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APÉRO
Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir
stellen sie vor. In New York schlendern wir
mit der Schriftstellerin Lily Brett von der
Henry Street zum Seward Park, treffen
die Kinder der Boheme und lassen uns von
chinesischen Ziehnudeln hypnotisieren
LOWER EAST SIDE
NEW YORK
UM DIE ECKE
N
ach 25 Jahren in SoHo sind mein
Mann und ich umgezogen. In die
Lower East Side. Die Vorstellung
umzuziehen, machte mich nervös. Vieles
macht mich nervös. Niemand würde mich je
mit einem Zen-Buddhisten verwechseln.
Obwohl das SoHo, das wir verlassen
haben, nichts mehr mit dem SoHo gemein
hatte, in das wir gezogen waren, und obwohl
ich mir nicht hätte träumen lassen, gegen-
über einer Chanel-Boutique und um die
Ecke von Tiffany und Konsorten zu woh-
nen, fürchtete ich mich vor dem Umzug.
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APÉRO
Aber umziehen mussten wir.
Und wir haben es getan.
Mein Mann hat ein men-
schenfreundliches Naturell.
Er umarmt andere Leute
wortwörtlich. Menschen, die er eben erst
kennengelernt hat, nimmt er in die Arme.
Wäre er ein Labrador, würde er allen die
Hand lecken. Mein Mann hat sich am ersten
Tag, den wir in der Lower East Side ver-
brachten, in das Viertel verliebt. Wie glück-
lich er dort ist, hat mich nicht überrascht. Er
fühlt sich fast überall zu Hause. Und er ver-
liebt sich schnell. In Umgebungen, sollte ich
hinzufügen. Nicht in andere Frauen.
Was mich tatsächlich erschreckt hat, war
der Umstand, wie glücklich auch ich in der
neuen Umgebung war. Bis auf den Tag, an
dem ich meinen Mann kennenlernte, habe
ich mich noch nie Hals über Kopf verliebt.
Und auf einmal war ich in die Lower East
Side verliebt. Ohne Wenn und Aber.
Die Lower East Side, vor allem das
Südende der Lower East Side, ist eines der
letzten weitgehend unentdeckten Gebiete
von Manhattan. Es verblüfft mich, wie viele
erfahrene New Yorker diesen Teil Manhat-
tans nicht kennen. New Yorker, die sich
etwas darauf zugute halten, alles über diese
Stadt zu wissen, und die unerschrockene
Erforscher neuer Restaurants, neuer Kunst-
galerien und neuer Gegenden sind, sehen
mich ratlos an, wenn ich ihnen erzähle, wie
gut es mir in der Lower East Side gefällt.
New York City ist die am dichtesten
besiedelte und die kulturell vielfältigste Stadt
der Vereinigten Staaten. Hier gibt es irische,
italienische, deutsche, russische, jüdische,
puerto-ricanische und chinesische Einwoh-
ner. Wir haben hier die größte afroamerika-
nische Gemeinschaft des ganzen Landes und
die größte indische Population der ganzen
westlichen Welt. Wir haben die größte asiati-
sche Bevölkerungsgruppe in Amerika und
darüber hinaus Menschen aus der Dominika-
nischen Republik, aus Jamaika, aus Guyana,
Mexiko, Ecuador, Haiti, Trinidad und
Tobago, aus Kolumbien und aus El Salvador.
Die Stadt ist eine der kulturell durchmisch-
testen Städte der Welt.
AM NABEL DER WELT
WO DAS LEBEN LANGSAMER
LÄUFT, SIND AUCH DIE
KÜNSTLER UND GALERIEN
WIE RAWSON PROJECTS
UND REGINA REX (OBEN
LINKS) ZIEMLICH
BODENSTÄNDIG. GLEICH
HINTER DER MANHATTAN
BRIDGE BEGINNT
BROOKLYN
Im Alltagsleben haben wir in vielen
Bereichen miteinander zu tun, doch die Viel-
falt endet dort, wo unsere Haustür beginnt.
In der Lower East Side ist das nicht so. Die
Lower East Side ist multikulturell. Und sie ist
multigenerationell und sozioökonomisch
vielseitig. Die Vielseitgkeit kann man auf der
Straße sehen. Wir haben Menschen aus allen
Schichten. Hier gibt es Arme, Reiche, Alte
und Junge. Hier leben Menschen in allen Far-
ben, in allen Formen und Größen. Wir beten
zu verschiedenen Göttern oder zu keinem
Gott.
Niemand hat es eilig, die Leute lachen
auf der Straße, gehen gelassen und unterhal-
ten sich dabei. Alles wirkt so normal. Und ist
dennoch nie langweilig. Die Gegend hat
etwas Pulsierendes, Lebendiges, Verschrobe-
nes, eine Ausstrahlung von Ruhe und verhält-
nismäßig wenig Verkehr.