Tosca – sebastian baumgarten arbeitet an der neuerfindung der oper (mit kathrin angerer!) behrens nachtkritik
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Tosca – Sebastian Baumgarten arbeitet an der Neuerfindung der Oper (mit Kathrin
Angerer!)
Oper reloaded
von Wolfgang Behrens
Berlin, 1. Februar 2008. "Darum ist TOSCA an der Volksbühne vor allem: keine Oper."
Was sich so lesen könnte, wie der letzte Satz eines Verrisses, entstammt in Wirklichkeit
dem Besetzungszettel, den man an der Volksbühne zur "Tosca"-Inszenierung von Sebastian
Baumgarten in die Hand gedrückt bekommt. Und wenn es da schon steht, dann ist man
auch geneigt, es zu glauben: Keine Oper also.
Doch auch wenn "La Tosca" von Victorien Sardou zuerst und irgendwann einmal ein
Schauspiel war, so ist "Tosca" ganz ohne Oper, ohne Puccini nicht zu denken. Und so sitzt
denn auch bei Baumgarten ein Orchester auf der Bühne – das Deutsche Filmorchester
Babelsberg – und spielt ab und an ein paar Klänge von Puccini.
Ansonsten aber herrscht, wie man meinen könnte, Volksbühnen-Atmosphäre as usual: Eine
Drehbühne mit hohem Baugerüst, Videoleinwänden und containerartigen Innenräumen
dreht sich. Robert Lippok und Alexander Wolf haben sie gebaut, ihre Herkunft aus dem
Geiste Bert Neumanns kann sie aber schwerlich verleugnen. Das Berliner Bandprojekt
Tarwater ergänzt die Puccini-Musik um jede Menge sehr gut gemachter elektronischer
Grooves, und die acht Schauspieler und Schauspielerinnen geben sich unter Einsatz der
vollen Körper- und Stimmkräfte Mühe, eine Mischung aus Castorf-Theater und Operparodie
herzustellen.
Überlagerungen, wechselnde Ebenen, große Momente
Damit könnte man es schon bewenden lassen, wenn ... ja, wenn dieser eingangs zitierte
Satz auf dem Besetzungszettel nicht eine faustdicke Lüge wäre. Denn inmitten aller Parodie,
Weiterschreibung und Überlagerung gibt es in dieser Inszenierung immer wieder Momente,
die nichts anderes sind als: große Oper. Da ist etwa Kathrin Angerer als Operndiva Tosca.
Eine Traumbesetzung, weil Angerer die Volksbühnen-Diva schlechthin ist.
Wenn sie im Glitzerkleidchen über die Bühne stöckelt, stöckeln alle ihre früheren Auftritte
an diesem Ort gleich mit. Wenn sie sich vor einer Videoinstallation ihres Geliebten Mario
aufbaut, die nicht sie, sondern eine andere Frau zeigt, dann spielt sie nicht einfach eine
Eifersüchtige: Nein, sie nölt und posiert wie eine, die eine Frau spielt, die eine Eifersüchtige
spielt. Kathrin Angerer ist die Königin der Uneigentlichkeit. Und damit der Oper ganz nah.
Betende, singende, furiose Kathi Angerer
Diese Tosca wird später in einer Abendgesellschaft dazu aufgefordert, etwas von ihrer
Gesangskunst zum Besten zu geben. Kathrin Angerer ergreift einen Muff, spuckt einen
Schwall Blut, beginnt zu frieren und piepst mehr, als dass sie singt, eine Arie der Mimi aus
"La Bohème". Unversehens wird die Oper in der Oper zum Vexierbild: Ist die Angerer als
Tosca immer ein zickiger Ausbund an Ironie, so scheint sie als Mimi, als Rolle in der Rolle,
plötzlich ganz bei sich. Als bedürfe Tosca des Spiels, um über das Spiel hinauszukommen.
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Ein Opernparadox. Ein Opernmoment.
Und dann ist da noch Mario Cavaradossi, auf dessen Tenorarie "E lucevan le stelle" ("Und es
blitzten die Sterne") zu Beginn des dritten Aktes jedes Opernpublikum der Welt hinfiebert.
Lars Rudolph ist nicht der Mann, dieses Gelüste zu bedienen, er ist alles andere als ein
Belcanto-Tenor: Er gibt den Cavaradossi – mal schreiend, mal quengelnd – als genialischen
Künstler mit fast kindischen Zügen, immer mit einem Hang zur schrillen Hysterie. Und
dennoch – oder gerade deswegen – gerät "E lucevan le stelle" zum Höhepunkt des Abends.
Indem Lars Rudolph diese Arie zur Orchesterbegleitung nicht singt. Sondern wimmert. Und
fiept.
Im Gesang steckt der Kampf ums nackte Überleben
In seiner Containerzelle sitzend, Cavaradossi erwartet hier seine Hinrichtung, entringen sich
seiner Kehle erbärmliche Laute, und in einer traumhaft schönen schwarz-weißen
Videoprojektion (die äußerst starken Eindruck hinterlassenden Videos stammen von Chris
Kondek) sehen wir Rudolph gleichzeitig, wie er – nur mit einer weißen Feinripp-Unterhose
bekleidet – im luftleeren Raum oder in einer Fruchtblase zu schwimmen scheint. Es geht
ums nackte Leben. Diese so einfache wie eindringliche Botschaft machen Baumgarten und
Rudolph hinter dem Wunschkonzert-Schlager völlig unerwartet neu hör- und sichtbar.
Mögen die Beipackzettel auch anderes behaupten – wegen solcher Momente ist die neue
"Tosca" an der Volksbühne vor allem eines: Oper. Vieles andere natürlich auch. Doch das ist
im Grunde nicht der Rede wert.
Tosca
nach Victorien Sardou
Musik von Tarwater und Giacomo Puccini
Regie: Sebastian Baumgarten, musikalische Leitung: Max Renne, Bühne: Robert Lippok
und Alexander Wolf, Kostüme: Ellen Hofmann, Video: Chris Kondek.
Mit: Kathrin Angerer, Lars Rudolph, Thorsten Merten, Werner Eng, Norbert Stöß, Frank
Büttner, Trystan Pütter, Angie Reed, Steffi Zimmermann und dem Deutschen
Filmorchester Babelsberg.
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
In der Berliner Zeitung (4.2.2008) behauptet der Musikkritiker Wolfgang Fuhrmann, man
gehe gern in die Oper, "weil es da so schöne Musik gibt". Aber manchmal, bekennt er,
"kann man sich in der Oper eben auch eingesperrt fühlen. Zu wissen, dass man sich jetzt in
Takt 50 befindet und noch ungefähr 238 weitere Takte bis zur Pause folgen werden, und
zwar einer auf den anderen, wie es sich gehört, ohne dass jemand zwischendurch frische
Luft hereinlässt, das erzeugt mitunter schon eine gewisse Klaustrophobie". Was immer sich
nun über Baumgartens Inszenierung sagen lasse, "beengt und Takt für Takt" gehe sie nicht
vor. Nein, das sei kein missratener Abend: "Dazu navigiert er vor allem in seiner zweiten
Hälfte viel zu gekonnt zwischen Postdramatik, Kletter- und Kreischorgien und Oper. Oper,
mit einem Ensemble, in dem kein einziger Mensch richtig Oper singen kann? Jawohl, Oper.
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Und zwar Oper so ergreifend und wahrhaftig, wie man sie nur je auf einer Berliner Bühne
erlebt hat."
Kirsten Harms, Intendantin der Deutschen Oper zu Berlin, hat sich den Abend auch
angesehen und wird zwei Tage später in der Berliner Zeitung (6.2.2008) erstmal
grundsätzlich. Ob Berlin mehr Oper brauche? "Unbedingt." Denn sie, die Oper, "hat etwas
Wesentliches ins neue Jahrtausend hinübergerettet: die lineare Erzählung, die Lust am
Pathos, die Sehnsucht nach Schönheit". Und unter dieser Maßgabe weiß sie Baumgartens
Inszenierung nur zu loben, wobei ihr die Frage "reizvoll scheint", "ob Baumgarten dabei
eher das Schauspiel oder die Oper parodiert".
In der FA Sonntagszeitung (3.2.2008) klärt Max Glauner auf, dass die Musik hier Material
sei. "Wo früher der Roman zur Rettung des Theaters angepriesen wurde, ist es heute die
große Oper." Nach Wagners "Meistersingern" folge an der Volksbühne Puccinis "Tosca" als
Versuchsanordnung: "Großes Orchester auf den Brettern, Videoprojektionen von Chris
Kondek, Baugerüste à la Jason Rhodes auf der Drehbühne und Schauspieler, die erst gar
nicht versuchen, richtig gut zu singen." Das würde aber den Charme eines solchen Abends
ausmachen. "Als Spießer komme Lars Rudolph doppelt witzig rüber." Ja, und Kathrin
Angerer sei "unvergleichlich". Aber, aber: "Das reicht für einen ganzen Abend nicht aus."
Und Glauner empfiehlt dann lieber Angie Reeds letztes Album "XYZ Frequency" und die
"Tosca"-Einspielung mit Maria Callas 1953 in der Mailänder Scala.
"Bleibt doch alles hübsch im ideologischen Rahmen", bekundet Opernkritikerin Christine
Lemke-Matwey im Tagesspiegel (3.2.2008): "das Wildern in der Oper, das Ausweiden
fremder Genres und auch die handelsüblichen Dekonstruktionsweisen des szenischen
'Materials'". Sebastian Baumgarten würde "Tosca" neu auffädeln, "und es kommt eigentlich
ein ganz gemütlicher, mal mit mehr, mal mit weniger Appetit an seinen eigenen Knöchlein
nagender Abend dabei heraus." Die Behauptung des Abends allerdings, "die Kunst habe
nichts mehr auszurichten, der Künstler treibe haltlos und vollkommen unnütz durch die
heutigen Welten", diese Behauptung "verfängt nicht", so Lemke-Matwey: "nicht im Skelett
der Stückfabel, nicht in der brausenden Theatermaschinerie, die aufgeboten wird, um
sämtliche Zeiten, Räume und Ästhetiken zu atomisieren. Wer derart virtuos in die
Registerkiste greift, tut dies mit kalter Hand. Könnte das unser Problem sein?"
Aus Sicht von Ulrich Gutmair in der taz (4.2.2008) beweist Sebastian Baumgarten mit
seiner Inszenierung "wie viel produktiver es ist, die Oper vom Theater her zu denken".
Denn normalerweise werde die Oper als Genre jedem halbwegs ästhetisch denkenden
Menschen verleidet. Der Abend an der Volksbühne habe seine Schwächen, wozu der
Rezensent auch die Theorieberge zählt, die Baumgarten überflüssigerweise auf die Bühne
gehievt hat. Insgesamt aber hat Baumgarten aus Gutmairs Sicht eigentlich fast alles richtig
gemacht. "Erstens hat er sich von Robert Lippok und Alexander Wolf eine grandiose Bühne
bauen lassen". Aber auch der Tarwater-Song, den Frau Tosca am Ende singt, lässt ihn
begeistert seufzen: "Das ist glamouröser Pop und großes Theater".
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Tosca – Sebastian Baumgarten arbeitet an der Neuerfindung d... http://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&catid=42:...
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