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Maturaarbeit Kathrin Lauber

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Spuren des Holocaust
Auswirkungen des Holocaust auf die Nachkommen der
Überlebenden
Kathrin Lauber
Kollegium Heilig Kreuz ...
 
	
  
	
  
Vererbtes	
  Trauma	
  
	
  
	
   	
  
	
  
	
  	
  	
  	
  	
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Inhaltsverzeichnis
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1. Einleitung
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Maturaarbeit Kathrin Lauber

  1. 1. Spuren des Holocaust Auswirkungen des Holocaust auf die Nachkommen der Überlebenden Kathrin Lauber Kollegium Heilig Kreuz Freiburg Maturaarbeit April 2012  
  2. 2.       Vererbtes  Trauma                    1         Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2 2. Das Trauma der Eltern 3 2.1 Wie kam es zum Antisemitismus? 3 2.2 Die „Endlösung“ 5 3. Die Kinder der Überlebenden 7 3.1 Das Schweigen der Eltern 9 3.2 Folgen für das Leben der zweiten Generation 10 3.2.1 Kinder als „Gedenkkerzen“ 11 3.3 Therapie 13 3.3.1 Themenbereiche und Problematik 14 3.3.2 Therapieziele 14 4. Die dritte Generation 15 5. Abschliessende Zusammenfassung des Themas 16 6. Schlusswort 17 Quellenverzeichnis 19 Bilder 19 Bücher 19 Internetquellen 19
  3. 3.       Vererbtes  Trauma                    2         1. Einleitung Meine Arbeit befasst sich mit den psychischen Auswirkungen des Holocaust auf die Kinder und Enkel der Überlebenden. Das Buch „Das Trauma des Holocaust in Psychologie und Geschichte“ hat mich zu diesem Thema gebracht. Es beschreibt wie sehr auch die zweite Generation (die Kinder der Überlebenden) noch unter den Folgen der Verfolgung leidet. Dieses The- ma schien mir so interessant, da diese Menschen sonst wenig Aufmerksamkeit in den Medien erfahren. Wie sehr die zweite Generation betroffen und auch traumati- siert ist, war mir zuvor gar nicht bewusst. Deshalb habe ich mich für dieses Thema entschieden und möchte in meiner Arbeit herausfinden, wie sich der Holocaust auf die zweite und die dritte Generation aus- wirkt. Um mich besser über Fakten und Hintergründe zu informieren, habe ich recherchiert und war erstaunt, dass es so viele Bücher und andere Quellen darüber gibt. Ich habe mit der Organisation „Tamach“ aus Zürich Kontakt aufgenommen. Diese hilft Holo- caust-Überlebenden und deren Familien. Einige Therapeutinnen dieser Organisation haben „Das Trauma des Holocaust in Psychologie und Geschichte“ herausgegeben und auf ihrer Internetseite gibt „Tamach“ an, sich unter anderem sehr an Schulen zu engagieren. Anstatt mit einem Betroffenen selbst Kontakt auf zu nehmen, wählte ich den Weg über einen Therapeuten. Die Arbeit mit den betroffenen Menschen der zweiten und dritten Generation erfordert meiner Meinung nach einiges an therapeuti- schem Können und Ausbildung, die mir selbst fehlt. Auf mein E-Mail an die Organisa- tion antwortete mir sofort Miriam Victory Spiegel, eine Therapeutin, die auch viel mit den Menschen der zweiten Generation arbeitet. Ungefähr zwei Monate später sass ich in ihrer Praxis in Zürich und führte mit ihr ein spannendes und informatives Ge- spräch. Das hat mir sehr geholfen, einige Zusammenhänge zu verstehen. Die Fach- bücher zu meinem Thema sind meist sehr anspruchsvoll und es wird psychologi- sches Vorwissen benötigt, welches ich leider nicht besitze. Gut arbeiten konnte ich mit dem Buch „Siegel der Erinnerung“ von Dina Wardi. Das würde ich auch am ehes- ten weiterempfehlen.
  4. 4.       Vererbtes  Trauma                    3         Es ist von den Büchern, die ich gelesen habe, das einzige, welches sehr ausführlich und trotzdem nicht zu schwer ist, ausserdem sind die Fallbeispiele spannend und sehr gut ausgewählt. Ich möchte dieses Thema nun auf eine Weise darstellen, die für Jedermann ver- ständlich ist und kein Fachwissen verlangt. In der Zeitung oder den Nachrichten hört man selten von der zweiten Generation und man wird sich kaum nur aus flüchtigem Interesse an der Thematik ein 300-Seiten-Buch für Therapeuten ausleihen. Deshalb möchte ich dem Leser1 in einer verhältnismässig kurzen Arbeit die wichtigsten As- pekte vermitteln und hoffentlich sein Interesse an dem Thema wecken. Mein Ziel ist nun, in meiner Arbeit zu thematisieren, wie sich dieses „vererbte Trau- ma“ ausdrückt, warum es entsteht und was das für die Betroffenen bedeutet. Dabei möchte ich aufzeigen, welches die eigentliche Problematik dabei ist und warum ge- rade die zweite Generation auch Hilfe braucht. Die interessante Rolle der dritten Ge- neration als Vermittler zwischen den Generationen, welche in der Literatur leider we- nig thematisiert wird, werde ich auch kurz erläutern. Bevor ich jedoch zum eigentli- chen Thema komme, werde ich zuerst erklären, was während des Holocaust passiert ist und was es bedeutet, überlebt zu haben. 2. Das Trauma der Eltern 2.1 Wie kam es zum Antisemitismus? Über den möglichen Auslöser des enormen Judenhasses und darüber, wie es zum Ausbruch des Holocaust in Deutschland kam, gibt es zahlreiche Theorien, vor allem aber war er das Resultat einer Anhäufung vieler Faktoren. Zu Beginn war die Feind- schaft gegenüber den Juden vor allem religiöser Natur, weil die Juden (der Bibel zu- folge) Jesus, den Sohn des christlichen Gottes, gekreuzigt haben. Dazu kam der so- genannte „Sozialneid“, weil Juden oft künstlerische oder intellektuelle Arbeiten ver- richteten und häufiger als andere mit Geld arbeiteten, woraus auch der Vorwurf des Wuchers entsprang.                                                                                                                 1  In der vorliegenden Arbeit wird zur Vereinfachung nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist immer miteingeschlossen.  
  5. 5.       Vererbtes  Trauma                    4         Der Nationalsozialismus hat diese Feindschaft in einen regelrechten Judenhass, den modernen Antisemitismus verwandelt. Im 19. Jahrhundert wurde die scheinbare Un- terlegenheit der Juden unter anderem von Arthur Graf Gobineau sogar wissenschaft- lich belegt und sozialdarwinistisch begründet. Andererseits wurde die „arische Ras- se2 “ über alle anderen Arten gestellt. Dadurch entstand die Forderung, „Mischehen“ zu verbieten, um die deutsche Rasse „rein“ zu halten, und sie wie zum Beispiel eine edle Hunderasse zu züchten. Das deutsche Volk wurde nach und nach immer mehr gegen die Juden aufgehetzt, man jagte ihnen mit Verschwörungstheorien Angst ein und warnte sie vor einer regelrechten Invasion. Für die Erschaffung dieses Feind- bilds verantwortlich waren vor Hitler unter anderem Herrmann Ahlwardt, Otto Böckel und Houston Stewart Chamberlain. Wolfgang Benz bezeichnet diese Autoren in „Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft“ als „Wirrköpfe“, sagt aber, dass sie vom Publikum trotzdem ernst genommen wurden. Die Situation eskalierte immer mehr und fand mit der Machtübernahme Hitlers ihren traurigen Höhepunkt. Hitler stellt in seinem Buch „Mein Kampf“ den Juden als Parasiten dar, der die arische Rasse verunreinigen und damit das Volk unterwerfen will, er flüchtet sich in seine Phantasien von der „Jüdischen Weltverschwörung“. Aus heutiger Sicht und mit unse- rem Wissen mag man diesen Mann für vollkommen verrückt und unglaubwürdig hal- ten, aber damals glaubten ihm die Menschen, weil er ihnen Angst einjagte und ihnen das Gefühl gab, die Juden seien eine ernsthafte Bedrohung für alle.3 Meiner Meinung nach könnte der wirtschaftliche Faktor auch eine Rolle gespielt ha- ben. Die Juden galten in Deutschland als reich und man gönnte ihnen das bekann- termassen nicht, ausserdem kam mit dem Sozialdarwinismus die scheinbare Ge- wissheit, sie seien weniger wert als Arier. Möglicherweise haben sich die Nationalso- zialisten deshalb berechtigt gefühlt, den Juden alles wegzunehmen und es dem ari- schen deutschen Volk zu geben, denn ihrer Ansicht nach gehörte das Geld, welches die Juden „horteten“, dem deutschen Volk.                                                                                                                 2 Als Arier (von altiranisch ar gut rein edelmütig mit yan der Sohn von; also Aryan = "Sohn von Rei- nem") wurde im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts ein hypothetisches Volk bezeichnet von dem alle hellhäutigen Europäer (Kaukasier) abstammen sollten. (http://www.uni-protokolle.de/ Lexikon/ Ari- er.html , 20.3.12) 3 Wolfgang Benz in: Sösemann, Berndt (2002). Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesell- schaft. Einführung und Überblick. München: DVA, S. 43-50
  6. 6.       Vererbtes  Trauma                    5         Dina Wardi erwähnt in ihrem Buch eine Theorie, welche unter anderem von Dreyfus und Shoham vertreten wird und besagt, dass es von Anfang an einen Aggressor und ein Opfer gibt. Durch Hitlers Propaganda haben die Menschen begonnen, alle ihre schlechten Eigenschaften, welche sie sich selbst nicht zugestehen wollten, auf einen „inneren Juden“ zu schieben. Weil der Betroffene diesen Teil seiner Psyche natürlich nicht akzeptieren wollte, zielte sein ganzer Hass auf den realen Juden und bildete Vorurteile. Damit hatte der Deutsche die Rolle des Aggressors eingenommen. Ande- rerseits werde auch spekuliert, dass die Juden wegen ihrer stetigen Verfolgung und ihrer Leidensgeschichte in der Opferrolle gefangen seien. Diese Theorie vertritt meist die Ansicht, dass sich die Juden sozusagen „der Opferrolle fügten“ und sich viel mehr und intensiver gegen die Nazis hätten wehren können, wenn sie nicht seit Jahrhunderten eine Tendenz zum „Selbstopfer“ hätten. Doch lange nicht alle sind dieser Ansicht, es gibt auch Theorien, die dieser widersprechen. 4 Wie bereits erwähnt, kennt man den Hauptgrund für die masslose Eskalation des An- tisemitismus’ nicht, aber all diese Faktoren haben etwas dazu beigetragen, dass man die sogenannte „Judenfrage“ auf eine so brutale Art und Weise löste. 2.2 Die „Endlösung“ In Deutschland wurden unter der Regierung von Adolf Hitler und sei- ner Partei, der NSDAP, von 1933 bis 1945 mindestens 6 Millionen Menschen ermordet. Mit dem Ziel, alle Juden in Deutschland und auch in Europa auszurotten, be- gann etwas, was man industriali- sierten Massenmord nennen kann.5                                                                                                                 4 Wardi, Dina (1997). Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit den Kin- dern der Überlebenden. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 164-167 5 Benz, Wolfgang (2008). Der Holocaust. München: C. H. Beck. S. 115 & 116 Abbildung  1:  Szene  aus  dem  zweiten  Weltkrieg
  7. 7.       Vererbtes  Trauma                    6         Die Juden in Deutschland und Polen wurden zuerst durch Berufsverbote, Einschrän- kungen in nahezu allen Bereichen des Lebens und Schikanen, wie dem Judenstern, fast vollkommen entrechtet.6 Ab ungefähr 1940 wurden sie gettoisiert und später oft deportiert. Die Hitler-Regierung ordnete schon 1941 Massenerschiessungen (z.B. Babi Yar) an, bei denen die Gefangenen der Reihe nach „liquidiert“ wurden.7 Auf der Suche nach einem Mittel, mit welchem man schneller, mehr und billiger töten konnte, wurde das Gas „Zyklon B“ entdeckt, welches später in den Gaskammern eingesetzt wurde.8 Ohne dass sie wussten, was mit ihnen geschieht, wurden zahlreiche Juden in die Konzentrationslager (auch „Arbeitslager“ genannt) verfrachtet. Auf dem Weg dorthin und bei der Selektion wurden viele Familien gewaltsam auseinandergerissen und sahen sich nie wieder. Am meisten litten diejenigen darunter, welche diese grossen Verluste als Kinder er- litten haben. Die Trennung von der Familie hinterliess oft einen schwerwiegenden Bruch in der Identität und löste einen tiefen seelischen Konflikt aus.9 Den Häftlingen in den Konzentrations- und Arbeitslagern ging es nur ums Überleben. Der Tod war ständig präsent und im Lager herrschte rohe Gewalt. Durch die psychi- sche und physische Unterdrückung zwangen die Nazis ihren Gefangenen ein ab- hängiges, regressives Verhalten auf und zerstörten jegliche Hoffnung, Identität und Individualität. Der Prozess der psychischen Anpassung, welchen sie gezwungener- massen durchliefen, begann mit der „Robotisierung“. Die Gefangenen mussten ver- meiden, auf irgendeine Art aufzufallen, wodurch jedes Gefühlt für Identität und für die eigenen Emotionen verlorenging. Beim Prozess der Regression nahmen die Gefan- genen ein demütiges, gehorsames und passives Verhalten an und ihre Urinstinkte (z.B. Fluchtinstinkte, Reflexe etc.) wurden ihnen genommen. Zusätzlich entwickelten viele Häftlinge eine „falsche Persönlichkeit“, um ihre echte zu schützen. Um sich ge- gen die schmerzlichen, verletzenden Gefühle abzuschotten, wurden sie verschlossen und rigide, wobei oft auch die Fähigkeit zu trauern verlorenging. Dieses erlernte Ver- halten blieb häufig auch nach der Befreiung bestehen und viele Überlebende waren noch lange, manchmal sogar lebenslang, emotional vollständig abgestumpft.10                                                                                                                 6 Benz (2008), S. 34-36 7 Benz (2008), S. 60-68 8 Benz (2008), S. 103 & 104 9 Wardi (1997), S. 35-41 10 Wardi (1997), S. 41-49
  8. 8.       Vererbtes  Trauma                    7         Mit den Juden fielen auch andere Minderheiten, wie zum Beispiel Homosexuelle, geistig Behinderte, Sinti und Roma dem Massenmord zum Opfer.11 In den zahlreichen Konzentrationslagern wie zum Beispiel in Auschwitz oder Bergen- Belsen herrschten schreckliche Zustände. Die Gefangenen wurden ausgebeutet, von ihren Familien getrennt, misshandelt und in den Gaskammern ermordet. Nicht selten wurden jüdische Frauen sexuell missbraucht und mussten sich bei KZ-Aufsehern oder bessergestellten Mitgefangenen prostituieren.12 Danieli (1980) unterteilt die Familien der Überlebenden je nach ihren Erfahrungen während des Holocaust in zwei grosse Gruppen: „Die Kämpfer“, die sich für ihr Über- leben aktiv eingesetzt haben und „Die Opfer“, welche den Holocaust passiv erlebt haben und ihr Überleben mit einem glücklichen Zufall erklären.13 Es gab nur wenige Überlebende. Sie konnten sich verstecken, aus einem Konzentra- tionslager fliehen oder kamen nach dem Sturz des Nazi-Regimes 1945 frei.14 Die grauenhaften Bilder und Erlebnisse hinterliessen natürlich ihre Spuren und die Überlebenden werden oft heute noch in ihren Träumen von diesen Eindrücken ver- folgt und leiden unter den Spätfolgen der Traumatisierung. 3. Die Kinder der Überlebenden Nach ihrer Befreiung und dem Ende des Krieges waren die Überlebenden heimatlos und entwurzelt. Viele wollten untertauchen um das Erlebte zu verarbeiten, fanden sich aber häufig in den Camps für „Displaced Persons“ wieder, wo sie verzweifelt nach Familienmitgliedern und Bekannten suchten. In den meisten Fällen blieben sie jedoch allein. Als sie sich der Verluste bewusst wurden, breitete sich bittere Ernüch- terung und Leere aus. Sie waren gezwungen, sich von den Erinnerungen an die Er- mordeten zu lösen und Gefühle wie Trauer oder Mitleid abzuschalten, denn wem dies nicht gelang, der ging an seiner Verzweiflung zugrunde.                                                                                                                 11 Benz (2008), S. 93-100 12 Wardi (1997), S. 245 und Rosenthal, Gabriele (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generatio- nen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Giessen: Psychosozial-Verlag. S.48 & S. 56ff 13 Wardi (1997), S. 167-168 14 Hilberg, Raul (1990). Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 3. Frankfurt am Main: Fischer. S. 1230 & 1293
  9. 9.       Vererbtes  Trauma                    8         Dina Wardi bezieht sich in diesem Fall auf Lifton, der diese Loslösung auch als emo- tionale Versteinerung bezeichnet.15 Die Überlebenden hatten jegliches Vertrauen und damit auch die Fähigkeit und den Willen, erneut zu lieben, verloren. Trotzdem wurden zwischen den Überlebenden viele neue Ehen geschlossen, viel- leicht gerade weil die Menschen entwurzelt, einsam und verzweifelt waren. In diesen „Verbindungen“ kam keine wirkliche emotionale Bindung zustande, aber die Partner halfen einander oft, mit dem Erlebten umzugehen und ein bisschen Halt zu finden. Ausschlaggebende Gründe für die Partnerwahl waren häufig auch materielle Sicher- heit oder die Ähnlichkeit der Person mit einem verstorbenen Angehörigen.16 1946 gab es einen regelrechten „Baby-Boom“. Trotz der Niedergeschlagenheit und Leere, die unter den Überlebenden herrschte, wurden in der Nachkriegszeit zahlrei- che Kinder gezeugt. Dies war möglicherweise eine Art, den Nazis zu zeigen, dass das jüdische Volk noch da war und dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatten. Diese Kin- der waren ein Symbol für das Leben, den stillen Triumph über die Nazis und das Weiterbestehen der jüdischen Rasse. Damit waren natürlich hohe Erwartungen ver- bunden. Man verlangte von ihnen, das Loch zu füllen, welches der Tod vieler gelieb- ter Menschen in das Leben der Überlebenden gerissen hatte. Die Kinder sollten er- mordete Freunde, Partner oder Familienangehörige ersetzen und waren somit prä- destiniert, keine eigenen Individuen, sondern ein Symbol für etwas Verlorenes zu sein (siehe Kap. 3.2.1.).17 Wenn man bedenkt, was die Überlebenden durchgemacht haben und welche Schä- den das in ihrer Persönlichkeit hinterlassen hat (siehe Kap. 2.2), wird schnell klar, dass dies nicht die optimalen Eigenschaften für Mütter und Väter sind und es er- scheint unmöglich, dass diese Menschen ein Kind erfolgreich aufziehen können. Gewisse Probleme sind vorbestimmt, weil die Eltern zu sehr damit beschäftigt sind, um die Verstorbenen zu trauern und mit ihrem eigenen Leben zurechtzukommen, als dass sie sich auch noch um ein Kind kümmern könnten.                                                                                                                 15 Wardi (1997), S. 52 16 Wardi (1997), S. 49-56 17 Wardi (1997), S. 57-59
  10. 10.       Vererbtes  Trauma                    9         3.1 Das Schweigen der Eltern Die Überlebenden reden nur selten mit ihren Kindern über das Erlebte. Oft können sich diese jedoch wegen unbewussten Andeutungen und Informationen denken, dass ihre Eltern vom Holocaust betroffen waren, doch meistens wollen oder können diese nicht darüber reden. Den genauen Grund für dieses vehemente Schweigen kennt niemand. Ich vermute, die Eltern schämen sich dafür, dass sie so erniedrigt wurden und ihre Angehörigen ihrer Meinung nach im Stich gelassen haben. M. Spiegel hat im Interview erwähnt, dass einige Überlebende deshalb ihre Vergangenheit noch heute verbergen oder sie sogar verleugnen. Ich denke auch, dass sie Angst haben, vor ihren eigenen Kindern so viel Blösse zu zeigen und damit an Autorität zu verlieren. Eine andere Möglichkeit ist, dass sie ihre Kinder vor diesem Grauen und den Sorgen und Ängsten, welche damit verbunden sind, schützen wollen.18 Natürlich hätten diese Angst, vor einem zweiten Holocaust und würden an dem Gedanken, was ihren Eltern zugestossen ist, verzweifeln. Aber oft erahnen die Kinder, was der Mutter und dem Vater zugestossen ist. Meist sind die Folgen in diesem Fall noch gravierender, als wenn sie im Detail wissen was die Nazis den Eltern angetan haben. Die Kinder bau- en sich ihre eigene „Wahrheit“ auf und stellen sich vor, was den Eltern passiert sein könnte. Darin rechnen sie mit dem Schlimmsten und stellen sich die grauenhaftesten Szenen vor. Das kann zu einem starken Trauma, Alpträumen und Wahnvorstellun- gen führen, vor allem wenn sie sich in ihre Fantasien hineinsteigern, bis es ihnen vorkommt, als hätten sie alles am eigenen Körper erfahren.19 Es ist mittlerweile bewiesen, dass sich die Familienvergangenheit viel gravierender auf die zweite und die dritte Generation auswirkt, wenn mehr verheimlicht und ver- tuscht wird.20                                                                                                                 18 Rosenthal (1997), S. 19 19 Rosenthal (1997), S. 22 & 23 20 Rosenthal (1997), S. 21ff  
  11. 11.       Vererbtes  Trauma                    10         3.2 Folgen für das Leben der zweiten Generation Den Kindern wird mit fortschreitendem Alter immer mehr bewusst, was ihren Eltern widerfahren ist und was es bedeutet, dass sie die Judenverfolgung überlebt haben, auch wenn diese nicht darüber sprechen. Sie verzweifeln an der Gewissheit, damals nicht für ihre Eltern da gewesen zu sein und an dem schlechten Gewissen, der „Überlebensschuld“. Die Kinder versuchen nachträglich, etwas wiedergutzumachen, in dem sie ihr eigenes Leben den Eltern verschreiben. Sie fühlen sich verpflichtet, ihnen zu helfen und sie in allem zu unterstützen. Schliesslich haben ihre Eltern schon genug gelitten und nichts kann das wieder gutmachen. Beim Versuch der Kinder, den Alltag der Überlebenden so angenehm wie möglich zu gestalten, wird oft deren Autonomieentwicklung in Mitleidenschaft gezogen. Nicht selten opfert ein Kind sogar unbewusst die ganze Jugend und damit die Entwicklung seiner Identität für seine El- tern. Viele Kinder der zweiten Generation gehen nicht wie Andere nach draussen und spielen, sie verpassen zahlreiche wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse, weil sie rund um die Uhr für ihre Eltern da sein wollen. In manchen Familien kommt es so weit, dass ein Rollentausch stattfindet und ein Kind die Elternrolle übernimmt.21 Oft unterdrücken diese Kinder ein Leben lang Aggressionen gegenüber ihren Eltern, um diese zu schonen. Dann kann es auch vorkommen, dass sie einen Ehepartner wählen, der diese Gefühle für sie ausdrückt und an ihrer Stelle die Vorwürfe gegen- über den Schwiegereltern äussert. 22 Nicht selten sind die Überlebenden sehr strenge und verbitterte Eltern, da sie den Grossteil ihrer Empfindungen zum Schutz „abgelegt“ haben. Das trägt in einigen Fäl- len erheblich zur Traumatisierung des Kindes bei, da es sich durch die emotionale Unzugänglichkeit der Eltern abgewiesen fühlt. Da Kinder ein grosses Bedürfnis an Liebe, Zuneigung und Nähe haben, kann sich das Fehlen dieser Faktoren drastisch auf ihre emotionale Entwicklung auswirken. Die Kinder, bei denen dies der Fall ist, sind oft auch im Erwachsenenalter verschlossen und meiden es, ihre Emotionen mit Anderen zu teilen. Zusätzlich reagieren einige Eltern sehr empfindlich auf minimale Tabubrüche und erheben schwere Vorwürfe gegen ihre Kinder, in denen diese nicht selten sogar mit Nazis verglichen werden.                                                                                                                 21 Tyrangiel & Spiegel in: Ludewig-Kedmi, Revital & Tyrangiel, Sylvie & Victory Spiegel, Miriam (2002). Das Trauma des Holocaust zwischen Psychologie und Geschichte. Zürich: Chronos. S. 47-48 22 Rosenthal (1997), S. 46
  12. 12.       Vererbtes  Trauma                    11         Der einzige Schutz vor diesen Vorwürfen ist die stetige Anpassung an die Eltern und die Vermeidung und Unterdrückung von Gefühlen.23 Wie ich im Gespräch mit Frau Spiegel erfahren habe, kommt es in seltenen Fällen sogar zu physischer Gewalt in den Familien. Es beschwert sich jedoch niemand, weil das Verhalten der Eltern oft mit ihrer schrecklichen Vergangenheit gerechtfertigt wird. Deshalb werden sie mit Samthandschuhen angefasst, weil man ihnen auf keinen Fall noch mehr Leid zufügen will. 3.2.1 Kinder als „Gedenkkerzen“ Der Geburtszeitpunkt eines Kindes hat einen grossen Einfluss auf seine spätere Rol- le in der Familie.24 Das würde erklären, warum viele der 1946 Geborenen in ihrer Familie als „Gedenkkerze“ fungieren: Sie kamen in oder kurz nach dem schlimmsten und traumatischsten Lebensabschnitt ihrer Eltern zur Welt. Andere Faktoren für die Bestimmung zur „Gedenkkerze“ könnten aber auch sein, dass das Kind einem ver- storbenen Verwandten ähnlich sah oder auch lediglich das gleiche Geschlecht wie zum Beispiel ein verstorbenes Kind hatte.25 Oft wurden die Kinder nach verstorbenen Verwandten, Bekannten oder anderen ge- liebten Menschen der Eltern benannt, man erwartet von ihnen, diesen Personen ähn- lich zu sein und sie zu ersetzen. Dina Wardi beschreibt diese Rolle als „Gedenkkerze“: „Diesem Kind wird auch die besondere Aufgabe übertragen, jenes Verbin- dungsglied zu sein, das einerseits die Vergangenheit bewahrt, andererseits jedoch die Verbindung zur Gegenwart und Zukunft herstellt. Seine Rolle ent- springt dem Bedürfnis, das ungeheure Vakuum, das der Holocaust hinterlas- sen hat, zu füllen.“ (Wardi 1997, S. 31) Es ist natürlich unmöglich, die Toten wieder auferstehen zu lassen. Trotzdem fühlen sich die Kinder dazu verpflichtet, wie diese Personen zu sein, um ihren Eltern das zu geben, was sie wollen und glauben, ihnen das Leben damit ein bisschen zu erleich- tern.                                                                                                                 23 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 46 & 47 24 Meissner, W. W. (1970), Thinking about the family: psychiatric aspects. in: Ackermann, N. W. (Hg.). Family Process. New York: Basic Books. S. 131 25 Wardi (1997), S. 62-64
  13. 13.       Vererbtes  Trauma                    12         Oft ist dieses Verhalten für das Kind auch der scheinbar einzige Weg, von den Eltern genug Aufmerksamkeit zu bekommen. Meistens ist es ein Kind in der Familie, dem diese Last auferlegt wird, während die Geschwister weniger eng mit den Eltern und dem Holocaust verbunden sind.26 Beschreibungen zufolge fühlt man sich in dieser Situation, als würde man die Toten mit sich herumschleppen.27 Diesen Kindern wurde eine enorme Bürde auferlegt und die Erwartungen sind ver- ständlicherweise für einen so jungen Menschen viel zu hoch. Wie Gabriele Rosenthal an einem Fallbeispiel aufzeigt, steht das Leben der „Ge- denkkerzen“ oft im Schatten der Vergangenheit und die eigene Lebensgeschichte ist durch und durch mit der Vergangenheit verflochten. Die Tochter der Überlebenden macht sich Vorwürfe, weil sie den verstorbenen Sohn ihres Vaters nicht ersetzen kann und ist davon überzeugt, dass sie sich im Angesicht dessen, was ihre Eltern und andere Juden erlitten haben, kein Leid erlauben dürfe. Schon als Kind vermied sie es, ihre Eltern auf irgendeine Weise zu belasten und wollte sie so gut es ging glücklich machen. Es sei ihre Aufgabe, ihre Mutter zu beschützen, sagt die Tochter im Gespräch mit der Therapeutin. Dabei werden jedoch auch ihre unbewussten und unterdrückten Aggressionen und Vorwürfe gegen ihre Mutter deutlich. Sie spricht da- von, für die Verstorbenen „herhalten“ zu müssen, was zeigt, dass es für sie etwas Unangenehmes und Aufgezwungenes ist. Sie erduldet es jedoch trotzdem, um ihren Eltern das Leben zu erleichtern und ihnen einen Gefallen zu tun. Damit ordnet sie ihre Bedürfnisse, unter anderem das Verlangen nach einem eigenen Leben, denen ihrer Eltern unter, ist sich aber andererseits auch ihres Opfers bewusst und wirft das den Eltern unbewusst vor.28 In einem Fallbeispiel von Dina Wardi wird die verzweifelte Situation der „Gedenkker- zen“ sehr deutlich: Die Tochter zweier Überlebender repräsentiert für den Vater seine verstorbene Schwester. Sie wird aber nie seine Erwartungen erfüllen, weil sie nun einmal nicht eine Reinkarnation seiner Schwester, sondern ein Individuum für sich ist.                                                                                                                 26 Wardi (1997), S. 31 27 Wardi (1997), S. 59 28 Rosenthal (1997), S. 63-70
  14. 14.       Vererbtes  Trauma                    13         Er nimmt seine Tochter kein bisschen als eigenständige Person wahr, weshalb sie sich gezwungen fühlt, wie seine Schwester zu handeln und zu sein, um seine Auf- merksamkeit zu bekommen. Also ist die Situation für beide aussichtslos, weil weder der Vater noch die Tochter bekommen, was sie wollen.29 Diese Funktion des Kindes als „Gedenkkerze“ bringt weitreichende Folgen mit sich. Wie man mittlerweile weiss, funktionieren die Kinder der Überlebenden zwar mehr oder weniger einwandfrei in der Gesellschaft, sind aber in Stresssituationen extrem verletzbar und anfällig für psychische Erkrankungen. Oft haben sie erhebliche Schwierigkeiten, sich von jemandem zu trennen, weil die Ablösung von den Eltern und damit auch der Schritt in die Selbstständigkeit nicht stattgefunden haben.30 3.3 Therapie In den Büchern, die ich gelesen habe, finden sich zahlreiche Fallbeispiele, in wel- chen die Therapie oft in ganzen Dialogen dokumentiert ist. Zu Beginn habe ich mich gewundert, dass daraus keine richtige Besserung oder gar „Heilung“ der Patienten erkennbar war, ich kann beinahe sagen, dass ich ein bisschen enttäuscht war. Nach und nach habe ich jedoch erkannt, dass es bei der Therapie nicht darum geht, die Patienten sofort wieder glücklich zu machen, sondern durch das Stattfinden des fa- miliären Dialogs das Schweigen zu brechen, welches die grösste Hürde darstellt. Der Therapeut hilft lediglich dabei, indem er die Familie zusammenführt und sie ermutigt, wenn der Dialog stockt. Die Therapie ist jedoch keine Angelegenheit von ein paar Monaten, sondern dauert oft mehrere Jahre. Die ersten Berichte von Therapien mit Angehörigen der zweiten Generation entstan- den etwa um 1970, als die neuen Patienten gerade ins Erwachsenenalter kamen. In diesem Alter entstand ein zunehmender Wunsch nach Eigenständigkeit und danach, sich den eigenen Problemen zu widmen, damit ging jedoch das schlechte Gewissen den Eltern gegenüber einher, da diese oft noch viel Aufmerksamkeit beanspruchten.                                                                                                                 29 Wardi (1997), S. 70 & 71   30 Natan P. F. Kellermann, http://peterfelix.com/home/Kinder.htm, S. 5-6
  15. 15.       Vererbtes  Trauma                    14         In den siebziger und achtziger Jahren entstanden deshalb immer mehr Selbsthilfe- gruppen für die Kinder der Holocaust-Überlebenden und die Erforschung und Doku- mentierung dieses „Phänomens“ der intergenerationalen Übertragung von Traumata machte erhebliche Fortschritte.31 3.3.1 Themenbereiche und Problematik Die Therapie der zweiten Generation beschäftigt sich vor allem mit der Identität, der mangelnden Abgrenzung von den Eltern und den emotionalen Problemen. Weil sich viele der Betroffenen den Erwartungen der Eltern gefügt haben und sich gezwun- genermassen immer mit etwas anderem identifiziert haben, fällt es einigen sehr schwer, sich selbst und damit die eigene Identität wahrzunehmen. Die Ablösung von den Eltern hat bei vielen gar nicht oder nur mangelhaft stattgefunden. Oft hat der Be- troffene auch Angst, durch eine Abgrenzung die eigenen Wurzeln, die familiäre Ver- gangenheit und die Akzeptanz der Herkunftskultur zu verlieren. Andererseits jedoch wünscht er sich ein Leben ohne den Holocaust. Wegen der symbiotischen Bezie- hung zu den Eltern ist der Ausdruck von Emotionen erschwert, da dies in der Kind- heit oft unterdrückt oder vermieden wurde, um die Eltern nicht zu verärgern oder zu belasten. Es wurde ihnen auch nie ein korrekter, angemessener Umgang mit Gefüh- len vorgelebt und gelehrt, da die Eltern durch ihre Traumata emotional verstört und mit sich selbst beschäftigt sind. Das kann dazu führen, dass Angehörige der zweiten Generation Bewältigungsstrategien (z.B. Kontrollzwang, Geltungssucht, Erfolgs- zwang in den verschiedensten Lebenslagen) entwickeln, welche schwerwiegende Spuren in Beziehungen, im sozialen Umfeld, aber auch in der eigenen Psyche hinter- lassen.32 3.3.2 Therapieziele Wie ich von M. Spiegel erfahren habe, ist das eigentliche Ziel jeder Therapie indivi- duell. In den meisten Fällen ist es die Verständigung und Kommunikation, die der zweiten Generation und insbesondere den „Gedenkkerzen“ helfen soll, sich von ihren Schuldgefühlen und dem übersteigerten Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Eltern zu befreien.                                                                                                                 31 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 48   32 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 48 & 49
  16. 16.       Vererbtes  Trauma                    15         Bei der zweiten Generation sind die Einzel- & Gruppentherapien oft psychoanaly- tisch. Das soll helfen, sich selbst und Andere zu verstehen und sich als eigenständi- ges Individuum wahrzunehmen. Ein grosser Teil der Therapie besteht darin, das Trauern um die Verstorbenen als eigenständigen Prozess zu lernen. Die Toten wurden bisher nur als Verlust auf der Seite der Eltern betrachtet, die ermordete Tante zum Beispiel war nur die „Schwester der Mutter“. In der Therapie werden die Patienten mit der eigenen Familiengeschich- te konfrontiert, sie müssen sich zuerst bewusst werden, dass der Stammbaum nicht bei den Eltern aufhört. Das Bewusstsein, dass die eigenen Verwandten und nicht nur die der Eltern ermordet wurden, soll gestärkt werden. Dieser Prozess ist extrem schmerzhaft und muss langsam angegangen werden, aber das Trauern um die per- sönlichen Verluste hilft, die „Gedenkkerzen“ von ihren Schuldgefühlen gegenüber den Eltern zu befreien.33 Der Ablösungsprozess wird durch die extremen Loyalitätsgefühle gegenüber den El- tern erschwert. Für die „Gedenkkerzen“ waren von klein auf die Bedürfnisse der El- tern an erster Stelle, die eigenen Wünsche und Gefühle wurden ignoriert, wodurch die Ablösung verhindert wurde. In den meisten Fällen ist eine Therapie erfolgreich. In einigen Familien jedoch sind die Bindung und das Zusammenwirken von Eltern und Kind so stark, dass die Ablösung von beiden Seiten her nicht zugelassen wird. Wenn der Patient selbst zu viel Angst vor der Individuation hat und sie als Bedrohung emp- findet, können die Therapieziele nicht erreicht werden.34 4. Die dritte Generation Die Enkel der Überlebenden spielen im familiären Dialog eine bedeutende und er- staunliche Rolle. Von M. Spiegel, die selbst auch Kontakt mit Personen der dritten Generation hat, habe ich erfahren, dass diese meist als „Vermittler“ zwischen der ersten und der zweiten Generation wirken, weil die Überlebenden vermehrt das Ge- spräch mit ihnen suchen und mit ihnen über das Erlebte reden wollen.                                                                                                                 33 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 49 & 50 34 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 50 & 51
  17. 17.       Vererbtes  Trauma                    16         Dieses Verhalten, der regelrechte Drang etwas zu erzählen, steht im kompletten Ge- gensatz zum vehementen Schweigen zwischen den Überlebenden und ihren Kin- dern. Mich hat vor allem erstaunt, dass die erste Generation nun über den Holocaust redet und sich wirklich freiwillig mitteilt, den eigenen Kindern gegenüber aber trotz- dem häufig noch schweigt. Dieses Phänomen könnte meiner Meinung nach daran liegen, dass das Verhältnis zu den Enkeln unbelasteter und unbefangener ist als das zu den eigenen Kindern. Da die dritte Generation vom Holocaust „weiter entfernt“ ist, erinnert sie die Grosseltern nicht direkt an diese Zeit. Auch ausserhalb der Familie suchen die Überlebenden den Kontakt zu den jüngeren Generationen. Viele von ihnen haben ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben oder reisen an Schulen und erzählen ihre Geschichte. Den Grund dafür kennt man nicht, aber ich denke, sie wollen vielleicht damit verhindern, dass der Holocaust in Verges- senheit gerät. Im manchen Fällen, wenn sich die Eltern aus der zweiten Generation nicht genügend von ihren eigenen Eltern abgrenzen konnten, werden auch Angehörige der dritten Generation stark in die Beziehung mit den Grosseltern involviert. Es wird unbewusst von ihnen verlangt, das zu vollbringen, was die Eltern nicht geschafft haben und da- mit die Grosseltern endlich zufriedenzustellen.35 Ich vermute, das ist eher in Familien ohne Therapieerfahrung der Fall, weil sich die Angehörigen der zweiten Generation offensichtlich noch stark ihren Eltern verpflichtet fühlen und möglicherweise Schuld- gefühle empfinden, weil sie geheiratet und eine Familie gegründet (und damit die El- tern verlassen) haben. 5. Abschliessende Zusammenfassung des Themas Die Holocaust-Überlebenden haben Schlimmes durchgemacht, man könnte eigent- lich sagen, dass sie den tragischsten Massenmord der Geschichte miterlebt und vor allem überlebt haben. Die Dinge, welche sie mit angesehen oder erlebt haben, hin- terliessen gravierende Spuren, physisch und psychisch.                                                                                                                 35 Tyrangiel & Spiegel (2002), S. 49
  18. 18.       Vererbtes  Trauma                    17         Die körperlichen Verletzungen sind bis zu einem gewissen Punkt heilbar, die gravie- renden Schäden in der Psyche der Überlebenden bleiben oft ein Leben lang. Die körperlichen Verletzungen heilen meistens, die psychischen Schäden werden noch über Generationen vererbt. In den Familien wird oft über die Vergangenheit und die Erlebnisse im Holocaust ge- schwiegen, trotzdem erahnen die Kinder durch unbewusste Signale oder Andeutun- gen der Eltern, was geschehen ist. Die „Wissenslücken“ werden durch die eigene Fantasie vervollständigt. Nicht selten steigern sich die Kinder enorm in diese Vorstel- lungen hinein. Häufig gibt es in den Familien der Überlebenden ein Kind, die so ge- nannte „Gedenkkerze“, welches für die Eltern die Verbindung zur Vergangenheit auf- rechterhält. Diese Gedenkkerzen tragen oft Namen von ermordeten Angehörigen der Eltern und an sie wird (unbewusst, nicht direkt) die Erwartung gestellt, die Verstorbe- nen zu ersetzen und so zu sein wie sie. Dieses Kind setzt sich mehr mit diesem Thema auseinander als die anderen Kinder und leidet damit auch mehr darunter. Die Angehörigen der zweiten Generation haben auch generell ein übersteigertes Ver- antwortungsbewusstsein gegenüber ihren Eltern, sie wollen diese schonen und vor jeder Anstrengung und jedem Unheil bewahren, da sie bereits Schreckliches erlebt haben. Oft bleibt dabei die eigene seelische Entwicklung (und damit die Entwicklung des Identitätsgefühls) auf der Strecke, da es nicht gewöhnlich ist, wenn Kinder mit ihren Eltern „Rollen tauschen“ und ihr Leben nur deren Wohl widmen. Um die Abgrenzung von den Eltern, welche bei vielen nicht stattgefunden hat, zu er- möglichen und das Schweigen in der Familie zu brechen, gibt es für die Angehörigen der zweiten Generation die Möglichkeit, eine Therapie zu besuchen. Es dauert sehr lange, aber in den meisten Fällen werden die Ziele erreicht. Die dritte Generation fungiert in der Familie oft als Verbindungsglied und Übermittler zwischen der ersten und der zweiten Generation, es gibt über dieses Thema jedoch nur sehr wenig Literatur, weshalb ich es nicht genauer untersuchen konnte. 6. Schlusswort Das Thema, welches ich für diese Arbeit gewählt habe, empfand ich als spannend und aktuell. Ich bin sehr froh darüber, dass ich (wenn auch zufällig) darauf gestossen bin.
  19. 19.       Vererbtes  Trauma                    18         Der Prozess war anspruchsvoll und vor allem die Lektüre war sehr zeitintensiv, da ich einen grossen Teil der Texte und Bücher weder beim ersten noch beim zweiten Anlauf verstanden habe. Das grösste Problem bei der Maturaarbeit war für mich per- sönlich die Zeiteinteilung. Es war schwierig, da man nicht über einige Wochen durcharbeiten konnte, sondern die Arbeit neben der Schule verfassen und sich des- halb immer wieder einlesen musste. Wenn ich mehr als eine Woche nicht daran ge- arbeitet hatte, habe ich jeweils mindestens eine halbe Stunde gebraucht, um den Faden wiederzufinden. Ich habe bei der Arbeit an diesem Projekt auch Wichtiges bezüglich der Arbeitsorga- nisation gelernt. Mir ist bewusst geworden, dass man eine grössere schriftliche Arbeit nicht perfektionistisch angehen darf, da ich beim Schreiben schon zu Beginn an klei- nen Hindernissen wie Satzstellung oder Formulierung stehengeblieben und so nur langsam weitergekommen bin. Ausserdem sind mir kleine Unregelmässigkeiten und Fehler an meinem Schreibstil, wie zum Beispiel überflüssige Füllwörter, aufgefallen, was ich mir für spätere Arbeiten auf jeden Fall merken werde. Der Holocaust ist ein Thema, das man um keinen Preis vernachlässigen darf und welches gerade von den jüngeren Generationen nicht vergessen werden darf. Das steht ausser Frage. Aber die Nachkommen derer, welche die Judenverfolgung über- lebt haben, werden besonders jetzt, da nur noch wenige der direkten Zeitzeugen am Leben sind, immer wichtiger. Meiner Ansicht nach sollte man diesen Menschen mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen und ich bin mir ziemlich sicher, dass das in den nächsten Jahren auch passieren wird.
  20. 20.       Vererbtes  Trauma                    19         Quellenverzeichnis Bilder -­‐ Titelbild: http://www.chiourim.com/sites/default/files/images/photo_1264572009185-1- 0_zoom.jpg (17.1.12) -­‐ Abb. 1: http://www.netzeitung.de/articleimages//79/79189997496514683400.jpg (26.3.12) Bücher - Benz, Wolfgang (2008). Der Holocaust. München: C. H. Beck - Benz, Wolfgang & Graml, Hermann & Weiss, Hermann (2007). Enzyklopädie des Na- tionalsozialismus. München: Deutscher Taschenbuch Verlag - Hilberg, Raul (1990). Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 3. Frankfurt am Main: Fischer. - Kogan, Ilany (1995). Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der Holo- caust-Opfer. Frankfurt am Main: Psychosozial-Verlag. - Ludewig-Kedmi, Revital & Tyrangiel, Sylvie & Victory Spiegel, Miriam (2002). Das Trauma des Holocaust zwischen Psychologie und Geschichte. Zürich: Chronos. - Meissner, W. W. (1970), Thinking about the family: psychiatric aspects. in: Acker- mann, N. W. (Hg.). Family Process. New York: Basic Books. - Rosenthal, Gabriele (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Giessen: Psychosozial-Verlag. - Sösemann, Berndt (2002). Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick. München: DVA - Wardi, Dina (1997). Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychothe- rapie mit den Kindern der Überlebenden. Stuttgart: Klett-Cotta. Internetquellen - Arier. Autor unbekannt. http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Arier.html (20.3.12) - Die Kinder der Child Survivors. Natan P. F. Kellermann http://peterfelix.com/home/Kinder.htm (20.12.11)

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