Kognitionswissenschaft - Ihre Perspektive auf Lernen und Lehren mit Technologien
1.
2. 2
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
Dieses Kapitel orientiert sich in seinem Aufbau an
1. Einleitung
den Phasen der Kognitionswissenschaft seit ihrer
In diesem Kapitel werden die Auswirkungen, die zen- Entstehung. Diese ideengeschichtliche Betrachtung
trale Fragestellungen und Konzepte der Kognitions- ist notwendig, um konkrete Implikationen auf ak-
wissenschaft auf unser Verstehen von Lehr-Lernpro- tuelle Fragen des Lernen und Lehrens, des Wissens
zessen und die Verwendung von Lerntechnologien, und zu Lerntechnologien abzuleiten. Ziel dieses Ka-
untersucht. pitels ist es zu zeigen, wie Konzepte aus der kogni-
tionswissenschaftlichen Grundlagenforschung
Kogni:onswissenscha>
ist
ein
interdisziplinäres
For-‐ Eingang in die Alltagssprache, in unser Denken über
! schungsfeld,
das
Phänomene
der
Kogni:on
erforscht,
mit
dem
Ziel,
menschliche
Kogni:on
–
unsere
Wahr-‐
Lernprozesse und Wissen, und letztlich in Techno-
logien gefunden haben, mit den wir tagtäglich intera-
nehmung,
unser
Denken
und
letztlich
Handeln
–
zu gieren, um so ein „Denkwerkzeug“ für die Reflexion
verstehen. der eigenen Praxis zur Verfügung zu stellen. Kein
Ziel ist es hingegen, didaktische oder Usability-Re-
Die Kognitionswissenschaft ist keine wissen- zepte auszustellen.
schaftliche Disziplin im herkömmlichen Sinne,
2. Das
Entstehen
eines
neuen
Forschungsfeldes
sondern ein immer noch recht junges interdiszipli-
näres Forschungsfeld, in dem unterschiedliche Dis- Wurzeln
der
Kogni:onswissenscha<
ziplinen gemeinsam Antworten auf Fragen zur Ko- Eine fundierte Vorgeschichte würde im Rahmen
gnition – Wahrnehmung, Denken und Handeln – dieses Buches zu weit führen, daher möchten wir hier
suchen, die sie aus Ihrer Perspektive und mit ihren nur vier Strömungen und Ideen aus den Disziplinen
Methoden allein nicht zufriedenstellend beantworten Philosophie, Psychologie, Linguistik und Informatik
können. In gewisser Weise stellt sich die Kognitions- skizzieren, deren interdisziplinäres Zusammenwirken
wissenschaft Fragen, die sich Philosophen seit jeher wesentlich für das Entstehen des neuen Forschungs-
stellen und versucht diese mit Mitteln der Psycho- feldes Kognitionswissenschaft war:
logie, Linguistik, Neurowissenschaft, Biologie und In- Die Vorstellung, dass menschliches Denken
formatik zu beantworten, wobei letzterer in der Ent- letztlich Rechnen sei, findet sich schon im 17. Jahr-
stehungsgeschichte dieses Forschungsfelds wegen der hundert bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716),
damals neuen Methode der Computersimulation eine der, nebenbei bemerkt, auch das Binärsystem erfand,
besondere Rolle zukommt. das mit der Erfindung des Computers eine große Be-
Warum lohnt es sich, sich in einem so anwen- deutung erhalten sollte. Die Analytische Philo-
dungsbezogenen Feld, wie „Lehren und Lernen mit sophie, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von den
Technologien“ überhaupt, mit Fragen und Kon- britischen Philosophen Bertrand Russell (1872–1970)
zepten aus der Grundlagenforschung auseinan- und George Edward Moore (1873–1958) und vom
derzusetzen? Wir sehen drei Gründe: Wiener Kreis begründet und kann als eine Fort-
▸ Aus vielen Modellen der kognitionswissenschaft- führung der Leibniz'schen Ideen begriffen werden.
lichen Grundlagenforschung ist Kognitionstechnik Ihre Vertreter wiesen folgende Gemeinsamkeiten auf:
geworden, mit der wir im Alltag ständig konfron- Ein systematisches, anstatt geschichtliches Heran-
tiert sind. gehen an philosophische Fragen, eine Orientierung
▸ Lehrende und Lernende (und natürlich auch De- an empirischen Wissenschaften sowie der Versuch
signer/innen von Lerntechnologien) haben not- eine logische Formalsprache (widerspruchsfreie
wendigerweise ein Konzept von Kognition und Idealsprache) zu schaffen oder – je nach Richtung die
eine „Theorie“ wie sie „funktioniert“. Die Frage Analyse von Sprache mit Mitteln der Logik, letztlich
ist lediglich, wie bewusst und reflektiert diese per- mit dem Ziel, die angenommene logische Formal-
sönliche „Theorie“ ist und damit, ob sie zur Re- sprache hinter unserer Alltagssprache zu beschreiben.
flexion über die eigene Praxis dienen kann. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass viele Vertreter
▸ Unsere Konzepte von Kognition haben eine Aus- dieser Richtung vor dem nationalsozialistischen
wirkung auf die Vorstellung was Lernen ist und Regime fliehen mussten und Ihre Arbeit in England
was gelernt wird – und damit auf unseren Wis- und den USA fortsetzen.
sensbegriff. Hier sehen wir eine Nahtstelle zu Er- In der Psychologie hatte der Behaviorismus, von
gebnissen der Bildungsforschung, die zeigen, dass John B. Watson 1913 ursprünglich als Gegenposition
unser Wissensbegriff Lernstrategien beeinflusst. zur Phänomenologie formuliert, die Untersuchung
von Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden
3. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
3
Disziplin Linguis:k
Mathema:k
(Infor-‐ Philosophie Psychologie
ma:k)
Beitrag
zur
Kogni:-‐ Beschreibung
sprach-‐ Mathema:scher
Be-‐ Philosophische
Basis Empirische
Daten,
Ex-‐
ons-‐wissenscha<
und licher
Strukturen
weis,
Computer („Denken
ist periment
Entstehung
des
Ko-‐ rechnen“)
gni:vismus Neu:
Universal-‐gram-‐
ma1k Neu:
formale
Spra-‐ Neu:
Formale
Logik Neu:
in
die
„Black
Box
chen,
Simula1on hineinschauen“
Tabelle
1:
Überblick
über
die
Disziplinen
und
ihren
Beitrag
an
der
Entstehung
der
frühen
Kognitionswissenschaft
und damit eine „Objektivierung“ der Psychologie wicklung des Computers (etwa 1946 durch den Ma-
eingeführt und war zum vorherrschenden Paradigma thematiker John von Neumann), dessen Architektur
geworden. Ein zunehmend kritisierter „Nebeneffekt“ nach wie vor die Basis jedes Computers bildet.
war, dass nun nur das Ereignis in der Umwelt (Reiz) Zusammengefasst, lässt sich der wissenschafts-
und das mutmaßlich daraus resultierende Verhalten geschichtliche Kontext um 1950 in sehr vereinfachter
(Reaktion) Gegenstand einer wissenschaftlichen Un- Form zuspitzen (vgl. Tabelle 1): In der Psychologie
tersuchung sein durfte. Das Gehirn wurde als gibt es eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem
„Black Box“ betrachtet und innere Zustände zur Behaviorismus, dessen Methoden es nicht erlauben
Erklärung von Verhalten nicht mit herangezogen. etwas darüber auszusagen oder zu untersuchen was,
1957 erschien das Buch „Verbal Behavior“, in dem salopp gesagt, „im Kopf passiert“. Gerade daran
der Behaviorist seiner Zeit, Burrhus Fredric Skinner, haben aber all jene Interesse, die menschliche Ko-
seine Hypothese zum Spracherwerb formulierte. In gnition verstehen wollen. Auf Seiten der Analyti-
einer Buchbesprechung übte der Linguist Noam schen Philosophie gibt es ein Angebot: Denken ist
Chomsky (1959) harsche Kritik und argumentierte, logisch und basiert auf einer (formalen) Sprache; wir
dass ein so komplexes Verhalten wie Sprache un- müssen also „nur“ einen Weg finden die Formal-
möglich durch den Behaviorismus, und somit durch sprache „hinter“ der Alltagssprache zu beschreiben.
assoziatives Lernen, allein, erklärt werden könne. Chomskys Idee der Universalgrammatik bietet eine
Vielmehr müsse es ein genetisch determiniertes men- neue Brücke zwischen formaler Logik und natür-
tales „Modul“ geben, das es Menschen erlaubt lichen Sprachen. Und der Computer bietet eine voll-
Sprache zu erwerben, eine Universale Grammatik, die kommen neue Herangehensweise, mit der wissen-
die genetische Basis für den Erwerb jeglicher schaftliche Theorien einer Prüfung unterzogen
menschlichen Sprache biete. Damit revolutionierte er werden konnten. Anstatt Modelle mit Papier und
nicht nur die Linguistik; die Kritik an Skinner wird Bleistift durchzurechnen, konnten diese Modelle,
auch als Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen wenn man sie in eine formalisierte Form (entspricht
Paradigma gesehen: dem Kognitivismus. Algorithmen, die als Computerprogramme imple-
Bevor der Kognitivismus näher diskutiert wird, mentiert werden) bringt, automatisch berechnet
muss die vielleicht die für die Entstehung der Kogni- werden und gegebenenfalls Vorhersagen für die em-
tionswissenschaften wesentlichste Erfindung und pirische Forschung machen: die Methode der Com-
Voraussetzung hingewiesen werden: der Computer putersimulation.
und seine formalen Grundlagen. 1936 hatte der Ma- Ein weiteres wichtiges „Puzzlestück“ für die Ana-
thematiker Alan Turing (1912-1954) gezeigt, dass jede logie zwischen Denken und Logik lieferten der Neu-
berechenbare Funktion durch eine Turingmaschine rophysiologe Warren McCulloch und der Logiker
implementiert werden kann (Turing, 1936; Turing, Walter Pitts 1943. Die Turingmaschine (und in der
1950). Eine genaue Erklärung würde an dieser Stelle Folge auch von Neumann-Computer) verwenden das
zu weit führen; wesentlich ist in unserem Kontext, von Leibniz erfundene Binärsystem, das heißt sie
dass sie – unendlich großen Speicher vorausgesetzt – „kannte“ die zwei Symbole „1“ und „0“. Auch Ner-
jede berechenbare Funktion berechnen kann und, venzellen kennen zwei Zustände: sie feuern („1“)
dass sie den Begriff Algorithmus exakt präzisiert. Als oder sie feuern nicht („0“). Auf Basis dieser Über-
solche bildete sie die theoretische Basis für die Ent- legung entwickelten McCulloch und Pitts (1943) ein
sehr vereinfachtes, abstrahiertes Neuronenmodell,
4. 4
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
mit dessen Hilfe sie zeigen konnten, dass ein licher Kognition zu identifizieren, die die Erkennt-
Netzwerk dieser Neuronenmodelle – und damit auch nisse aus oben genannten Disziplinen künstlich er-
das menschliche Gehirn – im Prinzip die selben Be- zeugen (im Sinne von am Computer simulieren) und
rechnungskapazitäten hat, wie eine Turingmaschine, diese Simulationsergebnisse wiederum im empiri-
das heißt jede berechenbare Funktion berechnen und schen (psychologischen) Experimenten zu über-
damit auch logische Formalsprachen verkörpern. prüfen.
Das neue wissenschaftliche Paradigma, das – in
Aufgabe:
Das
MIU-‐System
(Hofstadter,
1985) Abgrenzung zum auf extern beobachtbares Ver-
? Folgende
Aufgabe
soll
Ihnen
helfen,
die
Grundprin-‐
halten fokussierten Behaviorismus – die Untersu-
chung jener „innerer Mechanismen“, die für mensch-
zipien
formaler
Sprachen
zu
verstehen.
Das
MIU-‐System
besteht
aus
einem
Axiom
„MI“,
das
liche Kognition verantwortlich sind, zum Ziel hatte,
als
Startbedingung
gegeben
ist,
sowie
den
Symbolen wird als Kognitivismus (Varela, 1990; Bechtel et al.,
„I“
und
„U“,
die
nach
Regeln
manipuliert
werden,
um 1998) bezeichnet. Die Grenzen zum praktisch zeit-
Sätze
zu
bilden
(abzuleiten).
Die
Regeln
lauten: gleich entstandenen Forschungsfeld der „Künstlichen
▸ Regel
1:
Wenn
der
letzte
Buchstabe
ein
I
ist,
darf Intelligenz“ (KI) können wir, zumindest für den
ein
U
angehängt
werden
(MI
→
MIU)
Zweck dieses Lehrbuchs, als fließend erachten.
▸ Regel
2:
Alles
nach
dem
M
darf
verdoppelt
Während für die KI der technische Aspekt im Vor-
werden
(MIU
→
MIUIU)
▸ Regel
3:
Aus
III
darf
U
werden
(III
→
U)
dergrund stand, war es für die Kognitionswissen-
▸ Regel
4:
UU
kann
gestrichen
werden
(UUU
→
U)
schaft der Versuch, menschliche Kognition zu ver-
Bice
nehmen
Sie
sich
10
bis
15
Minuten
Zeit
und stehen.
leiten
Sie
aus
dem
Axiom
MI
mit
Hilfe
der
Regeln
des
MIU-‐Systems
MU
ab!
Waren
Sie
erfolgreich?
Was
hat
Ihnen
bei
der
Lösung Begeben
Sie
sich
zur
nächsten
Kaffeemaschine
(am
der
Aufgabe
Probleme
bereitet
und
was
kann
der
:efere
Grund
dafür
sein?
? besten
eine
Filtermaschine,
jedenfalls
aber
kein
Au-‐
tomat),
beobachten
Sie
genau,
wie
jemand
einen
Kaffee
kocht,
bis
zu
dem
Zeitpunkt
zu
dem
der
Kaffee
3. Klassische
Kogni/onswissenscha1
trinkfer:g
(Milch,
Zucker
usw.)
ist.
▸ Halten
Sie
das
bice
in
einer
genauen
Be-‐
Die oben beschriebene wissenschaftliche Konstel- schreibung
des
Ablaufs
fest,
die
sich
auf
das
We-‐
lation führte zu einer neuen Sicht auf menschliche sentliche
konzentriert.
Auf
dieser
Basis
soll
eine
Kognition und begründete so Mitte der 1950er Jahre fehlerfreie
Wiederholung
der
Handlung
möglich
d a s Entstehen der der Kognitionswissenschaft sein.
(Für
die
Informa:ker/innen
unter
Ihnen:
(Bechtel & Graham, 1998). Was sie einte, war die An- schreiben
Sie
bice
einen
Algorithmus
in
Alltags-‐
sprache.)
nahme einer Vergleichbarkeit von Mensch und Com-
▸ Versuchen
Sie
eine
Person
zu
finden,
die
bereit
ist,
puter in dem Sinne, dass der Computer ein reaktions- Ihrer
Beschreibung
sklavisch
Folge
zu
leisten
und
fähiger Mechanismus sei, der flexibles, komplexes zu
versuchen
Ihnen
(oder
wenigstens
sich
selbst)
und zielorientiertes Verhalten zeigen kann, ebenso auf
Basis
Ihrer
Beschreibung
eine
Tasse
Kaffee
zu
wie Menschen. Daher sei es nur natürlich von der kochen.
Hypothese auszugehen, dass ein solches System of- Gruppenvariante:
Bilden
Sie
Kleingruppen
zur
Be-‐
fenlege, wie Menschen zu eben dieser Flexibilität schreibung
(op:mal:
Dreiergruppen)
und
lassen
Sie
kämen, ergo zeige, wie der menschliche Geist funk- zwei
bis
drei
unterschiedliche
Beschreibungen
auspro-‐
tioniere (Newell, 1963). Diese Annahme schlug sich bieren,
bevor
Sie
die
Fragen
zur
Aufgabe
im
Plenum
besprechen
in dem zentralen Postulat „cognition is information
processing“, Kognition ist Informationsverar- Fragen
zur
Aufgabe
▸ War
Ihre
Beschreibung
erfolgreich?
beitung, nieder. Informationsverarbeitung wird in ▸ Oder
musste
„geschummelt“
werden,
damit
Sie
zu
folgendem Sinne verstanden: ein Algorithmus verar- Ihrem
Kaffee
kommen
konnten,
das
heißt
es
beitet, verändert und generiert Symbole, von den be- wurden
Handlungen
gesetzt,
die
nicht
zu
100
Pro-‐
hauptet wird, dass sie einen Ausschnitt der Welt re- zent
in
Ihrer
Beschreibung
angegeben
wurden?
präsentieren (zum Beispiel das Symbol „Haus“ reprä- ▸ Wie
und
warum?
sentiert ein reales Haus). Deswegen wird dieser Gruppenvariante:
Ansatz auch als symbolverarbeitender Ansatz der ▸ Gibt
es
unterschiedliche
Beschreibungen?
Kognitionswissenschaft bezeichnet. Aufgabe einer ▸ Worin
unterscheiden
sie
sich?
Wissenschaft, die menschliche Kognition verstehen ▸ Auf
welche
Probleme
sind
Sie
beim
Anfer:gen
der
Beschreibung
gestoßen?
wollte, war es somit, jene „Algorithmen“ mensch-
5. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
5
Das Revolutionäre an der neu entstandenen Ko- ständigen Informationen handlungsfähig, weil wir
gnitionswissenschaft war, dass zum erste Mal zwei über Kontextwissen über die Welt verfügen, feh-
Methoden zur Verfügung standen, eine Theorie zu lendes Wissen nahezu automatisch vervollständigen,
überprüfen: neben der Empirie, die eine Untersu- etc. Und wir können eines, das diese Systeme nicht
chung des Forschungsgegenstands „in der Realität“ konnten: wir können lernen und tun es ständig.
ermöglicht, stand nun ein mächtiges Instrument zur Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es gab
Verfügung, eine Theorie in Form eines Modells auf in der Folge viele Versuche die Systeme dieser frühen
Kohärenz zu testen – um dann seine Vorhersagen Phase der Kognitionswissenschaft mit Weltwissen
wieder mit Hilfe der Empirie zu überprüfen. Die auszustatten, die im Wesentlichen mit der Erkenntnis
ersten Systeme brachten schnelle Erfolge, konnten endete, dass unsere Sprache und unser Wissen über
Probleme, wie den „Turm von Hanoi“ lösen und – die Welt in Teilbereichen, aber nicht als Ganzes den
zur damaligen Zeit als Krone menschlicher Ko- Regeln einer Logik folgt, sondern vielfach wider-
gnition gesehen – mathematische Gleichungen lösen sprüchlich ist. Für uns Menschen ist es in unter-
und Schach spielen. schiedlichen Situationen ganz natürlich unterschied-
Kritiker/innen waren jedoch weniger beeindruckt. lichen Regeln zu folgen. Auch mit den Wider-
Ihrer Ansicht nach waren die Systeme nicht wirklich sprüchen natürlicher Sprachen haben wir kein
intelligent, sondern führten nur Programme aus. Die Problem: Wenn jemand meint sich auf die nächste
Probleme, die diese Programme bearbeiteten, seien Bank setzen zu müssen, wissen wir, dass kein Geldin-
so ausgewählt, dass sie in sich geschlossen und leicht stitut gemeint sein kann.
als formales System zu fassen seien. Rückwirkend kann man die klassische Kognitions-
wissenschaft als Unterfangen betrachten, jahrhunder-
tealte Vorstellungen über die menschliche Kognition
Denken
Sie
an
Ihre
Erfahrung
mit
dem
MIU-‐System:
mit Hilfe einer zu ihrer Zeit revolutionären neuen
?
Entspricht
es
Ihrem
Alltagsdenken?
Wann
haben
Sie
Methode auszutesten: der Computersimulation.
aufgehört
innerhalb
des
Systems
zu
denken
und
immer
weitere
Sätze
abzuleiten
und
stacdessen
be-‐ Dadurch haben wir einige falsche Hypothesen über
gonnen
sich
zu
fragen,
ob
eine
Lösung
möglich
ist? Bord werfen können und eine ganze Menge über uns
gelernt. Unsere Vorstellung, was menschliche Ko-
gnition in ihrem Kern ausmacht, hat sich ver-
Ein weiterer Kritikpunkt war, dass ein Programm, schoben – mathematische Gleichungen lösen zu
nur weil es eine Art von Problemen lösen konnte, können, ist es nicht – und Fähigkeiten, die keine
diese Fähigkeit noch lange nicht auf einen anderen weitere Beachtung fanden, wie Sprechen, den
Bereich übertragen konnte, das heißt diese „kogni- Heimweg finden oder über einen Witz lachen
tiven Systeme“ waren hochgradig domänenspezifisch. können, können gewürdigt werden. Darüber hinaus
wurde auch klar, dass sowohl formale als auch natür-
liche Sprachen nur einen Teil der Welt repräsentieren
Denken
Sie
an
Ihren
„Kaffeekoch-‐Algorithmus“:
können und in diesem Ansatz viele feine Nuancen,
? Wie
genau
muss
die
Beschreibung
sein
und
viel
emotionale Zustände, implizite Bedeutungen, usw.,
Wissen
über
die
Welt
erfordert
diese
rela:v
einfache
Aufgabe? die für kognitive Prozesse oft entscheidend sind, in
Wie
reagiert
Ihr
Algorithmus
auf
eine
plötzlichen
Ver-‐
diesem Ansatz unberücksichtigt bleiben.
änderungen
der
Umwelt
(z.B.
einen
neuen
Ort
für
den 4. Konsequenzen
für
Lernen
und
Lehren
mit
Techno-‐
Kaffee,
eine
etwas
anders
gebaute
Maschine)?
logien:
Die
Frage
des
adäquaten
Wissensbegriffs
Welche
Handlungsop:onen
hat
Ihr
Algorithmus
und
was
tut
eine
Versuchsperson,
wenn
er/sie
auf
ein Aber was hat das alles in einem Buch über Lernen
Problem
bei
der
Ausführung
trifft?
und Lehren mit Technologien zu suchen? Der Ein-
fluss der klassischen Kognitionswissenschaft ist in
Die Flexibilität menschlichen Denkens und Han- vielen wissenschaftlichen Bereichen (ebenso wie in
delns zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass wir unserer Alltagsauffassung von Kognition) nach wie
nicht nur unterschiedliche Strategien zur Problem- vor zu erkennbar, was sich sowohl in den Metaphern
lösung zur Verfügung haben, die wir nach Belieben ausdrückt, mit denen Lernprozesse beschrieben
abbrechen und wechseln können, sondern darüber werden, als auch in deren, häufig implizit angenom-
hinaus auch Fähigkeiten zur Adaptation haben. Das menen, Wissensbegriffen.
heißt, wir können unser Handeln hinterfragen, ver- Wann immer es um Lernen und Erinnern geht, ist
ändern und improvisieren. Wir sind auch mit unvoll- die Computermetapher „Kognition ist Informati-
6. 6
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
onsverarbeitung“ allgegenwärtig: es wird von Ab- Polemisch ausgedrückt, macht ein solcher Wissensbe-
speichern, Updaten, Speichern, Informationsverar- griff Lehrende zu Bereitsteller/innen von Infor-
beitung und Abrufen gesprochen. Unser Gedächtnis mation, während Lernende zum beliebigen Container
wird von der Kognitiven Psychologie in ein Sensori- für Wissensobjekte werden. Selbstverständlich gehen
sches Gedächtnis (engl. „sensory buffer“, analog zum wir nicht davon aus, dass Lehrende die skizzierte Po-
Tastaturbuffer oder -puffer), ein Kurzzeit- oder Ar- sition ernsthaft vertreten, es ist uns aber wichtig her-
beitsgedächtnis (engl. „working memory“, analog auszuarbeiten, was in der Computermetapher für
zum Arbeitsspeicher) und ein Langzeitgedächtnis menschliches Denken implizit mitschwingt, das heißt
(engl. „long term memory“, analog zum Speicher, welche Fragen und Schlussfolgerungen sie fördert
„Festplatte“) eingeteilt, zwischen denen „Infor- und wo sie blinde Flecken hat. Gerade im Bereich des
mation“ fließt (Zimbardo, 2004, 298). Lehrens und Lernens mit Technologien – also unter
Wie wir gesehen haben, ist es kein Zufall, dass Einsatz eines Computers – ist es besonders verführe-
dieses Modell damit in wesentlichen Teilen der Com- risch, Wissen als Objekt zu behandeln, vergleiche das
puterarchitektur entspricht. Treffen diese Ausdrücke Ko n z e p t von Lernobjekten. Im Bereich des
den Kern der Sache? Oder suggerieren Sie eine spezi- E-Learning findet es sich in mediendidaktischen
fische Sichtweise, die den Blick auf Wesentliches ver- Konzepten wieder, die von einer De- und Rekontex-
stellt? Vieles deutet darauf hin, dass letzteres der Fall tualisierbarkeit von Wissen oder, wie das Micro-
ist, denn diese Sichtweise auf Kognition und Ge- learning auf „Wissensbrocken’“ basieren. Wir
dächtnis „funktioniert“ nur mit einem Wissensbe- möchten das nicht als Verurteilung verstanden
griff, der folgende Eigenschaften aufweist: wissen, als Elemente eines umfassenderen didakti-
▸ Wissen beschreibt die Welt, schen Konzepts können sie durchaus sinnvoll einge-
▸ Wissen besteht aus Einheiten (und ist damit in ge- setzt werden. Was wir herausarbeiten möchten ist,
wisser Weise quantifizierbar), wie eine Metapher – nämlich menschliche Kognition
▸ Wissen ist strukturunabhängig, das heißt es kann funktioniert wie ein Computer – und die Ver-
gespeichert und abgerufen werden, ohne sich qua- wendung des Computers konzeptuell nahtlos zusam-
litativ zu verändern und mengehen und eine Allianz bilden, die einen Wis-
▸ Wissenseinheiten werden nach Bedarf miteinander sensbegriff transportiert und eine Didaktik des „Wis-
in Beziehung gesetzt. senstransfers“ nahelegt.
Nun könnte man einwenden, dass es egal sei, mit
Kurz gesagt: Wissen verhält sich wie Information, welchem Wissensbegriff jemand lernt, die Fakten
wobei mitschwingt, dass es bezüglich der Bedeutung seien schließlich klar durch den Kursinhalt oder vom
zwischen der gesendeten und der empfangenen In- Lehrplan vorgegeben. Der Wissensbegriff, mit dem
formation keinen Unterschied gibt, das heißt dieser Lernende ans Lernen herangehen ist aber we-
Wissensbegriff behandelt Wissen nicht nur als sentlich für einen nachhaltigen Lernerfolg. Ference
Objekt, sondern suggeriert zusätzlich eine Objekti- Marton und Roger Säljö haben in einer Studie (1976,
vität (im Sinne von invarianten und subjektunabhän- zitiert in Land et al., 2008) zwei qualitativ unter-
gigen Bedeutungen) von Wissen. schiedliche Lernstrategien identifizieren können, die
In einem Bildungskontext suggeriert ein solches sie als oberflächliches Lernen (engl. „surface
Modell unterschwellig zumindest folgende An- learning“) und tiefes Lernen (engl. „deep learning“)
nahmen: bezeichnen. Letzteres ist der Wunsch aller Leh-
▸ dass es beim Lernen darum geht etwas zu memo- renden: Lernende, die intrinsisch motiviert um pro-
rieren und bei Bedarf korrekt abzurufen, fundes Verstehen ringen und das Gelernte mit Vor-
▸ dass dieses Etwas, das gelernt werden soll, wie ein wissen und Erfahrung verknüpfen. Gerade im
Gegenstand von einem Gehirn ins andere weiter- Kontext unseres Bildungssystems kommt es leider
gegeben werden kann, viel zu häufig zur alternativen Strategie des Surface
▸ dass dieses Etwas eine gewisse Objektivität und Learning. Lernende lernen ohne eigene Motivation
Unveränderbarkeit besitzt und, isolierte Fakten auswendig, um sie bei Bedarf zu re-
▸ dass Lernen eine intellektuelle Angelegenheit ist, produzieren (und ggf. gleich wieder zu vergessen), ein
bei dem Körper (inklusive Emotionen) und dem Verhalten das auch gerne als Bulimie-Lernen be-
sozialen Umfeld bestenfalls die Rolle eines „Moti- zeichnet wird (Tabelle 2 stellt die beiden Lernstra-
vators“ zukommt. tegien noch einmal gegenüber). Surface Learning
geht dabei mit einem Wissensbegriff einher, der auf
einzelne Fakten fokussiert, also Wissen als isolierte
7. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
7
Surface
Learning Deep
Learning
Stützt
sich
aufs
Auswendiglernen Suche
nach
der
Bedeutung
und
Verstehen
Stützt
sich
auf
Faktenwissen
&
Rou:nen Stützt
sich
auf
das
„Wesentliche“,
den
„Kern“
Fokussiert
auf
Regeln
und
Formeln,
die
für
die
Lösung
ei-‐ Fokussiert
auf
zentrale
Argumente,
die
für
die
Lösung
ei-‐
nes
Problems
angewendet
werden nes
Problems
von
Bedeutung
sind
Fakten
und
Konzepte
werden
unreflek:ert
„aufgenom-‐ Verknüp>
theore:sche
Ansätze
mit
eigenem
Erfahrungs-‐
men“
und
abgespeichert hintergrund
Vernachlässigt
den
Kontext Bezieht
Kontext
ein
Fokussiert
auf
nicht
vernetzte
Teile
einer
Aufgabe verbindet
vorhandenes
Wissen
mit
neuem
Wissen
Mo:va:on
ist
extrinsisch Mo:va:on
ist
intrinsisch
Tabelle
2:
Charakteristika
von
Surface
Learning
und
Deep
Learning
nach
Marton
und
Säljö
(1976,
zitiert
in
Land
et
al.,
2008)
„Wissensobjekte“ behandelt. Mit der Computerme- Einzelarbeiten, zu einem Siegeszug eines neurowis-
tapher für menschliche Kognition liefert der Kogniti- senschaftlich inspirierten Modells, das bislang vom
vismus eine Sicht auf menschliche Kognition, die Mainstream der Kognitionswissenschaft ignoriert
eben diese Wissenskonzeption unterstützt. worden war: den künstlichen neuronalen Netzen
Forderungen nach einer Didaktik, die mehr (KNN).
leistet als ein Fokussieren auf Faktenwissen, gibt Ein KNN (in der Regel eine Computersimulation,
es spätestens seit der Reformpädagogik. Im Laufe der es sind aber auch physische Umsetzungen möglich)
letzten Jahrzehnte hat sich die Sicht auf menschliche besteht aus vielen sehr einfachen, identisch aufge-
Kognition sehr gewandelt und wir möchten Sie ein- bauten Einheiten, die als units oder auch Neuronen
laden sich mit uns wieder auf die Ebene der kogniti- bezeichnet werden und über Gewichte (diese simu-
onswissenschaftliche Grundlagenforschung zu be- lieren in sehr vereinfachter Weise die Funktion von
geben und Teile dieser Entwicklung mit uns nachzu- Synapsen) untereinander verbunden sind. Typischer-
vollziehen, die Konsequenzen für unser Bild von weise haben KNN, die für die Modellierung kogni-
Lernen und Wissen sowie den Einsatz von Techno- tiver Leistungen herangezogen werden eine Schicht
logien vor diesem Hintergrund zu reflektieren. von Neuronen, der Stimuli präsentiert werden (engl.
„input layer“), eine Schicht von Neuronen, die etwas
ausgeben (engl. „output layer“) sowie eine oder
Wo
ist
Ihnen
die
Computermetapher,
das
Benennen mehrere Neuronenschichten dazwischen (engl.
? kogni:ver
Prozesse
als
speichern,
abrufen,
usw.
be-‐
reits
begegnet?
Reflek:eren
Sie
Ihre
„Alltagsphilo-‐
„hidden layer“), die jeweils linear oder rekursiv mit-
einander verbunden sind.
sophie“:
Wie
denken
Sie
selbst
über
Kogni:on,
Lernen Die Aufgabe oder Funktion jedes einzelnen
und
Wissen?
Wie,
in
welchen
Metaphern,
sprechen
Sie
darüber?
Neurons besteht darin, die Aktivierungen der einge-
henden Verbindungen zu integrieren und an die je-
5.
Der
Übergang
zu
einer
neuen
Sicht
auf
Kogni/on: weils „angeschlossene“ Units weiterzugeben. Dies ge-
Der
Konnek/onismus
und
die
Simula/on
neuronaler schieht durch einfaches Aufsummieren der gewich-
Prozesse
teten Inputs und Weitergabe der eigenen Aktivierung,
wenn diese einen bestimmten Schwellenwert über-
Wie oben ausgeführt, führte die Sichtweise der Klas- schreitet. Dies wird von allen Units parallel durchge-
sischen Kognitionswissenschaft zu einer starken führt und führt, auf der Ebene des gesamten Netz-
Kritik, wobei in unserem Kontext ein zentraler Punkt werks, zu einer emergenten Verhaltensdynamik. We-
ist, dass die oben skizzierten Systeme nicht lernen sentlich ist, dass diese Netze in ihrer Architektur
konnten. Mitte der 1980er Jahre kam es, ausgelöst (meist) fest „verdrahtet“ sind, die Gewichte aber ver-
durch eine in dem Doppelband „Parallel Distributed änderbar sind. In Kombination mit den Inputs aus
Processing“ von David E. Rumelhart und James F. der Umwelt sind die Gewichte für die Verhaltensdy-
McClelland (1986) veröffentlichte Sammlung von namik des Netzwerks verantwortlich. Anstatt die Ge-
8. 8
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
wichte von Hand einstellen zu müssen, wurde in den Ergänzung begreifen, die eine Erklärung lieferte, wie
frühen 1980er Jahren ein Algorithmus gefunden, der durch Lernen (von Kategorien) Symbole „in den
die schrittweise Veränderung der Gewichte in einem Kopf kommen“ können. Allerdings stellte sich die
Trainingsprozess in einer Weise durchführt, dass das Frage, welcher Natur diese Symbole denn seien. In
Netz seine Aufgabe schließlich fast perfekt lösen neuronalen Netzwerken sind Symbole und Regeln
kann: KNN können ohne Eingabe von Regeln und nicht sauber voneinander getrennt „abgespeichert“,
Symbolen, nur anhand von Beispielen, mit denen sie vielmehr ist alles, was das Netz „weiß“ in der ge-
trainiert werden, lernen. Nach jeder Aufgabe be- samten Architektur des Netzes, das heißt in allen
kommen sie ein Feedback, ob die Antwort richtig Neuronen, allen Gewichten und deren Konfigu-
oder falsch war, indem Ihre Gewichte ganz minimal ration, verteilt repräsentiert. Man spricht daher
in Richtung der korrekten Lösung verändert werden, auch von einem Subsymbolischen Ansatz (vgl. Ru-
bis sie fast zu 100 Prozent richtig liegen. Allerdings melhart et al., 1986; Smolensky, 1998; Elman, 1990).
können sie nicht alle Aufgaben gleichermaßen gut
lösen. Gut sind sie, kurz gesagt, bei Musterer- Eigenscha>en
Künstlicher
Neuronaler
Netze
(KNN):
kennung, Kategorisierungsaufgaben, Vorhersage von
Wahrscheinlichkeiten, usw. Modelle von Aspekten
! ▸ KNN
lernen
anhand
von
Beispielen
(„Erfahrungs-‐
lernen“),
ohne
explizit
eingegebene
Regeln
und
menschlicher Kognition, die auf KNN basieren, Symbole.
weisen einige sehr charakteristische Eigenschaften ▸ Sie
können
sehr
gut,
kategorisieren,
generalisieren
auf: und
Muster
erkennen.
▸ Die
Repräsenta:on
ist
verteilt
(subsymbolischer
▸ Bei Kategorisierungsaufgaben kann ein KNN ge- Ansatz
neralisieren. Trainiert man ein solches Netz zum ▸ und
robust.
Beispiel Bilder von Blumen und Tiere zu unter- ▸ Sie
machen
ähnliche
Fehler
wie
wir
und
scheiden, wird es ein Bild mit einem Tier, dass es ▸ sind
„biologisch
plausibler“,
weil
von
der
Struktur
nicht im Rahmen seines Trainings „gelernt“ hat, natürlicher
Neuronaler
Netze
inspiriert
mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Kate-
gorie „Tier“ zuordnen. Konsequenzen
für
unsere
Begriffe
von
Wissen
und
▸ Sie können dieselben Fehler bei der Generali- Lernen
sierung machen wie Menschen. Zum Beispiel
übergeneralisieren Kinder beim Spracherwerb Der erste Erfolg der Künstlichen Neuronalen Netze
häufig unregelmäßige Formen, wenn sie Gram- war zunächst, ein biologisch plausibles Modell
matik lernen, sagen zum Beispiel plötzlich „gehte“ dafür zu liefern, wie Symbole und Regeln gelernt
statt „ging“. werden können. In gewisser Weise setzen sie eine
▸ Die Lernkurve gleicht häufig der, die bei Men- Ebene tiefer an als der symbolverarbeitende Ansatz:
schen gefunden wurde: KNN lernen zunächst sie bieten eine Alternative auf der „subsymbolischen
sehr schnell, dann flacht die Lernkurve zusehends Ebene“ an (Smolensky, 1998). Konsequenz war aber
ab ein neues Bild von Repräsentation und den Eigen-
▸ Auch wenn das Netz richtige Antworten liefert, schaften kognitiver Systeme.
kann es sein, dass das, was es gelernt hat, nicht der Damit erlauben die KNN eine fundamental
Intention des Architekten des Netzes entspricht. andere Sichtweise auf Wissen (Peschl, 1994;
So unterschied ein KNN, das lernen sollte Ge- Peschl, 1997). Zunächst ist klar: das „Wissen im
sichter voneinander zu unterscheiden, die ge- Kopf“ muss strukturell keineswegs identisch mit den
zeigten Bilder auf Basis des Haaransatzes vonein- in Symbolen und Regeln beschriebenen Strukturen
ander. der Welt sein. Nicht die „korrekte“ Abbildung der
Welt ist relevant, sondern das adäquate Ergebnis,
▸ Das in einem KNN repräsentierte Wissen ist in
also gewissermaßen die Handlung, die in die Struktur
zweifacher Weise robust: (1) beim Lernen eines
der Umwelt passen muss. Als eine Konsequenz der
neuen Assoziationspaares „vergisst“ das Netz
Aufgabe des Konzeptes der Abbildung sind die In-
nicht das bereits Gelernte; (2) auch vergisst das
halte der Repräsentation, im Gegensatz zu klassi-
Netz nicht schlagartig alles, wenn man einzelne
schen symbolverarbeitenden Systemen, nicht mehr
Neuronen und Gewichte entfernt.
unmittelbar verständlich; vielmehr bedarf es aufwän-
Mit diesen Eigenschaften stellten KNN noch keinen diger statistischer Verfahren, um herauszufinden, was
grundsätzlichen Widerspruch zur klassischen Sicht so ein Netz eigentlich gelernt hat.
auf Kognition dar. Man konnte sie durchaus als eine
9. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
9
Eine weitere interessante Konsequenz der ver- Damit war der Weg frei, die zentrale implizite An-
teilten Repräsentation ist, dass, im Gegensatz zum nahme der Klassischen Kognitionswissenschaft in
klassischen Ansatz, keine Trennung zwischen Frage zu stellen: Wie ‚biologisch plausibel’ ist über-
Inhalt und Substrat besteht: das Netz ist sein haupt die stillschweigende Annahme, dass Kognition
Wissen und dieses Wissen ist in der Architektur ver- vor allem dafür da ist, abstrakte Symbole und Regeln
körpert (zumindest potentiell, zumeist handelt es sich zu verarbeiten?
bei KNN ja um Computersimulationen (zum Beispiel Der Fokus auf die Interaktion eines verkörperten
Clark, 1999; Clark, 2001). Damit gibt es auch keine kognitiven Systems, also eines kognitiven Systems
leicht voneinander trennbaren Wissensobjekte dessen physische Beschaffenheit eine zentrale Rolle
mehr, vielmehr werden alle dem neuronalen für seine Repräsentationsfunktionen spielt, mit seiner
Netzwerk präsentierten Stimuli (zum Beispiel Bilder) physischen Umwelt erlaubte eine neue, „biologi-
von allen Neuronen und allen Gewichten repräsen- schere“ Sichtweise: Die Aufgabe von Kognition ist
tiert. Die Repräsentation das KNN kann man als es, einem Organismus sinnvolles, das heißt überle-
einen Raum verstehen, in dem Inputs kategorisiert bensförderliches Handeln in Raum und Zeit zu er-
und dadurch in eine Beziehung (in diesen einfachen möglichen. Im Paradigma der Embodied Cognition
Modellen ist es Ähnlichkeit) gesetzt werden. wird die Koppelung von Kognition, Körper und Welt
Die Analogien zu Bildungskontexten, insbe- daher zum zentralen Thema. Damit ändern sich auch
sondere Frontalsituationen liegen auf der Hand: Die die Modelle und die Perspektive auf Wissen (-sreprä-
„Input-Output-Relation“ ist dadurch bestimmt, dass sentation). Sie kommen nun vielfach aus dem Bereich
Lernende durch Vortrag, durcharbeiten eines Lern- der Robotik.
pfades, usw. einen Stoff präsentiert bekommen und Anforderung an ein kognitives System ist nicht
in einer Prüfungssituation den gewünschten länger, über möglichst viel und präzises Weltwissen
„Output“ zu liefern haben. Doch Lernen ist kein Ko- zu verfügen, um in seiner Umwelt „funktionieren“ zu
piervorgang von Wissensobjekten – was gelehrt wird, können, es geht vielmehr darum, zeitgerecht mit Ver-
muss noch lange nicht das sein, was gelernt wird. änderungen der Umwelt adäquat umzugehen, (pro-)
Nachdem Lernen in unserem Bildungssystem häufig aktiv und intentional zu handeln. Schon 1986 postu-
„Output-getrieben“ ist („Was muss ich tun, um eine lierte Rodney Brooks, Robotiker am MIT, man
gute Note zu bekommen?“), liegt es daher nahe, Prü- brauche keine Repräsentation und schlug eine Robo-
fungen so anzulegen, dass nicht isolierte Fakten abge- terarchitektur vor, die robustes und gleichzeitig fle-
fragt werden, sondern ein Verständnis der Kategorien xibles Verhalten hervorbrachte, die sogenannte Sub-
und Bezüge des gesamten „Wissensraumes“ ge- sumption Architecture (Brooks 1991).
fordert ist. Das Wesentliche dabei ist, dass ein solches System
ohne eine klassische Form der Repräsentation, das
Welche
Prüfungssitua:onen,
die
Sie
als
Lernende heißt ohne eine Beschreibung, die die Welt abbildet,
? erlebt
oder
als
Lehrende
gestaltet
haben,
haben
Fakten
abgefragt
und
welche
Prüfungsmethoden
sind
auskommt. Stattdessen ist das Wissen ist in der Ar-
chitektur selber verkörpert und dient der Gene-
„:efer“
gegangen?
rierung von Verhalten in Interaktion mit der Welt. An
die Stelle der Abbildung der Welt tritt eine enge er-
6. Embodied
and
Situated
Cogni/on folgreiche Koppelung mit der Umwelt. Basis dieser
Verkörperte
Kogni/on
Architektur bilden Reflexbögen (engl. „layer“ oder
Schichten), die auf Basis eines Reizes aus der Umwelt
Rückwirkend kann der Konnektionismus, der zu eine Handlung ausführen (denken sie an den Lid-
seiner Zeit eine Revolution war, als Bindeglied und schlussreflex). Untereinander sind die Schichten hier-
Übergangsphase zwischen zwei Paradigmen gesehen archisch gekoppelt, das heißt ein Reflex in Aus-
werden. Was als „Nebenwirkung“ des Konnektio- führung kann bestimmte andere unterbinden oder
nismus begann, rückte schließlich ins Zentrum des von anderen unterbunden werden. Damit ist sicher-
Interesses: Während die klassische Kognitionswissen- gestellt, dass der Roboter fortlaufend auf die Ereig-
schaft versucht hatte die Welt möglichst genau in for- nisse in seiner Umwelt reagiert (wobei schon aus Si-
malisierten Strukturen abzubilden, rückte durch den cherheitsgründen eine Aktivität „steh still“ ist) bezie-
Konnektionismus die Frage in den Mittelpunkt, wie hungsweise Aktivität produziert. Dabei ordnen („sub-
KNN-Architektur und -Prozesse mit der Struktur summieren“) die Schichten ihre Aktivitäten gegen-
und Dynamik der Umwelt (Stimuli) zweckmäßig und seitig, unabhängig davon, wie viele Schichten dem
dem jeweiligen System angemessen interagieren System hinzugefügt werden. Dies geschieht ohne In-
10. 10
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
Embodiment Kogni/vismus
Koppelungsmetapher:
Kogni:on
(„Geist“),
Körper
und
Welt Computermetapher
–
Kogni:on
(„Geist“)
ist
regelbasiert
sind
gekoppelt
und
interagieren und
logisch
Will
man
sie
verstehen,
müssen
ihre
Zusammenhänge
un-‐ Isolierte
Analyse:
Kogni:on
wird
ausschließlich
durch
Ana-‐
tersucht
werden lyse
interner
Prozesse
verstanden
Im
Vordergrund:
zielgeleitetes
Handeln
in
Echtzeit
im
dreidi-‐ Im
Vordergrund:
computa(on
mensionalen
Raum
Kogni:on
als
ak:ve
Konstruk:on,
die
in
verkörperten,
ziel-‐ Kogni:on
als
passives
Abrufen
gerichteten
Handlungen
des
Organismus
verankert
ist
Repräsenta:onen
sind
sensomotorisch Repräsenta:onen
sind
symbolisch
encodiert
Tabelle
3:
Unterschiede
von
Embodiment
und
Kongitvismus
nach
Cowart
(2006)
formationsaustausch, das heißt es gibt weder ein zen- Ein elegantes Experiment, das diese Sichtweise
trale Verhaltensplanung und Entscheidungsinstanz, stützt, kommt von Presson und Montello (1994, vgl.
noch eine Abbildung der Welt. Box „Aus der Forschung“). Glenberg (1993) schließt
Brooks’ Ansatz stellt ein Extrem dar, aber er daraus, dass unsere Repräsentationen keineswegs kör-
bringt einige Punkte ans Tageslicht, die generell perunabhängig, sondern im Gegenteil, stark von der
kennzeichnend für den Ansatz der embodied co- Position unseres Körpers im dreidimensionalen
gnitive science sind (eine etwas ausführlichere Über- Raum abhängen. Mit anderen Worten, das Expe-
sicht von Cowart (2006) finden Sie in Tabelle 2: Ko- riment zeigt, dass die Repräsentation der Proban-
gnition ist eine Aktivität: die Handlung steht im Vor- dinnen und Probanden einen sensomotorischen
dergrund, nicht die (passive) Perzeption. Untersucht Anteil hatte.
wird Kognition an der Schnittstelle Körper –
Die
Hervorbringung
und
Nutzung
von
Artefakten
als
Teil
Umwelt, also an der „Peripherie“ des kognitiven
unserer
Kogni/on:
Die
Rolle
der
sozialen
Interak/on,
Systems. Im Gegensatz zur klassischen Kognitions-
der
Sprache
und
der
„Kultur“
wissenschaft, die bei menschlichen kognitiven
Höchstleistungen ansetzte, beginnt dieser Ansatz mit Francisco Varela postulierte bereits 1984, dass „Intel-
sehr einfachen Strukturen und Verhaltensweisen, aber ligenz“ nicht mehr als die Fähigkeit des Problem-
dafür mit einem verkörperten, sich in seiner Umwelt lösens zu verstehen sei, sondern als die Fähigkeit, in
autonom verhaltenden System. eine mit anderen geteilte Welt einzutreten (Varela,
Ganz ohne Repräsentation wird man nicht aus- 1994). Einen Hinweis darauf, dass schon die Ge-
kommen, wenn man menschliche Kognition ver- genwart anderer eine „geteilte Welt“ erzeugt, gibt das
stehen will, aber Kognition als rein „geistiges“, von Experiment von Sebanz et al. (2009, vgl. „Aus der
Körper, physischer und sozialer Umwelt unabhän- Forschung:“). Die „geteilte Welt“ ist jedoch nicht
giges Phänomen zu betrachten führt, wie wir ausge- einfach gegeben, ebenso wie Kognition entsteht sie in
führt haben, ebenfalls in eine Sackgasse. einem aktiven Prozess: Menschen reagieren nicht nur
In der Praxis: Das Experiment von Presson und Montello (1994)
Zwei
Versuchsgruppen
wurden
gebeten,
sich
die
Posi:on
ei-‐ Raumes
und
der
Objekte
darin
um
90°.
Daher
wäre
anzu-‐
niger
Gegenstände
in
einem
Raum
zu
merken.
Anschließend nehmen,
dass
es
keine
Rolle
spielt,
ob
die
Probandinnen
und
wurde
ihnen
die
Augen
verbunden.
Die
erste
Gruppe
wurden Probanden
sich
zusätzlich
physisch
in
eine
andere
Posi:on
gebeten
sich
um
90°
zu
drehen
und
nacheinander
auf
die begeben.
Tatsächlich
aber
zeigten
die
Probandinnen
und
Pro-‐
Objekte
zu
zeigen,
die
angesagt
wurden.
Die
zweite
Gruppe banden
der
ersten
Gruppe,
die
sich
tatsächlich
gedreht
wurde
gebeten
sich
lediglich
vorzustellen
sie
häcen
sich hacen,
schnell
und
akkurat
auf
die
gefragten
Objekte,
gerade
um
90°
gedreht
und
sollten
auf
die
Posi:on
zeigen, während
die
Zeigebewegungen
der
zweiten
Gruppe,
die
sich
die
die
Objekte
einnehmen
würden,
wenn
sie
sich
gedreht die
Drehung
lediglich
vorstellen
musste,
zögerlich
und
un-‐
häcen.
Aus
Sicht
des
kogni:vis:schen
Paradigmas
tun
beide genau
waren.
Gruppen
dasselbe:
sie
ro:eren
ihre
Repräsenta:on
des
11. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
11
auf Stimuli in der Umwelt, sondern wir verändern Kognition gemeint) hat immer eine sozio-kulturellen
und strukturieren sie in hohem Maße. Der Philosoph Dimension, man spricht in diesem Kontext auch von
Andy Clark (1995) bezeichnet dies das als „Scaf- Situated Cognition (Clark, 2001), Die nächste Ge-
folding“ (Errichten eines Gerüsts): wir strukturieren neration erhält nicht nur die Gene der Elterngene-
unsere Umwelt so, dass sie uns in unseren Hand- ration, sondern wächst in die entstandenen sozialen
lungen, bzw. beim Erwerb von Fähigkeiten unter- und organisationalen Strukturen sowie die Inter-
stützt. Ein alltägliches Beispiel ist der Terminka- aktion mit physischen Artefakten hinein. Tomasello
lender: Wir müssen uns nicht länger jeden Termin (1999) bezeichnet diesen Umstand in seinem Buch
merken, statt dessen werfen wir kognitiven Ballast ab „The Cultural Origin of Human Cognition“ als Rat-
(man spricht von engl. „offloading cognitive load“) scheneffekt (engl. „ratchet effect“): Wie die Zacken
und interagieren mit unserem Terminkalender, indem des Zahnrads, die die Drehung der Ratsche in eine
wir Einträge machen oder ihn konsultieren. Eine ko- Richtung erzwingen, ermöglichen Artefakte den
gnitiv anspruchsvolle Aufgabe – hier: viele unter- Aufbau neuer Interaktionsmuster auf der Basis der
schiedliche Termine exakt „im Kopf haben“ – wird vorangegangenen.
auf wenige Handlungsmuster in Form der Inter-
aktion mit einem Artefakt heruntergebrochen. Überlegen
Sie
bice,
in
welchen
alltäglichen
Situa-‐
Darüber hinaus strukturieren wir unsere Umwelt
nicht nur durch Artefakte, wie Werkzeuge, Terminka-
? :onen
Sie
Artefakte
verwenden,
die
Ihnen
„kogni:ven
Ballast“
abnehmen.
Welche
Cogni:ve
Load
laden
Sie
lender, Städte, sondern durch soziale Konventionen, ab
und
welche
Interak:onsmuster
treten
an
ihre
Organisationen und – nicht zuletzt - durch Sprache. Stelle?
Letztere bezeichnet Clark (1995) als „ultimatives Ar-
tefakt“, weil sie folgende Funktionen erfüllt: Hutchins (1995) wechselt daher die Betrachtungs-
▸ Ein symbolisches Artefakt hat immer den Aspekt ebene: In seinem Artikel „How a cockpit remembers
der Referenz. Das heißt ein Symbol referiert auf its speeds“ ist der Forschungsgegenstand „kognitives
den Gegenstand, für den es steht. Es ist klar, dass System“ nicht mehr das Individuum, sondern ein
diese Referenz nicht im Symbol selber, sondern sozio-technisches System, das nicht nur aus Indi-
durch eine Zuschreibung durch ein oder mehrere viduen (Piloten), sondern auch aus Artefakten (Mess-
kognitive Systeme geschieht. Das Artefakt ist so- instrumente und Unterlagen) im Cockpit, besteht
zusagen nur Träger für eine potentielle Referenz- (siehe Kapitel #ant). Um zu verstehen, warum das
funktion. Flugzeug sicher landet, reicht es aus seiner Sicht nicht
▸ Darüber hinaus vermögen symbolische Artefakte aus, die kognitiven Prozesse im Kopf der Piloten zu
Teile unseres Gedächtnisses stabil zu halten und analysieren, eine Erklärung für die Leistung findet
▸ die Strukturierung der Umwelt zu verhandeln. sich erst, wenn man alle Formen der Repräsentation
– sei diese im Gehirn, auf Papier, einem Messin-
Über Artefakte beeinflussen wir die Interaktionsmög- strument oder eine sprachliche Äußerung sowie die
lichkeiten anderer mit der Welt und werden in noch Interaktionsmuster zwischen ihnen analysiert. (Man
stärkerem Maße selbst beeinflusst. Mit anderen beachte an dieser Stelle eine weitere Umdeutung des
Worten: Kognition (hier ist weitgehend menschliche Begriffs der Repräsentation!)
Aus der Forschung: Das Experiment von Sebanz et al. (2009)
Sebanz
et.al.
(2009)
zeigten
ihren
Versuchspersonen
ver-‐ gorien
zu
erinnern.
Das
Ergebnis
war
verblüffend:
Personen,
schiedene
Bilder
aus
drei
Kategorien
(Tier,
Frucht/Gemüse die
ihre
Aufgabe
in
Gegenwart
einer
zweiten
Versuchsperson
und
Haushaltsgerät)
auf
einem
Computerbildschirm,
wobei erfüllt
hacen,
erkannten
signifikant
mehr
Objekte
aus
der
eine
Versuchsperson
immer
auf
eine
Kategorie
mit
Tasten-‐ Kategorie
der
anderen
Person
wieder,
als
wenn
sie
die
druck
reagieren
sollte.
Diese
Aufgabe
wurde
unter
zwei
Um-‐ Aufgabe
alleine
bewäl:gten.
Die
Anwesenheit
der
zweiten
ständen
durchgeführt:
alleine
und
in
Gegenwart
einer Person
hace
weder
Auswirkung
auf
das
Erinnern
der
„ei-‐
zweiten
Versuchsperson,
deren
Aufgabe
es
war,
auf
eine genen“
Kategorie
noch
auf
das
der
dricen
Kategorie.
Allein
andere
Kategorie
zu
reagieren.
die
soziale
Situa:on,
ohne
eine
im
eigentlichen
Sinne
ge-‐
Nach
dieser
Aufgabe
wurden
die
Versuchspersonen
jeweils meinsame
Aufgabe,
hace
Auswirkungen
auf
die
Aufmerk-‐
gebeten,
möglichst
viele
der gesehenen
Objekte
aller
Kate-‐
samkeit
und
das
Gedächtnis
der
Versuchspersonen.
12. 12
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
Im Bereich des Lehrens und Lernens ist eine Das geht insofern mit einem konstruktivistischen
solche Betrachtungsweise eine gute Basis, um Lern- Denken Hand in Hand, als dass das Artefakt an sich
prozesse als situiert zu konzeptualisieren. In ihrem bedeutungslos ist. Der Fokus liegt hier jedoch we-
Buch „Situated Learning“ (1991) analysieren Lave niger auf der individuellen Kognition und Kon-
und Wenger (1991) außerschulische Lernprozesse, struktion der „Welt im Kopf“ als auf den Prozessen
wie sie beispielsweise in einer Lehre, bei der Aus- und Strukturen, die dazu führen, dass wir durch
bildung zum Steuermannsmaat auf Schiffen (ein Bei- Kommunikation zu einer Einigung auf „gültiges
spiel von Hutchins) oder bei den Anonymen Alkoho- Wissen“ -- im Sinne von verhandelt und vereinbart--
likern stattfinden, als Lernprozesse in denen sich kommen. Letztlich befähigt uns das zum Eintreten in
Person, Handlung und Welt gegenseitig konstituieren. eine „geteilte Welt“, die wir in Wissensprozessen
Ihr Augenmerk ist dabei weniger auf Artefakte, als fortwährend erzeugen.
auf die sozialen und organisationalen Strukturen ge- Nimmt man den konstruktivistischen Ansatz und
richtet, die dazu führen, dass Neulinge in einem Wis- das Paradigma der Embodied Cognition ernst, hat
sensgebiet nicht einfach nur Fakten lernen, sondern das auch Implikationen für das Verständnis von
in eine Praxisgemeinschaft (engl. „community of Lernen und Lehren. Etwas gelernt zu haben be-
practice“; Wenger, 1998) eintreten und mit zuneh- schränkt sich nicht auf die korrekte Reproduktion
mender Expertise auch eine neue Identität entwi- einer Beschreibung eines Teils der Welt („Fakten-
ckeln. Unter welchen Bedingungen Communities of wissen“). Relationen zwischen diesen Beschrei-
Practice nicht ausschließlich im physischen Raum, bungen, Verhaltensstrategien zur erfolgreichen Um-
sondern als „virtual communities“, virtuelle Gemein- weltbewältigung und letztendlich di e Fähigkeit zur
schaften, im Internet existieren können, zeigt Po- Teilnahme an Wissensprozessen sowie deren Re-
wazek (2001). flexion sind ebenso unabdingbar, um „etwas zu
wissen“.
7. Konsequenzen
für
unsere
Sicht
auf
Wissen,
Lernen
Dies hat auch Konsequenzen für die Rolle der
und
Technologien
Lehrenden: Sie sind nicht länger die Verkünder fi-
Was sind die Konsequenzen einer verkörperten und naler Wahrheiten, sondern Coaches oder Moderato-
situierten Kognitionswissenschaft für unseren Wis- rinnen und Moderatoren, die „nur“ mehr die Wis-
sensbegriff ? Vom leicht fassbaren, weil formalisier- sensdynamik im Lehr- und Lern-Raum moderieren.
baren Wissensbegriff der klassischen Kognitionswis- Man könnte meinen, dass dies ihre Wichtigkeit und
senschaft ist nicht viel übrig geblieben. Stattdessen ist Autorität als „Wissende“ vermindert; sieht man
die Rede von verteilter Repräsentation, Interaktion jedoch genauer hin, wird sie bedeutsamer denn je, da
und Koppelung mit der Umwelt, Verwendung von sie die Umwelt gestalten, das heißt die Artefakte und
Artefakten, um kognitiven Ballast zu reduzieren, usw. damit die möglichen Interaktionsmuster auswählen,
Was davon ist „Wissen“ – was sind für das kognitive die Wissensprozesse erst ermöglichen und durch ihr
System interne und was sind externe Strukturen? Verhalten die Regeln der sozialen Interaktion fest-
Externalisiertes Wissen als Entität, das einen Teil setzen. Sie sind Gestalter/innen von Lernräumen, die
der Welt beschreibt, gibt es in der Form nicht mehr; entweder Bulimie lernen fördern, oder aber Enabling
es handelt sich hier nicht um „Wissen“ im alltags- Spaces, Räume sein können (Peschl et al. 2008), die in
sprachlichen Sinn, sondern um ein an sich bedeu- einer Vielzahl an Dimensionen (architektonisch,
tungsloses Artefakt, dessen Bedeutung in einem fort- sozial, technologisch, kognitiv, emotional, usw) er-
laufenden interaktiven Aushandlungsprozess zwi- möglichende Rahmenbedingungen bieten, um die
schen den teilnehmenden kognitiven Systemen bzw. Arbeit der Wissensgenerierung und Bedeutungsver-
deren internen repräsentationalen Strukturen/-pro- handlung zu unterstützen.
zessen erst entsteht. Das bedeutet auch, dass an die Auf der Ebene von Technologien hat sich inter-
Stelle des Begriffs von Wissen als statischen Gegen- essanterweise ein Wandel vollzogen, den man als
stand, der wahr oder falsch sein kann, das Konzept Konsequenz eines veränderten Bildes von Kognition
eines dynamischen zyklischen Prozesses getreten und Wissen deuten kann: Die monolithische Auto-
ist, dessen Entwicklungsstufen sich in immer neuen rität eines Brockhaus ist abgelöst worden von Wiki-
Artefakten niederschlagen, die ihrerseits neue Inter- pedia, einem Artefakt, das gleichzeitig Raum für und
aktionsmöglichkeiten anbieten, welche wiederum eine Produkt eines permanenten Aushandlungsprozesses
Veränderung der internen Strukturen und Hand- über Wissensartefakte ist.
lungsmuster hervorrufen. Nur Artefakt und Prozess gemeinsam kons-
tituieren Wissen, die Aufgabe von Kognition ist es
13. Kogni:onswissenscha>.
Ihre
Perspek:ve
auf
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien—
13
nicht, „Wissensartefakte“ abzubilden, sondern mit ▸ Maturana, H.R. (1970). Biology of cognition. In: H.R. Ma-
ihnen zu interagieren und im besten Falle in ge- turana & F.J. Varela (Hrsg.), Autopoiesis and cognition: the rea-
meinsame Wissens- und Bedeutungsgebungsprozesse lization of the living, Dordrecht/Boston: Reidel Pub, 2-60.
eintreten zu können. Nimmt man diese Überle- ▸ McCulloch, W.S. & W. Pitts (1943). A logical calculus of the
gungen ernst, so ergibt sich für das Design von ideas immanent in nervous activity. In: Bulletin of Mathema-
Wissens-, Lehr- und Lern-Technologien, dass nur tical Biophysics 5, 115-133.
solche Ansätze erfolgreich sein werden, die einen ▸ Newell, A. & Simon, H. (1963). GPS, a program that simulates
Raum für Interaktionen bieten und Aushandlungs- human thought. In: E. Feigenbaum & J. Feldman, J. (Hrsg.),
prozesse von Bedeutung unterstützen, wie sie in Computers and Thought, New York: McGraw-Hill.
Web-2.0-Technologien wie Wikis verwirklicht sind, ▸ Peschl, M.F. & S. Wiltschnig (2008). Emergente Innovation
nicht aber solche, die auf starren und vorgegebenen und Enabling Spaces. Ermöglichungsräume für Prozesse der
semantischen Strukturen basieren. Knowledge Creation. In: S. Seehusen; M. Herczeg; S. Fischer;
M.C. Kindsmüller & U. Lucke (Hrsg.), Proceedings der Ta-
Wie nehmen
Sie
die
Lernräume
wahr,
mit
denen
Sie
gungen Mensch & Computer 2008, DeLFI 2008 und Cognitive
? als
Lernende/r,
Lehrende/r
oder
Applika:ons-‐
designer/in
konfron:ert
sind?
Welcher
Wissensbegriff
Design 2008, Berlin: Logos, 446-451.
▸ Peschl, M.F. (1994). Repräsentation und Konstruktion. Kogni-
wird
durch
welche
Elemente
gefördert?
Wie
könnte tions- und neuroinformatische Konzepte als Grundlage einer
man
den
Raum
so
verändern,
dass
er
Wissenspro-‐ naturalisierten Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Braun-
zesse
(besser)
unterstützt?
schweig/Wiesbaden: Vieweg.
Literatur ▸ Peschl, M.F. (1997). The Representational Relation Between
Environmental Structures and Neural Systems: Autonomy and
▸ Bechtel, W.; A. Abrahamsen & G. Graham (1998). The life of Environmental Dependency in Neural Knowledge Represen-
cognitive science. In: W. Bechtel & G. Graham (Hrsg.), A com- tation. In: Nonlinear Dynamics, Psychology, and Life Sciences
panion to cognitive science, Oxford: Blackwell, 1-104. (NDPSFS), 1(2), 99-121.
▸ Brooks, R. A. (1986). A Robust Layered Control System for a ▸ Powazek, D. (2002). Design for Community. Berkeley: New
Mobile Robot. In: IEEE Journalof Robotics and Automation, Riders.
Vol. 2, No. 1, 14-23. ▸ Presson C. & Montello D. R. (1994). .Updating after rotational
▸ Brooks, R.A. (1991). Intelligence without representation. In: and translational body movements: coordinate structure of
Artificial Intelligence 47, 139-159. perspective space. In: Perception, 23,(12), 1447-1455.
▸ Chomsky, N. (1959). A Review of B. F. Skinner's Verbal Be- ▸ Rumelhart, D. & McClelland, J. (1986). Parallel Distributed
havior. In: Language, 35, No. 1, 26-58. Processing, Vol. 1 & 2., Cambridge: MIT Press.
▸ Clark, A. (1995). Being There - Putting Brain, Body and World ▸ Rumelhart, D.; Smolensky, P.; McClelland, J.L. & Hinton G.E.
Together Again. Cambridge: MIT Press. (1986). Schemata and sequential thought processes in PDP
▸ Clark, A. (1999). An embodied cognitive science?. In: Trends in models. In: J.L. McClelland & D.E. Rumelhart (Hrsg.), Parallel
Cognitive Sciences, 3(9), 345-351. Distributed Processing: explorations in the microstructure of
▸ Clark, A. (2001). Mindware. An introduction to the philosophy cognition, Psychological and biological models, Cambridge:
of cognitive science. New York: Oxford University Press. MIT Press, 7-57.
▸ Elman, J.L. (1990). Finding structure in time. In: Cognitive ▸ Sebanz N.; Eskenazi T.; Doerrfeld A. & Knoblich G. (2009). I
Science 14, 179-211. will remember you: Enhanced memory for information per-
▸ Glasersfeld, E.v. (1996). Radikaler Konstruktivismus. Ideen, taining to a relevant other. In: Proceedings of the 3rd Joint
Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Action Meeting, July 27-29,2009.
▸ Glenberg, A.M. (1997). What memory is for. In: Behavioral ▸ Skinner, B.F. (1957). Verbal Behavior. Acton: Copley Publishing
and Brain Sciences, 20, (1),1-55. Group.
▸ Hofstadter, D. (1979). Gödel Escher Bach. Ein Endloses ge- ▸ Smolensky, P. (1988). On the proper treatment of connec-
flochtenes Band. tionism. In: Behavioral and Brain Sciences 11, 1-74.
▸ Hutchins, E. (1995). How a cockpit remembers its speeds. In: ▸ Tomasello (1999). The Cultural Origins of Human Cognition.
Cognitive Science, 19, 265-88. ▸ Turing, A. (1936). On computable numbers, with an appli-
▸ Land, R; Meyer, J. & Smith, J. (2008). Threshold Concepts cation to the entscheidungsproblem. In: Proc London Mathe-
within the Disciplines. Rotterdam: Sense Publishers. matic Soc., 42, 230-265.
▸ Lave, J. & Wenger, E. (1991). Situated Learning: Legitimate Pe- ▸ Turing, A. (1950). Computing machinery and intelligence. In:
ripheral Participation. Cambridge: Cambridge University Press. Mind LIX, 59, 236, 433-460.
14. 14
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
▸ Varela, F.J. (1994). Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik.
Eine Skizze aktueller Perspektiven. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
▸ Wenger, E. (1998). Communities of Practice: Learning,
Meaning, and Identity. Cambridge: Cambridge University Press.