Positionen, Projekte und Publikationen zur Förderung der Lesekompetenz
„Ein Fünftel der Viertklässler kann nicht gut lesen“ – die Schlagzeile in der ZEIT (5. Dezember 2017) bschreckt mal wieder auf. Dabei ist das ihr zugrunde liegende Ergebnis der aktuellen IGLU-Studie durchaus differenziert, denn – so die ZEIT weiter: „Der Anteil der Viertklässler in Deutschland, die sehr gut lesen, ist gestiegen“, aber andererseits: „ein Fünftel erreicht … jedoch nicht einmal ein mittleres Kompetenzniveau.“
Der Blick in die Details der Studie zeigt, dass sich die Leseleistungen der deutschen Viertklässler gegenüber 2001 kaum verändert haben. „Stabiles Mittelmaß“ nennt das die ZEIT, doch das Problem zeigt sich im internationalen Vergleich: Während Deutschland bei der ersten IGLU-Studie mit seinem Ergebnis noch in der Spitzengruppe rangierte, sind in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Länder vorbeigezogen, wodurch sich Deutschland nun – mit seinen stabilen Werten – im Mittelfeld wiederfindet. Und ein zweiter bedenklicher Aspekt ist erkennbar – die (wenigen) Guten werden besser, die (vielen) Schwachen
schwächer. Die Schere klafft also immer weiter auseinander.
Andererseits werden durchaus ernsthaft Diskussionen darüber geführt, ob denn Lesen und Schreiben als traditionelle Kulturtechniken im 21. Jahrhundert überhaupt noch wichtig wären, wo doch die Spracherkennung digitaler Systeme und die Möglichkeiten, diese zudem durch bloße Gesten zu steuern, immer ausgefeilter würden und damit das komplizierte Schreiben, das ja eine abstrakte Codierungsfähigkeit, die man zuvor erlernen und begreifen muss, voraussetzt, zum Auslaufmodell machten.
„Schreiben sei eine Kompetenz des 20. Jahrhunderts, die bald überflüssig werde“, konnte man schon am 4.1.2016 im TAGESSPIEGEL lesen mit Bezug auf die Äußerungen eines der „führenden Volkswirte des digitalen Zeitalters“. Das Fazit der Autorin Ursula Weidenfeld im TAGESSPIEGEL allerdings lautete: „Wer nicht mehr lesen, schreiben und rechnen kann, kann auch nicht denken. Er verlernt zu unterscheiden, richtig und falsch zu bewerten, Wahres und Gelogenes auseinanderzuhalten. Er wird die digitale Welt
nicht regieren. Er wird von ihr regiert.“
Lesefutter 2018 - Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht
1. Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht
Medien und Unterricht 33
Lesefutter 2018
Positionen, Projekte
und Publikationen
zur Förderung
der Lesekompetenz→ lisa.sachsen-anhalt.de
2.
3. Medien und Unterricht 33
Lesefutter 2018
Literatur aus Sachsen-Anhalt im Unterricht
Positionen, Projekte und Publikationen
zur Förderung der Lesekompetenz
Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung
Sachsen-Anhalt (LISA)
in Zusammenarbeit mit dem
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e.V.
4. Anmerkung:
Die geschlechterdifferenzierende Schreibweise der einzelnen Autorinnen und Autoren in Bezug auf Berufs- und Tätigkeitsbeschrei-
bungen wurde weitgehend beibehalten.Wo aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt wurde, ist stets
das weibliche Pendant mit gemeint. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen zudem die Meinungsäußerung der jeweiligen Ver-
fasserinnen und Verfasser dar.
Wir sind uns unserer Verantwortung für unsere Umwelt bewusst und gehen schonend mit den
natürlichen Ressourcen um. Aus diesem Grund ist die vorliegende Broschüre vollständig auf
100 % Recycling-Papier gedruckt.
Impressum
Herausgeber: Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung
Sachsen-Anhalt (LISA), Riebeckplatz 9, 06110 Halle
in Zusammenarbeit mit dem
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e. V.
Thiemstraße 7, 39104 Magdeburg
Titelfoto: vege - fotolia.com
Redaktion: Prof. Dr. Paul D. Bartsch
Lektorat: Gernot Griebsch (Culture Content)
Layout: Doreen Eckhoff
Druck: Halberstädter Druckhaus
LISA Halle (Saale) 2018 (1801) – 1. Auflage – 1.350
7. | 5Editorial
Editorial
„Ein Fünftel der Viertklässler kann nicht gut lesen“ – die Schlagzeile in der ZEIT (5. Dezember 2017)
schreckt mal wieder auf. Dabei ist das ihr zugrunde liegende Ergebnis der aktuellen IGLU-Studie durch-
aus differenziert, denn – so die ZEIT weiter:„Der Anteil der Viertklässler in Deutschland, die sehr gut
lesen, ist gestiegen“, aber andererseits:„ein Fünftel erreicht … jedoch nicht einmal ein mittleres Kom-
petenzniveau.“
Der Blick in die Details der Studie zeigt, dass sich die Leseleistungen der deutschen Viertklässler gegen-
über 2001 kaum verändert haben.„Stabiles Mittelmaß“ nennt das die ZEIT, doch das Problem zeigt sich
im internationalen Vergleich:Während Deutschland bei der ersten IGLU-Studie mit seinem Ergebnis
noch in der Spitzengruppe rangierte, sind in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Länder vorbeigezo-
gen, wodurch sich Deutschland nun – mit seinen stabilen Werten – im Mittelfeld wiederfindet. Und ein
zweiter bedenklicher Aspekt ist erkennbar – die (wenigen) Guten werden besser, die (vielen) Schwa-
chen schwächer. Die Schere klafft also immer weiter auseinander.
Andererseits werden durchaus ernsthaft Diskussionen darüber geführt, ob denn Lesen und Schrei-
ben als traditionelle Kulturtechniken im 21. Jahrhundert überhaupt noch wichtig wären, wo doch die
Spracherkennung digitaler Systeme und die Möglichkeiten, diese zudem durch bloße Gesten zu steu-
ern, immer ausgefeilter würden und damit das komplizierte Schreiben, das ja eine abstrakte Codie-
rungsfähigkeit, die man zuvor erlernen und begreifen muss, voraussetzt, zum Auslaufmodell machten.
„Schreiben sei eine Kompetenz des 20. Jahrhunderts, die bald überflüssig werde“, konnte man schon
am 4.1.2016 im TAGESSPIEGEL lesen mit Bezug auf die Äußerungen eines der „führenden Volkswirte des
digitalen Zeitalters“. Das Fazit der Autorin Ursula Weidenfeld im TAGESSPIEGEL allerdings lautete:„Wer
nicht mehr lesen, schreiben und rechnen kann, kann auch nicht denken. Er verlernt zu unterscheiden,
richtig und falsch zu bewerten,Wahres und Gelogenes auseinanderzuhalten. Er wird die digitale Welt
nicht regieren. Er wird von ihr regiert.“
Nun soll das LESEFUTTER auch in seinem 12. Erscheinungsjahr keinesfalls Lese- und Schreibkompetenz
in strikten Gegensatz zur heute häufig geforderten Programmierfähigkeit von Schülerinnen und Schü-
lern setzen. Zweifellos ist es wichtig, ein zunehmend vertieftes Verständnis für Algorithmen, die unser
Leben in vielfältiger Weise – mal mehr, mal weniger offensichtlich – beeinflussen, zu erwerben. Und die
Annehmlichkeiten, die uns smarte Technologien in Haus, Auto, Arbeitswelt und Freizeit versprechen,
sind nicht von der Hand zu weisen – es sei denn, sie werden als reine Bequemlichkeit empfunden und
nicht als Freisetzung unseres kreativen Potenzials wirksam, das wir dann in einer multioptionalen Welt
mit Muße, mit Augenmaß und viel Freude am Entdecken und Erproben ausleben können. Dass diese
Welt aber ohne Lesen und Schreiben auskommt, kann ich nicht glauben. Und ich will es auch nicht.
Deshalb hier also zum runden Dutzend wieder ein Lesefutter mit spannenden Beiträgen rund ums
Lesen und Schreiben im Unterricht, wobei der Bogen in gewohnter Weise weit gespannt ist. Da geht es
um „Leseförderung mit einer fliegenden Maus“ (Ritter), um „Mehrsprachliches Erzählen im Unterricht“
(Marinelli) oder um „Graphic Novels als komplexe[m] Lerngegenstand im Literaturunterricht“ (Born) –
dieser Beitrag stammt übrigens von einer Lehramtsstudierenden und beruht auf einer eigenen empiri-
schen Untersuchung! Die Kulturjournalistin Anne-Ev Ustorf erteilte uns die Erlaubnis, ihren Essay zum
8. 6 | Editorial
„Kampf um Identität“ aus der PSYCHOLOGIE HEUTE nachzudrucken, in dem weiblichen Außenseiterfi-
guren in der Jugendliteratur nachgespürt wird – für diesen anregenden Text vielen Dank!
Dass zudem 2017 ein wichtiges Jubiläumsjahr für die deutsche Sprache und ihre kulturelle Pflege war,
zeigt sich in den Beiträgen zum 25. Geburtstag der „Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft“ (deren Vor-
gängerin 1617, vor vierhundert Jahren also, auf Initiative von Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen in Wei-
mar gegründet wurde) sowie zum „Verein Deutsche Sprache VDS“, der auf sein 20-jähriges Bestehen
zurückblicken kann. Deutlich wird dabei vor allem das moderne, dynamische Grundverständnis dieser
Institutionen in Bezug auf die Offenheit und Entwicklungsoptionen einer Nationalsprache; es geht also
nicht um Apologetik um ihrer selbst willen, wohl aber um Sensibilität und Achtsamkeit in Bezug auf
unsere Sprache als wesentlichem Bestandteil unserer Kultur. So wolle die Neue Fruchtbringende Ge-
sellschaft „auf die Vielfalt, Schönheit und Funktionalität der deutschen Sprache aufmerksam machen“,
wie Julia Schinköthe und Uta Seewald-Heeg betonen. Und wie fantasie- und lustvoll junge Menschen
mit dem sprachlichen Handwerkszeug umgehen können, zeigen eindrucksvoll die hier vorgestellten
Preisträgertexte des jährlichen Schreibwettbewerbs. Dass der VDS, dem es vor allem um „Sprachpfle-
ge, die stärkere Ausprägung des Sprachbewusstseins und die intelligente Sprachentwicklung“ (Jörg
Bönisch) geht, durch seine „Edelsteine“ die alte Diskussion um das Für und Wider eines Literatur- bzw.
Sprach-Kanons aufwärmt und zugleich neu akzentuiert, wird durch die Vorstellung des gewichtigen
Buches kritisch gewürdigt.
Im Abschnitt zu aktuellen Projekten erfahren Sie den aktuellen Stand zu „BiSS“, also dem Landes-
projekt „Bildung durch Sprache und Schrift“.Weiterhin gibt es einen ersten Ausblick auf Konzeption,
Ziele und prospektive Methoden von [D-3: Deutsch Didaktik digital], einem Programm, das unter der
wissenschaftlichen Leitung von Prof. Matthias Ballod am Bereich Deutschdidaktik der Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg angesiedelt ist und in den nächsten Jahren zweifellos von sich reden
machen wird. Alexandra und Michael Ritter stellen zudem die Möglichkeiten der „Schuldruckerei als
Erfahrungsraum für Kinder und Studierende“ vor; das würde nicht nur den französischen Reformpäda-
gogen Célestin Freinet freuen. Natürlich sind auch aktuelle Schreibaufrufe wiederum vertreten.
Der abschließende Publikationsteil stellt unterrichtsgeeignete Literatur vor, zumeist von Autorinnen
und Autoren aus Sachsen-Anhalt verfasst oder – im Falle der zahlreichen Schreibprojekte, die an Schu-
len des Landes gelaufen sind und nun dokumentiert wurden – initiiert und begleitet.
Alles in allem hoffen wir, dass mit diesem 12. Lesefutter wiederum eine schmackhafte, würzige und
genussreiche Lektüre vorliegt. Das Lesefutter soll es weiterhin in bewährter Zusammenarbeit von
Friedrich-Bödecker-Kreis, Martin-Luther-Universität und LISA geben, auch wenn sich Paul D. Bartsch aus
der aktiven Arbeit am LISA zurückgezogen hat.
Prof. Dr. Paul D. Bartsch Dr. phil. Alexandra Ritter Jürgen Jankofsky
Martin-Luther-Universität Friedrich-Bödecker-Kreis
Halle-Wittenberg in Sachsen-Anhalt e.V.
Institut für Schulpädagogik Geschäftsführer
und Grundschuldidaktik
9. | 7Positionen | Projekte | Publikationen
Alexandra Ritter
Leseförderung mit einer fliegenden Maus
Abb. 1: Cover Lindbergh
Lindbergh – eine Maus erobert die Lüfte
Wer hat nicht schon von ihm gehört, Charles Lind-
bergh, dem ersten Mann, der im Alleinflug den
Atlantik von New York nach Paris überquert hat.
Doch die eigentliche Geschichte dieses Atlantikflu-
ges beginnt schon früher. In dem Buch „Lindbergh.
Die Geschichte einer fliegenden Maus“ (Abb. 1)
zeichnet Torben Kuhlmann ein Bild von Hamburg
am beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Zeit ist ge-
prägt von großen Auswandererwellen und unge-
wöhnlichen Erfindungen. So kommt es, dass eines
Tages die Mausefalle erfunden wird und eine kleine
Maus in Hamburg plötzlich allein zu sein scheint.
Sie vermutet, dass die anderen Mäuse aufgrund
der Bedrohung durch die Mausefallen nach Ame-
rika ausgewandert sein müssen. Gern möchte die
Maus folgen, doch der Weg mit dem Schiff wird von
hungrigen Katzen bewacht. Da kommt die Maus
auf die Idee, eine Flugmaschine zu bauen und nach
Amerika zu fliegen, was ihr nach mehreren geschei-
terten Versuchen auch gelingt.
Das 2014 erschienene Bilderbuch erzählt seine
Geschichte verstärkt über die Bilder, die sich mal
großformatig über eine Doppelseite erstrecken
oder in kleinen Fotos als Pinnwand collagenartig
unterschiedliche Eindrücke zu einem Gesamtbild
verbinden. Mal als sepiafarbene Fotoimitate, mal
als Skizzen und Zeichnungen wirken die Bildwelten
vielfältig und faszinierend. Der Text nimmt sich
im Gegensatz dazu sehr zurück. Nicht alle Bilder
werden kommentiert. Allerdings bringt gerade die
Sprache viele Begriffe aus dem technischen Bereich
ein, ergänzt die Skizzen und Entwürfe der Flugge-
räte mit dem entsprechenden Vokabular und führt
so ganz selbstverständlich in die Welt der Technik
ein. In der Jurybegründung für die Nominierung des
Buches für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015
ist zu lesen:„Ein großer Reiz des Buches geht von
dieser Authentizität, den realistischen Stadtdarstel-
lungen und der nostalgischen Patina der Illustratio-
nen aus. Jede Seite ist anders aufgebaut, mal in der
Draufsicht, mal in der Untersicht, und oft lebt die
Darstellung von der Übermacht der Menge, der sich
die kleine Maus gegenübersieht.“ Die Authentizität
und das Spiel mit den Perspektiven scheinen hier
besonders zu faszinieren.
Das Projekt „Literanauten überall“
Diese Faszination übt das Buch aber nicht allein auf
die Kritikerjury aus. Auch Kinder der zweiten Klas-
10. 8 | Positionen | Projekte | Publikationen
sen an einer Hallenser Grundschule haben bereits
im Rahmen der Initiative „Literanauten überall“ des
Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V., gefördert
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
(in Rahmen des Programms „Kultur macht stark.
Bündnisse für Bildung“), zu dem Buch gearbeitet.
Anspruch der Initiative ist es, bildungsbenachtei-
ligten Kindern und Jugendlichen außerhalb der
Schulzeit interessante Begegnungen mit Literatur
zu ermöglichen. Diese werden von anderen Ju-
gendlichen oder (in diesem Fall) von Studierenden
entwickelt und durchgeführt.
Leseförderung wird dabei sowohl durch die Begeg-
nung, das Kennenlernen und Beschäftigen mit an-
spruchsvoller Literatur als auch durch unterschied-
liche Möglichkeiten des produktiven Umgangs mit
Literatur gestaltet.Wie dies konkret umgesetzt
wurde, soll im Folgenden skizziert werden.
In eine andere Zeit versetzt
Zunächst sollen sich die Kinder auch gedanklich in
die Zeit am Beginn des 20. Jahrhunderts begeben,
einer Zeit, in der der technische Fortschritt immer
weiter vorangetrieben wurde und gerade in den
Städten das Leben pulsierte. Mit einer „Zeitmaschi-
ne“ reisen die Kinder in die Vergangenheit, indem
ihnen Bilder von wichtigen Ereignissen aus dem
letzten Jahrhundert in einem verdunkelten Raum
gezeigt werden, der hier als Zeitmaschine genutzt
wird (Abb. 2).
Abb. 2: In der Zeitmaschine
Dort geht es vom Sieg bei der Fußballweltmeister-
schaft im letzten Jahr über die erste Reise auf den
Mond, die Beatles, die Entwicklung des Fernsehens,
den Kriegen in Deutschland bis nach Hamburg in
die Zeit um 1900. Einige Bilder werden von den
Kindern wiedererkannt und können eingeordnet
werden, andere sind fremd. Deutlich wird aber, dass
wir uns nun mehr und mehr in der Vergangenheit
befinden, in der einige Dinge anders sind als heute.
Sind die Kinder im Jahr 1900 angekommen, ist es
Zeit auszusteigen und sich umzusehen. Dazu sind
einige farbig kopierte Bilder des Buches im Raum
aufgehängt. Die Kinder betrachten die Bilder und
sammeln gemeinsam, welche Unterschiede sie zu
unserer Zeit entdecken können (alte Fotoapparate,
viele Nachrichten werden über Zeitungen verbrei-
tet, andere Kleidung der Menschen, ein Bahnhof
voller Dampf).
Besondere Effekte können auch durch den Ein-
satz einer Nebelmaschine und entsprechende
Verkleidungen etwa mit einer alten Fliegerbrille
oder im Anzug erzielt werden bzw. die Ausstellung
besonders alter Gegenstände wie ein alter Koffer,
den man auch zum Reisen brauchte, evtl. eine alte
Kofferwaage oder eine Tellerwaage, alte Flugmodel-
le, Schwarz-Weiß-Fotos etc. Auch das Buch könnte
bereits unter den ausgestellten Dingen liegen, denn
mit den abgestoßenen Ecken und dominierenden
Brauntönen wirkt das Buch wie ein Relikt aus dieser
Zeit.
Begegnung mit der fliegenden Maus
Nun wird das Buch vorgelesen, und die Bilder
werden gezeigt. Dazu eignet sich die App zu „Lind-
bergh“ (vgl. Kuhlmann 2015), die z. B. über ein
Tablett und eine interaktive Tafel gezeigt werden
kann. Möglich ist es aber auch, die Bilder über einen
Beamer zu zeigen oder im Kreis zu präsentieren.
Wichtig ist dabei nur, dass die Kinder genügend
Zeit haben, die Bilder zu betrachten. Hilfreich kann
es auch sein, an einigen Stellen innezuhalten und
Fragen zum Verlauf der Geschichte zu stellen.Wie
könnte es weitergehen? Was hat die Maus vor?
11. | 9Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 3: Junge beim Lesen einer Hörspielszene
Abb. 4: Kinder beim Verfassen von Zeitungsberichten
Wer könnte ihr helfen? Je nach weiterem Vorgehen
kann auch an einer bestimmten Stelle im Buch erst
einmal Schluss gemacht werden, damit die Kinder
in ihrer kreativen Arbeit zum Buch nicht zu sehr von
dessen Ende beeinflusst werden.
Produktive Weiterführung I: Hörspiel
Katja Eder schreibt zu den Besonderheiten des Bu-
ches:„Das Bilderbuch arbeitet in seiner Dramatur-
gie mit filmischen Erzählweisen und ist von daher
ideal, um sich diese Bildsprache bewusst zu machen
und für die aktive Gestaltung zu nutzen“ (vgl. Eder
2015, S. 10). Die filmischen Erzählweisen werden
bereits im Buchtrailer und in der App deutlich
(Trailer unter www.torben-kuhlmann.com; App von
Kuhlmann 2015). Sie eignen sich z. B. zum Vertonen
einzelner Szenen. In kleinen Gruppen bekommen
die Kinder jeweils den Text einer Szene, der für das
Leseniveau der Kinder noch leicht bearbeitet wurde.
Die Kinder üben zunächst die Szene zu lesen und
vorzulesen. Dabei werden unterschiedliche Mög-
lichkeiten der Betonung ausprobiert und im Text
markiert. Zusätzlich überlegen die Kinder, wie sich
die kleine Maus in einzelnen Momenten gefühlt ha-
ben könnte bzw. welche Gedanken sie hatte, denn
diese Emotionen werden im Buch wenig herausge-
arbeitet. Solche Gedanken werden nun ebenfalls
gesammelt und an passenden Stellen im Text er-
gänzt – als kleine Ausrufe und Gedankenfetzen der
Maus – so dass die Kinder den Text nicht nur repro-
duzieren, sondern auch eigene Formulierungen und
Gedanken einbringen können.
Literarisches Lernen wird an dieser Stelle durch das
Einfühlen in die Figur in der jeweiligen Situation
möglich, die ein vertiefendes Verständnis der Ge-
schichte fördert.
Im Anschluss werden zu den Szenen auch passende
Geräusche ausgewählt. Dazu steht den Kindern ein
Tisch mit Instrumenten und Alltagsgegenständen
(z. B. Föhn, Papier, Flasche mit Wasser und Schüs-
sel) zur Verfügung, die von allen Gruppen genutzt
werden können. So erarbeiten die Kinder eine
Hörspielszene, die mehrmals geprobt und schließ-
lich eingesprochen (Abb. 3) wird. Die Aufnahmen
werden dann im Anschluss zu einem Hörspiel des
gesamten Buches zusammengestellt. Die Kinder
sind erstaunt darüber, wie ausdrucksstark sie in der
Aufnahme der Geschichte Leben einhauchen.
Produktive Weiterführung II: Zeitung
Eine weitere Möglichkeit, sehr differenziert an das
Buch anzuknüpfen, ist die gemeinsame Produktion
einer Zeitung. Diese enthält unterschiedliche Text-
sorten, verschiedene „Artikel“. Die Kinder berichten
über die Ereignisse in Hamburg und denken sich
Schlagzeilen aus (Abb. 4).Weiterhin gibt es Reise-
berichte der fliegenden Maus (die auch zu anderen
Orten fliegt), Rätsel,Witze und Bilder. Hier ist es
möglich, dass Kinder mit unterschiedlichen Lern-
voraussetzungen gemeinsam an einem Gegen-
stand, der Zeitung, arbeiten. Die Ergebnisse werden
dann zusammengefasst und im besten Falle auch
eingescannt und vervielfältigt an die Klasse oder an
die ganze Schule verteilt.
12. 10 | Positionen | Projekte | Publikationen
Produktive Weiterführung III: Fluggeräte
Eine andere Möglichkeit ist, Kinder nun selbst in die
Fußstapfen der Maus treten und eigene Fluggeräte
erfinden zu lassen. Auch aus Verbrauchsmaterialien
wie Tetra-Paks, Joghurtbechern und Trinkstäbchen
lassen sich faszinierende Flugmaschinen konstru-
ieren, die natürlich auch einen Namen und einen
genauen technischen Steckbrief brauchen. Zahlrei-
che Anregungen finden sich auf dem Vorsatzpapier
im Bucheinband des Bilderbuches.
Weiterhin können unterschiedliche Varianten
von Faltfliegern aus Papier erprobt werden, deren
Flugtauglichkeit in einem klasseneigenen Wett-
bewerb auf dem Schulflur oder dem Pausenhof
erprobt wird.Wer gleitet am ruhigsten? Wer fliegt
am weitesten? Welcher Flieger dreht die tollsten
Pirouetten?
Die kleine Geschichte der Fliegerei, die im Anhang
des Bilderbuches zu finden ist, kann hier noch eini-
ge historische Anregungen geben.
Weitere Anregungen
Zwei schnell umsetzbare Ideen zum Schluss: Zum
einen enthält das Bch immer wieder doppelseitige
Bilder, die sich zum Nachdenken über das Bild und
zum Weiterschreiben eignen. So kann das Maus-
fallenbild (Abb. 5) dazu anregen, die Gedanken der
Maus aufzuschreiben. Dazu bekommen die Kinder
Post-It-Zettel in Form von Gedankenblasen, auf die
sie schreiben und die Gedanken dann an das Bild
kleben können. Das Bild mit der Maus im Flugzeug
(Abb. 6) hingegen regt dazu an, darüber nachzu-
denken, wohin die Maus wohl fliegen wird.Wird
es New York sein oder eine andere Stadt? Was wird
sie dort erleben? Wie wird sie dort aufgenommen?
Diese Fragen regen zum Schreiben von Geschichten
und kleinen Reiseberichten zum Buch an.
Literarisches Lernen an anspruchs-
vollen Büchern
„Lindbergh. Die Geschichte einer fliegenden Maus“
ermöglicht an ganz unterschiedlichen Stellen und
in vielfältiger Weise literarisches Lernen. Dabei sind
Thema und auch Umsetzung im Bilderbuch durch-
aus sehr anspruchsvoll. Die Bilder sind konsequent
Abb. 5: Was denkt die Maus?
Abb. 6: Wohin geht die Reise?
in historisierenden Brauntönen gehalten, hinzu
kommen die unterschiedlichen Perspektiven und
der reiche, aber ungewöhnliche Sprachstil. Diese
Gestaltungsmittel fordern die Kinder bei der Rezep-
tion heraus und faszinieren gleichzeitig. Es gelingt
ihnen, in eine andere Zeit einzutauchen, sich in das
Leben einer kleinen Maus mit einem großen Traum
vom Fliegen hineinzuversetzen und die Geschichte
weiterzudenken. Produktiv und handelnd wird das
Buch erschlossen, so dass literarische Kompetenzen
in ganz unterschiedlichen Aspekten wie z. B. mit der
Perspektivübernahme oder dem Bilden von Vorstel-
lungen zum Buch erworben werden. Das Bilderbuch
wird zum vielfältigen Erfahrungsraum und Rahmen
einer intensiven Eroberung des faszinierenden
Themas, in dem sich sprachliche, literarische und
sachkundliche Lernbereiche eng miteinander ver-
knüpfen und Faszination erzeugen. Eine produktive
Erfahrung.
13. | 11Positionen | Projekte | Publikationen
Primärliteratur
Kuhlmann,Torben: Lindbergh. Die Geschichte einer flie-
genden Maus. Zürich: NordSüd Verlag 2014.
Kuhlmann,Torben: Lindbergh. Die Geschichte einer flie-
genden Maus. App. Hamburg: Oetinger Verlag 2015
Jurybegründung zur Nominierung für den Deutschen
Jugendliteraturpreis 2015 unter: http://www.djlp.ju-
gendliteratur.org/bilderbuch-1/artikel-lindbergh-3995.
html
Eder, Katja:Von fern und nah – Bildsprache und Sprach-
bilder. Material zu den Praxisseminaren Preisverdächtig
des AKJ, 2015 unter: http://www.jugendliteratur.org/
www_global/downloads/praxiskonzepte/DJLP2015_
Download_Praxiskonzept_Bilderbuch.pdf
Informationen zum Projekt „Literanauten überall“:
http://www.literanauten.org
Trailer und Film zur Entstehung von Lindbergh unter:
www.torben-kuhlmann.com/lindbergh/
14. 12 | Positionen | Projekte | Publikationen
Maria Carmela Marinelli
Mehrsprachiges Erzählen im Unterricht
Xenia ist 9 Jahre alt, und Russisch ist ihre Mutter-
sprache. Als ich in die dritte Klasse einer Berliner
Grundschule kam und den Kindern ankündigte, dass
ich an diesem Tag ein russisches Märchen erzählen
werde, sprang sie plötzlich auf und sagte begeistert:
„Ich kann Russisch!“.„Ich auch“ fügte Leonid schüch-
tern hinzu. Ich ernannte beide Kinder zu Sprach- und
Kulturexperten des Tages. Sie dürften die Anfangs-
und Schlussformeln auf Russisch sprechen,Wörter ins
Russisch übersetzen und kurze Dialoge übernehmen.
Ich war berührt, wie ernst beide Kinder ihre Aufgabe
nahmen und sich mit Begeisterung an der Geschichte
beteiligten.„Wann erzählst du ein Märchen aus Po-
len?“, fragte ein Kind am Ende der Stunde.„Und aus
Arabien?“, fragte gleich danach ein anderes Kind.
Sprachliche Vielfalt gehört zum Alltag schulischer
Einrichtungen. Diese wird aber von den mehrspra-
chig aufwachsenden Kindern nicht immer bewusst
wahrgenommen oder von den Lehrenden einge-
setzt. Mit diesem Beitrag möchte ich von meiner
Erfahrung als mehrsprachige Erzählerin in Kinder-
gärten und Grundschulen berichten und Impulse
geben, um eine Erzählstunde mit Fokus auf die
Mehrsprachigkeit zu gestalten.
Erzählen: die Kunst des Dialogs
Das Erzählen und Zuhören von Geschichten kann
die sprachliche Kompetenz mehrsprachig aufwach-
sender Kinder zur Geltung bringen. Diese Mög-
lichkeit liegt dem Wesen dieser uralten Kunstform
zugrunde: ihrer dialogischen Natur.
Erzählen ist eine elementare dialogische Form sinn- und ord-
nungsstiftender Weltaneignung und der Strukturierung von
Erfahrungen, d es Austausches über und der Konstruktion
von Wirklichkeit(en) (Wardetzky, 2017, S. 25).
Diese unmittelbare und lebendige Interaktion
zwischen dem Erzählenden und dem Publikum wird
umso lebendiger, wenn Kinder zuhören: sie antwor-
ten mit Begeisterung, ergänzen Sätze oder Reime,
sprechen und machen Gesten nach oder begleiten
die Geschichte rhythmisch. Diese sehr aktive In-
teraktion findet auch auf einer rein intellektuellen
Ebene statt, indem sie assoziieren, gedanklich er-
weitern und verbinden, deuten, Hypothesen stellen
und Lücken füllen.Wie aktiv und kreativ die Betei-
ligung der Kinder am Zuhören ist und wie unter-
schiedlich die Fantasie arbeitet, um Lücken zu füllen
und Bilder zu vervollständigen, kann anhand von
selbst gemalten Bildern oder gebastelten Figuren
visualisiert werden, die nach einer Erzählstunde an-
gefertigt werden können. Jedes Mal ist es für mich
eine große Freude zu sehen, wie einzigartig die Ein-
bildungskraft der Kinder ist.Wird von einem Schloss
erzählt, wird von den Kindern kein Bild gemalt oder
gebastelt, das einem andern gleicht (Abb. 1-3).
Abb. 1-3:„Wird von einem Schloss erzählt, wird von den Kindern
kein Bild gemalt oder gebastelt, das einem andern gleicht“ (No-
vember 2014, Grundschule in Lorsch).
15. | 13Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 2
Abb. 3
Die dialogische Natur dieser faszinierenden Kunst-
form öffnet zwischenmenschliche Räume, in denen
nicht nur die Fantasie der Kinder, sondern auch
ihre Sprachen sichtbar und hörbar werden können.
Wie geht das praktisch? Es gibt drei Momente in
der Durchführung einer Erzählstunde, in denen die
Mehrsprachigkeit gefördert werden kann:Vor dem
Erzählen, während des Erzählens und nach dem
Erzählen.
Vor dem Erzählen
Sprachschätze hörbar und sichtbar
machen.
Wenn ich zum ersten Mal in eine Klasse komme,
stelle ich mich oft auf Italienisch und auf Deutsch
vor und erzähle den Kindern, woher ich komme und
welche Sprachen ich spreche. Danach frage ich die
Kinder, ob sie neben Deutsch auch andere Sprachen
können, denn,„wenn es um Sprachförderung für
mehrsprachige Kinder geht, sind neben der deut-
schen Sprache auch die Herkunftssprachen der
Kinder zu berücksichtigen“ (Müller-Krätzschmar/
Yörenç 2011, S. 5). Diese sollen nicht als Hindernis,
sondern eher als eine unglaubliche Bereicherung
für alle wahrgenommen werden. Jedes Mal freue
ich mich zu sehen, wie dankbar die Kinder auf
meine Frage reagieren: einige fangen sofort an, alle
Sprachen aufzulisten, die sie mehr oder weniger
kennen; andere fangen an, über ihren Urlaub zu
berichten; andere sagen ein paar Wörter aus einer
anderen Sprache. Jedes Kind versucht sich nach
seinen Möglichkeiten einzubringen.
Durch diesen Austausch bekomme ich einen
Überblick über die Sprachkonstellation der Klasse,
welche mir bei regelmäßigen Terminen als Grund-
lage für weitere Erzählaktionen dienen können, wie
zum Beispiel Sprachenexpertinnen und -experten
des Tages ernennen, die mir in der Erzählstun-
de beistehen können. Ziel ist es nicht, lebendige
Wörterbücher parat zu haben, die alle Fragen
beantworten können, sondern eher, ihr sprachli-
ches Selbstbewusstsein durch das Wertschätzen
ihrer Familiensprache zu stärken. Außerdem zeige
ich den Kindern dadurch, dass ich sprachlich nicht
alles verstehe, und bitte sie um ihre Unterstützung.
So ermutige ich die Kinder, ihre Sprachkompetenz
zu zeigen.Was sie noch nicht wissen, können sie
später bei ihren Eltern erfragen oder im Wörterbuch
nachschlagen.
Die gesammelten Sprachschätze können auch in
einem Sprachportrait visualisiert werden (nach
einer Idee von H. J. Krumm, zit. in Küpelikilink/Tasan
2012, S. 18). Die Kinder können sowohl eine vorge-
fertigte Körpersilhouette bekommen oder auch ihre
eigenen Körperumrisse auf großen Papierbögen
malen. Die Kinder ordnen zuerst die Sprachen, die
sie sprechen, kennen oder lernen möchten, einer
bestimmten Farbe zu. Danach malen sie ihre Kör-
perteile mit der entsprechenden Farbe aus. Diese
Aufgabe kann durch folgende Fragen angeleitet
werden: Kopf – in welcher Sprache denkst du? Herz
– in welcher Sprache fühlst du? Bauch – was isst du
gerne? Füße – wo warst du schon mal im Urlaub?
Lippen – welche Sprachen kennst du? Hände – in
16. 14 | Positionen | Projekte | Publikationen
welcher Sprache kannst du schreiben? Diese Zuord-
nungen können natürlich variieren bzw. im Vorfeld
mit den Kindern festgelegt werden. Auch Lehrerin-
nen und Lehrer können ein eigenes Sprachportrait
von sich selbst anfertigen und anschließend über
den „Sitz“ verschiedener Sprachen in ihrem Körper-
bild sprechen, wie zum Beispiel:„Meine Lippen sind
deutsch und italienisch, weil ich beide Sprachen
sprechen kann. Mein Kopf ist italienisch, weil ich in
Gedanken oft bei meiner italienischen Familie bin;
mein Herz ist türkisch, weil ich viele Freunde in der
Türkei habe; meine Augen sind spanisch, weil ich oft
spanische Bücher lese. Meine Ohren sind arabisch,
weil ich den Klang dieser Sprache sehr schön finde.“
Anhand dieser bunten Sprachkonstellation kann
man sich mit den Kindern auf eine Sprache der
Woche einigen und jeweils ein Märchen aus dem
ausgewählten Kulturraum erzählen. In der Woche
könnten die Kinder auch die Gruß- und Verabschie-
dungsformeln in der jeweiligen Sprache lernen und
diese die ganze Woche im Unterricht einsetzen
(nach einer Idee von Küpelikilink/Tasan 2012: 11).
Die Sprachschätze einer Klasse hörbar und sicht-
bar zu machen, ist mir sehr wichtig, nicht nur um
Erzählspiele für eine bestimmte Sprachkonstellati-
on zuschneiden zu können, sondern vor allem um
Zugang zu allen Kindern zu finden.
Anfangs- und Schlussformeln
Anfangs- und Schlussformeln in Märchen interes-
sieren mich sowohl als Übersetzerin als auch als
Erzählerin persönlich. Ich liebe es, zwischen Spra-
chen zu springen,Wörter zu pflücken und Neues
zu lernen. Als Erzählpädagogin finde ich es einen
wichtigen Moment des Zusammenkommens.Vor
der Erzählstunde kann man sich über Anfangs- und
Schlussformeln von Märchen in unterschiedlichen
Kulturkreisen unterhalten oder die Kindern zu Re-
cherchen anleiten.
Auf Türkisch ist zum Beispiel die Anfangsformel
wie eine kleine unglaubliche Vorgeschichte, die
den Zuhörenden zum Erstaunen bringt und auf
das Merkwürdige vorbereitet: Es gab einen, es gab
keinen.Vor langer langer Zeit, als das Sieb noch im
Heu lag, als die Flöhe Barbiere waren, als die Kame-
le Ausrufer waren, als ich die Wiege meines Vaters
hin und her schaukelte. Auf Koreanisch fangen die
Märchen meistens mit folgender Formel an Es war
einmal, als der Tiger noch Pfeife rauchte und enden
häufig mit dem Schlusssatz So lebten sie glücklich
und zufrieden und sind erst vorgestern gestorben. In
Italien fangen oft Märchen mit Si conta e si rac-
conta – Man zählt und erzählt, an und können mit
lustigen Reimen enden, wie Und waren glücklich
bis zum Ende ihrer Tage(n), und wir sitzen hier mit
knurrenden Magen. Wie fangen Märchen in anderen
Kulturräumen an? Wie klingen sie? Die gesammel-
ten Formeln können dann auf einem großen Plakat
aufgeschrieben und im Klassenraum aufgehängt
werden (Abb. 4 und 5).
Durch Suchen, Fragen, Nachfragen und Recherchie-
ren wird bei den Kindern Neugier für andere Spra-
chen und Kulturräume geweckt. Außerdem lernen
die Kinder über die Sprache und andere Kulturen
nachzudenken, sie miteinander zu vergleichen.
Kurzum, sie beschäftigen sich damit und entwickeln
dadurch eine metasprachliche und metakulturelle
Kompetenz.
Abb. 4 & 5:„Die gesammelten Formeln können dann auf einem
großen Plakat aufgeschrieben werden und im Klassenraum aufge-
hängt werden“ (Oktober 2016, Berliner Grundschule).
17. | 15Positionen | Projekte | Publikationen
Während des Erzählens
Eine Geschichte kann fortlaufend mehrsprachig er-
zählt werden. Mehrsprachige Lehrkräfte können die
Geschichte eventuell allein mehrsprachig erzählen,
während einsprachige Lehrkräfte im Tandem mit
einem Kind, einem Elternteil oder einem mehrspra-
chigen Bekannten erzählen können.
Wie kann eine Geschichte im Tandem fortlaufend
mehrsprachig erzählt werden? Welche Stellen
bieten sich an, eine andere Sprache ins Erzählen
einzufädeln, ohne dass sich die Kinder überfordert
fühlen oder sie sogar das Zuhören abbrechen?
Wiederholungen
Volksmärchen haben ein klares dramaturgisches
Muster, das durch wiederkehrende Abfolge und
Sprachformeln gekennzeichnet ist: drei Nächte
hintereinander schläft der verlaufene Prinz im Wald,
und der Wind weht, und die Wölfe heulen (in Schö-
ne Jeanne, französisches Märchen); dreimal geht
der Held durch den Wald, den Berg hinauf zum Orco
und den Berg hinab zum König zurück (in Corvetto,
italienisches Märchen;) dreimal taucht die Haupt-
figur ins Meer um, den Meeresgrund zu erkunden
(in der sizilianischen Legende Colafisch); dreimal
befragt Schneewittchens Stiefmutter den Spiegel.
Diese Wiederholungen bieten sich wunderbar für
mehrsprachiges Erzählen an.
Im italienischen Märchen Quäckquäck! Rühr dich
nicht weg
1
von Italo Calvino – der internationalen
Variante des deutschen Märchens Die goldene Gans
der Brüder Grimm – macht sich der Sohn eines ar-
men Flickschusters auf den Weg zur Prinzessin, die
nicht lachen konnte. Unterwegs begegnet er drei
Mal hintereinander jeweils einer armen alten Frau:
„Nachdem er eine Weile gegangen war, begegnet er
einer armen Frau, die sich mühsam auf einen Stock
gestützt voranschleppte“ (Calvino, 1998, S. 106). Die
erste Frau hat Hunger, die zweite friert und die drit-
te hat Durst.Wird die erste Begegnung auf Deutsch
erzählt und durch erkennbare, klare und präzise
ausgeführte Gesten untermalt, kann die zweite
und dritte Wiederholung in einer anderen Sprache
erzählt werden. Diese Wiederholungen sollten
aber immer durch dieselben erkennbaren, klaren
und präzis ausgeführten Gesten begleitet werden,
damit die Kinder die wiederholten Szenen mit der
ersten assoziieren können. Oft haben mir die Kinder
nach der Geschichte mit Begeisterung berichtet,
dass sie sogar Italienisch verstanden haben! Dieses
Prinzip kann in allen Märchen, in denen sich Situati-
onen, Beschreibungen, Aufgaben oder Handlungen
wiederholen, angewendet werden.
Wenn sich im Laufe der Geschichte Sätze oder
Formeln mehrmals wiederholen, können diese den
Kindern überlassen werden. Im italienischen Mär-
chen Quäckquäck, rühr dich nicht weg soll der arme
Schustersohn „attaccati là“
2
antworten, wenn die
magische Gans „Quaqua“ schreit. Diese Formel wird
insgesamt vier Mal im Laufe der Geschichte wie-
derholt.Wird die erste „Quaquà – attaccati là“ von
mir gesagt, können die anderen Wiederholungen
von den Kindern übernommen werden. Sage ich
„Quaquà“, sollen die Kinder im Einklang „Attaccati
là“ antworten Diese Möglichkeit, die Kinder spie-
lerisch eine Kette von unbekannten Wörtern und
deren Lauten nachsprechen zu lassen, weckt in
ihnen das Interesse an Sprachen und die Freude am
Umgang mit diesen.
Direkte Rede
Beim direkten Reden wird die Sprache in Aktion
erlebt: sie hat eine Intention und ist in einen Kon-
text eingebettet. Ich greife oft zur direkten Rede,
um zwischen zwei oder mehreren Sprachen umzu-
schalten. Stellt eine Figur eine Frage auf Deutsch,
lasse ich die Antwort auf Italienisch sprechen. Oder
andersrum. Dabei untermale ich die direkte Rede
auf Italienisch mit Körpersprache, Mimik, Gestik
und Intonation, damit das Verständnis gewährleis-
tet wird.
In dem italienischen Märchen Die Schule von Sala-
manca von Italo Calvino (1998, S. 282), zum Beispiel,
fragen zwei Wanderer einen Eremiten, wo die Schu-
le von Salamanca ist.Wird die Frage auf Deutsch
1
Calvino, Italo (Hrsg.): Die Braut, die von Luft lebte und ande-
re italienische Märchen. DTV, München 1998:104ff.
2
Quäckquäck, kleb an!
18. 16 | Positionen | Projekte | Publikationen
formuliert, erkennen die Kinder das Sprachszenario
„Wegweisung“ und erwarten eine zur Situation
passende Antwort. Ist die Situation klar, kann der
Eremit durchgehend auf Italienisch bzw. in einer
anderen Sprache sprechen. Die Kinder verstehen
zwar den Inhalt nicht, aber sie wissen, dass der alte
Mann den zwei Wanderern den Weg zur Schule be-
schreibt. Die Kinder werden „in der Luft gelassen“.
In dieser Art Luftblase, gefüllt mit einer langen
Kette von unbekannten Lauten, bleiben aber die
Kinder nicht inaktiv, sondern sie versuchen aus mei-
ner Körpersprache die Bedeutung zu erschließen,
sie denken und rätseln mit, damit die Geschichte
weiter funktionieren kann.
Nach der Begegnung mit dem Eremiten setzen die
zwei Wanderer ihre Reise fort. Dort wird die Erzäh-
lung auf Deutsch wieder aufgenommen und der
Weg beschrieben, den die zwei Wanderer zurückle-
gen müssen, um die Schule zu finden und den Meis-
ter zu treffen. Dabei untermale ich die Erzählung
mit denselben Gesten, die ich vorher benutzt hatte,
als der Eremit gesprochen hat.„Ahah“ rufen die
Kinder erleichtert! Die Spannung ist endlich gelöst,
die Kinder hören auf zu rätseln und können meine
Gesten entschlüsseln, ihre Vermutungen bestätigen
bzw. verwerfen und den roten Faden wieder auf-
nehmen.
Immer wieder bin ich erstaunt, wie viel die Kinder
von dem verstehen, was sie auf Italienisch von mir
hören! Wie Nietzsche sagt:„Das Verständliche an
der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton,
Stärke, Modulation,Tempo, mit denen eine Reihe
von Worten gesprochen wird – kurz die Musik hin-
ter den Worten, die Leidenschaft hinter der Musik,
die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also,
was nicht geschrieben werden kann (Nietzsche, zit.
nach Wardetzky 2017, S. 25).
Sollen die Lehrkräfte die Erzählstunde im Tandem
mit einem Kind aus der Klasse oder mit einem
Elternteil oder Bekannten gestalten, ist bei direkten
Reden zu empfehlen, vor der Erzählstunde festzule-
gen, wann eine Figur in welcher Sprache sprechen
soll.
Kumulative Märchen oder Ketten-
märchen
Kettenmärchen sind formelhaft aufgebaute Ge-
schichten, die Motive oder Handlungsteile wieder-
holend aneinanderreihen und dadurch Episoden
bilden, wie das russische Märchen Die Pfannkuchen
oder Läuschen und Flöhchen der Brüder Grimm
(KHM30). Ich erzähle gerne kumulative Geschich-
ten, denn sie öffnen einen großen Raum für den
Dialog mit den Kindern: diese rätseln gerne mit,
wie die Geschichten weitergehen, und erzählen
immer voller Begeisterung die aneinandergereihten
Episoden mit, wie zum Beispiel:„bin dem Großvater
entwischt, bin der Großmutter entwischt, bin dem
Hasen entwischt, bin dem Wolf entwischt, bin dem
Bären entwischt, und dir, Füchsin, zu entwischen ist
auch nicht schwer“ in dem russischen Märchen Die
Pfannkuchen
3
.
Wie kann man ein Kettenmärchen mit Fokus auf
Mehrsprachigkeit erzählen? Nehmen wir als Bei-
spiel das englische Märchen Das widerspenstige
Schwein
4
. Da geht es um eine alte Frau, die versucht,
ihr Schwein zu überreden, über den Zaun zu sprin-
gen. Das Schwein will aber nicht. Da geht die alte
Frau zum Hund und befiehlt ihm, das Schwein zu
beißen, denn es will nicht über den Zaun springen.
Der Hund aber will das Schwein nicht beißen. So
geht die Alte zum Stock und befiehlt ihm, den Hund
zu schlagen,„denn der Hund will das Schwein nicht
beißen, das Schwein will nicht über den Zaun, und
ich werde heute vor Nacht nicht nach Hause kom-
men“. Der Stock weigert sich, den Hund zu schla-
gen, und die alte Frau befiehlt dem Feuer, den Stock
zu verbrennen,„denn der Stock will den Hund nicht
schlagen, der Hund will das Schwein nicht beißen,
das Schwein will nicht über den Zaun, und ich wer-
de heute vor Nacht nicht nach Hause kommen.“ Die
Kette baut sich immer weiter nach diesem Muster
auf, bis die alte Frau es am Ende doch schafft, das
Schwein zu überreden und noch vor Nacht nach
Hause zu kommen.
3
Hähnchen, Goldkämmchen. Russische Volksmärchen. Der
Kinderbuchverlag Berlin, S.14.
4
Kellner, Anna: Englische Märchen.Wien, Leipzig, Berlin,
Stuttgart:Verlag der „Wiener Mode“, [1898], S. 158-162, In:
http://www.zeno.org/Märchen/M/England/Anna+Kellner%
3A+Englische+Märchen/Das+widerspenstige+Schwein
19. | 17Positionen | Projekte | Publikationen
Ich erzähle von der alten Frau und dem Schwein
und setze eine Pause dort, wo die Kette beginnt,
und zwar beim Hund. Für die Kinder, die der deut-
schen Sprache noch nicht mächtig sind, oder wenn
ich Kettenmärchen zweisprachig erzähle, versuche
ich, die Geschichte mit Objekten oder Bildern zu
begleiten (Abb. 6), um das Verstehen zu erleichtern.
„Wie heißt „Hund“ auf Türkisch?“, frage ich die Kin-
der.„Und auf Portugiesisch?“ Je nachdem, welche
Sprachen in einer Klasse vertreten sind, lasse ich
das erste Glied der Kette in so viele Sprachen wie
möglich übersetzen. Dabei versuche ich die Wörter,
die mir die Kinder „schenken“, selber nachzuspre-
chen. Dabei kann es sein, dass sich nicht alle Kinder
sofort trauen, ihre Familiensprache zu sprechen:
einige zögern, andere sind schüchtern und schwei-
gen. Ich lasse die Kinder immer frei entscheiden, ob
sie ihrer Klasse das Wort „schenken“ wollen oder
nicht. Nachdem ich die Wörter gesammelt habe,
lasse ich die Kinder diese nachsprechen.„Wie geht
es mit der Geschichte weiter? Wen bittet die alte
Frau um Hilfe?“, frage ich die Kinder. Dabei gibt es
keine falschen Antworten, denn es geht darum,
dass die Kinder ihre Vorstellungskraft frei laufen
lassen und ohne Druck nach Lösungen suchen kön-
nen. Anschließend verrate ich den Kindern, wie die
englische Version der Geschichte weitergeht, und
Abb. 6:„Für die Kinder, die der deutschen Sprache noch nicht
mächtig sind oder wenn ich Kettenmärchen zweisprachig erzähle,
versuche ich, die Geschichte mit Objekten oder Bildern zu beglei-
ten“ (Juli 2016, Asylothek, Berlin. Foto von Dietmar Lenz).
erzähle den nächsten Handlungsteil bis zum nächs-
ten Glied, dem Stock. Da lege ich wieder eine Pause
ein und frage die Kinder noch mal, ob sie wissen,
wie das Wort „Stock“ in ihrer Familiensprache heißt.
Dieses Spiel von Fragen und Nachfragen, Sammeln
und Nachsprechen kann sich bei jedem Glied des
Kettenmärchens bis zum Ende der Geschichte wie-
derholen. Im nächsten Punkt wird darauf eingegan-
gen, wie diese Wörter für die weitere Bearbeitung
des Märchens eingesetzt werden können.
Nach dem Erzählen
Ziel der Nachbereitung einer Erzählstunde ist es,
sich der Geschichte spielerisch zu nähern und diese
frei nacherzählen zu können.
Die Nachbereitung kann durch einen niederschwel-
ligen Input eingeleitet werden:Was hat euch am
besten gefallen? Was am wenigsten, und warum?
Was ist aus der Figur geworden?
Kinder haben immer viel zu sagen und zu fragen,
denn sie sind noch in der Geschichte gefangen, und
ihre Augen sehen noch „fern“. Nach diesem Aus-
tausch kann man anfangen, mit dem Märchen zu
spielen. Folgende Ideen sind für eine Erzählstunde
mit Fokus auf die Mehrsprachigkeit angepasst und
basieren sowohl auf meinen mehrmals erprobten
und erfolgreichen Lieblingsspielen mit den Kindern,
als auch auf denen von anderen Kolleginnen und
Kollegen (vgl. Küpelikilink/Tasan, 2012).
Nach dem Sturm kommt die ... stille Post
Ich verteile Zettel und Stifte an die Kinder. In einer
Minute sollen sie nach dem Prinzip „ein Wort – ein
Zettel“ alle Wörter aufzuschreiben, die sie aus dem
Märchen herausgehört haben, wie zum Beispiel
Hund, Stock,Wasser, Feuer, Kuh, Maus, Katze. Im
Sitzkreis gehen wir alle Wörter durch und, soweit
wir können, fügen wir den aufgeschriebenen Be-
griffen die Übersetzung in einer anderen Sprache
hinzu (oder auch in mehreren). Die Übersetzungen
werden dann zusammen laut ausgesprochen. Die
Zettel bleiben sichtbar auf dem Boden, und nun
kann das Spiel „stille Post“ beginnen. Ein Kind wählt
ein Wort aus dem Wortschatz aus, der auf dem Bo-
den liegt. Das Kind kann frei entscheiden, ob es das
20. 18 | Positionen | Projekte | Publikationen
Wort auf Deutsch oder in einer anderen Sprache
weiterflüstern will. Es geht nicht darum, ein Wort
perfekt auszusprechen, sondern mit den Sprachen
und anderen Lauten zu spielen und dabei Spaß zu
haben, selbst wenn das Wort am Ende nicht mehr
zu erkennen ist!
Memory
Das Prinzip von Memory-Spiel ist allen bekannt.
Ein Kind verlässt das Klassenzimmer, die anderen
bleiben drinnen, arbeiten zu zweit und bilden ein
Sprachenpaar. Jedes Paar einigt sich auf ein Wort
und eine Geste, die das Wort untermalt, zum Bei-
spiel „Gatto“ – „Katze“/„Kater“ und die Geste, sich
die Pfote zu lecken;„Topolino“ – „Mäuschen“ und
die Geste, Käse zu knabbern. Beide Kinder führen
die gleiche Geste auf und sprechen das Wort in
zwei unterschiedlichen Sprachen.Wenn alle Paare
fertig sind, wird das Kind, das den Raum verlassen
hat, reingerufen. Seine Aufgabe ist es, die Paare zu
finden. Man könnte den Schwierigkeitsgrad erhö-
hen, indem sich die Sprachpaare eine Formel oder
einen Satz merken, wie „Wasser, lösch das Feuer“ –
„acqua, spegni il fuoco“.
Mehrsprachiger Märchensalat
Nach einer Idee von Wilma Osuji
5
(2013, S. 11), welche
das Prinzip von „Obstsalat“ bei Märchen angewen-
det hat, habe ich folgendes Spiel für eine mehrspra-
chige Erzählstunde weiterentwickelt.
Die Kinder sitzen im Kreis. Ich ordne den Kindern
reihum drei (oder mehrere) Märchenbegriffe aus
der zuvor gehörten Geschichte zu.Von diesen drei
Begriffen kann einer oder alle drei in einer anderen
Sprache ausgewählt werden. Aus dem italienischen
Märchen „Quäckquäck, rühr dich nicht“ kann man
zum Beispiel folgende Begriffe auswählen:„prin-
cipessa“ (Prinzessin),„oca“ (Gans),, und „re“ (König).
Die Begriffe lasse ich mehrmals nachsprechen, und
anschließend schreibe ich diese an die Tafel. Nun
kann das Spiel beginnen. Ich stehe in der Mitte
und rufe zum Beispiel:„oca“! Alle Kinder, denen die
Figur „oca“ zugeordnet wurde, sollen kreuz und
quer durch den Stuhlkreis laufen und den Stuhl
wechseln. Mein Ziel ist, einen freien Stuhl zu finden,
während die Kinder ihre Plätze wechseln.Wer kei-
nen Platz mehr hat, soll in die Mitte gehen und ein
neues Wort rufen.Wird das Wort „Märchensalat“
gerufen, tauschen alle Kinder die Plätze.
Pinakothek-Rundgang
Um das Gehörte zu vertiefen, bitte ich die Kinder,
im Unterricht oder zu Hause ein Bild aus der Ge-
schichte zu malen oder zu basteln (Abb. 7-9).
5
Osuji,Wilma (2013): Die 50 besten Märchenspiele. Don
Bosco Verlag.
Abb. 7-9:„Die Kinder bringen ihre gemalten Bilder und Bastelar-
beiten mit und beschreiben den anderen, was sie gemacht haben“
(Mai 2017, Leipziger Grundschule).
Abb. 8
21. | 19Positionen | Projekte | Publikationen
Abb. 10:„Anschließend legen die Kinder ihre Arbeit vor ihren
Füßen hin, und im Außenkreis rotieren sie um die Bilder herum, in
einer Art Rundgang in einer Gemäldegalerie“ (Mai 2017, Leipziger
Grundschule, Foto von Maria Carmela Marinelli).
Abb. 9
Abb. 11:„Nun liegt das ‚Storyboard‘ der Geschichte auf dem Boden„
(Mai 2017, Leipziger Grundschule, Foto von Maria Carmela Mari-
nelli).
Bei regelmäßigen Terminen beginne ich jede Erzähl-
stunde mit einem Pinakothek-Rundgang. Die Kinder
bringen ihre gemalten Bilder und Bastelarbeiten
mit und beschreiben den anderen, was sie gemacht
haben. Dabei achte ich immer auf Freiwilligkeit.
Wer nicht will, soll einfach zuhören. Anschließend
legen die Kinder ihre Arbeit vor ihren Füßen hin,
und im Außenkreis rotieren sie um die Bilder her-
um, in einer Art Rundgang in einer Gemäldegalerie
(Abb. 10). Damit haben alle die Möglichkeit, sich die
Bilder der anderen aus der Nähe anzuschauen.
Wenn die Runde fertig ist, sind die Kinder zurück an
ihren Plätzen. Hier gebe ich den Kindern die Mög-
lichkeit, zu kommentieren, was sie gesehen haben.
Die nächste Aufgabe ist es, innerhalb von drei
Minuten die Bilder an einer Linie oder einem Faden
chronologisch anzuordnen. Nun liegt das „Story-
board“ der Geschichte auf dem Boden (Abb. 11). Die
gesammelten Wörter aus dem Spiel „Stille Post“
können hier den entsprechenden Bildern auf dem
Boden zugeordnet werden. Nun kann die Geschich-
te Bild für Bild nacherzählt werden. Ein Kind fängt
an und erzählt die Geschichte, soweit es kann oder
will. Das nächste Kind ist dran und setzt die Erzäh-
lung fort, bis die Geschichte zu ihrem Ende kommt.
Die Kinder können dabei entscheiden, ob sie ein
Wort oder eine Formel aus einer anderen Sprache,
die neben dem entsprechenden Bild parat liegt, in
die Nacherzählung einbauen wollen.
Die gemalten oder gebastelten Bilder können am
Ende in einer Vitrine ausgestellt werden. Jedes
Kunstwerk kann mit einem Schild in verschiedenen
22. 20 | Positionen | Projekte | Publikationen
Sprachen versehen werden (nach einer Idee von
Küpelikilink/Tasan, 2012, S. 12).
Das mehrsprachige Orchester
Kettenmärchen können so nachbearbeitet werden,
dass die Wiederholungen zusammen mit den Kin-
dern in einem „mehrsprachigen Orchester“ erzählt
werden können.Wird jedes Glied der Kette jeweils
einem oder mehreren Kindern zugeordnet, kann
das Konzert beginnen. Dabei kann man die Kinder
dazu ermuntern, ihre Familiensprache anzuwenden.
Ich fange an, die Geschichte zu erzählen und beim
Zurückspulen der Kette, wie zum Beispiel „Ochs,
Ochs, trinke das Wasser, denn das Wasser will das
Feuer nicht löschen (1. Glied), das Feuer will den
Stock nicht verbrennen (2. Glied), der Stock will den
Hund nicht schlagen (3. Glied), der Hund will das
Schwein nicht beißen (4. Glied), das Schwein will
nicht über den Zaun (5. Glied)“, lasse ich die einzel-
nen Handlungsteile vom zuständigen Kind bzw. von
der zuständigen Gruppe auf Deutsch oder in seiner/
ihrer Familiensprache sprechen. Die Anwendung
der Familiensprachen soll aber immer spontan und
ohne Druck passieren!
Ende
Diese Spiele zur Gestaltung einer Erzählstunde
mit Fokus auf die Mehrsprachigkeit der Kinder
brauchen Zeit und Geduld. Außerdem sollte immer
auf Freiwilligkeit geachtet werden, denn oft sind
mehrsprachig aufwachsende Kinder sehr verunsi-
chert, wenn sie ihre Familiensprache das erste Mal
vor der Klasse sprechen sollen. Die Förderung der
Mehrsprachigkeit an den Schulen ist eher als ein
geduldiger und langsamer Prozess der Öffnung zu
verstehen, in dem das Fragen und Nachfragen als
eine zugrundliegende, gesunde Neugier den ande-
ren gegenüber verstanden werden soll.
Meine goldene Regel lautet, immer zuerst die Lust
am Ausprobieren zeigen und selbst zuerst mitspie-
len. Es hilft, wenn Erwachsene zuerst mitspielen!
Abbildungen
Abb. 1-3:„Wird von einem Schloss erzählt, wird von
den Kindern kein Bild gemalt oder gebastelt, das
einem andern gleicht“ (November 2014, Grundschu-
le in Lorsch).
Abb. 4, 5:„Die gesammelten Formeln können dann
auf einem großen Plakat aufgeschrieben werden
und im Klassenraum aufgehängt werden“ (Oktober
2016, Berliner Grundschule).
Abb. 6:„Für die Kinder, die der deutschen Sprache
noch nicht mächtig sind oder wenn ich Ketten-
märchen zweisprachig erzähle, versuche ich, die
Geschichte mit Objekten oder Bildern zu begleiten“
(Juli 2016, Asylothek, Berlin. Foto von Dietmar Lenz).
Abb. 7-9:„Die Kinder bringen ihre gemalten Bilder
und Bastelarbeiten mit und beschreiben den ande-
ren, was sie gemacht haben“ (Mai 2017, Leipziger
Grundschule).
Abb. 10:„Anschließend legen die Kinder ihre Arbeit
vor ihren Füßen hin, und im Außenkreis rotieren sie
um die Bilder herum, in einer Art Rundgang in einer
Gemäldegalerie“ (Mai 2017, Leipziger Grundschule,
Foto von Maria Carmela Marinelli).
Abb. 11:„Nun liegt das ‚Storyboard‘ der Geschichte
auf dem Boden„ (Mai 2017, Leipziger Grundschule,
Foto von Maria Carmela Marinelli).
23. | 21Positionen | Projekte | Publikationen
Bibliographie
Ansari, Mahadokht/Enßlin, Ute (2003):„Mein Name be-
deutet ‚Geschenk’! Sprachenvielfalt hören, sehen und
verstehen“. In: Preissing, Christa/Petra Wagner (Hg.):
Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vor-
urteilsbewusste Arbeit in Kindergarteneinrichtungen,
Herder.
Küpelikilink, Nicola/Tasan, Meryem (2012): Mehrspra-
chigkeit. Aktionen und Projekte in der Schule, Amt für
multikulturelle Angelegenheit, Frankfurt.
Müller-Krätzschmar, Marita/Yörenç, Bilge (Hrsg.) (2011):
Mehrsprachigkeit zur Entwicklung von Sprachbewusst-
sein – Sprachbewusstsein als Element der Sprachförde-
rung, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulent-
wicklung.
Vorleseangebote mehrsprachig gestalten. Eine Arbeits-
hilfe.Verband Binationaler Familien und Partnerschaf-
ten, 2014.
Wardetzky, Kristin (2017) „Ich lehre nicht, ich erzähle“
(Michel de Montaigne). In:Wardetzky, Kristin/Hübsch,
Nicola (Hrsg.): Zeit für Geschichten. Erzählen in der
kulturellen Bildung. Schneider Verlag Hohengehren,
Waiblingen.
24. 22 | Positionen | Projekte | Publikationen
Jessica Born
GRAPHIC NOVELS ALS KOMPLEXER LERNGEGENSTAND IM
LITERATURUNTERRICHT –
EINE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
MERKMALE VON GRAPHIC NOVELS AM BEISPIEL DES KINDERBUCHES
MEINE MUTTER IST IN AMERIKA UND HAT BUFFALO BILL GETROFFEN
Bis heute gibt es demnach nur sehr wenige Gra-
phic Novels für Kinder. Als ein bekanntes Beispiel
gilt Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill
getroffen von Jean Regnaud und Émile Bravo. Die
deutsche Erstausgabe erschien 2009 im Carlsen
Verlag und wurde ein Jahr später mit dem deut-
schen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinder-
bücher ausgezeichnet.
Wie bei den meisten Graphic Novels liegt auch bei
diesem Werk eine abgeschlossene Handlung vor. Sie
spielt im Frankreich des Jahres 1970 und berichtet
vom Leben des 6-jährigen Jean, der gerade in die
erste Klasse kommt. Er lebt zusammen mit seinem
Vater, seinem kleinen Bruder Paul und dem Kin-
dermädchen Yvette. Jean erhält von der Nachbars-
tochter Michèle Postkarten, die seine Mutter aus
den verschiedensten Ländern der Erde zu schicken
scheint. Im Laufe der Graphic Novel stellt sich Jean
vermehrt Fragen:Wo ist meine Mama? Sehe ich
denn aus wie sie? Was weiß ich noch von ihr? Wieso
ist sie auf Reisen gegangen? Warum bin ich der
Einzige, dem sie schreibt? Erst nach und nach wird
dem Rezipienten ersichtlich, dass die Nachbarin die
Postkarten nur erfunden hat und die Mutter bereits
verstorben ist. Im letzten Kapitel erfährt der Prota-
gonist schließlich selbst auf unsensible Weise von
ihrem Tod.
Die Graphic Novel behandelt Probleme und Sorgen,
denen Kinder im Alltag begegnen wie Schwierigkei-
ten in der Schule oder Streitigkeiten mit Geschwis-
tern, aber auch Trennungs- und Verlusterfahrungen
Abb. 1: Cover: Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill
getroffen (2009)
Als „a form of comic book“ (Eisner, zit. n. Eder
2016, S. 157) bezeichnet Illustrator Will Eisner die
mittlerweile auch auf dem deutschen Buchmarkt
vertretenen Graphic Novels. Der Amerikaner gilt als
Begründer der Gattung, die zu Deutsch als grafi-
scher Roman bezeichnet werden kann, und erreichte
mit seinen comicähnlichen Werken erstmals ein
erwachsenes Publikum.Weitere Autor*innen und
Zeichner*innen schlossen sich seinem Vorbild an
und konzipierten Bilderzählungen, die sich von den
strengen Vorgaben des Comics lösten, komplexere
Handlungen abbildeten und Themen aufgriffen, die
vornehmlich Erwachsene adressierten.
25. | 23Positionen | Projekte | Publikationen
und wie mit diesen umgegangen wird. Damit
erinnert das Werk an den psychologischen Kinder-
roman. Hierin liegt ein Unterschied zu dem tradi-
tionellen Comic: Gegenstand sind komplexe und zu-
meist psychologische Themen, die häufig das Leben
oder einen Lebensabschnitt des Protagonisten zum
Gegenstand machen. Die vielfache Verwendung der
Ich-Perspektive – wie auch in diesem Werk – lässt
die Narrationen darüber hinaus erfahrbarer werden.
Somit ist es wenig verwunderlich, dass eine große
Anzahl der Graphic Novels autobiografische Züge
aufweist. Des Weiteren gehen damit vielschichtige
und wandelbare Figuren und -konstellationen ein-
her, die sich von den stereotypen Charakteren der
Comics lösen.
Graphic Novels zeichnen sich außerdem durch ihre
offene und vielfältige Text-Bild-Konstellation aus.
Die abgebildeten Handlungen und Figuren in Meine
Mutter ist in Amerika sind entweder in umrandeten
Bildfolgen, die an Panels
1
erinnern, dargestellt oder
sind direkt in dem farblichen Hintergrund integ-
riert, wodurch sie so viel Platz einnehmen können,
wie sie eben brauchen. Die erzählenden und be-
schreibenden Passagen befinden sich in isolierten
Blocktexten. Am Comic angelehnt sind die Sprech-
und Gedankenblasen, die z.T. auch nur Bilder und
Symbole enthalten. Die Abbildungen erzählen die
Handlung entweder eigenständig weiter oder er-
Abb. 2: Jeans erster Schultag (Regnaud, Bravo 2009)
gänzen den Text. Man muss schlussfolgernd beide
Ebenen in ihrem Zusammenspiel betrachten, um
einen globalen Textsinn herstellen zu können.
GEGENSTAND DER EMPIRISCHEN
UNTERSUCHUNG
In einer empirischen Untersuchung setzte sich eine
kleine, jahrgangsgemischte Gruppe aus 6 Kindern
einer Köthener Grundschule mit der Graphic Novel
Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill
getroffen auseinander. Nach und nach nahmen sie
sich eigenständig, begleitet von produktiven und
handlungsorientierten Aufgaben, der einzelnen
Kapitel an.
Im Fokus der Beobachtungen stand folgender
Aspekt: Literarische Texte und damit auch Graphic
Novels weisen eine Mehrdeutigkeit auf. Diese
ergibt sich u. a. daraus, dass die Texte Lücken bzw.
sogenannte Leerstellen beinhalten, die erst durch
eine Interpretation des Rezipienten (Inferenzen)
mit Sinn gefüllt werden (vgl. Iser 1990, S. 283f.).
Ähnliches gilt für die in Bilderbüchern, Comics und
Graphic Novels verwendeten Bilder, die aufgrund
ihrer sequenziellen Abfolge stets nur einen Teil der
erzählten Handlung abbilden können (vgl. Uhlig
2014, S. 20). Eine Interpretation der beiden Kommu-
nikationsebenen – des Textes und der Bilder – sieht
schließlich bei jedem Leser*in anders aus, da sie
beispielsweise von den individuellen Vorerfahrun-
gen abhängt. Lang und Führer ergänzen passend zu
der oben vorgestellten Graphic Novel:„Die Kinder
müssen hier nicht nur auf Grund ihrer Lese- und
Sprachkompetenzen Textverständnis erlangen. Hier
muss die Unbestimmtheit des Textes in eine kind-
liche Vorstellung integriert werden“ (Lang/Führer
2017, S. 32). Der Aspekt der Unbestimmtheit erfährt
in Meine Mutter ist in Amerika also einen besonders
hohen Stellenwert. Herausgearbeitet werden sollte
damit, wie die Schüler*innen Deutungen anstel-
len und wie sie mit der resultierenden Ambiguität
umgehen.
Interpretationsvorgänge und Deutungszuschrei-
bungen laufen jedoch zunächst mental ab. Folglich
musste ein Weg der Versprachlichung gefunden
1
Abfolge von Bildkästchen im Comic.
26. 24 | Positionen | Projekte | Publikationen
werden, der sich in dieser Untersuchung in der
Methode des Literarischen Gesprächs darstellt. Es
zeichnet sich darin aus, dass die Schüler*innen mit-
einander über ein literarisches Werk sprechen, ohne
dabei Hilfsmittel zu verwenden oder gesonderte
Hilfestellungen zu erhalten (vgl. Christ et al. 1995,
S. 119). Laut Spinner erfordert ein solches Gespräch
von den Teilnehmenden,„dass sie eigene Sinndeu-
tungen einbringen, dass sie Vorschläge anderer
nachvollziehen, dass sie das Gespräch als Suchbe-
wegung verstehen und dass sie mit dazu beitragen,
eine Balance zwischen Selbstkundgabe, Ernstneh-
men des anderen und Textbezug herzustellen“
(2006, S. 12). Zu den Teilnehmenden zählt neben den
Lernenden eine Gesprächsleiter*in, die, wie es in
Spinners Zitat bereits anklang, im Idealfall ebenso
ihre individuellen Deutungen anbringt und gleich-
wertig an der Suchbewegung teilnimmt. Stellt das
Literarische Gespräch jedoch eine in der jeweiligen
Lerngruppe bisher weniger gängige Praxis dar,
ist eine abstinente Haltung der Gesprächsleitung
ratsam, da sie andererseits mitunter die Beiträge
der Jungen und Mädchen beeinflussen könnte. In
jedem Fall kommt ihr jedoch eine leitende Funktion
zu. So kann sie das Gespräch beispielsweise durch
das Stellen von Leitfragen in eine bestimmte Rich-
tung lenken (vgl. Härle/Steinbrenner 2014, S. 19f.).
Nachdem sich die Jungen und Mädchen also je
einem neuen Kapitel gewidmet hatten, fanden sich
alle in einem Sitzkreis zusammen. Das Gespräch
wurde zumeist mit den Ergebnissen der produkti-
ven Phase begonnen, in denen die Kinder zum Bei-
spiel Gedankenblasen der Figuren ausgefüllt oder
in Form eines „Galeriespaziergangs“ (Hoffmann/
Lang 2014, S. 70) besonders spannende, lustige oder
komische Szenen markiert hatten. In der vorliegen-
den Untersuchung mündete dies stets in ein Litera-
risches Gespräch, das mittels eines Tonbandgerätes
aufgenommen und im Folgenden in Auszügen
präsentiert und analysiert wird.
UNBESTIMMTHEITEN IM LITERARISCHEN
GESPRÄCH THEMATISIEREN – ERGEBNISSE
In einem ersten Protokollauszug entdeckt die
Schülerin Lisa auf einem Bild eine Frau, die sie bis
Lisa: Also das kann auch vielleicht sein, dass das
die Mama von den (.) Jungen ist.
Niklas: Ne ne ne.
Lisa: Doch kann doch sein!
Marvin: Aber kann's sein, dass sie bloß nicht
sagen will, dass es die, seine -
Marie: Seine Mama ist?
Marvin: Ja.
Lisa: Ja sie - er weiß es ja bestimmt noch nicht,
wie seine Mama aussieht und so.
Marie: Vielleicht vielleicht -
Marvin: Oder dass sich die Eltern getrennt haben.
Marie: Ja!
Lisa: Und sie jetzt auch in Köthen wohnt, aber
woanders.
Abb. 3: Wer könnte diese Frau sein? (Regnaud, Bravo 2009)
An dieser Sequenz wird nachvollziehbar, wie alle
auf das von Lisa entdeckte Bildelement eingehen.
Ihre Aufmerksamkeit ist auf ein Detail gefallen,
das andere gar nicht wahrgenommen haben. Die
Deutungen, die damit auch bei ihren Schulkame-
raden ausgelöst werden, wären ohne die Erwäh-
nung im Gespräch nicht existent gewesen. Die
Gesprächsteilnehmer*innen nutzen Wörter wie
vielleicht und bestimmt oder Phrasen wie ich glaube
und es kann sein. Die Kinder scheinen demnach –
dato nicht zuordnen kann. Sie stellt Überlegungen
an, wer sie sein könnte; die anderen Teilnehmenden
schließen sich an:
27. | 25Positionen | Projekte | Publikationen
eventuell auch unbewusst – verstanden zu haben,
dass sie sich in einem Deutungsprozess befinden,
der eine Unbestimmtheit mit sich bringt, die allge-
meingültige Aussagen ausschließt.
Bei Lisa zeigt sich ein implizites Textverständnis, in-
dem sie sich ableitet, dass Jean vermutlich gar nicht
wissen kann, wie seine Mama aussieht. Marvin
scheint sich dagegen zu fragen, weshalb die Eltern
nicht zusammen wohnen; zumindest würde dies
seine anschließende Äußerung, dass sich die Eltern
getrennt haben könnten, begründen. Er verknüpft
das Wissen aus der Graphic Novel – dass die Eltern
nicht zusammen wohnen – mit ihm bekanntem
Wissen oder Erfahrungen – dass sich Eltern, die
nicht zusammen wohnen, getrennt haben könnten.
Marvin und Lisa stellen in diesem Beispiel beide
jeweils auf unterschiedliche Weise Kohärenz her.
Interessant ist Lisas Überlegung, dass die Familie in
Köthen, wo sie selbst wohnhaft ist, lebt. Im Vorfeld
wurde bereits besprochen, dass die Handlung in
Frankreich spielt, was an dieser Stelle jedoch auch
keines der anderen Kinder noch einmal einwendet.
An diesem Beispiel zeigt sich sehr gut die Tatsache,
dass sich die Fähigkeit, Realität und Fiktion ausei-
nanderzuhalten, in der Grundschule erst noch ent-
wickeln muss (vgl. Büker 2002, S.124). Die Handlung
passiert für Lisa in ihrer direkten Lebenswelt, was
hier auch ihre Deutung beeinflusst.
Einem zweiten Gesprächsauszug geht die Vorstel-
lung einer von den Kindern ausgefüllten Gedan-
kenblase des Protagonisten Jean voraus. Sie haben
die Regenwolke aus dem Buch übernommen und
jeweils einen kurzen Ausdruck hinzugefügt. Auf
Lukas‘ Bild ist zusätzlich „Traurigkeit“ und auf Caros
„Ach du Gott“ zu lesen. Die Gesprächsleiterin (GL)
stellt Nachfragen an:
GL: Und warum war er jetzt noch mal traurig?
((wendet sich an Lukas))
Lukas: Er war traurig, weil seine Mutter nicht bei
ihm ist.
GL: Okay. (8s) Und was glaubst du, warum er ‚Ach
du Gott‘ denkt? ((wendet sich an Caro))
Lukas: Mir geht‘s jede [Woche auch so.
Caro: Na weil] weil ähm (.) die Lehrerin so streng
ist und weil er so ‚ne doofe Lehrerin hat und bis
Weihnachten ist es noch so weit hin. (3s)
GL: Genau. Das könnte [auch sein.
Lukas: Mir gehts in der] Woche so, nur mit mei-
nem Papa, (--) weil Mama und Papa haben sich
gestritten (--) und meine Mama hat jetzt einen
neuen Papa (.) geheiratet. Daraus hat sich meine
Familie wieder (.) 10 Mal vielleicht vergrößert.
Die hat nämlich (---) puh vielleicht vier Opas, vier
Omas.
Abb. 4: Was könnte Jean denken? (Regnaud, Bravo 2009)
28. 26 | Positionen | Projekte | Publikationen
Die in der Graphic Novel abgebildete Regenwolke
übersetzen beide Kinder mit einer traurigen Stim-
mung. Sie scheinen demnach durchaus in der Lage
zu sein, auch Symbole kontextbasiert erlesen und
in einem Zusammenhang mit dem Text setzen zu
können. Und warum war er jetzt noch mal traurig?
kann als Leitfrage angesehen werden. Diese wurde
jedoch nicht im Vorfeld formuliert, sondern knüpft
in diesem Fall direkt an den bisherigen Ausfüh-
rungen der Lernenden an. Lukas erklärt, dass Jean
traurig war, weil seine Mutter nicht bei ihm ist. Dies
hatte er zuvor anhand des Titels der Graphic Novel
in Erfahrung gebracht. Er kann sich darin den Grund
für seine Traurigkeit vorstellen. Da erläuternde Wor-
te ausbleiben, wendet sich die Gesprächsleiterin an
Caro. Ihre Vermutung ist, dass er wegen seiner Leh-
rerin traurig ist. Diese Deutung resultiert aus inner-
textlichen Bezügen sowie Bild-Text-Verknüpfungen
der vorausgegangen Seite. Die Gesprächsleiterin
ergänzt:„genau“. Das könnte auch sein. Damit wird
den Kindern vermittelt, dass beide Vermutungen
berechtigt sind und an dieser Stelle als zwei Mög-
lichkeiten nebeneinanderstehen.
Nach einer längeren Pause scheint Lukas nun bereit,
weitere Gedanken mitzuteilen: Mir geht’s in der
Woche so, nur mit meinem Papa. Er bezieht sich hier
noch einmal auf seine Erklärung für die Traurigkeit
Jeans. Nun wird ersichtlich, worin seine Deutung
begründet liegt – er kennt diese Situation selbst
und ist damit subjektiv involviert. Spinner spricht
in diesem Zusammenhang auch von „persönlichem
Angesprochensein“ (Spinner 2006, S. 8). Die Graphic
Novel und Jeans Lebenssituation im spezifischen er-
innern Lukas an sich selbst, wodurch er den Anstoß
erhält, auch seine persönliche Situation zu reflektie-
ren und sie sich bewusst zu machen.
Ein letzter hier ausgewählter Protokollauszug ergab
sich in dem Gespräch über das letzte Kapitel. Da
von den Jungen und Mädchen der vermeintliche
Tod der Mutter nicht von selbst angesprochen wird,
fragt die Gesprächsleiterin nach:
GL: Und warum schreit Michèle jetzt auf einmal:
"Deine Mutter ist tot!"?
Marvin: Damit der Jean ...
Lisa: ... aufhört?
Niklas: Äh dass Jean noch trauriger vielleicht ist
und dass er weint? (4s)
GL: Und glaubt ihr, dass es stimmt?
Marvin: Nöp
Lisa: Mhmh. ((verneinend))
Niklas: Weil sonst würde ja nicht heißen seine
Mama hat Buffalo Bill getroffen.
Marvin: Das Buch.
Lisa: Hier vorne wieder ((zeigt das Cover)) "Meine
Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getrof-
fen".
Abb. 5: Jean erfährt vom Tod seiner Mutter (Regnaud, Bravo 2009)
Für die Kinder stellt der Titel die Begründung dafür
dar, dass die Nachbarin Michèle in Bezug auf den
Tod der Mutter gelogen haben muss. Sie finden an-
dere, ihnen nachvollziehbare Begründungen, wes-
halb Michèle Jean das in dieser Szene ins Gesicht
schreit. Die verschiedenen Ideen werden als Fragen
formuliert und bleiben nebeneinander stehen,
ohne dass noch einmal Bezug auf diese genommen
wird. Damit ist den Kindern ein Bewusstsein für die
Mehrdeutigkeit dieser Situation zu unterstellen, da
29. | 27Positionen | Projekte | Publikationen
sie ihre Beiträge als Möglichkeiten formulieren und
beide Varianten zu akzeptieren scheinen.
Sie bringen gemeinschaftlich den Titel als Beweis
für Michèles Lüge an. Damit sind sie sich einig, dass
die Mitteilung des Covers auf Tatsachen beruhen
muss, wodurch sich hinsichtlich des momentanen
Verbleibs der Mutter eine Eindeutigkeit ergibt.
Nun stellt sich dennoch die Frage, worin die All-
gemeingültigkeit, die die Schüler*innen dem Titel
zuschreiben, begründet liegt.Vermutet werden
kann, dass sie das Eigenrecht, das der Literatur in
ihrer Ästhetik zukommt, noch nicht vollends ver-
innerlicht haben (vgl. Büker 2002, S. 125). Dass ein
Titel auch nur Wunschdenken abbilden oder gar
ambivalent zur erzählten Handlung sein kann, ist
für die Grundschulkinder offensichtlich noch nicht
greifbar. Dass sie über den Punkt, alles wörtlich zu
verstehen, hinaus sind, zeigt sich bei den Sinnsuch-
prozessen, die sich aus der Narration ergeben. Der
Titel wird jedoch augenscheinlich als losgelöst vom
Inhalt betrachtet und dadurch eben doch wörtlich
verstanden. Da es sich um ein Kinderbuch handelt,
erwarten die Jungen und Mädchen eventuell auch
eine solch tragische Wendung nicht und bilden die
Kohärenz schlussfolgernd so, dass sie in ihre Vor-
stellung eines Kinderbuches passt. An dieser Stelle
wäre einzuwenden, dass es durchaus ein breites
Spektrum an Publikationen gibt, die kinderpsycho-
logische Themen wie Verlust,Trauer und Tod auf-
greifen – möglicherweise sind sie solchen Werken
bisher noch nicht begegnet.
FAZIT UND AUSBLICK
Ob eine Durchführung mit einer Kontrollgruppe
ähnliche Ergebnisse liefern würde, ist nicht mit
Sicherheit zu sagen. Ein vergleichbarer Ausgang ist
durchaus vorstellbar. Anhand der vorliegenden Em-
pirie wird jedoch greifbar, welche Vielfalt die Me-
thode des Literarischen Gesprächs bietet und in wie
viele unterschiedliche Richtungen ein Austausch
über die Lektüre einer Graphic Novel gehen kann.
Obwohl es sich um eine eher neue Art von Literatur
handelt, die den Kindern als solche bis dato noch
unbekannt war, schien der Umgang mit dieser
keine Probleme aufzuwerfen, da die Erzählweise
aus anderen Formen der Bildgeschichte, wie dem
Comic, bereits bekannt ist.Wenn sich in der Schule
für eine genaue Betrachtung und eine ausführliche
Reflexion über das Gesehene und Gelesene Zeit
genommen wird, werden Sinnsuchprozesse ange-
stoßen, die andernfalls nicht existent wären. Diese
orientieren sich, solange das Gespräch authen-
tisch bleibt, an den Schüler*innen, die diejenigen
Aspekte oder Szenen in den Fokus rücken können,
die sie ansprechen (vgl. Härle 2011). Dadurch bleibt
die Lektüre interessant und spannend, und eine
positive Grundhaltung zur Literatur und zum Lesen
kann sich entwickeln; bei anderen vielleicht auch
erst geweckt werden. Ein vielseitiger Blick auf ein
Werk regt mitunter dazu an, sich auch im Priva-
ten mit diesem zu befassen. Das hier verwendete
Kinderbuch scheint dafür perfekt:„Auf allen Ebenen
ist Meine Mutter ist in Amerika eine reichhaltige
Graphic Novel, die ihren Leser sicher einige Zeit
begleiten wird, um ihn immer wieder etwas Neu-
es entdecken zu lassen“ (aus der Jurybegründung
Deutscher Jugendliteraturpreis 2010).
Den Schüler*innen wird darüber hinaus durch das
Gespräch erfahrbar, worauf ihre individuellen Inter-
pretationen gründen, dass es verschiedene Lesar-
ten geben kann und dass sich die eigene Meinung
durchaus anpassen, revidieren oder auch verteidi-
gen lässt. In den Protokollen zeigen sich gemein-
schaftliche Sinnsuchprozesse, die am Ende offen
bleiben, aber auch Deutungsprozesse, die Kinder
eigenständig durchlaufen. Erst durch die Versprach-
lichung werden sie sich ihrer Herkunft bewusst.
Hoffmann und Lang formulieren die Vermutung,
dass Graphic Novels aufgrund ihrer komplexen
Erzählweise und der damit einhergehenden spe-
zifischen Anforderungen an die unterrichtliche
Interaktion bisher nur wenig in Schulen zur Anwen-
dung kommen (vgl. Hoffmann/Lang 2016, S.271). Die
30. 28 | Positionen | Projekte | Publikationen
vorliegende empirische Untersuchung stellt heraus,
dass die Komplexität keinesfalls ein Problem dar-
stellt und gerade für die anschließende Kommuni-
kation viel Material bietet. Auf den ersten Blick mag
man behaupten, dass die Teilnehmenden dieser
Untersuchung das Hauptanliegen bzw. -thema der
Graphic Novel – den Muttertod – nicht durchschaut
haben. Auf den zweiten Blick muss man sich jedoch
fragen, ob dem tatsächlich so ist. Die Kinder sind
der Überzeugung, dass die Mutter noch lebt; es sei
zu behaupten, dass ein Großteil der erwachsenen
Rezipient*innen, wenn nicht sogar alle, das anders
sehen würden. Eindeutige Aussagen eines verläss-
lichen Erzählers zu diesem Tatbestand sind im Buch
allerdings nicht enthalten.Wer legt nun aber fest,
dass Jeans Mutter wirklich tot ist? Die eigentliche
Narration ist das Produkt aus dem, was das Werk
an Informationen hergibt und der individuellen
und subjektiven Rekonstruktion, also das, was die
Rezipient*in daraus macht. Hierin liegt der Beweis
dafür, dass kindliche und erwachsene Deutungen
gänzlich verschieden ausfallen und dennoch legiti-
me Varianten des literarischen Verstehens darstel-
len können. Ziel des Gesprächs ist es hier nicht, die
eine – ggf. naheliegendste – Deutung zum Text zu
ergründen. Stattdessen werden in einem aktiven
Prozess begründete, z.T. auch vielgestaltige und be-
dingt sogar widersprüchliche Deutungen gefunden.
Gerade in dieser „Unabschließbarkeit des Sinnbil-
dungsprozesses“ (Spinner 2006, S. 12) liegt ein zent-
rales Ziel des literarischen Lernens in der Schule, das
in den Gesprächen der vorliegenden Untersuchung
eindrücklich sichtbar wurde.
Lehrpersonen sollten die Chance, die mit Literari-
schen Gesprächen gegeben wird, vermehrt nutzen,
um Einblick in die vielseitigen Rezeptionsprozesse
ihrer Schüler*innen zu erhalten, Räume für aktive
Sinnsuche zu eröffnen und auch von den Zugängen
der Schüler*innen zu lernen.
LITERATUR
Primärliteratur
Regnaud, Jean/Bravo, Émile (2009): Meine Mutter ist in
Amerika und hat Buffalo Bill getroffen. Hamburg.
Sekundärliteratur
Büker, Petra (2002): Literarisches Lernen in der Pri-
mar- und Oberstufe. In: Bogdal, Klaus-Michael; Korte,
Hermann (Hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik.
München, S. 120-133.
Christ, Hannelore et al. (1995):„Ja aber es kann doch
sein…“ In der Schule literarische Gespräche führen.
Frankfurt am Main.
Eder, Barbara (2016): Graphic Novels. In: Abel, Julia; Klein,
Christian (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine
Einführung. Stuttgart, S. 156-168.
Härle, Gerhardt (2011):„… und am Schluss weiß ich trotz-
dem nicht, was der Text sagt“. Grundlagen, Zielpers-
pektiven und Methoden des Literarischen Unterrichts-
gesprächs. In: Steinbrenner, Marcus/Mayer, Johannes/
Rank, Bernhard (Hrsg.):„Seit ein Gespräch wir sind und
hören voneinander“. Das Heidelberger Modell des Lite-
rarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis.
Baltmannsweiler, S. 29-65.
Härle, Gerhardt/Steinbrenner, Marcus (2014): Das litera-
rische Gespräch im Unterricht und in der Ausbildung
von Deutschlehrerinnen und -lehrern. Eine Einführung.
In: Härle, Gerhardt/Steinbrenner, Marcus (Hrsg.): Kein
endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Ge-
sprächs im Literaturunterricht, 3. Aufl. Baltmannswei-
ler, S. 1-24.
Hoffmann, Jeanette/Lang, Diane (2014): Graphic Novels
im Deutschunterricht.‚drüben!‘ von Simon Schwartz.
In: Knopf, Julia/Abraham, Ulf (Hrsg.): BilderBücher.
Band 2 Praxis. Hohengehren, S. 63-74.
31. | 29Positionen | Projekte | Publikationen
Hoffmann, Jeanette/Lang, Diane (2016):„Der Junge ist ei-
gentlich gar nicht so ängstlich.“. Rezeption von Graphic
Novels durch die Imagination von Figuren in Worten
und Bildern. In: Scherer, Gabriele;Volz, Steffen (Hrsg.):
Im Bildungsfokus. Bilderbuchrezeptionsforschung.
Trier, S. 269-288.
Iser,Wolfgang (1990): Der Akt des Lesens, 3. Aufl. Mün-
chen.
Lang, Diane/Führer, Carolin (2017): Bild und Text zusam-
men denken.Wertungen im Umgang mit Graphic
Novels fördern und vergleichen. In: Die Grundschulzeit-
schrift: Kinderliteratur werten. Nr.301, S. 32-36.
Spinner, Kaspar (2006): Literarisches Lernen. Basisartikel.
In: Praxis Deutsch 200, S. 6-15.
Uhlig, Bettina (2014):„Ich sehe etwas, was du nicht
siehst.“ Bildsehen und Bildimagination bei der Be-
trachtung von Bilderbüchern. In: Scherer, Gabriele;Volz,
Steffen;Wiprächtiger-Geppert, Maja (Hrsg.): Bilderbuch
und literar-ästhetische Bildung.Trier, S. 9-22.
Dem Beitrag liegt eine Wissenschaftliche Hausar-
beit zum Ersten Staatsexamen für das Lehramt an
Grundschulen zugrunde, die von der Autorin unter
dem Titel „Literarisches Lernen mit Graphic Novels“
2017 erarbeitet wurde.
32. 30 | Positionen | Projekte | Publikationen
Anne-Ev Ustorf
Kampf um Identität
In der erzählenden Jugendliteratur wim-
melt es von beschädigten jungen Frauen.
Warum ist ihr Schicksal für junge Mädchen
so anziehend?
Marie ist achtzehn Jahre alt und lebt in einer be-
treuten Wohngruppe für psychisch kranke Mäd-
chen. Sie trinkt zu viel, hat wahllos Sex, kann keine
nahen Beziehungen aushalten. Immer wieder ver-
folgen sie Gedanken an ihre gewalttägige Mutter.
Dann richtet sie ihre Wut und ihren Hass gegen sich
selbst:„ich nehme die versteckte Rasierklinge aus
dem doppelten Boden meines Nachtkästchens und
schneide mich tief. Mit jedem Zentimeter Haut, den
ich durchtrenne, gebe ich ihr einen Zentimeter der
Schuld zurück. Ich will meine Mutter spüren lassen,
dass sie Schuld hat an mir und daran, wie ich bin.“
Marie ist die Hauptfigur von Sandra Weihs‘ Roman
Das grenzenlose Und, der jüngst den Preis der Jür-
gen-Ponto-Stiftung für das beste deutschsprachige
Debüt erhielt. Die österreichische Sozialarbeiterin
Weihs erzählt darin sehr realistisch aus dem Leben
einer jungen Frau, die an einer Borderlinestörung
erkrankt ist.Weihs‘ Hauptfigur Marie kann sich
mühelos einreihen in eine lange Reihe von adoles-
zenten Romanheldinnen, die fressen oder hungern,
wahllos Sex haben, trinken, sich mit Rasierklingen
ritzen und ganz allgemein auf einem intensiven Trip
der Selbstzerstörung sind. Es wimmelt nur so von
depressiven, suizidalen, gequälten, um sich selbst
kreisenden jungen Mädchenfiguren. Oder eine
Alternative: von krebskranken Heldinnen, die mutig
gegen die tödliche Bedrohung durch ihren eigenen
Körper kämpfen, um am Ende meist doch dahinzu-
scheiden.
Das ist umso erstaunlicher, als die Realität hier-
zulande ganz anders aussieht. Den allermeisten
Jugendlichen in Deutschland geht es gut oder sehr
gut. Knapp 90 Prozent der 11- bis 17-Jährigen geben
der eigenen Gesundheit Bestnoten, so die jüngste
KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, die größte
Datensammlung zur Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen in Deutschland. Es gibt keinen Zu-
wachs an psychischen Auffälligkeiten bei jungen
Menschen, nach wie vor ist allerdings jeder fünfte
Jugendliche gefährdet, eine psychische Erkrankung
zu entwickeln. Ein ähnliches Bild zeichnet die Shell-
Jugendstudie 2015, die Jugendlichen in Deutschland
im Großen und Ganzen eine positive Grundhal-
tung und ein stabiles Wertesystem attestiert. Zwar
beobachten auch hier die Forscher um den Soziolo-
gen Klaus Hurrelmann eine soziale Spaltung in 80
Prozent gut positionierte und fast 20 Prozent sozial
„abgehängte“ Jugendliche – aber dennoch erhöhte
sich die Zahl der optimistisch eingestellten Jugend-
lichen stetig.
Mama liegt eigentlich immer auf dem
Sofa
Auch die Beziehung zu den eigenen Eltern scheint
besser und besser zu werden.„Mehr als 90 Prozent
der Jungen und Mädchen pflegen ein gutes Ver-
hältnis zu ihren Eltern“, erklären die Autoren der
Shell-Studie.„Fast drei Viertel würden ihre Kinder
ungefähr so oder genauso erziehen, wie sie selbst
erzogen wurden.“ Die Werke der erzählenden Ju-
gendliteratur jedoch sind nicht nur voll von gestör-
ten jungen Protagonistinnen, sondern auch von
unfähigen, labilen Eltern.„Mama liegt eigentlich
immer auf dem Sofa“, schreibt die Berliner Autorin
33. | 31Positionen | Projekte | Publikationen
Stefanie de Velasco in ihrem Jugendroman Tiger-
milch über zwei Vierzehnjährige, die Weinbrand
trinken wie Mineralwasser und aus Neugier regel-
mäßig auf den Babystrich gehen.
Dass die Eltern der Hauptfiguren krank oder tot
sind, kennt man bereits aus der Kinderliteratur –
ob Harry Potter, die Brüder Löwenherz oder Tom
Sawyer, die spannendsten Geschichten ereignen
sich dann, wenn sich Kinder allein durchschlagen
und entwickeln müssen.„Erwachsene sind Aufpas-
ser, sie bremsen den Lauf der Handlung“, findet
auch Monika Osberghaus,Verlagsleiterin bei Klett
Kinderbuch.„Für die Geschichte ist es gut, wenn
sie weg sind.“ Doch auch sie beobachten, dass in
vielen Kinder- und Jugendbüchern von heute die
Eltern so schwach sind, dass sich ihre Kinder um sie
kümmern müssen.„Von Kindern wird gerade viel
erwartet in der Literatur“, sagt Osberghaus.„Die
sollen alles allein hinkriegen. Dahinter stecken die
Wünsche der Erwachsenen. Man hätte gern, dass
die Kinder für uns die Welt retten.“
Können sich Mädchen mit kranken
Heldinnen besser identifizieren als mit
gesunden?
Natürlich gibt es im Jugendbuchbereich auch
literarische Gattungen, die in der Gestaltung ihrer
Protagonistinnen andere Schwerpunkte setzen:
Im verkaufsstarken Fantasybereich etwa kämpfen
heldenhafte junge Frauen gegen das Böse wie
Katniss Everdeen in Suzanne Collins’ Bestsellerreihe
Die Tribute von Panem. In der knallpinken „Girlie-
Literatur“ dreht sich die Welt der stereotyp gezeich-
neten Teeniemädels vorrangig um Jungs, Klamotten
oder Pferde – oder alles gleichzeitig. Die „Chick-Lit“,
die anspruchslose Mädchenliteratur, präsentiert
fröhlich-neurotische Heldinnen auf der Suche nach
der großen Liebe und dem richtigen Paar Schuhe.
Doch das erzählende Jugendbuch, die Gattung mit
dem vielleicht höchsten literarischen Anspruch und
den freiesten Gestaltungsmöglichkeiten, feiert die
Schwäche ihre Heldinnen.„Sick-Lit“ statt „Chick-
Lit“. Längst nicht alle Protagonistinnen überleben
das. In dem hochgelobten Roman Und auch so
bitterkalt von Lara Schützsack etwa bleibt offen, ob
die Hauptfigur Lucinda ihre Magersucht am Ende
überleben wird oder nicht. Kurz bevor der Rettungs-
wagen kommt, verschwindet das abgemagerte und
entkräftete Mädchen aus einem Krankenbett, um
nie wieder aufzutauchen.
Selbstzerstörung statt Weltverbesserung? – Das
hört sich an wie ein Rückgriff in die Mottenkiste
der Geschlechterrollen. Beatrice Wallis, Cheflektorin
Kinderbuch bei Beltz & Gelberg, hat den Eindruck,
dass der Jugendliteraturmarkt die aktuelle Haltung
von jungen Mädchen zum Feminismus widerspie-
gelt.„Wir haben alles erreicht, wir dürfen alles, nun
interessiert uns der Feminismus nicht mehr“, sagt
die Verlagsfrau Wallis.„Es gibt in der Jugendlitera-
tur viele Beispiele von Mädchen, die konform agie-
ren und festhängen in ihren Mädchenrollen. Aber
es gibt auch Gegenbeispiele. Allerdings ist es nicht
so einfach, alternative Rollenbilder anzubieten. Ein
Großteil der Leserinnen möchte nicht mit neuen Bil-
dern konfrontiert werden.“
Hinwendung zu den schmerzlichen Seiten
des Lebens
Wo sind sie hin, die anpackenden und selbstbe-
wussten jungen Protagonistinnen mit individu-
ellem Charakter? Es scheint, als ob die schwache,
kranke Protagonistin heute besser zur Identifikation
taugt als die gesunde Mädchenfigur. Doch wofür
steht sie? Schon immer hat sich die Jugendliteratur
mit wichtigen Fragen der adoleszenten Entwick-
lung beschäftigt. In der Adoleszenz stehen schließ-
lich bedeutsame emotionale Herausforderungen
an: Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994)
benennt in seinem einflussreichen Stufenmodell
der psychosozialen Entwicklung des Menschen den
Erwerb von Identität als größte Aufgabe in dieser
Lebensphase. Jugendliche stehen beim Übergang in
die Erwachsenenposition vor der Herausforderung,
eine neue Auseinandersetzung mit den Themen der
Kindheit zu finden und ganz eigene, neue Lebens-
entwürfe zu entwickeln – stets vor dem Hinter-
grund der Frage, ob die mal spannenden und mal
beunruhigenden Veränderungen an Leib und Seele
wirklich „okay“ sind und auch von der Außenwelt
akzeptiert werden können.
34. 32 | Positionen | Projekte | Publikationen
Insofern sei die Hinwendung zu den dunklen und
schmerzlichen Seiten des Lebens in der Adoleszenz-
literatur durchaus typisch, so die Soziologin und
Sozialpsychologin Vera King von der Goethe-Univer-
sität Frankfurt, die schwerpunktmäßig auch über
Jugendthemen forscht: Das Ausloten von Grenz-
überschreitung und die Suche nach Sinnhaftigkeit
kennzeichneten diese komplexe Lebensphase. Den-
noch hätten sie die Bedingungen der Adoleszenz in
den vergangenen Jahrzehnten verändert und damit
auch die Thematisierung der Schattenseiten des
Lebens.„Was man in den 1980er Jahren noch als
Individualisierung betrachtet hat, hat sich inzwi-
schen weiterentwickelt zu einem ganzen Anfor-
derungsbündel im Sinne der Flexibilität, Mobilität
und Effizienz“, erklärt King, die auch Direktorin am
Sigmund-Freud-Institut Frankfurt ist.„Den heutigen
Jugendlichen wird sehr viel abverlangt. Sie müssen
früh in der Lage sein, Bildungs- und Berufswege
vorausschauend vorzubereiten, erfolgverspre-
chende Potenziale auszubilden, ihren Lebensplan
in geordnete Bahnen zu bringen – und dann die
Flexibilität mitbringen, sich auch stets wieder ganz
anders entscheiden zu können. Das funktioniert
nicht immer, nicht bei allen und keineswegs ohne
Verluste und Friktionen. Es gibt also derzeit eine
große innere Reibung am Funktionierenmüssen,
ein Leiden daran, das auch in der Jugendliteratur
thematisiert wird. Da können junge Leser sich dann
mitunter gerade identifizieren mit Figuren, deren
Nöte im Zentrum stehen, die ganz andere Themen
haben und in gewisser Weise auch herausfallen aus
der Welt.“
Wie Hazel Grace, die 16-jährige Hauptfigur von John
Greens erfolgreichem Jugendroman Das Schicksal
ist ein mieser Verräter. Die Ich-Erzählerin leidet an
Schilddrüsenkrebs mit Metastasen in der Lunge
und befürchtet, für ihre Umwelt eine Art tickende
Zeitbombe zu sein, ständig kurz davor, diejenigen,
die sie lieben, durch ihren bevorstehenden Tod in
den Abgrund zu reißen. Ihre Eltern machen sich Sor-
gen um den psychischen Zustand ihrer Tochter und
schicken sie schließlich in eine Selbsthilfegruppe
für junge Krebspatienten. Dort verliebt sich Hazel
in den 17-jährigen Augustus, und es entwickelt sich
eine Romanze der etwas anderen Art: Statt sich
Liebesbriefe zu schreiben, schicken sie sich gegen-
seitig ihre eigenen Nachrufe. Es geht um die Liebe
im Angesicht des Todes, um ziemlich existenzielle
Themen also. Gleich in der ersten Verkaufswoche
landete das Buch auf Platz eins der New York Times-
Bestenliste für Kinder- und Jugendliteratur und
entfachte zahlreiche Diskussionen über den Sinn
und die Endlichkeit des Lebens.
Lässt die Krankheit junge Leser also das eigene
Leben im Hamsterrad vergessen? Stellt die „Sick-Lit“
für Jugendliche einen Ausweg aus einer auf Effizi-
enz und Leistung getrimmten Gegenwart dar? Gut
möglich. Sicher ist, dass es heutzutage schwierig
scheint, im erzählenden Jugendroman überhaupt
noch klassische Konflikte zu entwerfen. Denn in der
postmodernen Gegenwart ist mittlerweile fast alles
erlaubt und die Identitätssuche der Jugendlichen
durch viele untereinander konkurrierende Normen
und Werte erschwert. Einerseits sind traditionelle
Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit noch
gültig, andererseits halten Feministinnen das
Banner der Emanzipation hoch, zeitgleich zelebriert
die Popkultur ein Verschmelzen der Geschlechter.
Inzwischen kann fast alles nebeneinander stehen,
junge Menschen müssen ihre Identität aus ganz
verschiedenen Teilen selbst zurechtbasteln und sich
immer wieder neu erfinden. Das schafft Freiheit,
aber auch Ambivalenz und Unsicherheit.
Zudem gibt es kaum noch Autoritäten und Instan-
zen, an denen Jugendliche sich heute ernsthaft
abarbeiten müssen: Generationskonflikte haben
an Schärfe verloren, Unterschiede zwischen Eltern
und Kindern verschwimmen zunehmend, selbst die
Jugendlichkeit ist heute weniger ein Entwicklungs-
abschnitt als eine Marke.„Die Adoleszenz ist längst
nicht mehr so problematisch wie in den 1980er
Jahren“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Iris
Schäfer vom Institut für Jugendbuchforschung der
Goethe-Universität Frankfurt.„Es wäre unsinnig, in
einem Jungendroman zu beschreiben, wie Prota-
gonistinnen gegen ihre Eltern rebellieren müssen.
Das fällt schon mal weg als Thema. Dann gibt es
natürlich noch die Liebesgeschichte, die als alleini-
ges Thema aber auch ein bisschen langweilig sein
kann. Die Leserinnen und Leser identifizieren sich
am liebsten mit jemandem, der mit großen Heraus-
35. | 33Positionen | Projekte | Publikationen
forderungen konfrontiert ist. Die tödliche Krankheit
dient gewissermaßen als Konfliktverstärker; man
versucht also einen Konflikt zu schaffen und vor
diesem Hintergrund Problem der Adoleszenz, wie
etwa Autonomiebestrebungen, durchzuspielen.“
Die Krassheit einiger Störungen und Regelüber-
schreitungen im aktuellen Jugendroman – hoher
Alkoholkonsum, freiwillige Prostitution, Selbstver-
stümmelung, Suizid – sind demzufolge vielleicht
als Versuche zu werten, in Zeiten des anything goes
überhaupt noch aufzufallen und dramatische Span-
nungsbögen zu schaffen.
Jugendliteratur ist heute also mehr als bloße Auf-
klärung oder Lebenshilfe.Viele Werke widmen sich
zwar den spezifischen Problemen der Adoleszenz,
aber mit einem hohen ästhetischen Anspruch. Dazu
gehört auch, dass schwierige Themen wie psychi-
sche oder körperliche Erkrankungen nicht mehr
auserzählt werden, sondern den Lesern Leerstellen
zugemutet werden, die sie selbst schließen müssen.
„Heute ist es spannend, wenn die Literatur auch
Platz für den Leser lässt“, erklärt Beatrice Wallis
von Beltz & Gelberg.„Das emotionale Moment ist
viel wichtiger. Das anlegen zu können macht die
Kunst eines Autors aus. Aber natürlich dürfen wir
trotzdem nicht vergessen, dass Jugendliche in einer
Entwicklungsphase stecken.Wir überlegen daher
genau, wie die Botschaften in unseren Büchern
aufgenommen werden.“
In Zeiten der Postemanzipierung und Pathologi-
sierung hat die klassische Heldin – zumindest in
der realistischen Jugendliteratur – also ausgedient.
Vielleicht bietet sie jungen Frauen in einer Welt der
Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit nicht mehr
ausreichend Identifikationsmöglichkeiten. Für die
Literaturwissenschaftlerin Iris Schäfer haben die
Probleme der Romanfigur allerdings keinen Reali-
tätsbezug, sondern sind lediglich eine Metapher für
die moderne Identität, für die schwierige und lange
Selbstsuche, die der postmoderne Mensch heute
absolvieren muss.
„Die Protagonisten müssen sich mit ihrer Sterblich-
keit auseinandersetzen. Für viele Jugendliche ist
es interessant, die dahinterliegenden philosophi-
schen Fragen zu diskutieren.Was bedeutet es für
mich, dass das Leben begrenzt ist? Was ist wichtig
für mich?“, so Iris Schäfer. Und das sind schließlich
nicht die schlechtesten Fragen, mit denen sich jun-
ge Leser heute beschäftigen können.
Literatur
Downham, Jenny (2009): Bevor ich sterbe, Goldmann
Green, John (2012): Das Schicksal ist ein mieser Verräter,
Hanser
Nichols, Sally (2013):Wünsche sind für Versager, Hanser
Schützsack, Lara (2014): Und auch so bitterkalt, KJB
de Velasco, Stefanie (2015):Tigermilch, KiWi
Weihs, Sandra (2015): Das grenzenlose Ich, FVA
Sekundärliteratur
King,Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Ado
leszenz: Individuation, Generativität und Geschlecht in
modernisierten Gesellschaften. Springer
Schäfer, Iris/Holst, Nina/Ullmann, Anika (Hrsg.) (2016):
Narrating Disease and Deviance in Media for Child
ren and Young Adults – Krankheits- und Abwei
chungsnarrative in kinder-und jugendliterarischen
Medien. Peter Lang
Schäfer, Iris (2016): Eine neue Mädchenliteratur der
1990er Jahre – im Zeichen von Postemanzipierung und
Pathologisierung. kjl&m
Schäfer, Iris (2016):Von der Hysterie zur Magersucht.
Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählun
gen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende. Peter
Lang
36. 34 | Positionen | Projekte | Publikationen
Julia Schinköthe / Uta Seewald-Heeg
„… ein hochnützlicher Orden“1
–
Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihre Erben
Die Völligkeit der Deutſchen ſprache iſt ſo gros
/ daß auch faſt nichts kann gefunden werden
/ welches man in dieſer ſprahe nicht nennen
könnte : dan ſie die wortreicheſte und in dieſem
die glückſeligſte daß auch einer aus drey
ſtammwörtern über vier hunert gute / reine /
bedienliche und ſtets etwas anders anzeigende
Deütſche wörter zuſammen gebracht. Dahero
ſie dan anderer frembden wörter nicht bedarf /
und deswegen mit andern ſprachen unverworren
bleiben / und von denſelben wol unterſchieden
werden kann.
2
So beschreibt Christian Gueintz, Rektor des Gymna-
siums zu Halle, die Fähigkeiten und Möglichkeiten
der deutschen Sprache 1641 in seiner Grammatik
der deutschen Sprache,„Deutscher Sprachlehre Ent-
wurf“, die das Ergebnis intensiver Diskussion in der
ältesten, größten und bedeutsamsten deutschen
Sprachpflegeakademie, der Fruchtbringenden Ge-
sellschaft, war, die am 24. August 1617, am Vorabend
des Dreißigjährigen Krieges, in Weimar gegründet
wurde mit dem Ziel,
daß man die Hocheutſche Sprache in ihren
rechten weſen und ſtandt / ohne einmiſchung
frembder außländiſcher wort / auffs möglichſte
und thunlichſte erhalte / und ſich ſo wol der beſten
ausſprache im reden / als der reineſten art im
ſchreiben und Reimen-dichten befleiſſige.3
1
Neumark, Georg: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum
[…] Nürnberg: o.V. 1669. S. 13.
2
Gueinz, Christian: Christian Gueintzen Deutscher Sprach-
lehre Entwurf. Cöthen im Fürstenthume Anhalt: Fürstliche
Druckerei 1641. S. 11.
3
Anhalt-Köthen, Fürst Ludwig: Kurtzer Bericht Von der
Fruchtbringenden Gesellschaft Vorhaben / auch dero Nah-
men/ Gemählde und Wörter: In Reimen verfast. o.O. 1628. Bl.
3r.
Ebenso wollte die Gesellschaft mit der deutschen
Sprache verfahren, deren Inventar erfasst, ausge-
baut, verbessert, in der bislang lateinischen Wis-
senschaft, Jurisprudenz und höfisch-französischen
Literatur etabliert und nicht zuletzt auch in seinen
Funktionalitäten analysiert werden sollte. Auf diese
Weise legten die schaffensreichen Mitglieder der
Fruchtbringenden Gesellschaft den Grundstein der
heutigen Sprachwissenschaft in deutscher Sprache.
Jedem Mitglied der Gesellschaft wurden ein Gesell-
schaftsname, ein Pflanzensymbol und eine Devise,
also ein Sinnspruch, verliehen. Devise und Sinnbild
sollten dem Mitglied als tugendhaftes Leitbild für
Abb. 1: Gesellschaftssymbol der Fruchtbringenden Gesellschaft im
„Kurtzen Bericht“, Bl. 4r.