1. Über die Mentalität der heutigen Chinese
In diesem Bericht werde ich versuchen, mittels Vortellung von historischen
Hintergründen und von der heutigen Realität Chinas Euch die Mentalität der heutigen
Chinesen näher zu bringen.
Der folgende Text besteht aus zwei Teilen, die die gleiche, oben genannte
Thematik aus zwei verschiedenen Blickwinkeln behandeln. Dabei ist der zweite Teil,
der ein Auszug aus einer meiner Hausarbeiten ist, viel kürzer als der erste.
Teil I
China befindet sich in einer Phase des Wandels, zwar von einer
landwirtschaftlichen zu einer industriellen Nation. Dieser Wandel kam nicht „von sich
aus“, sondern wurde aufgrund gewaltsamer gesellschaftlicher Umbrüche
„künstlich“ herbeigeführt. Also das heißt, er ist nicht ein Ergebnis der natürlichen
Gesellschaftsevolution, sondern deren willkürliche (jedoch notwendige) Umlenkung
durch Menschen. Dieser unvermeidlich übereilte Prozess hat sowohl Entwicklungen,
als auch Probleme hervorgerufen.
Im Bewusstsein der Chinesen ist China eine „Bauernnation“, oder mindestens
sehen Chinesen eine sehr starke Verbindung zwischen China und Bauern/
Landwirtschaft. Das liegt daran, dass Landwirtschaft eine besonders lange Geschichte
und eine überaus wichtige Rolle in China gespielt hat. Bis zu den 80ern des 20. Jhs.
war Chinas Wirtschaft stark von Landwirtschaft abhängig. So ist es selbst einleuchtend,
dass die chinesische Kultur von bäuerlicher Kultur und Tradition maßgeblich
beeinflusst worden ist.
Im Gegensatz hat Großindustrie im modernen Sinne (Massenproduktion,
Mechanisierung, Produktion für anonymen Absatzmarkt ...) erst gegen Ende des 19.
Jhs. einen langsamen und schwierigen Anlauf in China genommen. Im Kaiserreich
China waren Industrie und großer Handel lange fest in der Hand der Regierung.
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2. Die beruflich Beschäftigten des Volkes in der kaiserlichen Gesellschaft Chinas
war in vier Schichten geteilt: Beamten,Bauern,Handwerker und Händler – absteigend
nach gesellschaftlichem Ansehen. Die Tatsache, dass Beamten am meisten respektiert
wurden, könnte Europäern ungewöhnlich vorkommen, oder vielleicht sogar
„heuchlerisch“, wenn man unvorsichtigerweise chinesischen „Beamten“ mit
„Adligen“ gleichsetzt. Erst wenn man die Situation in China versteht, wird man die
damals den Beamten zugesteilte Ehre nachvollziehen und sogar gewissermaßen
befürworten.
Von 606 n. Chr. bis 1905 bestand in China ein landesweit streng durchgeführtes
Prüfungssystem für die Auswahl der Beamten, in dem mehrere Examina auf lokaler,
Provinz- und Hauptstadtebenen hierarchisch organisiert sind, um erfolgreiche
Prüflinge je nach Leistung für einen passenden Beamtendienst zu rekrutieren. Dieses
System versichert einerseits das Bildungsniveau der Beamten, andererseits ersetzt es
die Herkunfts- mit der Leistungsprinzip bei der Auswahl der Amtsträger. Damit
eröffnet es einen Weg des Sozialaufstiegs für theoretisch jeden männlichen Bürger,
unabhängig von dessen Herkunft und Vermögen.
In der konfuzianistischen Philosophie existiert die Idealvorstellung, dass man
seine Bildung für Staat und Volk nutzen sollte. Darin werden Wissen und
Beamtendienst miteinander verknüpft, sodass das eine ohne das andere mit der Ethik
unverträglich ist. „Beamten sollten sich weiter bilden, wenn sie Zeit haben; Gebildete
sollten ein Amt ausüben, wenn sie Zeit haben.“ – steht in Analekten des Konfuzius.
Beamten sind diejenigen, die sich durch ihre intellektuelle und ethische
Überdurchschnittlichkeit auszeichnen und dies zum Wohl des Staates und des Volkes
nutzen. Obwohl die Realität bestimmt nicht ganz der Idealvorstellung entsprach, wird
der Respekt für Beamten durch diese begründet und einigermaßen gerechtfertigt.
Einerseits sehen alle Gebildeten eine Beamtenkarriere als den einzigen richitgen
Lebensweg, da sie fast ausnahmslos von der politisch-ethischen Wertvorstellung des
Konfuzianismus überzeugt sind. Andererseits bietet der Beamtendienst den Gebildten
die einzige möglichkeit, in die obere Gesellschaftsschicht aufzusteigen.
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3. Unter den drei anderen Klassen, die alle ökonomisch produktiv sind, standen
Bauern über Handwerker und Händler. Dem hohen Sozialstatus der Bauern lag die
Tatsache zu Grunde, dass sie die Säule der chinesischen Wirtschaft bildeten,
Menschen mit Nahrung versorgten und in der chinesischen Ideologie „ehrliche“ Arbeit
verrichteten.
Über lange Zeit war in China bei dem Beruf „Händler“ v. a. die Eigenschaft wie
„Gewinnsucht“ hervorgehoben und die ökonomische Kraft weitgehend ignoriert.
Motiviert von Habgier, so in der traditionellen Wertvorstellung, sollte die
kaufmännische Berufsausübung negative Auswirkung auf die zwischenmenschliche
Beziehung haben. Daher war der Beruf „Händler“ in China gebrandmarkt und der
Austausch der für den Staat notwendigen Waren war fest in der Hand der Regierung.
Handwerker litten nicht unter solcher heftigen Diskriminierung wie Händler, teilte
jedoch das ähnliche Schicksal, nämlich Unterdrückung statt Förderung.
Allerdings bestand für zwei Arten von Kaufmännern die Möglichkeit, soziale
Anerkennung zu erlangen. Die erste sind die so genannten
„Rushang“ („konfuzianistisch gebildete Händler“), nämlich diejenigen Händler, die
sich durch hevorragende Bildung (v. a. in der konfuzianistischen Lehre) und durch
strikt nach konfuzianistischer Tugendlehre geregeltes und damit ethisch tadelfreies
Leben auszeichnen. Und die zweite sind “Beamtenhändler“, also Händler, die
gleichzeitig auch Beamten sind.
Bauern und Beamten sind die zwei nicht religiöse Bevölkerungsgruppen, deren
kulturelle Einflüsse die chinesische Kultur im Wesentlichen geprägt haben. Die
Bauernkultur war und ist überaus weit verbreitet und wahrnehmbar. Und die von
Beamten, Politikern und Hofkreis vertretene Elitekultur war wegen ihres weitaus
höchsten Bildungsgehaltes die vom Volk am meisten angesehene und verehrte Kultur.
99% der Maler, Dichter und Schriftsteller in der chinesischen Geschichte waren
Beamten – von hochrangigen Ministern bis zu Ratsherren kleiner Dörfer! Da
Handwerker und Händler in China in ungünstiger politischen Lage standen und
Großindustrie eine vergleichsweise verspätete und schwere Geburt litt, gab es keine
ausgeprägte Tradition und Kultur der Unternehmen und Kaufmänner oder der
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4. Mittelschicht und Arbeiter. Die chinesische Kultur zeigt daher eine Hierachie, die eine
breite „Kluft“ in der Mitte hat.
Die Konfrontationen mit agressiongeladenen Industrieländern seit der Mitte des
19. Jhs. brachten die damalige chinesische Regierung zu der Kenntnis, dass man den
Weg für moderne Industrie und Unternehmen ebnen muss, um die Nation zu verhelfen,
die höchst bedrohliche politische Lage oder auch Kriege zu überleben. Es ist leicht
vorstellbar, mit welchen Schwierigkeiten die Industrialisierung Chinas zu kämpfen
hatte: Mangel an morderner Wissenschaft und Technologie, innerer Unruhe, Armut...
Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 ging die kommunistische
Regierung zuerst den Industrialisierungsweg weiter, erreichte aber aufgrund der
Isolation durch Industrieländer und aufgrund des chinesisch-sowjetischen
Zerwürfnises nur sehr mäßige Erfolge. Auch innenpolitisch wehte langsam ein
ungünstiger Wind bis die Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 die Entwicklung
der Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft endgültig völlig lahm legte.
Es kam eine Wende in der Geschichte Chinas im Jahr 1978, wo die KP den
„Hauptwiderspruches in der chinesischen Gesellschaft“ neu formulierte: Er besteht
nicht mehr zwischen proletarisch-revolutionär und anti-revolutionären Bewegungen,
sondern zwischen den ständig wachsenden materiellen und kulturellen Anforderungen
des Volkes und der rückständigen sozialen Produktion. Anschließend wurde die
„Reform- und Öffnungspolitik“ eingeführt, die China auf den Weg einer beispiellosen
Wirtschaftsentwicklung brachte.
In deutschen Medien sind in den letzten Jahren über die Folgen der kühnen
Politik bereits Ströme von Tinten vergossen. Dabei werden v.a. sprunghafte
Wirtschaftsentwicklung, Verbesserung der Lebensqualität, zunehmende soziale
Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Verdrängung der Traditionen etc.
hervorgehoben. Auch vereinzelnte Äußerungen der Chinesen über die überall
wahrnehmbaren Änderungen werden ab und zu gezeigt. Aber trotzallem scheint mir,
dass über den „seelischen Zustand“ der meisten Chinesen noch sehr wenig bis gar
nichts gesagt worden ist. Was meinen Chinesen selber dazu? Laut dem Selbsturteil
seien sie sehr „materialorientiert“ geworden. Und noch schlimmer sei die Tatsache,
dass die durch Materialismus verursachte Korruption in schrecklichem Ausmaß fast
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5. alle Lebensbereiche durchdrungen hätte. Dabei ist der Unterton klagend und jedoch
hilflos.
Ich kann dieser Meinung im Großen und Ganzen zustimmen. In dem Leben der
meisten Chinesen besteht tatsächlich das wichtigste Thema in der Frage: „Wie kann
ich mehr Geld verdienen?“ (Das ist in meinen Augen einer der größten Unterschiede
zwischen China und Deutschland.) Die objektive, soziale Gründe für diese Situation
ist wie gefolgt: Erstens, China hat kein funktionsfähiges, landesweites Sozialsystem in
Bezug auf medizinische Fürsorge, Altersvorsorge, Bildung usw.; zweitens, die
Lebensunterhaltungskosten und das Durchschnittseinkommen stehen im ungerechten
Verhältnis; drittens, das Wirtschaftswachstum hat vielen Chinese gar nicht genützt.
Allein eine der drei Tatsachen – unabhängig von den zwei übrigen – hätte ausgereicht
dazu zu führen, dass das „Geldverdienen“ die Prorität des Lebens der meisten
Chinesen ist. Geld wird oft mit „Sicherheit fürs Leben“ gleichgesetzt.
Allerdings gibst es auch Chinesen, auf welche die drei oben genannten
Tatsachen nicht zutreffen, nämlich vermögende, die ohne materielle Sorge leben
können. Diese bestehen hauptsächlich aus Funktionären, Geschäftsmännern und
hochgebildeten Fachleuten und Intellektuelle. Die ersten sind durch Korruption zu
ihrem jetzigen Vermögen gelangt; die zweiten haben den neu entstanden freien Markt
und günstige Politik geschickt ausgenutzt und sind so auf unterschiedliche Art und
Weise reich geworden; die letzteren wachsen gerade zu einer Bevölkerungsgruppe mit
zunehmendem Einfluss in China, nämlich der Mittelklasse, heran.
Die krasse soziale Ungleichheit zwischen den Benachteiligten und den
Begünstigten hinsichtlich des Einkommens, der Berufs- und Bildungschancen, der
Arbeitsbedinungen und gemeinnütziger Dienste ist innerhalb von höchstens 15 Jahren
nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik entstanden, vor welcher
allgemeiner materieller Mangel in China geherrscht hatte. Das hat zu genereller
Unzufriedenheit der Benachteiligten, die nicht unbedingt zu den Armen gehören,
geführt. Wie ist ihre Reaktion? Was tun sie, um die Situation zu ändern? Da einerseits
sie so wenig Einfluss an Gesetzgebung und politsicher Entscheidungen haben und
andererseits die zu ihren Gunsten stattfindenden, von der Regierung in die Wege
geleiteten Sozialreformen oft nicht konsequent umgesetzt werden können, bevorzugen
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6. sie meistens eine Lebensstrategie, mit der sie einfacher, effizienter und schneller die
„soziale Gleichheit“ für sich erkämpfen könnten, nämlich Anpassung. In anderen
Worten, statt die Gesellschaft zu ändern und für soziale Gleichheit zu kämpfen,
versuchen die Benachteiligten zu den Begünstigten der jetzigen Gesellschaft zu
gehören. Diese „kluge“ Auswahl ist verständlich, wenn man sich vergewissert, dass
für sie die erste Möglichkeit fast gar nicht gegeben ist; die zweite ist zwar nicht
einfach, aber immer noch möglich. Obwohl die oben geschilderten gesellschaftlichen
Umstände keine zwingenden Ursachen sind für die Materialorietierte
Lebenseinstellung der Chinesen, spielen sie dabei eine unübersehbare Rolle.
Es gibt noch einen gesellschaftlichen, kulturellen Grund für den Materialismus
in China, der auf keinen Fall ein rein chinesisches, sondern ein weltweites Phämomen
ist, nämlich wachsendes Angebot und Bedarf an Sinnesberauschung. Zusammen mit
ausländischem Kapital hat diese ein heißes Willkommen in China von der
Öffnungspolitik bekommen. Chinesen, entsetzt von der Unterdrückung der
Individualität (denke an die Kulturrevolution), lechzend nach Befreiung der Sinne,
erbärmlich „ausgestattet“ mit ihrem rückständigen Bildungsniveau (ein historisches
Problem) und ohne jegliche Ahnung von der westlichen Kultur, haben ihre Haustür
dem Materialismus ganz geöffnet und ihn als „fortschrittliche westliche moderne
Zivilisation“ herzlichst empfangen. Die heutige Überschwemmung Chinas vom
Materialismus ist daher in gewisser Hinsicht die unvermeidliche Folge des folgenden
Experimentes: moderne, kapitalistische industrielle Zivilisation unvermittelt in eine
alte, verschlossene, landwirtschaftliche Zivilisation anzupflanzen.
Aber ist die materielle Vielfalt wirklich der Heiland für die
Individualitätsentfaltung? Wenn man sich der endlos großen Auswahl an Produkten
erfreut, die einen „frei“ und „anders“ machen können, bewegt man vielleicht genau in
einer politischen Falle namens „Umleknung der Lebenserfüllung der Bevölkerung“.
Aus welchem Grund auch immer, die jetzige Gesellschaftsentwicklung kippt völlig zu
einer Seite um: Priorität der Wirtschaft gilt als politische Richtlinie,
Sinnesberauschung hat die Oberhand gewonnen, Kultur ist vernachlässigt und
manipuliert und politisches Interesse erwürgt. Vielleicht zählt das auch zu den
Ursachen für die Materialorientiertheit.
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7. Teil II
Nicht alle Schäden, die die ehemaligen Kolonialländer in den Opfernländern
angerichtet haben, sind so offensichtlich wie die materielle Verwüstung, der
Misbrauch der Einheimischen sowie die Unterdrückung der Kultur und Bildung.
Manche „Wunden“ stecken tief in der Seele der Opfer und brauchen weitaus mehr Zeit
und Anstrengungen, um zu verheilen. Eine dieser Wunden, die die Kolonialherren
China zugefügt haben ist die „krankhafte Selbstbetrachtung“.
China ist die Wiege von einer der ältesten Kulturen und einst eine der
mächtigsten und höchst kultivierten Nationen. Jedoch konnte es ab dem 16. Jh. mit
seinen schweren Schritten in Entwicklung vielfacher Hinsicht nicht mit europäischen
Ländern mithalten. Im 19. Jh. war China im Vergleich zu Europa in unterschiedlichen
Bereichen wie Politik, Wissenschaft, Bildung und Industrie etc. längst nicht mehr
führend, sondern weitgehend rückständig. Dieser Umstand im Hochkurs des
weltweiten Nationalismus führte endlich zu aufeinander folgenden nationalen
Tragödien in dem Zeitraum zwischen dem ersten Opiumkrieg 1840 und dem Ende des
Bürgerkrieges 1949: Für über 100 Jahre war das riesige Land durch andauernde
imperialistische Invasionen, innenpolitisches Wirrwarr und soziales Elend
gekennzeichnet. Fast wäre China eine vollständige Kolonie abwechselnder Herren
geworden. Dieser Zeitraum stellt eine Zäsur in der chinesischen Geschichte und eine
unverwischbare Schnittwunde in der Seele des chinesischen Volkes dar.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, das die heutige
Weltanschauungsbildung in China einen ausgeprägten historisch-politischen
Standpunkt hat und stark von Patriotismus geprägt ist. Dabei sollte man durch die
überaus intensive Auseinandersetzung mit dem „schändlichen“ Kapitel der
chinesischen Geschichte (nämlich der Zeit zwischen 1840 und 1949, die im
Geschichtsunterricht in Schulen am ausführlichsten behandelt ist.) sich bewusst
werden, dass unsere heutige nationale Unabhängigkeit nicht selbstverständlich,
sondern erst nach langem Kampf gegen imperialistische Unterdrückung erstrebt
worden ist. Und wir müssen uns immer vor Augen halten, dass „Rückständigkeit
Misshandlung einleitet“ und nur nationale Stärke und kollektive Zusammenhalt China
vor Gefahr schützen und wieder zu einer blühenden Nation werden lassen können.
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8. Der Unabhängigkeitskampf ist – zweifellos, die größte und bedeutendste
politsiche Errungenschaft Chinas in der jüngsten Vergangenheit. Er ist gleichzeitig die
Quelle, aus der der heutige Nationalstolz sich zum großen Teil schöpft. Aber diese
Quelle ist giftig und daran erkrankt die Seele der ganzen Nation. Denn die
Vergöttlichung des Sieges über die anderen (obwohl gerechten, würdigen Sieges)
macht das Ich und das Andere zu unversöhnlicher These und Antithese. Solang das
Selbstwertgefühl (nur) im Verleugnen des Anderen bestehen, ist das Ich nicht frei,
sondern abhängig vom Anderen. Und es fängt an, sich aus der Sicht seiner erdachten
Antithese zu betrachten. Damit wird die Konstruktion der Identität zur Destruktion des
Bildes, das die Anthithese von sich hat. So ist die Identitätsbildung statt eines
positiven, konstruktiven ein negativer, destruktiver Prozess. Wenn ein ehemaliger
Sklave ständig zu verkündigen sucht, dass er nicht mehr Sklave, sondern Freimensch
ist und ständig als Sieger über seinen ehemaligen Herrn aufzutreten sucht, dann ist er
eben nicht frei, sondern immer noch ein Sklave. Sein neuer Herr heißt „Stolz“, der
seinen Kopf fest fesselt und seine freien Glieder für Radikalitäten anfällig macht.
Obwohl Chinesen auf keinen Fall einen hasserfüllten Blick auf westliche
Länder werfen, sondern diese völlig bewundern für den materiellen Wohlstand, den
kulturellen Reichtum und die freie Individualitätsentfaltung, die den „Westen“ so sehr
vor der restlichen Welt auszeichnen, sind sie auf politischer Ebene meistens keine
Freunde von diesem. Ein nicht geringzuschätzender Teil der Bevölkerung bezichtigen
dem Westen der feindlichen Haltung gegenüber Chinas Aufstieg und empfinden
latente Bedrohung aus den westlichen Ländern.
Vor diesem Hintergrund ist es unschwer zu verstehen, dass die gegenwärtige
Identitätsbildung der Chinesen nicht nur ethisch-kulturelle Selbstkonstruktion, sondern
gleichzeitig Destruktion seiner ehemaligen „Sklaveneigenschaften“ bedeutet. Und die
letztere führt nicht selten zur Herscherverehrung und übertriebenem Nationalismus.
Zahlreiche politische Ereignisse haben ein nachdenkliches Phänomen bewiesen: Je
mehr politischen Druck die westlichen Regierungen und Medien auf die chinesische
KP ausüben, desto mehr Unterstützung bekommt diese von der chinesischen
Bevölkerung. Unter Umständen fangen sogar Menschen mit neutraler politischer
Ansicht an, mit ihr zu sympathisieren. Die KP – von sich selber als Volksvertreter
bezeichnet – schürt, pflegt und lenkt den Nationalstolz zu seinen eigenen Gunsten. Das
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9. Gegensatzpaar „Ich-Andere“ trübt das Auge des Volkes, erschwert dessen freien
Denken und hält dessen Seele gefangen. Das nenne ich „unsichtbare Wunde in der
Seele des chinesischen Volkes“.
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