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APÉRO
Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir
stellen sie vor. In New York schlendern wir
mit der Schriftstellerin Lily Brett von der
Henry Street zum Seward Park, treffen
die Kinder der Boheme und lassen uns von
chinesischen Ziehnudeln hypnotisieren
LOWER EAST SIDE
NEW YORK
UM DIE ECKE
N
ach 25 Jahren in SoHo sind mein
Mann und ich umgezogen. In die
Lower East Side. Die Vorstellung
umzuziehen, machte mich nervös. Vieles
macht mich nervös. Niemand würde mich je
mit einem Zen-Buddhisten verwechseln.
Obwohl das SoHo, das wir verlassen
haben, nichts mehr mit dem SoHo gemein
hatte, in das wir gezogen waren, und obwohl
ich mir nicht hätte träumen lassen, gegen-
über einer Chanel-Boutique und um die
Ecke von Tiffany und Konsorten zu woh-
nen, fürchtete ich mich vor dem Umzug.
21
APÉRO
Aber umziehen mussten wir.
Und wir haben es getan.
Mein Mann hat ein men-
schenfreundliches Naturell.
Er umarmt andere Leute
wortwörtlich. Menschen, die er eben erst
kennengelernt hat, nimmt er in die Arme.
Wäre er ein Labrador, würde er allen die
Hand lecken. Mein Mann hat sich am ersten
Tag, den wir in der Lower East Side ver-
brachten, in das Viertel verliebt. Wie glück-
lich er dort ist, hat mich nicht überrascht. Er
fühlt sich fast überall zu Hause. Und er ver-
liebt sich schnell. In Umgebungen, sollte ich
hinzufügen. Nicht in andere Frauen.
Was mich tatsächlich erschreckt hat, war
der Umstand, wie glücklich auch ich in der
neuen Umgebung war. Bis auf den Tag, an
dem ich meinen Mann kennenlernte, habe
ich mich noch nie Hals über Kopf verliebt.
Und auf einmal war ich in die Lower East
Side verliebt. Ohne Wenn und Aber.
Die Lower East Side, vor allem das
Südende der Lower East Side, ist eines der
letzten weitgehend unentdeckten Gebiete
von Manhattan. Es verblüfft mich, wie viele
erfahrene New Yorker diesen Teil Manhat-
tans nicht kennen. New Yorker, die sich
etwas darauf zugute halten, alles über diese
Stadt zu wissen, und die unerschrockene
Erforscher neuer Restaurants, neuer Kunst-
galerien und neuer Gegenden sind, sehen
mich ratlos an, wenn ich ihnen erzähle, wie
gut es mir in der Lower East Side gefällt.
New York City ist die am dichtesten
besiedelte und die kulturell vielfältigste Stadt
der Vereinigten Staaten. Hier gibt es irische,
italienische, deutsche, russische, jüdische,
puerto-ricanische und chinesische Einwoh-
ner. Wir haben hier die größte afroamerika-
nische Gemeinschaft des ganzen Landes und
die größte indische Population der ganzen
westlichen Welt. Wir haben die größte asiati-
sche Bevölkerungsgruppe in Amerika und
darüber hinaus Menschen aus der Dominika-
nischen Republik, aus Jamaika, aus Guyana,
Mexiko, Ecuador, Haiti, Trinidad und
Tobago, aus Kolumbien und aus El Salvador.
Die Stadt ist eine der kulturell durchmisch-
testen Städte der Welt.
AM NABEL DER WELT
WO DAS LEBEN LANGSAMER
LÄUFT, SIND AUCH DIE
KÜNSTLER UND GALERIEN
WIE RAWSON PROJECTS
UND REGINA REX (OBEN
LINKS) ZIEMLICH
BODENSTÄNDIG. GLEICH
HINTER DER MANHATTAN
BRIDGE BEGINNT
BROOKLYN
Im Alltagsleben haben wir in vielen
Bereichen miteinander zu tun, doch die Viel-
falt endet dort, wo unsere Haustür beginnt.
In der Lower East Side ist das nicht so. Die
Lower East Side ist multikulturell. Und sie ist
multigenerationell und sozioökonomisch
vielseitig. Die Vielseitgkeit kann man auf der
Straße sehen. Wir haben Menschen aus allen
Schichten. Hier gibt es Arme, Reiche, Alte
und Junge. Hier leben Menschen in allen Far-
ben, in allen Formen und Größen. Wir beten
zu verschiedenen Göttern oder zu keinem
Gott.
Niemand hat es eilig, die Leute lachen
auf der Straße, gehen gelassen und unterhal-
ten sich dabei. Alles wirkt so normal. Und ist
dennoch nie langweilig. Die Gegend hat
etwas Pulsierendes, Lebendiges, Verschrobe-
nes, eine Ausstrahlung von Ruhe und verhält-
nismäßig wenig Verkehr.
22
APÉRO
ALLES DURCHEINANDER
ZWISCHEN BASKETBALL IM
SEWARD PARK UND ENTZUG MIT
CHINESISCHER MEDIZIN DARF
DIE KUNST GERNE BUNT SEIN: DIE
GALERISTIN CAROLINE TILLEARD
(RECHTS UNTEN) MACHT IHRE
DINNER MITTEN IN DER
AUSSTELLUNG. BEI STÉFAN
JONOT (RECHTS OBEN) VOM
RESTAURANT LES ENFANTS DE
BOHÈME IST FAST JEDER
KELLNER AUCH KÜNSTLER
Mir gefällt das spannungsgeladene
Ambiente mancher Straßen. Die Graffitis,
die Imbisse, die unrenovierten und herunter-
gekommenen alten Gebäude, Geschäfte und
Lagerhäuser. Diese spannende Atmosphäre
verbindet sich mit einer Atmosphäre des
Anti-Establishments. Das sieht man an den
Hipsters, die hier leben, und an den Schil-
dern. Das Schild an der Tür von Cheeky
Sandwiches in der Orchard Street besagt:
„Öffungszeiten: von ziemlich früh bis ziem-
lich spät (bis auf Weiteres).“
Diese Spannungsgeladenheit birgt Mög-
lichkeiten. Möglichkeiten von Veränderun-
gen. Zeichen solcher Veränderungen machen
sich jeden Tag bemerkbar. Jede Woche
scheint eine neue Kunstgalerie zu eröffnen.
Es gibt schon so viele Kunstgalerien. Und
viele haben sich ungewöhnliche Orte ausge-
sucht. Rawson Projects und Regina Rex aus
der Madison Street haben sich im Souterrain
eines Miethauses mit leicht heruntergekom-
mener Fassade und einem Schild, das den
Notausgang bei Feuer anzeigt, angesiedelt.
Ramiken Crucible befindet sich
am Ende einer Sackgasse an der
Grand Street hinter einem Spirituosenladen.
Endless Editions in der Henry Street
mit eklektischen und interessanten Projekten
organisieren Online-Workshops und stellen
Kunst aus. In einem Kellerraum, dessen
Türen sich von unten nach oben hin zum
Gehsteig hin aufklappen lassen. Der Eingang
führt über eine verrostete und gefährlich aus-
sehende Wendeltreppe hinunter. Das ist die
Wendeltreppe meiner Albträume. Ich kann
sie nicht einmal ansehen, ohne dass es mir
schwindelig wird. Glücklicherweise geht es
nicht allen so. Die Galerie scheint sehr gut
besucht zu sein.
Die Galerien in der Lower East Side
machen den Eindruck, als wären sie Teil der
Nachbarschaft, der Gemeinschaft. Sie haben
nicht das kühle Ambiente viel zu vieler der
großen und unpersönlichen Galerien in
Chelsea. Sie sind von dem Leben um sie
herum nicht abgesondert und entfernt. Sie
sind Teil unserer Lebenskraft.
Caroline Tilleard von Cuevas Tilleard
Projects in der Henry Street hat sich ganz
offen über die Galerie geäußert, die sie mit
ihrer Partnerin Anna Maria Cuevas 2014
eröffnet hat. „Wir wollten eine weniger förm-
liche Galerieatmosphäre schaffen, in der sich
junge Künstler wohlfühlen können“, sagte
sie. „Die Lower East Side ist die Gegend, in
der sich alle jungen Galerien ansiedeln. Eli-
täre und furchteinflößende Galerien wie in
Chelsea haben wir uns hier nicht gewünscht.
Wir wollten an einem Ort leben, wo man
kommen und die Künstler kennenlernen
kann. Hierher kommen viele Künstler, um zu
sehen, was die anderen machen. Bei großen
Eröffnungen gibt es immer ein Abendessen
in der Galerie, wo junge Sammler eingeladen
sind oder Leute, die sich mit uns über Kunst
unterhalten, ohne bisher etwas gekauft zu
haben, und sie unterhalten sich mit dem
Künstler. Das ist eine sehr schöne Atmo-
sphäre.“
Die Restaurants und Cafés sind vom
gleichen Geist der Zugehörigkeit zur
Gemeinschaft geprägt. Es gibt zahllose Res-
taurants und Cafés. Das Spektrum reicht von
dem teuren und erstklassigen Chinalokal
Mission am East Broadway über den einfa-
chen und authentischen Spanier El Castillo
in der Madison Street bis zu dem sehr billi-
gen und winzig kleinen Lam Zhou, das eben-
falls am East Broadway liegt. Im Lam Zhou
habe ich zugesehen, wie ein Teigklumpen in
23
APÉRO
FOTOS: FRIDA STERENBERG
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
ÜBERSETZUNG: MELANIE WALZ
die Länge gezogen
und wie ein Lasso zu
Ziehnudeln geworfen
wurde, während an
einem kleinen Tisch
Hunderte von Teig-
klößchen geformt
wurden. Das hat
etwas Hypnotisches.
Mein Lieblings-
restaurant in New York ist das Les Enfants
de Bohème in der Henry Street. Sobald ich
das Les Enfants de Bohème betrete, bin ich
glücklich und fühle mich zu Hause. Der
Inhaber Stéfan Jonot hat eine eigene Theorie
über Räumlichkeiten. Ihm zufolge ziehen
Räume die Leute an, für die sie geschaffen
sind. Wenn das stimmt, dann wäre es die
Erklärung, warum ich im Les Enfants de
Bohème esse. Regelmäßig.
D
as Essen ist köstlich, die Atmosphäre
ist typisch Lower East Side, sehr ent-
spannt und sehr intellektuell. Alle Mit-
arbeiter des Lokals sprechen mehrere Spra-
chen und haben mehrere Berufe. Michelange
ist Dokumentarfilmer, Hypnotherapeut und
Kellner. Ich habe ihn über die Herkunft des
Begriffs „Kollaboration“ räsonnieren hören
und darüber, dass Künstler ihren eigentli-
chen Lohn im Schaffen ihrer Werke sehen
sollten, statt auf finanziellen Erfolg zu schie-
len. Und ich weiß, wie unglücklich es ihn
macht, wenn das Lieblingsgericht eines
Stammkunden nicht auf der Karte steht.
In der Lower East Side unterhalten wir
uns gerne darüber, welches Glück wir haben,
hier zu leben. Neulich sprach ich darüber mit
dem Juwelier Ray Griffiths, der ein Atelier an
der Fifth Avenue hat und seit 14 Jahren in der
Lower East Side wohnt. „Die Gegend
kommt einem vor wie Manhattan in den
Fünfzigern“, sagte er. „Hier gibt es Familien,
die seit 50, 70, 100 Jahren in diesem Viertel
leben. Ich wohne ganz nahe am Fluss. Im
Handumdrehen bin ich am East River, den
ich liebe. Und in warmen Sommernächten
kann man um ein Uhr nachts im Park alte
Knaben Schach und Karten spielen sehen.“
Dieser Park ist der Seward Park. Er
umfasst mehr als einen Hektar Land. Im
Seward Park ist immer etwas los. Es gibt Tai-
Chi-Unterricht, spielende Kinder, arbeitende
Erwachsene, Sport treibende Erwachsene,
lernende Studenten und übende Musiker.
Die bunte Mischung aus Alt und Jung,
Neuankömmlingen und Alteingesessenen,
und die Vielfalt der Sprachen liebe ich ganz
besonders an diesem Viertel. Letzte Woche
war ich zum Einkaufen in dem Supermarkt
um die Ecke. In Supermärkten verliere ich
schnell die Übersicht. Mein Orientierungs-
vermögen tendiert gegen null. Wer mich
nach dem Weg fragt, hat Pech. Ich bin gerne
hilfsbereit. Zahllose Touristen habe ich
schon in die falsche Richtung geschickt.
In dem Supermarkt um die Ecke arbei-
ten hauptsächlich spanischsprachige Ange-
stellte. Ich wollte Brot kaufen. Eine Frau, die
gerade Regale einräumte, fragte ich nach der
Brotabteilung. Sie nickte, lief los und kam
mit einem Einkaufswagen voller Hühnerteile
zurück. Sie waren im Sonderangebot.
„Brot?“, sagte ich fragend. Sie ließ die Hüh-
nerschenkel fallen, die sie in der Hand hielt,
und griff nach Hühnerbrüsten. Ich schüttelte
den Kopf. Sie bot mir Hühnerflügel an. Viele
Hühnerflügel. Mittlerweile machte ich ver-
mutlich einen gequälten Eindruck. Sie grub
tiefer in den Hühnerteilen und bot mir zehn
Hühnerbeine für drei Dollar an. Dann lief
ich mit meinen Hühnerbeinen nach Hause.
Ich kam an sieben riesengroßen runden
Nudelpackungen vorbei, die auf dem Geh-
steig lagen. Ich war versucht, mich zu bedie-
nen. Die Nudeln hätten hervorragend als
Beilage zu den Hühnerbeinen gepasst. Aber
die Packungen waren zu groß. Außerdem
habe ich nicht mehr gestohlen, seit ich als
Zehnjährige beim Ladendiebstahl erwischt
wurde.
Bei einem kleinen 99-Cent-Laden, an
dem ich vorbeikam, kaufte ich ein Spanisch-
lehrbuch für Anfänger.
Berliner Festspiele
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
T +49 30 25486 0
Mi–Mo 10–19 Uhr, Di geschlossen
Martin-Gropius-Bau
Berliner Festspiele
RoteMalerei,Simbabwe,
ChinamoraReserve,ChipukuHöhle,8.000-2.000v.Chr.,AquarellvonElisabeth
Mannsfeld,192965x121cm©Frobenius-InstitutFrankfurtamMain
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  • 1. 20 APÉRO Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. In New York schlendern wir mit der Schriftstellerin Lily Brett von der Henry Street zum Seward Park, treffen die Kinder der Boheme und lassen uns von chinesischen Ziehnudeln hypnotisieren LOWER EAST SIDE NEW YORK UM DIE ECKE N ach 25 Jahren in SoHo sind mein Mann und ich umgezogen. In die Lower East Side. Die Vorstellung umzuziehen, machte mich nervös. Vieles macht mich nervös. Niemand würde mich je mit einem Zen-Buddhisten verwechseln. Obwohl das SoHo, das wir verlassen haben, nichts mehr mit dem SoHo gemein hatte, in das wir gezogen waren, und obwohl ich mir nicht hätte träumen lassen, gegen- über einer Chanel-Boutique und um die Ecke von Tiffany und Konsorten zu woh- nen, fürchtete ich mich vor dem Umzug. 21 APÉRO Aber umziehen mussten wir. Und wir haben es getan. Mein Mann hat ein men- schenfreundliches Naturell. Er umarmt andere Leute wortwörtlich. Menschen, die er eben erst kennengelernt hat, nimmt er in die Arme. Wäre er ein Labrador, würde er allen die Hand lecken. Mein Mann hat sich am ersten Tag, den wir in der Lower East Side ver- brachten, in das Viertel verliebt. Wie glück- lich er dort ist, hat mich nicht überrascht. Er fühlt sich fast überall zu Hause. Und er ver- liebt sich schnell. In Umgebungen, sollte ich hinzufügen. Nicht in andere Frauen. Was mich tatsächlich erschreckt hat, war der Umstand, wie glücklich auch ich in der neuen Umgebung war. Bis auf den Tag, an dem ich meinen Mann kennenlernte, habe ich mich noch nie Hals über Kopf verliebt. Und auf einmal war ich in die Lower East Side verliebt. Ohne Wenn und Aber. Die Lower East Side, vor allem das Südende der Lower East Side, ist eines der letzten weitgehend unentdeckten Gebiete von Manhattan. Es verblüfft mich, wie viele erfahrene New Yorker diesen Teil Manhat- tans nicht kennen. New Yorker, die sich etwas darauf zugute halten, alles über diese Stadt zu wissen, und die unerschrockene Erforscher neuer Restaurants, neuer Kunst- galerien und neuer Gegenden sind, sehen mich ratlos an, wenn ich ihnen erzähle, wie gut es mir in der Lower East Side gefällt. New York City ist die am dichtesten besiedelte und die kulturell vielfältigste Stadt der Vereinigten Staaten. Hier gibt es irische, italienische, deutsche, russische, jüdische, puerto-ricanische und chinesische Einwoh- ner. Wir haben hier die größte afroamerika- nische Gemeinschaft des ganzen Landes und die größte indische Population der ganzen westlichen Welt. Wir haben die größte asiati- sche Bevölkerungsgruppe in Amerika und darüber hinaus Menschen aus der Dominika- nischen Republik, aus Jamaika, aus Guyana, Mexiko, Ecuador, Haiti, Trinidad und Tobago, aus Kolumbien und aus El Salvador. Die Stadt ist eine der kulturell durchmisch- testen Städte der Welt. AM NABEL DER WELT WO DAS LEBEN LANGSAMER LÄUFT, SIND AUCH DIE KÜNSTLER UND GALERIEN WIE RAWSON PROJECTS UND REGINA REX (OBEN LINKS) ZIEMLICH BODENSTÄNDIG. GLEICH HINTER DER MANHATTAN BRIDGE BEGINNT BROOKLYN Im Alltagsleben haben wir in vielen Bereichen miteinander zu tun, doch die Viel- falt endet dort, wo unsere Haustür beginnt. In der Lower East Side ist das nicht so. Die Lower East Side ist multikulturell. Und sie ist multigenerationell und sozioökonomisch vielseitig. Die Vielseitgkeit kann man auf der Straße sehen. Wir haben Menschen aus allen Schichten. Hier gibt es Arme, Reiche, Alte und Junge. Hier leben Menschen in allen Far- ben, in allen Formen und Größen. Wir beten zu verschiedenen Göttern oder zu keinem Gott. Niemand hat es eilig, die Leute lachen auf der Straße, gehen gelassen und unterhal- ten sich dabei. Alles wirkt so normal. Und ist dennoch nie langweilig. Die Gegend hat etwas Pulsierendes, Lebendiges, Verschrobe- nes, eine Ausstrahlung von Ruhe und verhält- nismäßig wenig Verkehr.
  • 2. 22 APÉRO ALLES DURCHEINANDER ZWISCHEN BASKETBALL IM SEWARD PARK UND ENTZUG MIT CHINESISCHER MEDIZIN DARF DIE KUNST GERNE BUNT SEIN: DIE GALERISTIN CAROLINE TILLEARD (RECHTS UNTEN) MACHT IHRE DINNER MITTEN IN DER AUSSTELLUNG. BEI STÉFAN JONOT (RECHTS OBEN) VOM RESTAURANT LES ENFANTS DE BOHÈME IST FAST JEDER KELLNER AUCH KÜNSTLER Mir gefällt das spannungsgeladene Ambiente mancher Straßen. Die Graffitis, die Imbisse, die unrenovierten und herunter- gekommenen alten Gebäude, Geschäfte und Lagerhäuser. Diese spannende Atmosphäre verbindet sich mit einer Atmosphäre des Anti-Establishments. Das sieht man an den Hipsters, die hier leben, und an den Schil- dern. Das Schild an der Tür von Cheeky Sandwiches in der Orchard Street besagt: „Öffungszeiten: von ziemlich früh bis ziem- lich spät (bis auf Weiteres).“ Diese Spannungsgeladenheit birgt Mög- lichkeiten. Möglichkeiten von Veränderun- gen. Zeichen solcher Veränderungen machen sich jeden Tag bemerkbar. Jede Woche scheint eine neue Kunstgalerie zu eröffnen. Es gibt schon so viele Kunstgalerien. Und viele haben sich ungewöhnliche Orte ausge- sucht. Rawson Projects und Regina Rex aus der Madison Street haben sich im Souterrain eines Miethauses mit leicht heruntergekom- mener Fassade und einem Schild, das den Notausgang bei Feuer anzeigt, angesiedelt. Ramiken Crucible befindet sich am Ende einer Sackgasse an der Grand Street hinter einem Spirituosenladen. Endless Editions in der Henry Street mit eklektischen und interessanten Projekten organisieren Online-Workshops und stellen Kunst aus. In einem Kellerraum, dessen Türen sich von unten nach oben hin zum Gehsteig hin aufklappen lassen. Der Eingang führt über eine verrostete und gefährlich aus- sehende Wendeltreppe hinunter. Das ist die Wendeltreppe meiner Albträume. Ich kann sie nicht einmal ansehen, ohne dass es mir schwindelig wird. Glücklicherweise geht es nicht allen so. Die Galerie scheint sehr gut besucht zu sein. Die Galerien in der Lower East Side machen den Eindruck, als wären sie Teil der Nachbarschaft, der Gemeinschaft. Sie haben nicht das kühle Ambiente viel zu vieler der großen und unpersönlichen Galerien in Chelsea. Sie sind von dem Leben um sie herum nicht abgesondert und entfernt. Sie sind Teil unserer Lebenskraft. Caroline Tilleard von Cuevas Tilleard Projects in der Henry Street hat sich ganz offen über die Galerie geäußert, die sie mit ihrer Partnerin Anna Maria Cuevas 2014 eröffnet hat. „Wir wollten eine weniger förm- liche Galerieatmosphäre schaffen, in der sich junge Künstler wohlfühlen können“, sagte sie. „Die Lower East Side ist die Gegend, in der sich alle jungen Galerien ansiedeln. Eli- täre und furchteinflößende Galerien wie in Chelsea haben wir uns hier nicht gewünscht. Wir wollten an einem Ort leben, wo man kommen und die Künstler kennenlernen kann. Hierher kommen viele Künstler, um zu sehen, was die anderen machen. Bei großen Eröffnungen gibt es immer ein Abendessen in der Galerie, wo junge Sammler eingeladen sind oder Leute, die sich mit uns über Kunst unterhalten, ohne bisher etwas gekauft zu haben, und sie unterhalten sich mit dem Künstler. Das ist eine sehr schöne Atmo- sphäre.“ Die Restaurants und Cafés sind vom gleichen Geist der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft geprägt. Es gibt zahllose Res- taurants und Cafés. Das Spektrum reicht von dem teuren und erstklassigen Chinalokal Mission am East Broadway über den einfa- chen und authentischen Spanier El Castillo in der Madison Street bis zu dem sehr billi- gen und winzig kleinen Lam Zhou, das eben- falls am East Broadway liegt. Im Lam Zhou habe ich zugesehen, wie ein Teigklumpen in 23 APÉRO FOTOS: FRIDA STERENBERG ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT ÜBERSETZUNG: MELANIE WALZ die Länge gezogen und wie ein Lasso zu Ziehnudeln geworfen wurde, während an einem kleinen Tisch Hunderte von Teig- klößchen geformt wurden. Das hat etwas Hypnotisches. Mein Lieblings- restaurant in New York ist das Les Enfants de Bohème in der Henry Street. Sobald ich das Les Enfants de Bohème betrete, bin ich glücklich und fühle mich zu Hause. Der Inhaber Stéfan Jonot hat eine eigene Theorie über Räumlichkeiten. Ihm zufolge ziehen Räume die Leute an, für die sie geschaffen sind. Wenn das stimmt, dann wäre es die Erklärung, warum ich im Les Enfants de Bohème esse. Regelmäßig. D as Essen ist köstlich, die Atmosphäre ist typisch Lower East Side, sehr ent- spannt und sehr intellektuell. Alle Mit- arbeiter des Lokals sprechen mehrere Spra- chen und haben mehrere Berufe. Michelange ist Dokumentarfilmer, Hypnotherapeut und Kellner. Ich habe ihn über die Herkunft des Begriffs „Kollaboration“ räsonnieren hören und darüber, dass Künstler ihren eigentli- chen Lohn im Schaffen ihrer Werke sehen sollten, statt auf finanziellen Erfolg zu schie- len. Und ich weiß, wie unglücklich es ihn macht, wenn das Lieblingsgericht eines Stammkunden nicht auf der Karte steht. In der Lower East Side unterhalten wir uns gerne darüber, welches Glück wir haben, hier zu leben. Neulich sprach ich darüber mit dem Juwelier Ray Griffiths, der ein Atelier an der Fifth Avenue hat und seit 14 Jahren in der Lower East Side wohnt. „Die Gegend kommt einem vor wie Manhattan in den Fünfzigern“, sagte er. „Hier gibt es Familien, die seit 50, 70, 100 Jahren in diesem Viertel leben. Ich wohne ganz nahe am Fluss. Im Handumdrehen bin ich am East River, den ich liebe. Und in warmen Sommernächten kann man um ein Uhr nachts im Park alte Knaben Schach und Karten spielen sehen.“ Dieser Park ist der Seward Park. Er umfasst mehr als einen Hektar Land. Im Seward Park ist immer etwas los. Es gibt Tai- Chi-Unterricht, spielende Kinder, arbeitende Erwachsene, Sport treibende Erwachsene, lernende Studenten und übende Musiker. Die bunte Mischung aus Alt und Jung, Neuankömmlingen und Alteingesessenen, und die Vielfalt der Sprachen liebe ich ganz besonders an diesem Viertel. Letzte Woche war ich zum Einkaufen in dem Supermarkt um die Ecke. In Supermärkten verliere ich schnell die Übersicht. Mein Orientierungs- vermögen tendiert gegen null. Wer mich nach dem Weg fragt, hat Pech. Ich bin gerne hilfsbereit. Zahllose Touristen habe ich schon in die falsche Richtung geschickt. In dem Supermarkt um die Ecke arbei- ten hauptsächlich spanischsprachige Ange- stellte. Ich wollte Brot kaufen. Eine Frau, die gerade Regale einräumte, fragte ich nach der Brotabteilung. Sie nickte, lief los und kam mit einem Einkaufswagen voller Hühnerteile zurück. Sie waren im Sonderangebot. „Brot?“, sagte ich fragend. Sie ließ die Hüh- nerschenkel fallen, die sie in der Hand hielt, und griff nach Hühnerbrüsten. Ich schüttelte den Kopf. Sie bot mir Hühnerflügel an. Viele Hühnerflügel. Mittlerweile machte ich ver- mutlich einen gequälten Eindruck. Sie grub tiefer in den Hühnerteilen und bot mir zehn Hühnerbeine für drei Dollar an. Dann lief ich mit meinen Hühnerbeinen nach Hause. Ich kam an sieben riesengroßen runden Nudelpackungen vorbei, die auf dem Geh- steig lagen. Ich war versucht, mich zu bedie- nen. Die Nudeln hätten hervorragend als Beilage zu den Hühnerbeinen gepasst. Aber die Packungen waren zu groß. Außerdem habe ich nicht mehr gestohlen, seit ich als Zehnjährige beim Ladendiebstahl erwischt wurde. Bei einem kleinen 99-Cent-Laden, an dem ich vorbeikam, kaufte ich ein Spanisch- lehrbuch für Anfänger. Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin T +49 30 25486 0 Mi–Mo 10–19 Uhr, Di geschlossen Martin-Gropius-Bau Berliner Festspiele RoteMalerei,Simbabwe, ChinamoraReserve,ChipukuHöhle,8.000-2.000v.Chr.,AquarellvonElisabeth Mannsfeld,192965x121cm©Frobenius-InstitutFrankfurtamMain GünterBrus,WienerSpaziergang,5.Juli1965.Innenstadt,1010Wien ©BRUSEUM/NeueGalerieGraz,UniversalmuseumJoanneum; Foto:LudwigHoffenreich 21. Januar bis 16. Mai 2016 Kunst der Vorzeit Felsbilder aus der Sammlung Frobenius 12. März bis 6. Juni 2016 Günter Brus Störungszonen