig wäre, die lebenslange
Freiheitsstrafe durch einen Strafrahmen zu
ersetzen. Dann könnten wir die Strafzu-messungsgründe
gegeneinander abwägen,
etwa so: Diese Tat war zwar heimtü-ckisch
– aber menschlich verständlich; jene
Tat war grausam – aber das Opfer hatte
den Täter zuvor genauso grausam behan-delt.
Wir könnten weitere Umstände für
und gegen den Beschuldigten berücksich-tigen.
All dies ist heute im Strafrecht selbst-verständlich,
nur nicht bei der Tötung.
SPIEGEL: Das bisherige Lebenslang würde
damit entfallen?
Fischer: Einschließen bis zum Tod gibt es
ja schon jetzt in der Praxis nur in Ausnah-mefällen.
Zurzeit wird die lebenslange
Freiheitsstrafe im Durchschnitt etwa 18
Jahre vollstreckt; wenn die besondere
Schwere der Schuld bejaht wird, im Durch-schnitt
24 Jahre. Länger eingesperrt bleibt
ein Verurteilter nur aus Gefährlichkeits-gründen.
Das hat aber nichts mehr mit
Schuldausgleich zu tun, sondern ist eine
Art von Sicherungsverwahrung, und die
wäre auch weiterhin möglich.
SPIEGEL: Gäbe es nach einer solchen Reform
nicht dennoch eher mildere Strafen?
Fischer: Manchmal würde weniger heraus-kommen,
manchmal mehr. Man könnte
sich beispielsweise eine Regelung vorstel-len,
nach der die Tötung eines Menschen
mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren be-straft
wird; mit 10 bis 25 Jahren, wenn der
Täter habgierig, grausam oder aus men-schenverachtenden
Motiven gehandelt hat;
mit 5 bis 10 Jahren, wenn er provoziert
wurde oder Ähnliches. So könnte die Stra-fe
je nach den Tatumständen viel gerechter
bestimmt werden als jetzt.
SPIEGEL: Wäre für Sie dann die Eifersucht
ein menschenverachtendes Motiv?
Fischer: Etwa 50 Prozent der Tötungsdelik-te,
die ich als Richter bearbeitet habe, hat-ten
mit Eifersucht zu tun. Die Palette mei-ner
eigenen Emotionen ging dabei von
hohem Mitgefühl für den Täter bis zu völ-ligem
Unverständnis. Zu sagen, Eifersucht
sei stets ganz besonders verwerflich, halte
ich schon empirisch für eher fernliegend.
Im Übrigen ist auch der einfache Totschlag
keine Tat aus ehrenwerten Motiven. Die
Bewertung, ob das Gericht als Motiv
„Zorn“ sieht oder „Hass“, kann den Un-terschied
zwischen fünf Jahren und Le-benslang
ausmachen.
SPIEGEL: Aber den Mord als Begriff gäbe es
dann nicht mehr, nur noch einen mehr
oder weniger schlimmen Totschlag?
Fischer: Die schwerste Form der Tötung
mag weiter Mord genannt werden oder be-sonders
schwere Tötung oder wie auch im-mer
– solange die Formulierung an die Tat
anknüpft und nicht, wie jetzt, an einen so-genannten
Tätertyp, wie es dem NS-Straf-recht
vorschwebte.
SPIEGEL: Die großen Strafrechtsreformen
von 1969 haben zunächst zu einer Halbie-rung
von Gefängnisstrafen geführt. Das ist
nicht überall auf Zustimmung gestoßen.
Fischer: Zuvor wurden teilweise existenz-vernichtende
Freiheitsstrafen wegen blo-ßer
Bagatelldelikte verhängt. Dahin würde
heute niemand zurückwollen. Anderer-seits
haben wir Bereiche, in denen die
Strafhöhen in den vergangenen Jahren
eklatant gestiegen sind: bei den Sexual -
delikten, auch bei der Körperverletzung.
Rückfalltäter des sexuellen Missbrauchs
erhielten vor 25 Jahren Bewährungsstrafen;
heute würden dieselben Taten mit fünf
Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Im Übri-gen
ist die Annahme, das Strafrecht müsse
nur möglichst hart sein, um Wirkung zu
entfalten, ausgesprochen falsch.
SPIEGEL: Die Menschen erwarten nun mal
Vergeltung und Satisfaktion.
Fischer: Beides sind Funktionen des Straf-rechts,
die aber nicht im Vordergrund sei-ner
Zwecke stehen. Stattdessen geht es da-rum,
die Gesellschaft vor Wiederholungen
zu schützen; und darum, klarzustellen,
dass gesetzliche Verbote nicht unverbind-liche
Vorschläge sind, sondern Essentialia
des Zusammenlebens, und dass sie durch-gesetzt
werden.
SPIEGEL: Würden Sie einräumen, dass sich
das Rechtsempfinden der Bevölkerung in
Strafurteilen nicht immer wiederfindet?
Fischer: Das kommt gelegentlich vor. Aller-dings
ist das sogenannte Rechtsbewusst-sein
der Bevölkerung ein schillerndes We-sen.
Für sich selbst und seine Lieben möch-te
jeder Bürger eine möglichst umfassende
Beurteilung gerade seines Einzelfalls. Geht
es um Dritte, will er Härte und Gnaden -
losigkeit, in der Hoffnung, dass dies seine
eigene Sicherheit steigert. Das Strafrecht
muss die Mitte finden.
SPIEGEL: Bei Immanuel Kant heißt es, es sei
Aufgabe des Strafrechts, den Verbrecher
mit einem Schmerz zu belegen.
Fischer: Herr Professor Kant zählt bei den
wenigsten zur Bettlektüre, auch nicht bei
DER SPIEGEL 32 / 2014 21
FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (L.); THOMAS GRABKA (R.)
Gefängnis in Deutschland
„Manches ist empörend“
6. Deutschland
unseren Rechtspolitikern. Kaum taucht
irgendwo eine Bande von Räubern auf,
fordert ein Politiker, nun müsse die Strafe
für Raub erhöht werden. Natürlich weiß
er, dass die Höchststrafe schon jetzt bei
15 Jahren liegt. Ist es vorstellbar, dass
Straftäter in spe sich zusammensetzen
und sagen: „Wenn’s maximal 15 Jahre
gibt, machen wir’s, bei 16 Jahren lassen
wir’s“? Das ist absurd, und solche For -
derungen sind deshalb populistisches Ge-schwätz.
Immanuel Kant ist dafür nicht
verantwortlich.
SPIEGEL: Inwieweit muss Rechtsprechung
oder auch Gesetzgebung auf veränderte
Moralvorstellungen reagieren? Der be-rühmte
Stern-Titel „Ich habe abgetrieben“
war 1971 das Bekenntnis zu einer Straftat.
Als darauf keine Anklagen folgten, war
der alte Paragraf 218 politisch tot.
Fischer: Es gibt kein Strafrecht ohne Moral.
Aber es gibt natürlich auch kein Strafrecht
der Moral. Wenn man Moral eins zu eins
in Recht übersetzt, kommt eine totalitäre
Ordnung heraus. Es ist die Aufgabe des
Rechtsstaats, aus der Moral einen rationa-len
Kernbestand von Regeln zu filtern, der
eine handlungsleitende und gesellschafts-stabilisierende
Funktion erfüllen kann.
SPIEGEL: Die gesellschaftlichen Einstellun-gen
zur Sexualmoral haben sich deutlich
liberalisiert, außer wenn es um Kinder
geht. Da haben die Vorbehalte erkennbar
zugenommen.
Fischer: Ich glaube, dass bei dem Thema
Kinder und Sexualität ein großer Anteil
von Irrationalität im Spiel ist. Wir erleben
heute eine hysterisierte Überzeichnung,
der eine empörende Gleichgültigkeit ge-genüber
zahllosen anderen Missständen
entspricht. Wo es um sexuell motivierten
Missbrauch erwachsener Macht gegenüber
Kindern geht, ist die Gesellschaft in den
vergangenen 15 Jahren regelrecht in einen
Strafrausch ausgeflippt. Gleichzeitig bleibt
sie fast unbeteiligt gegenüber Traumatisie-rungen
durch nichtsexuelle Gewalt.
SPIEGEL: Sie haben sich in einem Artikel in
der Zeit in die Diskussion um die Ermitt-lungen
gegen den ehemaligen Bundestags-abgeordneten
Sebastian Edathy eingeschal-tet,
dem Erwerb und Besitz von Kinder-pornografie
vorgeworfen wird. Sie hielten
der Staatsanwaltschaft vor, vorschnell an
die Öffentlichkeit gegangen zu sein.
Fischer: Der Fall Edathy war zum Zeitpunkt
meines Beitrags kein Fall im strafrecht -
lichen Sinn. Es wurde nur behauptet, es
sei ein Fall. Das war mein Grund, dazu zu
schreiben.
SPIEGEL: „Bitte entschuldigen Sie, Herr Eda-thy“
hieß die Überschrift Ihres Artikels.
War das nicht etwas verfrüht? Immerhin
ist jetzt Anklage erhoben worden.
* Dietmar Hipp und Jan Fleischhauer im SPIEGEL-Haupt-stadtbüro.
Abgeordneter Edathy 2013
„Großer Anteil von Irrationalität“
Fischer: Eine Anklage ändert nichts daran,
dass zuvor Regeln verletzt wurden. Edathy
war ein halbwegs prominenter Politiker,
und schon die Äußerung eines solchen Ver-dachts
ist heute fast zwangsläufig mit einer
sozialen Vernichtung verbunden. Wenn
private Medien das inszenieren, ist das ver-achtenswert,
aber schwer zu verhindern.
Behörden dürfen dem aber keinesfalls eine
Bühne bereiten. Für Edathy ist es fast
gleichgültig, ob sich der Verdacht bestäti-gen
wird oder nicht. Das hat in einem
Rechtsstaat kein Beschuldigter verdient.
SPIEGEL: Videos von halb nackten Kindern
fallen bisher nicht ohne Weiteres unter
Kinderpornografie. Aber dass jemand, der
solche Dinge bestellt, auch richtig böses
Zeug zu Hause hat, ist doch nicht so fern-liegend?
Fischer: Eine solche Betrachtung mag für
den Stammtisch ausreichend sein, als hand-lungsleitende
Maxime einer Staatsanwalt-schaft
ist sie es gewiss nicht. Der Staat darf
nicht legales Verhalten zum Anlass neh-men,
um in grundrechtlich geschützte Be-reiche
seiner Bürger einzudringen und dort
nachzuforschen, ob es vielleicht irgendeine
Straftat gegeben hat, die man verfolgen
könnte. Wer sich legal verhält, darf nicht
zum Gegenstand von Verdächtigungen
und sozialer Vernichtung gemacht werden.
Kein Bürger unseres Rechtsstaats hat das
hinzunehmen; niemand würde das für sich
selbst akzeptieren.
SPIEGEL: Anlässlich des Falls Edathy wird
nun darüber diskutiert, den Besitz und Er-werb
von Aufnahmen auch dann unter
Strafe zu stellen, wenn diese keine expli-ziten
sexuellen Handlungen zeigen, son-dern
etwa nur ein nacktes Kind in der Ba-dewanne.
Halten Sie das für legitim?
Fischer: Abgesehen von der Albernheit, die
in der Exekution eines solchen Vorhabens
steckt: Das Sexualleben seiner Bürger geht
den Staat nichts an, solange nicht ernst-hafte
Verletzungen von Rechtsgütern vor-liegen
oder drohen. Daher ist die Por -
nografie straffrei. Mit allerlei Bedenken
strafbar sind noch Kinderpornografie, Tier-pornografie
und Gewaltpornografie. Die
Forderung nach Ausdehnung des Porno-grafieverbots
auf nichtpornografisches
Material halte ich für völlig überzogen.
SPIEGEL: Das Argument für die Bestrafung
von Kinderpornografie ist, dass sie einen
Markt erzeugt, für den am Ende tatsäch-lich
Kinder missbraucht werden.
Fischer: Solange eine Kette von Gefährdung
nachvollziehbar ist, mögen Verbote legitim
sein. Dass aber auch ein rein virtuelles,
am Computer generiertes kinderpornogra-fisches
Bild zur Strafbarkeit des Nutzers
führen soll, ist fragwürdig, weil hier in der
Realität gerade kein Kind missbraucht wur-de.
Wir müssen den von Pädophilie betrof-fenen
Menschen doch Handlungsalter -
nativen anbieten, die potenzielle Opfer
schützen und zugleich den Betroffenen ein
Leben ohne Kriminalisierung ermöglichen.
Pädophilie ist ein Schicksal; es ist kein
Plan, Straftäter zu werden.
SPIEGEL: Ähnlich heikel sehen manche Ju-risten
die Bestrafung des Inzests, sofern
dieser freiwillig und unter Erwachsenen
erfolgt. Wie sehen Sie das?
Fischer: Den Inzest zwischen erwachsenen,
frei verantwortlichen Personen halte ich
für nicht strafwürdig. Es handelt sich um
freiwillige, einverständliche sexuelle Betä-tigung
zwischen verständigen Menschen.
Hier hat sich der Staat herauszuhalten. Al-les,
was da an Legitimation von Strafver-folgung
ins Feld geführt wird, hält rationa-ler
Betrachtung nicht stand. Manches ist
sogar empörend, etwa das Argument, dass
die Gesundheit potenziell entstehender
Kinder zu schützen sei. Dann müsste man
ja auch alle Frauen einsperren, die vor,
während oder nach der Schwangerschaft
rauchen oder trinken, und die Männer
gleich dazu. All das ist Moral und Sittlich-keit
und was auch immer, mit den Aufga-ben
des Strafrechts hat es nichts zu tun.
SPIEGEL: Das Verfassungsgericht spricht so-gar
von Eugenik – und akzeptiert das.
Fischer: Das Urteil zum Inzest ist ein in je-der
Hinsicht bemerkenswerter Ausrutscher
unseres Bundesverfassungsgerichts. In der
Sache ist der Inzest ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass ein Straftatbestand, der im Lau-fe
der Zeit durch Veränderung aller gesell-schaftlichen
Verständnisse sinnlos und da-her
illegitim geworden ist, nicht länger auf-rechterhalten
werden sollte.
SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
22 DER SPIEGEL 32 / 2014
FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (U.)
Fischer, SPIEGEL-Redakteure*
„Die Weisheit des Laien ist schwankend“