2. Konzepte der Gesundheitsförderung
Spezifische
SOC rungskraft für Phänomene, die sozialwis-
Lebenserfahrungen
senschaftlich ausgerichtete Gesundheits-
wissenschaftler/innen stark interessieren,
etwa für das Phänomen sozial ungleich
GRRs- ease -
verteilter Gesundheitschancen.
GRDs- Coping dis-ease-
Kontinuum Kontinuum
Das Modell der Salutogenese
und der Forschungsstand
Sozialer Kontext:
Spannungszustand
Lebensbedingungen Abb. 1 9 Vereinfachtes Das Modell besagt, dass Stressoren auf
Modell der Salutoge- das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum
nese in krank machender, neutraler oder ge-
sundheitsfördernder Richtung wirken, je
und Krankheitsprozesse. Beeinflusst u. a. Antonovskys Modell wurde auch durch nach dem, wie die Spannungsbewältigung
von der Sozialpsychologie, die in den USA seine empathische Grundhaltung gegen- (Coping) erfolgt. Die Spannungsbewälti-
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über Menschen geprägt, die die drama- gung ist zunächst davon abhängig, welche
von sozialkritischen Emigranten aus Eu- tischen Entwicklungen des 20. Jahrhun- generalisierten Widerstandsressourcen
ropa, darunter Lazarsfeld [15], weiterent- derts überstanden hatten. In seiner Studie (generalized resistance ressource, GRR)
wickelt wurde und soziale Determinan- über die Adaption von Frauen aus unter- zur Verfügung stehen und inwiefern die-
ten psychischer Gesundheit erforschte, schiedlichen ethnischen Gruppen in Israel se in der jeweiligen Situation auch ge-
ging es ihm immer auch um eine anwen- an das Klimakterium zeigte sich, dass un- nutzt können. GRR (u. a. materielle Vorr-
dungsorientierte, die Praxis gesellschaft- ter denjenigen mitteleuropäischen Frau- aussetzungen, Selbstidentität, soziale Un-
licher Entwicklung beeinflussende For- en, die an der Studie teilnahmen, etwa 300 terstützung, kulturelle Stabilität oder Ge-
schung und um sozialkritisches Handeln. waren, die während des Nationalsozialis- sundheitsbewusstsein) sind nicht ohne
Dies gilt gleichermaßen für die Entwick- mus ein Konzentrationslager überlebt hat- den historischen soziokulturellen Kontext
lungspsychologin Helen Antonovsky, de- ten, dann jahrelang als „deplaced person“ denkbar. Ob vorhandene Ressourcen für
ren Anteil an der Entstehung des Mo- gelebt hatten, sich ein neues Leben in Is- Bewältigungsstrategien nutzbar gemacht
dells nicht unterschätzt werden darf [3]. rael aufgebaut hatten, dort 3 Kriege er- werden, darüber entscheidet das Empfin-
Die mentale Gesundheit war für beide lebt hatten und trotz solcher Erfahrungen den von Kohärenz (SOC). Das SOC ist
nicht unabhängig von gesellschaftlich be- im Prinzip eine gute psychische und phy- kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern
dingten Lebenserfahrungen denkbar. sische Gesundheit aufwiesen. eine grundlegende Lebensorientierung,
In der deutschsprachigen Rezepti- Diese von Antonovsky [3] erzählte und umfasst die Komponenten Versteh-
on des Modells der Salutogenese über- Geschichte der Entdeckung seiner For- barkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsam-
wiegt dagegen die individualpsycholo- schungsfrage wird oft verkürzt wiederge- keit, wobei prospektiv letztere die wich-
gische Sicht [4, 8, 10]. Möglicherweise geben. So heißt es z. B. bei Bengel et al. tigste Komponente zu sein scheint. Das
ist es diesem Umstand geschuldet, dass [4] „29%(!) der inhaftierten Frauen“ hät- SOC könnte prinzipiell im Sinne der kör-
sich die Diskussion interventioneller Fra- ten über eine relative gute Gesundheit be- perlichen Stressreaktion unmittelbar auf
gen in Deutschland zu eng um die Mög- richtet. Das ist höchst missverständlich die physische und psychische Gesundheit
lichkeit individueller Modifikationen des formuliert. Die Zahl 29% bezieht sich auf einwirken. Es könnte u. U. Gesundheits-
SOC dreht. einen Anteil des spezifischen Ausschnitts handeln beeinflussen. Es wird aber vor
Angesichts der Erfahrungen von Ar- unter denjenigen Frauen, die trotz solcher allem über die Aktivierung der GRR wir-
mut, Krieg, Rassismus und Antisemitis- 25 Jahre zurückliegender Lebenserfah- ken (. Abb. 1).
mus und deren Folgen wird verständlich, rungen überhaupt physisch und psychisch Verkürzt formuliert, sind Menschen
dass Antonovsky Gesundheit nicht als ho- in der Lage waren, an der Studie teilzu- mit einem starken SOC besser in der Lage,
möostatischen Normalzustand beschrei- nehmen und in Israel lebten. Es handelte GRR zur Bewältigung unterschiedlichs-
ben kann, der durch störende Reize oder sich keineswegs um eine Querschnittstu- ter Stresssituationen für sich zu nutzen
falschen Lebenswandel aus der Balance die zu den Überlebenschancen eines KZ- und entwickeln sich deshalb auf dem Ge-
geraten kann. Gesundheit ist für ihn kei- Aufenthalts! sundheits-Krankheits-Kontinuum eher in
ne Selbstverständlichkeit, sondern ange- Die Betrachtung von Personen mit ho- Richtung Gesundheit. Dabei ist ein star-
sichts der Omnipräsenz von Stressoren hen Stresswerten, die dennoch nicht krank ker SOC nicht mit bestimmten Bewälti-
ein höchst erfreuliches Phänomen, eine werden, ist Teil des Zeitgeist der 1970er Jah- gungsstrategien verbunden, sondern mit
mögliche Entwicklungsrichtung auf einem re, der sich in der Ähnlichkeit des Kons- einer hohen Flexibilität in der Wahl der
Kontinuum. Gesundheit ist für Antonovs- truktes des „sense of coherence“ mit ande- Strategien, die situative Bedingungen be-
ky auch unabhängig vom Krankheitssta- ren Konzepten [10, 12] spiegelt, die in das rücksichtigt. Ein schwacher SOC wird
tus möglich. Modell der Salutogenese integrierbar sind. eher mit starren Strategien verbunden
Zugleich hat das Modell eine hohe Erklä- sein [10].
68 | Prävention und Gesundheitsförderung 2 · 2007
4. Konzepte der Gesundheitsförderung
Verstehbarkeit
Beständigkeit griert werden können. Interventionsstu-
comprehensibility
dien zur Veränderbarkeit des SOC schei-
nen derzeit allerdings nicht in einer fach-
Verfügung
Handhabbarkeit Lebens lich und methodisch angemessenen Form
SOC über
Manageability erfahrungen
Ressourcen vorzuliegen.
Teilhabe an Interventionelle Implikationen
Bedeutsamkeit
sozial
Meaningfulness Abb. 2 9 Entstehung
Anerkanntem
des SOC Nach dem Modell der Salutogenese ist
der zentrale Ansatz der Gesundheitsför-
mung zwischen SOC und psychischer Ge- könnte aber nach Antonovsky auch di- derung die Veränderung des SOC durch
sundheit festgehalten, so hoch, dass sogar rekte physiologische Konsequenzen ha- die Veränderung von Lebenserfahrungen.
die Frage nach Überschneidungen zwi- ben, etwa im Sinne eines Einflusses auf Die Entstehung des SOC ist mit spezi-
schen den Konstrukten SOC und psy- neuroendokrine oder neuroimmunolo- fischen Lebenserfahrungen verbunden,
chische Gesundheit gestellt wurde [4, 8]. gische Prozesse. Bereits Faltermaier [8] die jeweils einer der drei Komponenten
In einer für Kanada repräsentativen Studie kritisiert, dass Forschung, die mit Krank- zugeordnet sind: Erfahrungen der Be-
zeigten Richardson u. Ratner [22] kürzlich heitsmassen als Indikatoren von Gesund- ständigkeit führen zur Entwicklung der
erneut, dass der SOC die Auswirkungen heit arbeitet, das Kontinuumskonzept Komponente Verstehbarkeit, wobei Ver-
stressvoller Lebensereignisse auf die sub- nicht umsetzt und damit eine zentrale stehbarkeit (comprehensibility) nicht mit
jektive Gesundheit abfedern zu können Komponente des Models ignoriert. Verständlichkeit verwechselt werden darf.
scheint. Weit weniger eindeutig sind Zu- Ähnlich können inkonsistente For- Erfahrungen, ausreichend Ressourcen
sammenhänge zu extern beschreibbarer schungsergebnisse zum Bezug von Ge- zur Bewältigung von Anforderungen zur
physischer Gesundheit. sundheitsverhalten und SOC damit er- Verfügung zu haben, stärken die Kom-
Surtees et al. [27] konnten in einer pro- klärt werden, dass die Forschungsfra- ponente Handhabbarkeit (manageabili-
spektiven Kohortenstudie zeigen, dass ein gen nicht genau mit dem Modell der Sa- ty). Die Stärkung und Unterstützung von
hoher SOC die Sterblichkeit bei Risikofak- lutogenese übereinstimmen. Antonovs- Ressourcen ergibt sich hier als wichtiges
toren für chronische Erkrankungen senkt. ky [3] sieht keinen direkten Zusammen- Handlungsfeld. Erfahrungen der Teilhabe
Dagegen kommen Flensborg-Madsen et hang zwischen Gesundheitsverhalten und an Entscheidungsprozessen in sozial aner-
al. [9] in ihrem Review von 50 Studien SOC. Er ist lediglich der Überzeugung, kannten Aktivitäten, stärken die Kompo-
zur Aussage, dass ein Zusammenhang dass Menschen mit einem starken SOC nente Bedeutsamkeit (meaningfulness).
zwischen SOC und körperlicher Gesund- eher in der Lage sein werden, auf Stresssi- Dabei geht es nicht um Teilnahme, auch
heit nicht nachweisbar ist, während auch tuation mit weniger riskanten Verhaltens- nicht um Kontrolle über, sondern um die
in diesem Review ein Zusammenhang zu weisen und mehr Rücksicht auch auf ihr Mitentscheidung an den Dingen, die das
psychischen Aspekten zu finden war. körperliches Wohlbefinden zu reagieren. Leben berühren und sozial anerkannt
Hier entsteht für die Forschung die Studiendesigns zum Zusammenhang zwi- sind (. Abb. 2).
Schwierigkeit, dass von Antonovsky Ge- schen SOC und dem Ernährungsverhal- Alle drei Lebenserfahrungen sind mit-
sundheit nicht eindeutig definiert wur- ten [17], SOC und positiver Einstellung zu einander verbunden, wie dies die Kom-
de [10]. Diese lässt sich auflösen, wenn körperlicher Aktivität [26], SOC und Al- ponenten des SOC sind. Aus Antonov-
man seine Differenzierung von „disease“ koholkonsum [19], SOC und Mundhygi- skys Überlegungen zur Dynamik des SOC
und „dis-ease“ einbezieht. Nur „dis-ease“ ene [25] müssen in ihrem Design entspre- lässt sich aber ableiten, dass die Kompo-
findet sein Forschungsinteresse [1]. Geht chend vorsichtig betrachtet und die Er- nente Bedeutsamkeit über die Weiterent-
man von der Idee des Kontinuums zwi- gebnisse sorgsam diskutiert werden. wicklung des SOC entscheidet. Demnach
schen „dis-ease“ und „healt-ease“ aus, Das Modell der Salutogenese erklärt ist der Teilhabe an sozial anerkannten Ak-
so ist eine Entwicklung in Richtung Ge- weder, wie Krankheit vermieden wer- tivitäten in Bezug auf die Förderung des
sundheit von jeder Position aus mög- den kann, noch wie Gesundheitsverhal- SOC die höchste Priorität zuzusprechen.
lich, d. h. selbst in einer palliativen Situ- ten entsteht und taugt insofern nicht als Daraus lässt sich folgern, dass für jede In-
ation. Antonovsky schließt weder Krank- theoretische Basis für einen präventiven terventionsebene der Gesundheitsförde-
heit noch Tod aus [10] und hat m. W. nie- Ansatz. Es liefert dagegen die Basis für rung die Mitgestaltung und die Teilhabe
mals behauptet, Menschen mit einem ho- die Gesundheitsförderung, die unabhän- an zentralen Entscheidungen das wich-
hen SOC könnten nicht erkranken. Viel- gig vom Krankheitsstatus eines Menschen tigste Prinzip darstellt.
mehr sind Menschen mit einem starken möglich ist. Erst nach dieser konzeptio- Genau dieses Prinzip findet sich in al-
SOC eher in der Lage, mit den Stressoren, nellen Trennung kann darüber nachge- len strategischen Papieren der WHO und
die mit Krankheit und ihrer Behandlung dacht werden, wie die Ziele und Arbeits- allen Settingansätzen der Gesundheitsför-
verbunden sind, angemessen umzugehen. formen der Gesundheitsförderung in prä- derung wieder. Das Leitprinzip betrieb-
Das muss z. B. krebskranke Menschen ventive wie in kurative, rehabilitative, pal- licher Gesundheitsförderung ist die Teil-
nicht zwingend vor Metastasen schützen, liative und pflegerische Versorgung inte- habe der Beschäftigten an den Entschei-
70 | Prävention und Gesundheitsförderung 2 · 2007
5. dungen der Entwicklung der Organisati- stabilisiert werden kann. Antonov- titutionen kontrollieren die Lebens-
on, für die sie tätig sind. Das Leitprinzip sky hält es weitergehend für möglich, situation ihrer Beschäftigten ganz er-
der Gesundheitsförderung in der Schu- dass Begegnungen so gestaltet werden heblich und können zur Stärkung des
le kann nur die Partizipation von Schü- können, dass sogar ein bescheidener SOC beitragen, indem sie Teilhabe
ler/innen und Lehrer/innen an der Ent- und temporärer Gewinn erzielt wer- an Entscheidungsprozessen ermög-
wicklung der Schule, an Unterrichts- und den kann. Diese temporäre Modifika- lichen. In diesen und ähnlichen Set-
Pausengestaltung sein, so utopisch dies tion des SOC in bescheidenem Um- tings solche Prozesse zu ermöglichen
auch anmuten mag. Eben deswegen ge- fang ist m. E. primär der notwendige, und zu moderieren, kann als ori-
hören Gesundheitszirkel zu den wichtigs- gesundheitsfördernde Ansatzpunkt ginäre Aufgabe von für das Manage-
ten Instrumenten der Settingarbeit. Das aller individual-therapeutisch oder ment von Gesundheitsförderungs-
Leitprinzip einer gesundheitsfördernden pflegerisch tätigen Health Professio- prozessen qualifizierten Personen be-
Gesundheitsversorgung ist die gemein- nals. schrieben werden. Sie stehen immer
same Entscheidungsfindung (shared de- 2. Antonovsky hält ein therapeutisches auch in dem Dilemma, dass sich ge-
cision making) über Prävention, Diagno- Vorgehen nicht für ausgeschlossen, sundheitsfördernde Interventionen
se, Behandlung oder Pflege, auf einer um- das eine lang anhaltende, konsisten- nur dann erfolgreich umsetzen lassen,
fassend informierten Basis und bei einem te Veränderung in den realen Lebens- wenn dies den aktuell geltenden Stra-
ressourcenorientierten Ansatz. Partizipa- erfahrungen, die Menschen machen, tegien zur Erreichung der Kernziele
tion ist die zentrale Strategie der Gesund- erleichtert. Diese Veränderung erfolgt des jeweiligen Settings entspricht. So
heitsförderung. nicht alleine durch die Neuinterpre- verweisen etwa Lenhardt u. Rosen-
Da nach Antonovsky die Verstehbar- tation von Erfahrungen, sondern v. a. brock (2004) [16] darauf, dass be-
keit eine Voraussetzung für Handhabbar- dadurch, dass Menschen das Rüst- triebliches Entscheiden und Handeln
keit ist, ist das Prinzip der Beständigkeit, zeug in die Hand gegeben wird, in- nicht primär von gesundheitlichen
der Nachhaltigkeit förderlicher Lebenser- nerhalb ihres Lebensbereichs etwas sondern ökonomischen Interessen
fahrungen, das zweitwichtigste Prinzip. ausfindig zu machen, das ihnen ande- bestimmt wird.
Gesundheitsförderung kann sich dem- re Lebenserfahrungen ermöglicht. Di-
nach nicht in immer wieder neuen Pro- es ist der Aufgabenbereich der psy- Die Arbeiten von Helen Antonovsky
jekten erschöpfen, sondern muss dauer- chosozialen Interventionen, die so könnten v. a. Erzieherinnen, Lehrern, So-
hafte und verlässliche Strukturen aufbau- unterschiedliche Felder wie Street- zialpädagoginnen und Eltern Anregungen
en. working, Betreuung im Frauenhaus, für die Betreuung von Kindern und Ju-
Einschränkend ist allerdings zu sagen, Studienberatung oder Psychotherapie gendlichen bieten. Prinzipien einer ge-
dass wir nichts darüber wissen, ob Inter- umfassen könnte. Das Konzept des sundheitsfördernden Erziehung wären aus
ventionen einer partizipativen Gesund- Empowerment [21] kann die hier not- ihrer Sicht die Teilhabe von Kindern und
heitsförderung auf Menschen mit unter- wendige professionelle Grundhaltung Jugendlichen an sozial Anerkanntem und
schiedlich starkem SOC verschieden wir- beschreiben. das damit verbundene Gefühl von Zuge-
ken. Es wäre durchaus denkbar, dass sol- 3. Immer dort, wo über eine lange Zeit- hörigkeit, außerdem Beständigkeit und
che Interventionen bei Menschen mit spanne ein beträchtliches Ausmaß feste, aber nicht starre Strukturen, emo-
schwachem SOC kontraproduktive Wir- an Kontrolle über die Lebenssituati- tionale Nähe und eine Balance von An-
kungen zeigen, während sie auf Men- on der Klientinnen und Klienten be- forderungen und Ressourcen zu ihrer Be-
schen mit starkem SOC weiter stabilisie- steht, können nach Antonovsky [3] wältigung. Eine retrospektive Studie von
rend wirken. Hier wären Interventions- tiefer greifende Veränderungen er- Shifra Sagy u. Helen Antonovksy aus dem
studien dringend nötig, die der erwar- folgen. Eine solche Kontrolle besteht Jahr 2000 [24] befasst sich mit der Ent-
teten Dauer von Veränderung und der er- zunächst einmal in totalen Institu- stehung des SOC in der Kindheit. In teil-
hofften Nachhaltigkeit solcher Interventi- tionen [11] wie Altenpflegeheimen, standardisierten Interviews mit 89 Rent-
onen entsprechen. psychiatrischen Einrichtungen, parti- nern, die statistisch ausgewertet wurden,
In dem eingangs erwähnten Kapitel ell auch anderen stationären Einrich- zeigte sich, dass die Teilhabe in der Kind-
über die intentionale Modifikation des tungen der Gesundheitsversorgung, heit den stärksten Einfluss auf die Entste-
SOC zeigt Antonovsky [1] nach seiner an- Kasernen oder Gefängnissen. Von ih- hung des SOC hatte.
fänglichen Warnung drei Ebenen der Mo- rer Struktur her neigen solche Institu- Aber gilt dies nicht nur für Kinder, Ju-
difikation auf: tionen dazu, Lebenserfahrungen der gendliche und junge Erwachsene? Ist Anto-
1. Professionelle Helfer agieren häufig in Teilhabe an sozial anerkannten Ak- novsky nicht selbst der Auffassung, das
Krisensituationen, die eine vorüber- tivitäten möglichst auszuschließen. SOC sei nach dem 30. Lebensjahr kaum
gehende Irritation des SOC bedingen. Sie wären zunächst so umzustruktu- mehr zu verändern? Antonovsky vertritt
In diesen Phasen der Fluktuation um rieren, dass sie dem SOC nicht scha- die Ansicht [3], dass nach Abschluss der
einen Mittelwert können sie Begeg- den, weder bei den Internierten noch 3. Lebensdekade eine Reihe von Entschei-
nungen so gestalten, dass kein tem- ihren Bewachern oder Pflegekräften. dungen über die Biographie getroffen sind
porärer Schaden entsteht, der SOC Aber auch Betriebe und Bildungsins- und die Menschen dann jahrelang einem
Prävention und Gesundheitsförderung 2 · 2007 | 71
6. Konzepte der Gesundheitsförderung
Muster von Lebenserfahrungen ausge- Aber diese Veränderungen sind in Verbin- des Themas ist unabhängig und die Darstellung der In-
halte produktneutral.
setzt sind und eine Vorstellung der Welt dung mit soziokulturellen Veränderungen
entwickelt haben. Unter dieser Bedingung während dieser Jahre in Nordschweden zu
ist die weitere Entwicklung des SOC da- betrachten. Die Studie kann vielmehr an- Literatur
von abhängig, welcher Stand bis dahin er- mahnen, dass sozialer Abbau sich auch
reicht wurde. Menschen mit einem hohen auf das SOC negativ auswirken kann und 1. Antonovsky A (1991) Meine Odyssee als Stressfor-
scher. Argument-Sonderband 196: 112–130
SOC haben die Tendenz, ihren SOC zu verweist somit auf die politischen Inter- 2. Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifi-
stabilisieren, Menschen mit einem nied- ventionsebenen von „Public Health“ und zierung der Gesundheit. Dgvt, Tübingen, S 118
rigen SOC die Tendenz, diesen nach un- Gesundheitsförderung. Gerade in Phasen 3. Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifi-
zierung der Gesundheit. Dgvt, Tübingen
ten zu entwickeln. Zwar hält Antonovsky politischer Entscheidungen, die auf sozi- 4. Bengel J, Strittmatter R, Willmann H (1998) Was er-
Krisen wie z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, ale Ungleichheiten und damit gesundheit- hält Menschen gesund? Antonovskys Modell der
erzwungene Umzüge, erworbene Behin- liche Ungleichheiten verschärfend wirken, Salutogenese – Diskussionstand und Stellenwert.
BZgA, Köln
derungen, Tod des Partners für nicht un- kann sich die Gesundheitsförderung eben 5. Brieskorn-Zinke M (2000) Salutogenese in der Pfle-
wahrscheinlich, nimmt aber an, dass sol- nicht auf individuelle Interventionsebe- ge zur Integration des Konzeptes in pflegerische
che Krisen von Menschen mit einem star- nen zurückziehen, wenn sie ihre Glaub- Handlungsfelder. In: Wydler H, Kolip P, Abel T
(Hrsg) Salutogenese und Kohärenzgefühl. Grund-
ken SOC nach vorübergehender Irritation würdigkeit nicht verlieren will. lagen, Empirie und Praxis eines Gesundheitswis-
bewältigbar sind, während sie bei Men- senschaftlichen Konzeptes. Juventa, Weinheim
schen mit schwachem SOC zu einer wei- Fazit für die Praxis München, S 173–184
6. Eriksson A, Lindström B (2006) Antonovsky’s sense
teren Schwächung beitragen. of coherence scale and the relation with health: a
Zwei relativierende Überlegungen sind Trotz positiver Ansätze, trotz weltweit systematic review. J Epidemiol Community Health
an dieser Stelle angebracht: bekannter, gut entwickelter Strategien, 60: 376–381; DOI:10.1136/jech.2005.041616
7. Fäh M (2000) Verbessert Psychotherapie die Mo-
F In seinen theoretischen Überle- trotz verbalem Bezug zur Salutogene- ral? Inwiefern können grundlegende gesund-
gungen hat Antonovsky möglicher- se fehlt der Praxis der Gesundheitsför- heitsrelevante Lebensbewältigungseinstellun-
weise zu wenig deutlich formuliert, derung nicht nur in Deutschland weit- gen durch psychologische Interventionen erwor-
ben bzw. verbessert werden? In: Wydler H, Kolip P,
dass auch jenseits der 30 noch selbst- gehend eine klare theoretische Orientie- Abel T (Hrsg) Salutogenese und Kohärenzgefühl.
gewählte, grundsätzlich neue Orien- rung an dem Modell der Salutogenese. Grundlagen, Empirie und Praxis eines Gesund-
tierungen möglich sind, die zur Stär- Eine Weiterentwicklung von Praxis und heitswissenschaftlichen Konzeptes. Juventa, Wein-
heim München, S 149–160
kung des SOC beitragen können. Theorie setzt voraus, dass geeignete Pro- 8. Faltermaier T (2000) Die Salutogenese als For-
F Empirisch müsste die von ihm ange- jekte in dem Modell angemessenen Stu- schungsprogramm und Praxisperspektive. Anmer-
nommene Dynamik in Langzeitstu- diendesigns evaluiert werden. kungen zu Stand, Problemen und Entwicklungs-
chancen. In: Wydler H, Kolip P, Abel T (Hrsg) Saluto-
dien zeigen, dass der SOC mit dem Besondere Relevanz für die Praxis hät- genese und Kohärenzgefühl. Grundlagen, Empirie
Älterwerden allenfalls gleich bleibt, ten die Fragen danach, ob und unter wel- und Praxis eines Gesundheitswissenschaftlichen
bei einer gesamten Kohorte tendenzi- chen Bedingungen Interventionen ei- Konzeptes. Juventa, Weinheim München, S 185–
196
ell insgesamt abnimmt. Dazu gibt es ner so ausgerichteten Gesundheitsförde- 9. Flensborg-Madsen T, Ventegodt S, Merrick J (2005)
keine klaren Ergebnisse. rung den SOC tatsächlich nachhaltig stär- Sense of coherence and physical health. A re-
ken können, ob solche Interventionen view of previous findings. Sci World J 5: 665–673;
DOI:10.1100/tsw.2005.03.85
Bengel et al. [4] entnehmen aus ihrem Re- auf Menschen mit unterschiedlich star- 10. Franke A (1997) Zum Stand der konzeptionellen
view Hinweise, dass das SOC mit dem Al- kem SOC unterschiedlich wirken und wie und empirischen Entwicklung des Salutogenese-
ter an Stärke zunimmt, verweisen aber auf kontraproduktive Wirkungen verhindert konzeptes. In: Antonovsky A (Hrsg) Salutogene-
se. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dgvt, Tü-
das Fehlen von Längsschnittstudien. Ähn- werden können und ob sich so soziale bingen, S 169–190
lich argumentiert Franke [10]. In einer et- Ungleichheiten von Gesundheitschancen 11. Goffman E (1973) Asyle. Über die soziale Situati-
was älteren Querschnittstudie von Lars- damit ungewollt verfestigen oder relati- on psychiatrischer Patienten und anderer Insassen.
Suhrkamp, Frankfurt/M.
son und Kallenberg [14] stiegen die SOC- vieren lassen. 12. Kobasa SC (1979) Stressful life events, personality,
Werte mit dem Alter, damit waren aber and health. J Pers Soc Psychol 37: 1–11
unterschiedliche Kohorten gemeint. Ei- Korrespondierender Autor 13. Kolip P, Wydler H, Abel T (2000) Gesundheit: Saluto-
genese und Kohärenzgefühl. Einleitung und Über-
ne der wenigen Längsschnittstudien [20] Prof. Dr. B. Blättner blick. In: Wydler H, Kolip P, Abel T (Hrsg) Salutogene-
scheint die zurückhaltenden Aussagen zur Gesundheitsmanagement se und Kohärenzgefühl. Grundlagen, Empirie und
Veränderung des SOC mit dem Älterwer- und Public Health, Praxis eines Gesundheitswissenschaftlichen Kon-
Hochschule Fulda, zeptes. Juventa, Weinheim München, S 11–19
den zu bestätigen. In den Jahren 1994 und Marquardstraße 35, 14. Larsson G, Kallenberg KO (1996) Sense of co-
1999 zeigte sich eine Abnahme des SOC 36039 Fulda herence, socioeconomic conditions and health. In-
der nordschwedischen Bevölkerung auf- Beate.Blaettner@hs-fulda.de terrelationships in a nation-wide Swedish sample.
Eur J of Public Health 6: 175–180; DOI:10.1093/eu-
grund persönlicher Bedingungen und so- rpub/6.3.175
zialer Veränderungen. Nur Personen mit Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkon- 15. Lazarsfeld PF, Menzel H (1961) On the relation
flikt. Der korrespondierende Autor versichert, dass kei- between individual an collective properties. In Et-
einem hohen SOC konnten diesen sta- ne Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in zioni A (ed) Complex organisations: a sociologi-
bil halten, Personen mit niedrigem SOC dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Kon- cal reader. Holt, Rinehar and Winston, New York,
zeigten die stärksten Veränderungen. kurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation pp 422–440
72 | Prävention und Gesundheitsförderung 2 · 2007
7. Buchbesprechungen
16. Lenhardt U, Rosenbrock (2004) Prävention und Ge- M. W. Schnell, C. Heinritz zu überprüfen und anhand der im Anhang
sundheitsförderung in Betrieben und Behörden.
In: Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J (Hrsg) Lehrbuch Forschungsethik vorhandenen Dokumentvorlagen (z.B. Ein-
Prävention und Gesundheitsförderung. Huber, Ein Grundlagen- und Arbeits- verständniserklärung) eigene Forschungs-
Bern, S 293–303 buch für Gesundheits- vorhaben zu planen. Zugegebenermaßen
17. Lindmark U, Stegmayr B, Nilsson B et al. (2005)
Food selection associated with sense of coherence und Pflegewissenschaften könnte dieser Teil des Buchs durch weitere
in adults Nutr J 4: 9; DOI:10.1186/1475-2891-4-9 Hans Huber Verlag 2006, 117 S., praktische Dokumentbeispiele, wie etwa
18. Lindström B, Erikkson M (2005) Salutogene- (ISBN 3-456-84288-0), 26.95 EUR einen Antrag an die genannte Ethikkom-
sis. J Epidemiol Community Health 59: 440–442;
DOI:10.113610/jech.2005.034777 mission, vervollständigt werden. Insge-
19. Neuner B, Miller P, Maulhardt A et al. (2006) Ha- Da im Zentrum der pflegewissenschaft- samt jedoch leistet das vorliegende Werk
zardous alcohol consumption and sense of co- lichen Forschung der Mensch steht, ist in verständlicher Sprache und kompri-
herence in emergency department patients with
minor trauma. Drug Alcohol Depend 82: 143–150; ein forschungsethisches Grundwissen für mierter Form einen guten Beitrag, den ein-
DOI:10.1016/j.drugalcdep.2005.09.001 den (die) forschende(n) Pflegewissensch gangserwähnten Mangel an Beratung und
20. Nilsson B, Holmgren L, Stegmayr B, Westman G aftler(in) unabdingbar. Diese Forderung Begutachtung von forschungsethischen
(2003) Sense of coherence-stability over time
and relation to health, disease, and psychosocial wird durch das vorliegende Buch aufge- Fragestellungen zu kompensieren.
changes in a general population: a longitudinal griffen, wobei ein wesentliches Anliegen
study. Scand J Public Health 31: 297–304 des Buches darin besteht, einen Beitrag Florian Wienforth (Dresden)
21. Rappaport J (1981) In praise of paradox: a social
policy of empowerment over prevention. Am J zum Ausgleich des vorhandenen Mangels
Comm Psychol 9: 1 von forschungsethischen Beratungs- und
22. Richardson CG, Ratner PA (2005) Sense of co- Begutachtungsmöglichkeiten zu liefern
herence as a moderator of the effects of stress-
ful life events on health. J Epidemiol Com- (S.16). Zur Verwirklichung dieser Zielstel-
munity Health 59: 979–984; DOI:10.1136/ lung verknüpfen die Autoren theoretische
jech.2005.036756 Grundlagen der Forschungsethik mit
23. Ross U (2000) Die praktische Umsetzung des Salu-
togenesekonzeptes bei chronischem Tinnitus als praktischen Fall- bzw. Übungsbeispielen
systemischer Hörwahrnehmungsstörung. In: Wyd- auf eine besonders einprägsame Art und
ler H, Kolip P, Abel T (Hrsg) Salutogenese und Ko- Weise. So wird im 2. Kapitel ein kurzer
härenzgefühl. Grundlagen, Empirie und Praxis
eines Gesundheitswissenschaftlichen Konzeptes. Überblick der forschungsethischen Kern-
Juventa, Weinheim München, S 161–171 probleme gegeben, um diese in Kapitel 3
24. Sagy S, Antonovsky H (2000) The development beispielhaft anhand pflegewissenschaft-
of the sense of coherence: a retrospective study
of early life experiences in the family. Int J Aging licher Studien zu verdeutlichen. Unwillkür-
Hum Dev 51: 155–166 lich nimmt der Leser die immer wieder auf-
25. Savolainen JJ, Suominen-Taipale AL, Uutela AK et tretenden ethischen Fragestellungen, die
al. (2005): Sense of coherence as a determinant
of toothbrushing frequency and level of oral hy- bei der Planung und Durchführung solcher
giene. J Periodontol 76: 1006–1012; DOI:10.1902/ Studien zu beachten sind, wahr. Durch die
jop.2005.76.6.1006 sich anschließende theoretische Erörte-
26. Sollerhed AC, Ejlertsson G, Apitzsch E (2005) Pre-
dictors of strong sense of coherence and posi- rung dieser erfolgt eine fast unmerkliche
tive attitudes to physical education in adolescents. Redundanz, wodurch sich schnell Lern-
Scand J Public Health 33: 334–342, DOI:10.1080/1 effekte einstellen. Allerdings beschränken
4034940510005833
27. Surtees P, Wainwright N, Luben R et al. (2003) Sen- sich die Autoren bei der Erläuterung von
se of Coherence and Mortality in Men and Women Problemen während der Planung von
in the EPIC-Norfolk United Kingdom Prospective Studien auf rein ethische Fragestellungen,
Cohort Study. Am J Epidemiol 158: 1202–1209;
DOI:10.1093/aje/kwg272 somit bleiben angrenzende Gebiete wie
beispielsweise statistische Überlegungen,
welche ethische Relevanz haben können,
unberücksichtigt. Im weiteren Verlauf wird
die Thematik durch ein sich dem Bereich
der Ethikkommissionen widmenden
Kapitel komplettiert. Dabei ist besonders
erwähnenswert, dass eine spezifische
Ethikkommission existiert, welche „…prin-
zipiell sämtliche pflegewissenschaftlichen
Forschungsprojekte in Deutschland…“
(S.51) betreut. Einen Abschluss findet
das Buch in der Möglichkeit anhand von
Übungsbeispielen sein erworbenes Wissen
Prävention und Gesundheitsförderung 2 · 2007 | 73