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D     ie Pilgerstätten der säkularen
      Wissensgesellschaft sind so vielfältig
wie die Moderne selbst. Schriftsteller,
                                               Mekkas
Forscher und Journalisten führen quer
durch den Kosmos der globalisierten Welt.
Sie laden ein zum Entdecken und
                                               der Moderne
Genießen, zum Nachdenken und Querlesen,        Pilgerstätten
zum Mitdenken und zum Widerspruch.
                                               der Wissensgesellschaft




                                               Herausgegeben von Hilmar Schmundt, Milos Vec und Hildegard Westphal
                                                                                      ˇ
LESEPROBE

               Mekkas der Moderne - Pilgerorte der Wissensgesellschaft

                          Kapitel 1 - 16 (von insgesamt 76)




                                        ***



                 Nominiert als "Wissenschaftsbuch des Jahres" 2010




                                        ***



In Zusammenarbeit mit der "Jungen Akademie der Wissenschaften" und SPIEGEL ONLINE




                                        ***

                            www.mekkasdermoderne.de
REZENSIONEN



      Technology Review: „Stets so packend beschrieben, dass man mit dem Schmökern nicht aufhören will.“




                                                      ***

                       Handelsblatt: "In dem Buch räumt Wozniak mit einer Legende auf"




                                                      ***

            profil: "Ein fein selektierter Führer durch die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts"




                                                      ***

Forschung und Lehre: "Anregende Entdeckungsreise, die neugierig macht und Lust zu eigenen Erkundungen weckt"




                                                      ***

   Scala (WDR5): "Ein Buch, bei dem man denkt: Wie schade, dass man nicht selber auf die Idee gekommen ist."




                                                      ***

                      Leonardo (WDR): "Wahnsinnig witzige und spannende Geschichten"




                                                      ***

                               Deutschlandradio Kultur: "Kurzweilige Lektüre"
6
     GEOGRAFISCHES
                                                                                                                                                                   44
     I N H A LT S V E R Z E I C H N I S
     Die Zahlen geben                                                                                                         46                                  70
                                                                                                                                              23
     die Kapitelnummern an.                                                                              66
     Nicht über Geodaten                                                                                               48 61        65
                                                                                                             42
     erreichbar: 73, 74, 75, 76                                                                        50 12          37
                                                                                                            54                  26 28
                                                                                                     38                  68 2
                                                                                          59                    62              72
                                                                                                             67       36
                                                                                                                          39 43
                                                                                                                4               53     9
                                                                                                                     11 60 57       64
                                                                                                                       56 7
                                                                                                                               10
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                                                                                                                                     41
                                                                                                                                                    47




                                                       3                             44
                                                                                    70

                                                                                                         31
                                                  19
                      15                  25
                                     55
                       29                       33                             47
                                13                                                                                                             22
                              71               49 40                                                                                          30
                                                                                                                         69          18
                                          1                                    14
34                                                                                                  35
                                                                     32
                                                                                                              27
                                                                                                                                                         17


                                          58                              24        21
                                      5
                                                                                                                                                              8
                                                                                                                                                    51
                                                           20

                                                 52




                                                                16
W E I T E R E L E S E P FA D E
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
                  C L A S S I C - R O U T E Zentrale Orte                                               Ü B E R H O L S P U R Rollen, rasen, klettern, fliegen
                  2 Weimar 67 Panthéon, Paris 12 British Museum 14 Alexandria 20 Brasília               1 Cape Canaveral 61 Autobahn 60 Basel 56 Matterhorn 74 Mars
                  52 Südsternwarte 5 Galápagos 4 Hawaii 30 Miraikan 18 Schanghai 9 Wien                 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      D E R R E C H T E W E G Normative Erkundungen
                                                                                                        36 Strasbourg 10 Bologna 7 Solferino 64 Graz 37 Plettenberg
                                                                                                        ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
                  SCHLEICHWEGE                                                                          G E D A N K E N - G Ä N G E Philosophenpfade um die Welt
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      23 Königsberg 2 Weimar 72 Röcken 24 Lambaréné
                  F R Ü H S TA RT Protomoderne Aufbrüche                                                ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
                  28 Wittenberg 57 Augsburg 10 Bologna 45 San Millán 32 Mali                            G E H E I M E L A B Y R I N T H E Verschlossene Zirkel
                  14 Alexandria 35 Dubai                                                                63 Vatikan 62 BIPM 42 Nature 70 Pantheon der Gehirne, Moskau
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
                  F O RT S E T Z U N G S - G E S C H I C H T E Postkoloniale Aufbrüche                  W E G E Z U M R U H M Routen auf den Olymp der Wissensgesellschaft
                  20 Brasília 14 Alexandria 35 Dubai 27 Bangalore 69 Meishan                            6 Stockholm 42 Nature 67 Panthéon, Paris 15 Google
                  18 Schanghai                                                                          ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      WA R E N K R E I S L AU F Wege der Wirtschaft
                  S P U R D E R S T E I N E Kristalline Erkenntnisse                                    60 Basel 57 Augsburg 18 Schanghai 35 Dubai
                  69 Meishan 46 Stevns Klint 43 Eichstätt 48 Bremen 38 Lyme Regis                       ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
                                                                                                        G I P F E L R O U T E N Erhoben und Erhaben
                  3 Grünsteingürtel
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –
                                                                                               –––      56 Matterhorn 58 Straße der Vulkane 52 Südsternwarte 34 Mauna Loa
                                                                                                        55 Aspen 76 Unerreichbarkeitspol
                                                                                                        ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – –
                                                                                                                                                                                                         ––
Mekkas der Moderne
Pilgerstätten der Wissensgesellschaft


Herausgegeben von
Hilmar Schmundt, Milos Vec und Hildegard Westphal
                     ˇ




Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien 2010
AU T O R E N                                                                             I N H A LT




Peter Becker 64             Rainer Maria Kiesow 10     Ulrich Schollwöck 55              G E O G R A F I S C H E S I N H A LT S V E R Z E I C H N I S   Vorsatz
Lars Blunck 4               Mathias Kläui 11           Hilmar Schmundt 2, 12,            ABREISE       9
Stefan Bornholdt 13         Matthias Klatt 50              22, 31, 35, 42, 56, 67
Friedrich von Borries 26    Martina Kölbl-Ebert 38     Jürgen Schönstein 3
Maik Brandenburg 17         Sabine Koller 33           Christopher Schrader 34           D I E AU T O R E N    420
Justus Cobet 47             Guido Komatsu 57           Erhard Schütz 61                  C L A S S I C- R O U T E U N D S C H L E I C H W E G E     Nachsatz
Holger Dambeck 72           Charlotte Kroll 30         Meinhard Stalder 44
Monika Dommann 60           Dirk van Laak 37           Angela Steinmüller 74
Irenäus Eibl-Eibesfeldt 5   Ulrich Ladurner 7          Karlheinz Steinmüller 74
Fiona Ehlers 66             Harald Lesch 2             Jakob Strobel y Serra 18,
Philipp Elsner 20           Dirk H. Lorenzen 52            45, 58                    I AU F B R U C H Meilensteine und Wegweiser
Eva-Maria Engelen 23        Lydia Marinelli 9          Jürgen Tautz 53
Ernst Peter Fischer 40      Stephan Maus 6             Gerald Traufetter 16          1 Cape Canaveral, Florida    Das Kap der hohen Hoffnung 13
Julia Fischer 21
Christian Fleischhack 39
                            Kenichi Moriya 73
                            Simone Müller 59
                                                       Ilija Trojanow 27
                                                       Milos Vec 62
                                                             ˇ
                                                                                     2 Das Goethehaus in Weimar      Odyssee am Frauenplan 18
Kurt W. Forster 54          Bernd Musa 14              David Wagner 65               3   Der Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel, Québec Fundament der Tiefenzeit 27
                                                                                         Mona Lisa, Paris Digitale Bildverehrung und delegiertes Erleben 32
Gundolf S. Freyermuth 71    Kärin Nickelsen 41         Uwe Wesel 36
                                                                                     4
Peter Glaser 1, 15          Alexander Nützel 69        Hildegard Westphal 46, 48
Felix Grigat 24             Peter Pannke 32            Anna Wienhard 49              5   Galápagos Labor der Evolution 36
                                                                                         Nobelpreiskomitee, Stockholm Mythos und Narrenspiel 41
Michael Hagner 70           Oliver Rauhut 43           Martin Wilmking 19, 76
                                                                                     6
Arne Karsten 63             Andreas Rosenfelder 75     Steve Wozniak 29
Jürgen Kaube 25, 51         Michael Rutschky 28                                      7   Solferino und Castiglione Die Geburt des humanitären Völkerrechts 46
                                                                                                                     ¯moa Der Traum vom glücklichen Wilden 50
                            Peter Sandmeyer 8
                                                                                     8   Malo Sa'oloto Tuto'atasi o Sa
                            Wilfried F. Schoeller 68
                                                                                     9   Freuds Couch Die Liege der Lust 57
                                                                                    10   Bologna Völlerei und Phantasie 61
                                                                                    11   Das Cern bei Genf Eine Kathedrale der Physik 65
                                                                                    12   British Museum, London Tempel der Aufklärung 71
                                                                                    13   Santa Fe Institute, New Mexico Der hl. Glaube ans Fachübergreifende 75
                                                                                    14   Die Bibliothek von Alexandria Wissen als politische Macht 79
                                                                                    15   Google Der Schlitz 87
                                                                                    16   Antarktis Flucht ins Eis 92

Ein Projekt der Arbeitsgruppe »Manieren!«
der Jungen Akademie
an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften                         II E X P E D I T I O N E N Lokale Globalität
und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina
                                                                                    17 Bikini-Atoll, Marshall IslandsDrei schwarze Sterne auf der Flagge 98
                                                                                    18 Schanghai      Der Wirtschaftswunderwahnsinn 106
                                                                                    19   Bristlecone-Kiefern, White Mountains Wie man (fast) jede Krise übersteht 111
                                                                                    20   Brasília Wenn die Moderne träumt 113
Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
und der VolkswagenStiftung                                                          21   Rift Valley, Kenia Die Wiege der Menschheit 121
22 United Nations University, TokioGelehrtenrepublik und neues Atlantis 125   51 Kiriwina, Papua-Neuguinea   Verschont die Trobriander! 275
23 Kantiana in Königsberg    Aus Ehrfurcht vor dem Denken 132                 52 Europäische Südsternwarte, Chile  Nach den Sternen greifen 278
24   Lambaréné, Gabun Albert Schweitzers ethisches Korrektiv 136              53   Sieben Häuser am Wolfgangsee Schwänzeltanz der Bienen 283
25   West Madison Street, Chicago Bühne des unsteten Lebens 142               54   Sir John Soane’s Museum, London Melancholie des Sammelns 288
26   Bauhaus in Dessau Relikt der Utopien 146                                 55   Aspen, Colorado Gipfelstürme der Physik 294
27   Bangalore Heiliges Mosaik aus Steinen und Mikrochips 150
28   Wittenberg Wiege und Themenpark der protestantischen Ethik 153
                                                                              IV AU S F L Ü G E Überraschungen für Fortgeschrittene
29   Die Apple-Garage Die Legenden des Rocky Raccoon Clark 159
30   Miraikan, Tokio Humanoide hinterm Absperrband 163                        56 Matterhorn     Vertikale Pilgerreise 298
31   Baikonur, Kasachstan Himmelfahrt in der Steppe 168                       57   Fuggerstadt Augsburg Geld und Glaube 309
32   Die Oase Essakane, Mali Wurzeln und Stamm der Weltmusik 173              58   Straße der Vulkane, Ecuador Humboldt vermisst die Anden 316
33   YIVO, New York Die untergegangene Welt des Ostjudentums 178              59   Porthcurno, Cornwall Die lange Leitung 321
34   Mauna Loa, Hawaii Eine Kurve verändert die Welt 183                      60   Bahnhofkühlhaus, Basel Wie man lagert, so liegt man 327
35   Ibn Battuta Mall, Dubai Schaufenster einer anderen Aufklärung 188        61   Deutschland Kraftwerk Autobahn 332
                                                                              62   Bureau International des Poids et Mesures, Sèvres Der Welt Standard 339
                                                                              63   Päpstliches Geheimarchiv, Vatikan 43 Kilometer Geschichte 343
III E I N K E H R Paradiese des Geistes
                                                                              64   Kriminalmuseum, Graz Der praktische Blick am Tatort 348

36 F-67075 Strasbourg    Das jüngste Gericht 194                              65   Charité, Berlin theatrum anatomicum 354

37   Plettenberg Der Ort als Gesetz 202                                       66   Summerhill School, Leiston Die Weltverbesserungsanstalt 360

38   Lyme Regis, Dorsetshire Fossiliensammeln am Strand des Lebens 210
39   Oberwolfach Der Welt entrückt im Paradies der Mathematiker 214
                                                                              V AU S B L I C K E Erinnerungen an die Zukunft
40   Cold Spring Harbor, Long Island Wohnzimmer mit Wissenschaft 220
41   La Stazione Zoologica di Napoli Wo die Seeigel ihre Eier legen 228       67 Panthéon, Paris    Zentralheiligtum und Zankapfel 368
42   Nature, Crinan Street 4, London Plaudern, Rauchen, Picheln 232           68   Internationaler Suchdienst, Arolsen Wider die Macht des Nichterzählten 376
43   Eichstätt Mit Schwanz und Krallen in kirchliche Obhut 240                69   The Golden Spike, Meishan Die Zeit festnageln 382
44   Kernforschungszentrum Dubna, Russland Atom rabotschij 245                70   Moskau 1929 Das Pantheon der Gehirne 388
45   San Millán de la Cogolla Wiege der spanischen Sprache 249                71   Phoenix, Arizona Der kühle Kult der Kryonik 393
46   Stevns Klint, Dänemark Der Ort, an dem die Welt unterging 253            72   Röcken bei Leipzig Nietzsches trautes Dörflein 398
47   Troia Schauplatz einer dichterischen Phantasie 257                       73   Hier und Jetzt Auf keiner Stätte ruhn 402
48   Das Bohrkernlager in Bremen Lesen wie in einem Buch 261                  74   Mars Krieg der Welten 407
49   Institute for Advanced Study, Princeton Ein Eden auf Zeit 265            75   Second Life Der Niedergang 413
50   Senior Common Room, Oxford Dinner zwischen Disziplinen 270               76   Der Unerreichbarkeitspol der Erde 417
ABREISE




A  ngefangen hat alles mit einem Salonspiel zwischen Forschern,
    Schriftstellern und Journalisten: Was sind die Pilgerstätten der
Wissenschaft?
  Welche Orte laden ein zum Entdecken und Verharren, zum
Schauen, Staunen und Begreifen? Gibt es so etwas wie Mekkas der
Moderne? Wir diskutierten per E-Mail, Skype und über ein Online-
Forum. Als wollten wir die Frage nach realen Orten des Wissens
von Anfang an ad absurdum führen.

Doch dann geschah etwas Überraschendes. Je mehr Argumente
wir gegen reale Pilgerorte der Moderne auflisteten, desto mehr
Erlebnisse fielen uns ein, die nicht durch Datenleitungen passen: das
erwartungsvolle Strahlen von Schulkindern, die mit Schlafsäcken
unterm Arm durch das British Museum eilen, um bei den Mumien
zu übernachten; das seltsame Gefühl, gemeinsam mit Geologen
aus aller Welt am Strand von Stevns Klint genau die fingerdicke
Tonschicht zu berühren, die entstand, als die Dinosaurier ausstar-
ben; die Lust, in Bologna, der vielleicht ältesten Universitätsstadt
Europas, ein fettes Fleischragout zu löffeln; das Frösteln, das sich an
Palmenstränden des Bikiniatolls einstellt, wenn man an die Bom-
benversuche denkt.
   Ziel dieses Buches ist es nicht, den einen kanonischen Ort zu
finden oder zu erfinden. Die Mekkas der Moderne – falls sie existie-
ren – kann es nur im Plural geben. Aber das geht anderen Welt-
anschauungen ähnlich und den großen Religionen sowieso: Das
Christentum bietet seinen Anhängern nicht nur Rom zur Pilger-
reise an, sondern auch Wittenberg, die Wartburg oder den Jakobs-
weg. Selbst Mekka ist nicht das einzige Zentrum des Islam, denn
da waren immer auch Medina und der Felsendom in Jerusalem.

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Vermutlich sehen die Pilgerorte der Wissensgesellschaft für jedes    Außerdem gibt es philosophische Hintertreppen, die wir durch
Fach anders aus, je nachdem, ob es eher von Darwin, Freud oder       Querverweise im Text markiert haben. Einer von ihnen führt von
Newton geprägt ist. Gemeinsam wäre diesen Orten, dass sie eine       der Universität der Vereinten Nationen in Tokio zu einem ihrer
besondere Autorität ausstrahlen, manche Besucher betreten sie        Vordenker im Panthéon in Paris. Dort schwingt ein Foucaultsches
gar mit Ehrfurcht: das Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf       Pendel, das die Drehung der Erde sichtbar macht. Symbolisch
vielleicht, wo, glaubt man der Boulevardpresse, nach dem Gottes-     verweist es auf die Pole, wo viele Forscher nicht nur das Klima
teilchen gefahndet wird. Auch der Anblick der Saturn V-Mond-         erforschen, sondern auch ihr eigenes Unterbewusstes. Was wieder-
rakete ist ebenso beeindruckend wie die Berührung jahrhunderte-      um zu Freuds Arbeitszimmer in Wien führt.
alter Bücher im vatikanischen Archiv. Und der erste Mensch, der         Schließlich haben wir neben einer globalen Grand Tour auch
seinen Fuß auf den Mars setzen wird, diesen noch uneingelösten       Schleichwege markiert am Ende des Buches. Die »Spur der Steine«
Wechsel der Raumfahrtfantasien, wird die Symbolkraft spüren.         zum Beispiel führt zu Orten der Geologie. »Frühstart« folgt Spuren
                                                                     der Protomoderne: Vorläufern der Neuzeit im Altertum, wie etwa
So ist eine Art Reiseführer entstanden, eine kleine Heimatkunde      die Bibliothek von Alexandria. Die »postkolonialen Aufbrüche«
der globalen Wissenslandschaft, eine Essaysammlung im ursprüng-      laden ein zum Flanieren durch Schwellenländer, die jeweils eigenen
lichen Wortsinn: ein Experiment mit offenen Ausgängen. Wie           Fortschrittsvorstellungen folgen. Vielleicht sollte man nicht nur
könnte eine moderne Form der Bildungsreise aussehen, die nicht       die Mekkas, sondern auch die Modernen im Plural verwenden:
auf den Spuren antiker Künstler oder vergangener Dynastien und       chinesische, arabische, brasilianische – antike. Ein Monopol auf die
Schlösser wandelt, die sich weder auf das Genre der Museen noch      Aufklärung jedenfalls haben westliche Industrienationen nicht.
auf bestimmte Länder oder Disziplinen beschränkt, sondern offen         Einige Orte stehen sogar in offenem Widerspruch zueinander.
für viele Perspektiven ist, nach Gegenwart und Zukunft forscht?      Das älteste Gestein des Planeten, über vier Milliarden Jahre alt,
Eine Fährte zum Beispiel führt uns nach Afrika, zu den Wurzeln       wurde mal auf Grönland vermutet, mal in Australien. Wir dagegen
des Blues in Mali. Eine andere nach Schanghai, zum ungebremsten      suchen es in Kanada, im Wissen um die Vorläufigkeit dieser Orts-
Fortschrittshunger einer delirierenden Bauwut. Traumziele wie        wahl. Unsere Route mag nicht nur zum Mitreisen einladen, im
die Galápagos-Inseln werden angesteuert, wo Darwin den Grund-        Lesesessel oder zu Fuß, sondern auch zu Zweifel und Einspruch.
stein für seine Evolutionslehre legte. Ein Autor reist nach Samoa,   Eine solche Lesehaltung scheint einem Buch angemessen, das
wo romantische Wissenschaftler ein Paradies der sexuellen Be-        die Pilgerstätten der Moderne und ihrer Aufklärung würdigt. Wir
freiung erblickten, bis dieser Wunschtraum widerlegt wurde. Mek-     laden die Leser daher dazu ein, im Internet darüber zu diskutieren,
kas bis zum Widerruf, das alles haben diese Orte gemein bei          dort (www.mekkasdermoderne.de), wo dieses Salonspiel seinen
all ihrer geografischen und fachlichen Verschiedenheit. Schließlich   Anfang nahm.
sind sie alle modern, und das bedeutet: widerlegbar.                    Ein Ende dieser Expedition ist nicht erkennbar. Aber ein Ziel:
    Die Neuzeit entdeckte das Neue, das Unerwartete als Prinzip.     Gute Reise!
Auch wir wurden immer wieder überrascht von den Ortsbege-
hungen, und wir laden die Leser auf diverse Entdeckungsreisen                                                             Die Herausgeber
quer durchs Buch ein, je nach Vorliebe, je nach Lesegewohnheit.
Es gibt verschiedene Lesepfade: Der eine führt geradeaus, Seite
für Seite, von Cape Canaveral in Florida über Goethes Haus in Wei-
mar bis zum Pol der Unerreichbarkeit im Pazifik.
    Ein weiterer Kompass kann die Weltkarte auf dem Vorsatzpapier
sein, die das direkte Springen an den jeweiligen geografischen Ort
erlaubt.

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AU T O R   Peter Glaser
                                                                      1




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Cape Canaveral, Florida

Das Kap der hohen Hoffnung




                                                                      Florida
A   us dem Weltall sieht das Stück an der Atlantikküste aus wie ein




                                                                      BÜHNE
      griechisches Profil. Auf Höhe der Nasenwurzel sind zwei
Flecken erkennbar. Beim Näherkommen, während man im Sturz-
flug auf die Ostküste Floridas niederfährt, die sogenannte »Space




                                                                      Cape Canaveral
Coast«, erscheinen sie wie zwei riesige Seerosenblätter – die Rän-
der, das Aderwerk, das Grün. Wenn man nahe genug über dem
Boden ist, sieht man dann in der Mitte der vermeintlichen Blätter,
deren Adern sich bereits in Straßen aufgelöst haben, jeweils eine
gewaltige Stahlkonstruktion aufragen. Es sind die Startplattformen
der Space Shuttles. Das ist Launch Complex 39.
   Von den beiden Starttürmen führt eine lange, breite Straße auf
eine wie ein Straßendorf hingestreckte Ansammlung von Gebäuden




                                                                      SZENE
zu. Alles dort überragt ein imposanter Hallenwürfel, das Vehicle
Assembly Building (VAB). Beim Aufmalen der 2144 Quadratmeter
großen amerikanischen Flagge und des Nasa-Emblems auf eine der




                                                                      Technik
Seitenwände wurden mehr als 22.000 Liter Farbe verbraucht. Das
VAB ist mit 3,6 Millionen Kubikmetern das am Volumen gemessen
drittgrößte Bauwerk der Welt. Zum Vergleich: Die Cheops-Pyramide
umfasst 2,5 Millionen Kubikmeter. Im Zeitungsinnenteil der Micky
Maus-Hefte wurde einmal berichtet, dass sich bedingt durch die
gewaltige Größe der Raketenhalle manchmal eine eigene Wetterlage
in dem Gebäude bildete. Eine eigene Wetterlage!
   Das Nasenrückenküstenstück ist gesäumt von weiteren Rake-
tenstartrampen, die meisten davon betreibt die US Air Force. Wo
von der Nase ausgehend ein Augenlid sein müsste, erstreckt sich
eine weitere, sehr lange Piste. Es ist die Landebahn für die Space
Shuttles, sie wird selten benutzt. Der geografische Name des
Areals ist Merritt Island. Der mythische Name ist John F. Kennedy
Space Center.

                                                                13
1   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                   1


       Ursprünglich für das Apollo-Programm erbaut, wurde es später




                                                                                                                                                O RT
    zum Startpunkt für die seit April 1981 durchgeführten Space Shuttle-
    Missionen umgebaut. In den fünfziger Jahren hatte der Himmel sich




                                                                                                                                                Florida
    in ein technisches Problem verwandelt. Die Frage stand im Raum,
    wer ihn als erster befahren würde. Der Himmel hieß nun Weltraum
    und hatte sich aus der duftigen Sphäre der Religion zu einem hand-
    festen politischen Interesse verdichtet. Im Oktober 1957 setzten
    die Russen »Sputnik I« aus, den ersten künstlichen Himmelskörper
    [e Baikonur 31].
       Die Eroberung des Firmaments durch die Raketenwissenschaft
    begleitete mein Heranwachsen wie eine natürliche Leidenschaft.
    Als kleiner Junge in den sechziger Jahren fühlte man sich ganz




                                                                                                                                                BÜHNE
    selbstverständlich aufgerufen, mit an der Eroberung des Raums teil-
    zunehmen.
       Cape Canaveral wurde der zentrale Ort dieser Erstürmung. An-




                                                                                                                                                Cape Canaveral
    geblich benutzte Wernher von Braun eine Geschichte des Science
    Fiction-Autors Arthur C. Clarke, um Präsident Kennedy von der
    Notwendigkeit der bemannten Raumfahrt und von Flügen zum
    Mond zu überzeugen. Die Illustratoren populärer Magazine wie
    »Colliers« oder »Popular Mechanics« und Wunderwelten-Profis wie
    Walt Disney entwarfen grandiose Bilder von Raumstationen und
    Reisen durchs All, welche die Phantasien einer zukunftshungrigen       Wenn die Raumpatrouille flog oder ein Lift-off von Cape Kennedy
    Generation entzündeten. In den monumentalen Bauwerken auf              anlag (das später wieder in Cape Canaveral rückbenannt wurde,




                                                                                                                                                SZENE
    Cape Canaveral kristallisierten die luftigen Gedanken.                 da die Einwohner auf der 400 Jahre alten Namensgebung bestan-
       Bald nachdem im deutschen Fernsehen Commander Cliff McLane          den), galt eine Ausnahmeregelung entgegen der sonst strikt dosier-
    mit dem schnellen Raumkreuzer Orion zur ersten Raumpatrouille          ten Fernseherlaubnis.




                                                                                                                                                Technik
    gestartet war, hatte das US-Raumfahrtprogramm mit Griffen in              So waren die Raketenstarts von Cape Kennedy zugleich auch die
    den Götterhimmel der alten Griechen – Mercury, Gemini, Apollo –        Einflugschneise hinauf ins Erwachsenwerden [e Summerhill 66]:
    das der Sowjets überflügelt. Eine zeitgemäße Dunkelheit verhüllte       Fernsehen nicht mehr nur bis zum Sandmännchen, sondern mit
    Orte weit jenseits des Eisernen Vorhangs, das Sternenstädtchen         Open End, manchmal den ganzen Tag lang, während eine mäch-
    und Baikonur; machtpolitischer Nebel nahm die Sicht auf Peene-         tige »Saturn V«-Rakete im Startturm wartete, Kältewolken von den
    münde und die Anfänge der Raketentechnologie im Deutschland            Tankwänden wehten und Professor Heinz Haber physikalische,
    des Zweiten Weltkriegs. Am Vormittag des 24. Juli 1950 wurde           technische und astronomische Hintergründe erläuterte. Passend
    der Weltraumbahnhof auf Cape Canaveral mit dem Start der ersten        zu Countdowns lautet die Telefonvorwahl für Cape Canaveral übri-
    mehrstufigen Rakete überhaupt, einer ausgebauten V2-Rakete              gens 321.
    namens »Bumper 8« von Rampe 3 des Long Range Proving Ground,              Dem unausgesprochenen allgemeinen Aufruf zur Weltraum-
    eingeweiht.                                                            fahrt folgend, entwickelte ich in dem chemischen Laboratorium,
       Wir Jungs bauten unterdessen aus Draht und Isolierband die          das aus einem Chemiekasten im Keller des Elternhauses hervor-
    Strahlenwaffen der Orion-Crew nach und laserten einander damit         gegangen war, Festtreibstoffe nach dem Grundrezept einer Schwarz-
    draußen auf der Straße im Vorbeifahren von den Juniorfahrrädern.       pulvermischung. Die Mischung, etwa ein Pfund, füllte ich in

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1   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                       1


    einen Rundkolben aus Jenaer Glas und versuchte, das Geschoss im           Die technische Himmelsbewältigung stagniert. Die Erde hat




                                                                                                                                                    O RT
    Garten aus einem gusseisernen Christbaumfuß zu starten. Das            sich in einen Schleier aus Satelliten gehüllt, aber die phantastischen
    Glas schmolz, in der Wiese blieb ein verkohlter Fleck und ich zog      Verheißungen des Himmels vagabundieren nun wieder über die




                                                                                                                                                    Florida
    mir den Zorn der Nachbarinnen zu, deren Wäsche mit Schwefel-           Erdoberfläche. Nach der Challenger-Katastrophe trat die Hoffnungs-
    schwaden imprägniert wurde. Der Wissenschaft waren Opfer zu            losigkeit der bemannten Raumfahrt unübersehbar zu Tage. Der
    bringen [e Bikini-Atoll 17].                                           Versuch, den exzessiv lebensfeindlichen Weltraum mit mensch-
       Die erste Mondlandung sah ich in der Sommerfrische mit den          lichem Eroberungsdrang zu beleben, war nach dem milliarden-
    Bauern in einem Landgasthaus. In dieser langen Nacht trank ich vor     teuren Einflug mehrerer Kilo Mondgestein längst in der Kälte des
    Aufregung zwei Liter Cola mit der Folge, dass ich Colageschmack        Kosmos verweht.
    bis heute nicht mehr vertrage.                                            Im September 2004 wurden Teile des Kennedy Space Center
       Der Überdruss am Raumfahren stellte sich also bald ein. Die         von Hurrikan Frances schwer beschädigt. Ein Teil der Gebäude-
    nachfolgenden Mondlandemissionen, mit denen die siebziger Jahre        verkleidung des VAB wurde weggerissen und der Bereich, in dem




                                                                                                                                                    BÜHNE
    begannen, waren unbedeutend, langweilig, kalt und grau wie der         die Hitzekacheln des Space Shuttle montiert werden, schwer
    Mond. Erinnert sich jemand an die zweite Mondlandung? Oder             beschädigt.
    an die letzte? Der eine, entscheidende, himmlische Moment war             Heute sehen wir in Cape Canaveral im Rocket Garden das para-




                                                                                                                                                    Cape Canaveral
    längst verglüht, Cape Canaveral ein Riesenhaufen Zement und Stahl.     doxe Gegenteil dessen, wozu die Anlage ursprünglich gebaut wor-
    Als die Ära der Space Shuttles begann, war der gewaltige Zauber        den ist: liegende Raketen, die auch noch am Boden festgeschraubt
    verflogen, mit dem sich die Saturn-Raketen und die kleinen Apollo-      sind. Längst wenden wir Himmel und All auf technologischem
    Kapseln obenauf aus der Erdschwere erhoben hatten. Shuttle-Starts      Weg nach Innen. Das Internet ist die Demokratisierung der Raum-
    im Fernsehen waren banal, als würde man die Abfahrt eines
    Schnellzugs übertragen.
       Das eigentliche Produkt der Mondlandemission war längst einge-
                                                                           fahrt – nun kann jeder mitfliegen [e Google 15].
                                                                                                                                              .
    fahren. Es war nie um Forschung gegangen, sondern immer nur




                                                                                                                                                    SZENE
    darum, Wolkenkratzer zu bauen, die fliegen können. Als der deut-
    sche Raketenpionier Eugen Sänger 1958 sein Buch »Raumfahrt –
    technische Überwindung des Krieges« veröffentlichte, genügte




                                                                                                                                                    Technik
    zur Begründung der Raumfahrt ein Zitat des Papstes. Es war einzig
    darum gegangen, mit den riesigen Raketen den Stahlhochbau zu
    derselben Vollendung zu bringen, zu der die alten Ägypter mit dem
    Pyramidenbau die Steinbearbeitung geführt hatten. Als modernes
    Zentrum der Himmelfahrt war Cape Canaveral weit mehr als ein
    technologischer Brennpunkt.
       Pyramidenbau und Raumfahrt gleichen sich in vielem. Die Ähn-
    lichkeiten zwischen einem Astronauten in seinem weißen Schutz-
    anzug und einer Mumie sind unübersehbar. Beide Großbauten,
    Pyramide und Rakete, dienen der Reise in die Unendlichkeit
    [e Phoenix 71 ]. Es ist Religion in der Maske von Maschinen – sofern
    Religion bedeutet, jenes besondere Gemeinschaftsgefühl hervor-
    zurufen, jenes Gefühl, eine Menschheit zu sein, mit der wir uns
    dem unendlichen Schweigen der Natur entgegenstellen.

    16                                                                                                                                        17
2   AU T O R E N   Harald Lesch, Hilmar Schmundt                                                                                                  2


                                                                              Der Museumsshop am Eingang seines Hauses ist eine Zumutung.




                                                                                                                                                 O RT
    Das Goethehaus in Weimar                                               Schlange stehen, Eintrittskarte kaufen. Ein Hauch von Disneyland:
                                                                           Postkarten, Tassen, Büsten, Topflappen, T-Shirts [e Mona Lisa 4].
    Odyssee am Frauenplan




                                                                                                                                                 Weimar
                                                                           Der Geheimrat würde sich im Grabe umdrehen – aber nur, um
                                                                           besser sehen zu können. Er liebte den großen Auftritt, ein Meister
                                                                           der Inszenierung, nicht nur im Theater. Dies Haus war seine Bühne.
                                                                              Die Treppe ausladend, einladend. Aufwändig ließ Goethe den
                                                                           Zentraleingang umbauen, um besser Hof halten zu können. Die
                                                                           Stufen hinauf das Begrüßungsmosaik: SALVE. Ein Erkennungs-
                                                                           zeichen des Bildungsbürgertums, das diese Grußworte gern auf Fuß-


    D
                                                                           abtretern vor ihrer Wohnungstür platziert.
          as Haus am Frauenplan 1. Von außen wirkt es wie eine süß-           Ein Salon reiht sich an den nächsten, Tiefblicke als Imponier-




                                                                                                                                                 BÜHNE
          liche Idylle, die sonnige Fassade Platz beherrschend hingefläzt   gehabe: Großes Sammlungszimmer, Majolikazimmer, Deckenzim-
    hinter einem sprudelnden Brünnlein. Doch die behagliche Kulisse        mer, Junozimmer, Urbinozimmer. Dies hätte die Kulisse für einen
    trügt. Hier fanden einst Tiefbohrungen statt [e Bremen 48], boden-     Kubrick-Film abgeben können, wäre die kreiselnde Raumstation




                                                                                                                                                 Goethehaus
    los, riskant, in unerschöpfliche Quellen, ergiebig bis heute. Nicht     im Science Fiction-Klassiker »2001 – Odyssee im Weltraum« im
    nur für Sonntagsreden pensionierter Studienräte, sondern auch für      18. Jahrhundert zwischengelandet. Statt einer Antwort immer neue
    Geologen, Biologen, Astrophysiker. Also rein ins Getümmel.             Fragen, statt fester Standpunkte immer neue Abgründe.
       Eine Klassiker-Rennbahn. Die Stadt ist gepflastert mit Plaketten,       Das Juno-Zimmer: ein mächtiger Frauenkopf aus Marmor starrt
    Verweisen, Schreinen. Schiller [e Königsberg 23], Herder, Wieland,     eine Zimmerflucht entlang. »Keine Worte geben eine Ahnung
    Jean Paul, Nietzsche [e Röcken 72], Cranach [e Wittenberg 28], Bach    davon, er ist wie ein Gesang Homers«, schreibt Goethe. Die Juno
    [e Lambaréné 24], Liszt, Wagner, Klee, Beckmann, Gropius, Bauhaus      Ludovisi ist ein Souvenir von seiner Italienreise. Wahrscheinlich,
    [e Bauhaus 26], Unesco. Dazu noch Hitler und Buchenwald. Das           so meint man heute, handelt es sich bei der Abgebildeten gar




                                                                                                                                                 SZENE
    Jetzt verschwindet hinter einem Großaufgebot an Gestrigem. Über        nicht um eine Göttin, sondern um Antonia minor, eine Nichte des
    drei Millionen Besucher kommen jedes Jahr in die thüringische          Augustus. Aber darum geht es nicht. Rom und Troia liegen in
    Kleinstadt mit ihren rund 60.000 Einwohnern. Mehr als nach Jeru-       Weimar, scheint Goethe seinen Besuchern mit auf den Weg geben




                                                                                                                                                 Sammlung
    salem oder auf die Akropolis.                                          zu wollen. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, das Gestern
       »Ich bin Weltbürger und Weimaraner«, sagte Goethe von sich:         nur vergessen [e Troia 47]. Flirtend schreibt er über die Juno an
    »Von Weimar gehen die Tore und Straßen nach allen Enden der            Charlotte von Stein: »Es war dies meine erste Liebschaft in Rom
    Welt«. Alle Touristenwege wiederum führen zum Haus am Frauen-          und nun besitz ich diesen Wunsch. Stünd ich doch schon mit
    plan, wo der Dichterfürst mit kurzen Unterbrechungen fünfzig           dir davor.« Hintergründige Sätze. Hintergründige Räume. So liebte
    Jahre lang wohnte. Von Goethedämmerung keine Spur: Über                es der Geheimrat.
    160.000 Besucher durchwandeln jedes Jahr sein Haus. Ein halbes            Die Zimmerflucht im Vorderhaus ist eine bildungsbürgerliche
    Jahrhundert Literaturgeschichte, ein Nationaldichter, ein Klassiker,   Bühne, eine Wunderkammer des Wissens. Heute kommen die
    ein klebriger Geniekult nah an der Satire: »O Weimar! Dir fiel ein      Räume fast karg daher. Damals ist das anders, Goethe ist ein süch-
    besonder Los! Wie Bethlehem in Juda, klein und groß«. Vielleicht       tiger Sammler, alles ist voll gestellt mit Skulpturen und Gemälden,
    sind es ja Minderwertigkeitskomplexe, die gerade die deutsche          Mineralien, Büchern, Möbeln, Souvenirs: Mondmilch von wildem
    Provinz sich derartig nach dem Weltgeist recken lassen [e Pletten-     Kirchli im Canton Appenzell; ein essbares, indisches Vogelnest,
    berg 37]. Goethes Einfluss auf die Kunst war gewaltig. Sein Einfluss     zerbrochen; Wollproben in einem Pappkästchen; zwei Dutzend
    auf die Wissenschaft ist es noch heute.                                Knöpfe von kalkartigem Stein; vier Stück Bezoar von Gazellen.

    18                                                                                                                                     19
2   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                             2


    Er sammelt 18.000 Steine, 9000 Grafiken, 4500 Gemmenabgüsse,                   Die Wirtschaftsgebäude: abgetrennt von den Repräsentations-




                                                                                                                                                          O RT
    8000 Bücher, dazu Gemälde, Plastiken, Manuskripte, das meiste              räumen im Vorderhaus. Seine spätere Frau Christiane Vulpius muss
    Kopien – für Originale fehlen ihm Geld und Sinn. Wer braucht               leider draußen bleiben bei den feinen Salons. Sie kocht, organisiert




                                                                                                                                                          Weimar
    schon Originale, wenn eine Kopie die Seele ebenso berührt. Pirate-         die Hausarbeit, hält den Laden am Laufen und sich jahrelang selbst
    bay und Google Books [e Google 15], Multitasking und Morphing,             hauptsächlich im hinteren Gebäudeteil auf. Bigott? Vielleicht ist es
    all das würde ihm sofort einleuchten. Goethes Haus ist angelegt            genau anders herum: Goethe liebt es, zu provozieren. Die höfische
    als Forschungsmuseum, Privatakademie, Institute for Advanced               Gesellschaft lehnt seine unstandesgemäße Liaison mit der ehe-
    Study [e IAS 49]. Auf dem Flügel im Junozimmer spielt der jugend-          maligen Hutmacherin ab. Aber Goethe lässt sich seine Frauenpläne
    liche Felix Mendelssohn. Die Juno, seine erste Liebschaft, die             nicht durchkreuzen, nie. Noch als Witwer von zweiundsiebzig
    Göttin, die keine ist, wird ein Kristallisationspunkt der Kunsttheo-       Jahren verliebt er sich unsterblich in Ulrike von Levetzow, einen
    rie, Wilhelm von Humboldt schreibt über sie, Jacob Burckhardt,             Teenager. Er hält um ihre Hand an, erhält eine Abfuhr. Todunglück-
    Paul Heyse.                                                                lich schreibt er seine »Marienbader Elegie«: »Mir ist das All, ich bin




                                                                                                                                                          BÜHNE
        Der Salon als Weltausstellung im Kleinen. Antike und Tagespoli-        mir selbst verloren.«
    tik, Exotik und Provinz sind hier auf kleinstem Raum versammelt.              Ich bin der Geist, der stets verneint – auch das ist ein Teil von
    Er ist ein leidenschaftlicher Leser des Koran, fordert statt einer         Goethe. Seine Rolle als Doktor Faustus inszeniert er im vorderen




                                                                                                                                                          Goethehaus
    Nationalliteratur eine Weltliteratur und postuliert im »West-Öst-          Teil des Hauses, Wissen, Klarheit, Respektierlichkeit. Doch auch
    lichen Diwan«: »Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch               Mephisto ist präsent, die Nachtseite, das Rätselhafte: Die Juno-
    hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen«         Skuptur deutet ihn an, seine erste Liebschaft, die in Richtung der
    [e Dubai 35].                                                              Raumflucht blickt. Hinter den repräsentativen Salons Wendeltrep-
        Goethes Salon ist ein gesellschaftliches Ereignis. Hier tafeln         pen und enge Gänge, die diskret hinüberführen zum Hintergebäude.
    Fürsten und Denker, Geologen und Dichter, Botaniker und feine              Die Idee eines »Unbewussten« ist vielleicht gar keine Erfindung
    Damen. Im Zentrum steht der Mensch, ist Goethes Maxime. Oft ist            von Freud, sondern schon im »Mephisto« angelegt, Goethe ver-
    er es selbst, der im Mittelpunkt steht. Intellektuelle reisen aus ganz     wendete den Begriff bereits 1777 [e Freuds Couch 9]. Er liebt das




                                                                                                                                                          SZENE
    Europa an, um ihn zu treffen. Da es noch keine Fernleihe gibt zu           intellektuelle Risiko. »Die Wahlverwandtschaften«, der Roman
    seiner Zeit, kein Internet [e Cern 11], kein iPhone [e Apple-Garage 29],   einer Affäre zweier Paare überkreuz, ist angelegt wie ein erotisches
    müssen Salons wie die seinen herhalten als Kommunikations-                                                                  Experiment, ein




                                                                                                                                                          Sammlung
    zentrale. Man liest sich Gedichte vor und diskutiert über den Zwi-                                                          Skandal ersten Ran-
    schenkieferknochen, man spielt Theater und streitet sich über                                                               ges. Goethe ist
    die Natur des Lichts. Ein gutes Argument, ein treffendes Bild, von                                                          Spieler, die Behäbig-
    irgendjemand in die Runde geworfen, taucht später oft in Goethes                                                            keit des Hauses nur
    Gedichten oder Aufsätzen auf. Von wem etwas ist, wen kümmert’s,                                                             Fassade.
    Plagiarismus, who cares. Ein Gräuel für heutige Urheberrechts-                                                                 Die Wunderkam-
    schützer und Patentanwälte. Manchmal weiß er selbst nicht mehr,                                                             mern des Wissens
    ob ein Gedicht von ihm stammt oder nicht. Einen derartig inten-                                                             im Frauenplan sind
    siven intellektuellen Austausch gibt es auch heute nur selten                                                               Theater und Labor
    [e Santa Fe 13, Oberwolfach 39, Oxford 50, Aspen 55]. Goethes Salon ist                                                     zugleich. Wenn er
    eine Sensation: Entertainment und Experiment, Forschung und                                                                 ein neues Fundstück
    Show. Diese Bühne steht im Mittelpunkt und Vordergrund des                                                                  ergattert, reicht er es
    Gebäudeensembles. Aber auch das ist natürlich wieder nur die halbe                                                          herum wie eine Tro-
    Wahrheit. Tür um Tür geht es weiter und immer weiter.                                                                       phäe. Seine Maxime:

    20                                                                                                                                              21
2   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                       2


    Im Zentrum steht der Mensch, und was er sinnlich wahrnimmt,             Newton verneint – eine leichtfertige Zuspitzung. Hochmütig




                                                                                                                                                    O RT
    das zählt mehr als Instrumente, Theorie und Mathematik. Er hat          reimt er einen Spottvers: »Weiß hat Newton gemacht aus allen Far-
    seinen Immanuel Kant gelesen: »Der gestirnte Himmel über mir            ben. Gar manches hat er euch weis gemacht, das ihr ein Säkulum




                                                                                                                                                    Weimar
    und das moralische Gesetz in mir« [e Königsberg 23]. Aber Goethe        geglaubt.« Ein theatralisches Duell mit einem Toten. Der Tote ge-
    verneint dessen kategorischen Imperativ. Kant erkennt Pflicht,           winnt, Goethe gilt heute in diesem Punkt als widerlegt.
    wo Goethe Spiel sieht. Er ist Amateur im emphatischen Sinne, die           Die Bibliothek, dahinter das Arbeitszimmer. Nach Pomp und
    Wissenschaft seine erste große Liebe. Leidenschaftlich wendet er        Überfülle der Salons überrascht die Schmucklosigkeit. Ein karger
    sich gegen Plutonisten wie James Hutton, den britischen Nestor          Raum, grün gestrichen, weder Sofa noch Gardinen, ein Stehpult,
    des Fachs [e Nuvvuagittuq 3]. Die Plutonisten glauben, dass Granit      drei Schreibtische. Hier diktiert er die »Wahlverwandtschaften«
    und Basalt aus tief liegenden Schmelzzonen im Innern der Erde           und wissenschaftliche Aufsätze. »Mit heiliger Ehrfurcht betritt man
    stammen, dem Reiche des Unterweltgottes Pluto. Goethe nimmt die         Goethes Arbeitszimmer, in das, während er lebte, außer einigen
    überwältigenden Beweise seiner Gegner zur Kenntnis, bleibt aber         seiner ältesten und vertrautesten Freunde niemand je Zutritt hatte«,




                                                                                                                                                    BÜHNE
    Neptunist, also Anhänger des Wassermanns. Nicht Feuer, sondern          schreibt ein Besucher später. Dann das Schlafzimmer: noch einfa-
    Fluten formen die Felsen, so glaubt er. Und polemisiert gegen           cher. Ein Bett, eine große Tabelle über Tonlehre an der Tür, daneben
    Hutton: »Basalt, der schwarze Teufels-Mohr / aus tiefster Hölle         eine geologische Zeittafel, die natürlich nicht Jahre oder Genera-




                                                                                                                                                    Goethehaus
    bricht hervor, / Zerspaltet Fels, Gestein und Erden, / Omega muss       tionen kartiert, sondern Äonen. Neben dem Fenster der Lehnstuhl,
    zum Alpha werden. / Und so wäre denn die Welt / Geognostisch auf        in dem er 1832 stirbt. Er gestikuliert mit der Hand und ruft: »Licht,
    den Kopf gestellt.« Gut gereimt, aber falsch. Basalt ist vulkanischen   mehr Licht!«
    Ursprungs, das ist heute allgemein akzeptiert. Trotzig vermerkt            Mehr Licht: Das Treppenhaus hinab, raus in den Garten. Ein trä-
    Goethe 1828: »Ich finde immer mehr, dass man es mit der Mino-            ger Augustnachmittag, schwer vom Blütenduft. Hier baut Christiane
    rität, die stets die Gescheitere ist, halten muss.« Das mag arrogant    ihr Gemüse an: Spargel, Löwenzahn, Topinambur, Rapontica, Pasti-
    sein, vor allem aber beweist es Unabhängigkeit vom Zeitgeist            nake, dazu Buchsbaumhecken wie in einem Bauerngarten. Für
    und Gruppendruck. Er bemüht sich um die Wiederaufnahme des              den Geheimrat ist der Garten wie seine Romane, seine Ehe, seine




                                                                                                                                                    SZENE
    Bergbaus im nahen Ilmenau – und scheitert auch dabei. Auch das          Salons, sein Leben: ein Labor. Mit Kapuzinerkresse stellt er Keim-
    schreckt ihn nicht ab – ihm geht es um mehr, ums Große und              versuche an für sein Buch »Die Metamorphose der Pflanzen«.
    Ganze. Eigenwillig verfolgt er so etwas wie die Physik komplexer           Der Garten ist ruhig. Er gilt als Nebenschauplatz der Weltlitera-




                                                                                                                                                    Sammlung
    Systeme [e Santa Fe 13]. Er setzt auf Gesamtschau, auch wenn er         tur im Schatten der Salons im Vorderhaus. Doch eigentlich ist er das
    bei den Details daneben liegen mag: »Ein Jahrhundert, das sich bloß     Zentrum. Mehr Licht, hier suchte Goethe es. Hier studierte er das
    auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürch-      Knospen, Blühen und Vergehen. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt,
    tet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie       wie es ist. Er sucht nach der Urpflanze, nach dem Urphänomen des
    Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft.«                  Werdens und Vergehens: Anziehung und Abstoßung, Einatmen und
       Der Streit ums Licht: wieder so ein Schauboxen ums Grundsätz-        Ausatmen. Er sucht nach Urtier, Urmensch, Urphänomen. Seine
    liche. Als Widersacher sucht er sich erneut einen britischen Wis-       Studien zum Zwischenkieferknochen, der sich beim Menschen über
    senschaftsstar aus: Isaac Newton. Der hatte hundert Jahre zuvor         die Jahrtausende verändert hat, ist für ihn der Beleg: »Der Mensch
    einen weißen Lichtstrahl mit Hilfe von Prismen zerlegt in einzelne      gehört mit zur Natur!« Der Mensch ist denselben Naturgesetzen
    Primärfarben. Goethe dagegen beschreibt in seiner »Farbenlehre«         wie die Tiere unterworfen, wie alles Lebende. Damit ebnet Goethe
    das Licht als sinnliche Erfahrung mit Wirkung auf die Seele. Dafür      den Weg für die Evolutionstheorie. Das zumindest glaubt der gefei-
    wird er heute oft belächelt. Dabei liegt er eigentlich nicht falsch,    erte Physiker Hermann von Helmholtz [e Galápagos 5].
    sondern nur anders. Newton beschreibt die Physik, Goethe die               Goethe im Garten: Er spricht nicht von »Umwelt«, sondern
    Physiologie. Aber er überreizt sein Blatt, und spielt den Geist, der    von »Mitwelt«. Der Mensch als Teil des Gesamtsystems Erde, als

    22                                                                                                                                        23
2   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                       2


    prägend und geprägt. Das klingt heute fast wie ein Vorgriff auf die    faltigsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles




                                                                                                                                                    O RT
    Klimadebatte [e Antarktis 16, Mauna Loa 34]. Jeden Morgen studiert     der Schöpfung, zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten,
    Goethe das Wetter, fertigt Skizzen von den Wolken an, verfasst eine    unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat.«




                                                                                                                                                    Weimar
    »Witterungslehre«. Deren einzig beständiges Element: der Wandel,          Beim Basalt und beim Licht mag Goethe danebenliegen – und
    ein »gewisses Pulsieren, ein Zu- und Abnehmen, ohne welches            dennoch im geistigen Zentrum des naturwissenschaftlichen Auf-
    keine Lebendigkeit zu denken wäre.«                                    bruchs der folgenden Generation. Alexander von Humboldt, der
       Im Küchengarten studiert Goethe Pflanzen – und Sterne. Im            wohl berühmteste Weltreisende seiner Zeit, hat Werke Goethes
    Februar 1800 stellt er hier einen »Siebenfüßer« auf, ein Teleskop      immer im Gepäck. 1806 schreibt er in einem Brief: »In den Wäldern
    mit einem über zwei Meter langen Tubus aus Mahagoni und einer          des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden er-
    zweihundertfachen Vergrößerung. Er schreibt an seinen Freund           kannte ich, wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur
    Friedrich Schiller: »Um sieben Uhr, da der Mond aufgeht, sind Sie      ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in
    zu einer astronomischen Partie eingeladen, den Mond und den            des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem




                                                                                                                                                    BÜHNE
    Saturn zu betrachten; denn es finden sich heute Abend drei Tele-        Gefühle durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf
    skope in meinem Hause.« Nachts stehen sie zwischen Spargel,            mich gewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben,
    Löwenzahn, Topinambur, Rapontica, Pastinake und beobachten den         gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war« [e Straße der




                                                                                                                                                    Goethehaus
    Mond: »Es erregt die merkwürdigsten Gefühle, wenn man einen            Vulkane 58].
    so weit entfernten Gegenstandt so nahe gerückt sieht, wenn es uns         Von Goethes Garten führen Tore in alle Welt: auch ins All. Ähn-
    möglich wird, den Zustand eines 50.000 Meilen von uns entfernten       lich Paläontologen, die versteinerte Knochen studierten, um das
    Körpers mit so viel Klarheit einzusehen.« Im April lädt er Schiller    Leben und Alter urzeitlicher Tiere zu rekonstruieren, kartieren
    erneut zu einer astronomischen Partie ein. Er hat einen Frauenplan:    Astronomen heute die fossile Hintergrundstrahlung, den Nachhall
    »Es war eine Zeit, wo man den Mond nur empfinden wollte, jetzt          des Urknalls. Mit fliegenden Weltraum-Teleskopen vermessen
    will man ihn sehen. Ich wünsche, dass es recht viele Neugierige        Astrophysiker heute das Werden und Vergehen von Galaxien, die
    geben möge, damit wir die schönen Damen nach und nach in unser         Geburt von schwarzen Löchern und den Sternentod, ein gewisses




                                                                                                                                                    SZENE
    Observatorium locken.«                                                 Pulsieren, ein Zu- und Abnehmen, ohne welches keine Lebendig-
       Ein kleines, barockes Gartenhaus: die mineralogische Samm-          keit zu denken wäre. Ein expandierendes Universum, das seit
    lung. Das Herzstück des Museums vielleicht. Und daher verriegelt.      dem Urknall auseinanderdriftet, pulsierende Neutronensterne,




                                                                                                                                                    Sammlung
    Die über 160.000 jährlich eintreffenden Besucher des Laborato-         Braune Zwerge? All das erscheint wie eine Fortsetzung von Goethes
    riums am Frauenplan würden die Sammlung nur durcheinander-             Vision einer atmenden, sich wandelnden Mitwelt. Selbst Albert
    bringen. Die Mineralogie war damals schwer in Mode, seit Goethe        Einstein hat mit derlei Dynamik anfangs Probleme. Er ist zunächst
    mit seiner Liebe zum »öden Steinreich« halb Weimar ansteckte:          ein überzeugter Anhänger eines statischen Universums – und
    »Ich komme mir vor wie Antäus, der sich immer wieder neu               somit ein entschiedener Gegner eines aus einem Uratom gewach-
    gestärkt fühlt, je kräftiger man ihn mit seiner Mutter Erde in Be-     senen Kosmos, wie ihn die Urknalltheorie annimmt. Erst 1930
    rührung bringt.«                                                       lässt sich Einstein umstimmen und beschreibt die Hypothese eines
       Ein dämmriger Raum voller Holzschränke, Schachteln, eng be-         Urknalls als schönste und beste Erklärung der Entstehungsge-
    schriftet mit Fundort und Name. Quarz und Glimmer, Granit und          schichte des Alls.
    Kalk: Über 18.000 Steine sind hier versammelt. Nichts ist vor seiner      »Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall
    romantischen Weltsicht sicher, selbst Mineralien sieht er als Teil     ohne Folgen«, schreibt Friedrich Nietzsche [e Röcken 72]. Doch
    des Lebens an: »Ich fürchte den Vorwurf nicht, dass es ein Geist des   hier irrt der Dichter. Die Meldung von Goethes Ableben ist maßlos
    Widerspruchs sein müsse«, schreibt er, »der mich von Betrachtung       übertrieben, sein Sterbestuhl überbewertet. Goethes Odyssee im
    und Schilderung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannig-        Weltraum hat gerade erst begonnen: Sein Forschungsprogramm

    24                                                                                                                                        25
2   Meilensteine und Wegweiser                                           AU T O R   Jürgen Schönstein
                                                                                                                                                 3
    läuft weiter, auch ohne ihn, geheimnisvoll wie die Juno von Ludo-




                                                                                                                                                 O RT
    visi, seine erste Liebschaft.                                        Der Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel, Québec
       Spurenelemente seines Denkens finden sich jede Woche in der
                                                                         Fundament der Tiefenzeit




                                                                                                                                                 Québec
    Zeitung: Sterngeburten und Sternentod, Epigenetik und Klima-
    wandel. Die Wissenschaftszeitschrift »Nature« verdankt ihren
    Namen einem Gedicht von Goethe [e Nature 42]. Darin schreibt er
    über die Natur: »Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer
    neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der
    Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.«


                                                                         E
       Ein Fenster ist halb geöffnet. Draußen auf dem Kiesweg im
    Garten knirschen Schritte. Als könnte der Geheimrat jederzeit her-       in paar flache Felsrücken an einer kalten Bucht im hohen Nor-
    einschneien.                                                              den Kanadas, kein Auto weit und breit, kein Internetanschluss,




                                                                                                                                                 BÜHNE
       Sein Wissenschaftstheater am Frauenplan 1 schafft sich immer      der nächste Ort über 30 Kilometer entfernt. Wer hierher kommt,
    neue Zuschauer. In der Mineraliensammlung zum Beispiel liegt         bringt besser Zeit und Zelt und einen guten Schlafsack mit. Doch
    ein Stein, der Goethes Namen trägt, ein rötlich schimmerndes         die Reise lohnt sich. Wer auf diesen grauschlierigen Felsen steht,




                                                                                                                                                 Grünsteingürtel
    Brauneisenerz, das pflanzenähnlich anmutende Rosetten bilden          betritt einen Grundstein des modernen Wissenschaftsgebäudes:
    kann und nur in Zusammenhang mit Wasser entsteht. Im Jahr 2004       die älteste intakte Gesteinsformation des Planeten, das Fundament
    untersuchen Weltraum-Geologen das All mit Hilfe der Raumsonde        der sogenannten Tiefenzeit, einer schier unendlichen Vergangen-
    »Spirit« – Geist. Und finden dies wässrige Mineral auch auf dem       heit, ohne die Darwins Idee vom Werden und Vergehen der Arten
    Mars: Goethit.
                                                                   .     [e Galápagos 5] nicht denkbar wäre.
                                                                            Steine und Zeit gehören zusammen, der Begriff »steinalt«
                                                                         existierte schon lange, bevor uns der britische Geologe Charles Lyell
                                                                         mit seinen drei Bänden die »Principles of Geology« Anfang des




                                                                                                                                                 SZENE
                                                                         19. Jahrhunderts die Idee einer Erde vermittelte, die über Millionen
                                                                         und Milliarden von Jahren geformt wurde. Und nicht innerhalb
                                                                         einer Schöpfungswoche vor rund 6000 Jahren, wie in der Bibel




                                                                                                                                                 Natur
                                                                         beschrieben.
                                                                            Doch was bedeutet »steinalt« wirklich? Im Harz findet man
                                                                         beispielsweise Mineralien, die vor etwa 500 Millionen Jahren aus-
                                                                         kristallisiert sind – nach menschlichen Maßstäben uralt, aber
                                                                         gemessen am Alter der Erde (rund 4,6 Milliarden Jahre) eher junges
                                                                         Material. Geradezu neumodischer Kram verglichen mit dem Grün-
                                                                         stein von Nuvvuagittuq, dem Gesteinsschild auf der Ostseite der
                                                                         kanadischen Hudson Bay. Dessen Alter wird von Wissenschaft-
                                                                         lern der McGill-Universität auf 4,28 Milliarden Jahre beziffert und
                                                                         hält damit den Altersrekord irdischen Gesteins. Natürlich gibt es
                                                                         Konkurrenten für diesen Rekord, in Australien zum Beispiel wurden
                                                                         Einschlüsse in Gesteinen entdeckt, die vielleicht noch ein wenig
                                                                         älter sind. Aber in Kanada handelt es sich um intakte Formationen
                                                                         aus der Entstehungszeit der damals noch jungen Erdkruste.

    26                                                                                                                                     27
3   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                           3


        Sind solche Zeitspannen für uns überhaupt vorstellbar? Zeit ist     sam wirkende Wechselspiel von Mutation und Selektion überhaupt




                                                                                                                                                       O RT
    etwas, von dem es in meiner Wahlheimat New York nur sehr wenig          erst formulieren konnte [e Stevns Klint 46, Meishan 69].
    zu geben scheint: Die sprichwörtliche »New York Minute«, in der            Als Erdwissenschaftler (Geograf, um genau zu sein) erfasst mich




                                                                                                                                                       Québec
    sich die Geduldsspanne der New Yorker misst, verstreicht mit einem      immer wieder mal ein Anflug von Genugtuung, dass es eben nicht
    Lidschlag; Eile ist eine Tugend; und die Geschichte der Stadt lässt     Kepler, Galilei, Newton oder andere Giganten der frühen Astro-
    sich noch leicht in Jahrzehnten messen.                                 Physik waren, die aus der Tiefe des Raums auf eine Tiefe der Zeit
        Aber wer, wie ich, einige Zeit in dieser Stadt verbracht hat,       schlossen. Sondern die bescheidenen Steineklopfer, die mit gesenk-
    der lernt, selbst ohne erdwissenschaftlichen Wissenshintergrund,        tem Blick am Boden direkt unter ihren Füßen ferne Urwelten ent-
    allein schon durch Beobachtung und Erfahrung, wie Zeit sich             deckten [e Eichstätt 43].
    vertikal manifestiert: Wenn Wolkenkratzer neu entstehen, dann              Sie mussten ihre verwegenen Theorien gegen scheinbar unüber-
    bohren sie sich erst als Gruben ins Grundgebirge und wachsen dann       windliche Widerstände behaupten, gleichsam mit dem Kopf durch
    praktisch im Wochenrhythmus um jeweils ein Stockwerk. Schon             die Felswand. Die Widerstände kamen nicht nur von der Kirche,




                                                                                                                                                       BÜHNE
    jedem Kind wird hier klar, dass die oberen Geschosse die jüngsten       sondern von einer der größten wissenschaftlichen Autoritäten ihrer
    sind – manchmal, vor allem in Zeiten knapper Finanzmittel und           Zeit. In einem Artikel für »Macmillan’s Magazine«, erschienen am
    damit verzögerter Fertigstellung, um Jahre jünger als das Funda-        5. März 1862, hatte kein geringerer als Sir William Thompson, der




                                                                                                                                                       Grünsteingürtel
    ment [e Schanghai 18].                                                  Nachwelt besser bekannt als der mit akademischen Ehren höchst-
        Dass sich Zeit rein morphologisch in Höhen oder Tiefen be-          dekorierte Lord Kelvin, das Alter der Sonne auf maximal 20 Millio-
    schreiben lässt, wäre sicher auch zu den Zeiten des schottischen        nen Jahre datiert. Diese Rechnung beruhte auf der Theorie, dass
    Geologen James Hutton (1726 – 1797) noch leicht vermittelbar            die Sonne ihre Strahlungsenergie aus einem Dauerfeuer von Meteo-
    gewesen. Aber der Naturphilosoph und Geologe aus Edinburgh              riteneinschlägen beziehe. Die Verbrennung reinen Kohlenstoffs, was
    brachte das damalige Weltbild gleich in doppelter Hinsicht ins          damals als der effizienteste chemische Vorgang angesehen wurde,
    Schwanken. Einerseits beschrieb er das Gesicht der Erde nicht als       hätte sogar nur für 3000 Sonnenjahre gereicht.
    Resultat eines einmaligen Schöpfungsaktes, sondern als Resultat            Erst die Entdeckung der Radioaktivität, genauer gesagt: Ernest




                                                                                                                                                       SZENE
    eines beständigen Umformungsprozesses. Eine Herkulesaufgabe:            Rutherfords Überlegungen zum radioaktiven Zerfall als »Treibstoff«
    sein vierbändiges Werk »Theory of the Earth«, an dem er jahrelang                                                           der Sonne ein
    arbeitete, veröffentlichte er erst 1795, kurz vor seinem Tod. Noch                                                          knappes halbes




                                                                                                                                                       Natur
    dramatischer aber war seine Forderung, dass diese geomorpholo-                                                              Jahrhundert später
    gischen Prozesse einer unerdenklich langen, unfassbar tiefen Zeit                                                           schob diesen wis-
    bedurften. In »Theory of the Earth« schreibt er: »Time, which                                                               senschaftlichen
    measures every thing in our idea, and is often deficient to our                                                              Stolperstein bei-
    schemes, is to nature endless and as nothing; it cannot limit that by                                                       seite und ebnete
    which alone it had existence; and, as the natural course of time,                                                           der Tiefenzeit den
    which to us seems infinite, cannot be bounded by any operation                                                               Weg.
    that may have an end, the progress of things upon this globe, that                                                             Hutton glaubte
    is, the course of nature, cannot be limited by time, which must                                                             an eine unendliche
    proceed in a continual succession.«                                                                                         Erdgeschichte.
        Erst dieses Konzept einer »Deep Time« erlaubte Lyell, in sei-                                                           »Wir finden keine
    nem Werk die Grundlagen der Geologie zu etablieren. Sie erst gab                                                            Spur eines An-
    Charles Darwin den zeitlich notwendigen Spielraum, mit dem er                                                               fangs, keine Aus-
    seine Theorie von der Entstehung der Arten durch das extrem lang-                                                           sicht auf ein Ende«,

    28                                                                                                                                           29
3   Meilensteine und Wegweiser                                                                                                                        3


                                                                           von Samarium-Isotopen zu Neodym wirklich das Alter der meta-




                                                                                                                                                    O RT
                                                                           morphen Formation selbst oder »nur« einiger Ausgangsmineralien
                                                                           bestimmen kann. »4,28 Milliarden ist die Zahl, die ich bevorzuge«,




                                                                                                                                                    Québec
                                                                           gibt Francis freimütig zu. Nicht jede Hypothese lässt sich eben
                                                                           sofort beweisen, das ging schon Hutton so. Fruchtbar war seine Ver-
                                                                           mutung einer Tiefenzeit dennoch.
                                                                              Es ist nicht ohne wissenschaftliche Pointe, dass die Tiefe der
                                                                           Zeit, die Hutton einst aus der Erkenntnis des stetigen Wandels
                                                                           der Erdoberfläche folgerte, ausgerechnet in der flachen Weite der
                                                                           östlichen Hudson Bay sichtbar wird, wo sich eine Felsplatte seit
                                                                           mehr als Vier- und einem Viertelmilliarden Jahren ohne geologische
                                                                           Verformung erhalten hat. Anders als der Grand Canyon Arizonas,




                                                                                                                                                    BÜHNE
                                                                           in dem selbst ein Laie – sofern er nicht überzeugter Junger-Erde-
                                                                           Kreationist ist – den sprichwörtlichen »Zahn der Zeit« nagen
                                                                           spürt, bietet sich der Nuvvuagittuq-Gürtel den Sinnen eher als eine




                                                                                                                                                    Grünsteingürtel
                                                                           Metapher der Ferne denn der Tiefe an.
                                                                              »Zu wissen, dass dies die ältesten Felsgesteine der Welt sind,
                                                                           macht es zu etwas Besonderem«, beschrieb der Mit-Entdecker
                                                                           O’Neill sein beinahe ehrfürchtiges Gefühl, als er im Sommer 2008,
                                                                           nach der wissenschaftlichen Datierung des Gesteins, erstmals
                                                                           wieder den Grünsteingürtel betrat.
    schrieb er in einem Aufsatz, den er 1788 der Royal Society of             Er wird wohl noch oft zurückkehren müssen, denn es scheint,
    Edinburgh präsentierte. Wir wissen inzwischen, dass es einen           als ob Nuvvuagittuq noch einiges zu offenbaren hat. Die McGill-




                                                                                                                                                    SZENE
    Anfang gegeben haben muss, und dass ein Ende durchaus plausibel        Forscher sind sicher, dass die Formation, aus der sich der Gesteins-
    ist. Seit 4,54 Milliarden Jahren besteht, nach unseren heutigen        gürtel gebildet hat, auf dem Grunde eines urzeitlichen Meeres
    Erkenntnissen, jener felsige Körper, der als dritter Planet um unser   abgelegt wurde, die nur gut eine Viertelmilliarde Jahre junge Erde




                                                                                                                                                    Natur
    Zentralgestirn kreist, und den wir Erde nennen.                        also schon eine Hydrosphäre besaß.
        Und so kommen wir also zum Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel               Mehr noch: Die hier auftretende Bändererz-Struktur aus Magnetit
    zurück: »Superior-Kraton« wird dieser Teil des uralten Kontinental-    und Quarz – die auch typisch für die Sedimente im Umkreis von
    schildes bezeichnet, der das Herzstück der nordamerikanischen          Tiefsee-Schloten ist – gilt weithin als ein Indikator für die Anwesen-
    Platte bildet. Als sich die Amphibolite und anderen Minerale form-     heit von Bakterien. Falls sich dies bestätigen lässt, würden wir aus
    ten, aus denen er besteht, war die Erde gerade mal 260 Millionen       der Tiefe der Zeit gewissermaßen das früheste Ticken der biologi-
    Jahre jung. Zugegeben, über das genaue Alter wird man unter Wis-
    senschaftlern sicher noch lange streiten. Der Geologe Don Francis,
    Professor an der kanadischen McGill-Universität ist gemeinsam mit
                                                                           schen Uhr unseres Heimatplaneten hören.
                                                                                                                                              .
    seinem Doktoranden Jonathan O’Neill Verfasser eines »Science«-
    Artikels [e Nature 42], in dem er das Alter des Grünsteingürtels zu
    bestimmen versuchte. Selbst diese Forscher räumen einen Spiel-
    raum von 3,8 bis 4,28 Milliarden Jahren ein, der aus der Ungewiss-
    heit resultiert, ob die Datierung durch den radioaktiven Zerfall

    30                                                                                                                                        31
4   AU T O R   Lars Blunck                                                                                                                           4


                                                                          Uffizien in Florenz zu verkaufen, da die Mona Lisa doch als Floren-




                                                                                                                                                    O RT
    Mona Lisa, Paris                                                      tinerin nach Italien gehöre. Sei es die überbordende Vielfalt dispara-
                                                                          ter Deutungen, vom medizinischen Befund, die Dargestellte habe
    Digitale Bildverehrung und




                                                                                                                                                    Paris
                                                                          an Syphilis gelitten, bis zur ermüdenden Debatte, ob denn nun
                                                                          die Florentiner Kaufmannsgattin Lisa del Giocondo dargestellt sei
    delegiertes Erleben                                                   oder vielleicht doch jemand ganz anderes. – Kurz: es gibt wohl
                                                                          kein Gemälde, das einen vergleichbaren globalen Bekanntheitsgrad
                                                                          erlangt hat, und das so häufig fotografisch reproduziert wurde wie
                                                                          die Mona Lisa.
                                                                             Zum Mythos, ja zum Kultobjekt aufgestiegen ist das Bild indes


    E
                                                                          erst im 20. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte. Und das Mu-
        s ist ein weiter Weg hierher, gleich ob man aus dem Ausland       seum tut das seine dazu, Mythos und Kult tüchtig zu nähren und




                                                                                                                                                    BÜHNE
         anreist oder bloß aus dem 4. Arrondissement herüberkommt in      zu mehren; es ist darin sicherlich eher dem antiken Museion,
    die Salle des États. Denn nach dem Betreten des Louvre, dieses        dem Heiligtum der Musen näher, als einem Ort anschaulichen Er-
    Museums der Superlative, eröffnet sich – kunsthistorisch, aber eben   kenntnisgewinns und aufgeklärter Wissensvermittlung [e British




                                                                                                                                                    Mona Lisa
    auch räumlich – ein Kosmos, in dem sich zu verlieren droht, wer       Museum 12].
    nicht mittels des obligaten Besucherfaltblatts durch die Museums-        Musste sich das lediglich 77 mal 53 Zentimeter messende Ge-
    räume zu navigieren versteht. Schier unendliche Enfiladen tun          mälde früher noch eine Museumswand mit anderen italienischen
    sich auf, weitläufige Treppenauf- und -abgänge sind zu bewältigen,     Meisterwerken teilen, war es also gleichsam eingebettet in die
    verwinkelte Kabinette strapazieren jeden Orientierungssinn, kurz:     Malerei der Hochrenaissance, so wird ihm seit 2005 ein eigener
    eine veritable Tour de Parcours durch mehr als 2000 Jahre Kunst-      Platz gewährt, losgelöst von allen kunstgeschichtlichen Bezügen,
    geschichte.                                                           präsentiert als das adorable Chef d’Œuvre der Kunstgeschichte.
       Irgendwann aber, spätestens wenn man sich dem Sog der Besu-        Tizian, Giorgione, Veronese und Co. sind seitdem zu Statisten




                                                                                                                                                    SZENE
    cherströme ergeben hat, führt der Weg in die Belle Etage des Süd-     degradiert; ihre Gemälde, die die Mona Lisa nunmehr an den Stirn-
    flügels. Der stetig ansteigende Geräuschpegel und die zunehmende       und Längswänden der Salle des États flankieren, bereiten allen-
    Publikumsdichte lassen erahnen, dass man sich einem besonde-          falls noch die rahmende Kulisse für den Atem nehmenden Auftritt




                                                                                                                                                    Sammlung
    ren Ort nähert: der Salle des États. Dem Ort, nach dem sicherlich     des unangefochtenen Stars in diesem Raum.
    gefragt werden wird, wer daheim berichtet, er habe den Louvre            Durch zentimeterdickes Panzerglas gegen etwaige Übergriffe
    besucht, der Ort, an dem das vielleicht berühmteste Gemälde der       geschützt [e Graz 64], ist das Bild eingelassen in eine meterhohe,
    Kunstgeschichte seinen Platz gefunden hat: die Mona Lisa, der                                  monumentale Wand, die sich inmitten der
    Höhepunkt eines jeden Louvre-Besuchs.                                                          Salle des États, freigestellt vor den staunen-
       Worin sich Ruhm und Berühmtheit dieses von Leonardo da Vinci                                den Besuchern, aufbaut wie der Hauptaltar
    zwischen 1503 und 1506 in Öl auf Holz geschaffenen Gemäldes                                    in einer gotischen Kathedrale. Der Vergleich
    begründen, wird heute wohl niemand mehr recht sagen können.                                    mit einem Altar ist keineswegs zufällig
    Seien es die schwülstig-erotischen Phantastereien des 19. Jahr-                                gewählt, haben die Verantwortlichen des
    hunderts: Théophile Gautier sah sich in seinem berühmten Kom-                                  Louvre bei der Inszenierung der Mona Lisa
    mentar von 1858 von der Dargestellten eingeschüchtert »wie ein                                 doch alle Register gezogen, um religiöse
    Schuljunge vor einer Herzogin«. Sei es der spektakuläre Raub                                   Assoziationen zu evozieren. Wie eine sakrale
    des Gemäldes im Jahr 1911 und dessen glückliche Wiederkehr in                                  Preziose wird sie in ihrem klimatisierten
    den Louvre 1913 – der Dieb hatte versucht, das Gemälde an die                                  Glasschrein bewahrt. Knapp unter diesem

    32                                                                                                                                        33
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  • 1. LESEPROBE D ie Pilgerstätten der säkularen Wissensgesellschaft sind so vielfältig wie die Moderne selbst. Schriftsteller, Mekkas Forscher und Journalisten führen quer durch den Kosmos der globalisierten Welt. Sie laden ein zum Entdecken und der Moderne Genießen, zum Nachdenken und Querlesen, Pilgerstätten zum Mitdenken und zum Widerspruch. der Wissensgesellschaft Herausgegeben von Hilmar Schmundt, Milos Vec und Hildegard Westphal ˇ
  • 2. LESEPROBE Mekkas der Moderne - Pilgerorte der Wissensgesellschaft Kapitel 1 - 16 (von insgesamt 76) *** Nominiert als "Wissenschaftsbuch des Jahres" 2010 *** In Zusammenarbeit mit der "Jungen Akademie der Wissenschaften" und SPIEGEL ONLINE *** www.mekkasdermoderne.de
  • 3. REZENSIONEN Technology Review: „Stets so packend beschrieben, dass man mit dem Schmökern nicht aufhören will.“ *** Handelsblatt: "In dem Buch räumt Wozniak mit einer Legende auf" *** profil: "Ein fein selektierter Führer durch die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts" *** Forschung und Lehre: "Anregende Entdeckungsreise, die neugierig macht und Lust zu eigenen Erkundungen weckt" *** Scala (WDR5): "Ein Buch, bei dem man denkt: Wie schade, dass man nicht selber auf die Idee gekommen ist." *** Leonardo (WDR): "Wahnsinnig witzige und spannende Geschichten" *** Deutschlandradio Kultur: "Kurzweilige Lektüre"
  • 4. 6 GEOGRAFISCHES 44 I N H A LT S V E R Z E I C H N I S Die Zahlen geben 46 70 23 die Kapitelnummern an. 66 Nicht über Geodaten 48 61 65 42 erreichbar: 73, 74, 75, 76 50 12 37 54 26 28 38 68 2 59 62 72 67 36 39 43 4 53 9 11 60 57 64 56 7 10 45 63 41 47 3 44 70 31 19 15 25 55 29 33 47 13 22 71 49 40 30 69 18 1 14 34 35 32 27 17 58 24 21 5 8 51 20 52 16
  • 5. W E I T E R E L E S E P FA D E ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– C L A S S I C - R O U T E Zentrale Orte Ü B E R H O L S P U R Rollen, rasen, klettern, fliegen 2 Weimar 67 Panthéon, Paris 12 British Museum 14 Alexandria 20 Brasília 1 Cape Canaveral 61 Autobahn 60 Basel 56 Matterhorn 74 Mars 52 Südsternwarte 5 Galápagos 4 Hawaii 30 Miraikan 18 Schanghai 9 Wien ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– D E R R E C H T E W E G Normative Erkundungen 36 Strasbourg 10 Bologna 7 Solferino 64 Graz 37 Plettenberg ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– SCHLEICHWEGE G E D A N K E N - G Ä N G E Philosophenpfade um die Welt ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– 23 Königsberg 2 Weimar 72 Röcken 24 Lambaréné F R Ü H S TA RT Protomoderne Aufbrüche ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– 28 Wittenberg 57 Augsburg 10 Bologna 45 San Millán 32 Mali G E H E I M E L A B Y R I N T H E Verschlossene Zirkel 14 Alexandria 35 Dubai 63 Vatikan 62 BIPM 42 Nature 70 Pantheon der Gehirne, Moskau ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– F O RT S E T Z U N G S - G E S C H I C H T E Postkoloniale Aufbrüche W E G E Z U M R U H M Routen auf den Olymp der Wissensgesellschaft 20 Brasília 14 Alexandria 35 Dubai 27 Bangalore 69 Meishan 6 Stockholm 42 Nature 67 Panthéon, Paris 15 Google 18 Schanghai ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– WA R E N K R E I S L AU F Wege der Wirtschaft S P U R D E R S T E I N E Kristalline Erkenntnisse 60 Basel 57 Augsburg 18 Schanghai 35 Dubai 69 Meishan 46 Stevns Klint 43 Eichstätt 48 Bremen 38 Lyme Regis ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – –– G I P F E L R O U T E N Erhoben und Erhaben 3 Grünsteingürtel ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – – ––– 56 Matterhorn 58 Straße der Vulkane 52 Südsternwarte 34 Mauna Loa 55 Aspen 76 Unerreichbarkeitspol ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– – – ––
  • 6. Mekkas der Moderne Pilgerstätten der Wissensgesellschaft Herausgegeben von Hilmar Schmundt, Milos Vec und Hildegard Westphal ˇ Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien 2010
  • 7. AU T O R E N I N H A LT Peter Becker 64 Rainer Maria Kiesow 10 Ulrich Schollwöck 55 G E O G R A F I S C H E S I N H A LT S V E R Z E I C H N I S Vorsatz Lars Blunck 4 Mathias Kläui 11 Hilmar Schmundt 2, 12, ABREISE 9 Stefan Bornholdt 13 Matthias Klatt 50 22, 31, 35, 42, 56, 67 Friedrich von Borries 26 Martina Kölbl-Ebert 38 Jürgen Schönstein 3 Maik Brandenburg 17 Sabine Koller 33 Christopher Schrader 34 D I E AU T O R E N 420 Justus Cobet 47 Guido Komatsu 57 Erhard Schütz 61 C L A S S I C- R O U T E U N D S C H L E I C H W E G E Nachsatz Holger Dambeck 72 Charlotte Kroll 30 Meinhard Stalder 44 Monika Dommann 60 Dirk van Laak 37 Angela Steinmüller 74 Irenäus Eibl-Eibesfeldt 5 Ulrich Ladurner 7 Karlheinz Steinmüller 74 Fiona Ehlers 66 Harald Lesch 2 Jakob Strobel y Serra 18, Philipp Elsner 20 Dirk H. Lorenzen 52 45, 58 I AU F B R U C H Meilensteine und Wegweiser Eva-Maria Engelen 23 Lydia Marinelli 9 Jürgen Tautz 53 Ernst Peter Fischer 40 Stephan Maus 6 Gerald Traufetter 16 1 Cape Canaveral, Florida Das Kap der hohen Hoffnung 13 Julia Fischer 21 Christian Fleischhack 39 Kenichi Moriya 73 Simone Müller 59 Ilija Trojanow 27 Milos Vec 62 ˇ 2 Das Goethehaus in Weimar Odyssee am Frauenplan 18 Kurt W. Forster 54 Bernd Musa 14 David Wagner 65 3 Der Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel, Québec Fundament der Tiefenzeit 27 Mona Lisa, Paris Digitale Bildverehrung und delegiertes Erleben 32 Gundolf S. Freyermuth 71 Kärin Nickelsen 41 Uwe Wesel 36 4 Peter Glaser 1, 15 Alexander Nützel 69 Hildegard Westphal 46, 48 Felix Grigat 24 Peter Pannke 32 Anna Wienhard 49 5 Galápagos Labor der Evolution 36 Nobelpreiskomitee, Stockholm Mythos und Narrenspiel 41 Michael Hagner 70 Oliver Rauhut 43 Martin Wilmking 19, 76 6 Arne Karsten 63 Andreas Rosenfelder 75 Steve Wozniak 29 Jürgen Kaube 25, 51 Michael Rutschky 28 7 Solferino und Castiglione Die Geburt des humanitären Völkerrechts 46 ¯moa Der Traum vom glücklichen Wilden 50 Peter Sandmeyer 8 8 Malo Sa'oloto Tuto'atasi o Sa Wilfried F. Schoeller 68 9 Freuds Couch Die Liege der Lust 57 10 Bologna Völlerei und Phantasie 61 11 Das Cern bei Genf Eine Kathedrale der Physik 65 12 British Museum, London Tempel der Aufklärung 71 13 Santa Fe Institute, New Mexico Der hl. Glaube ans Fachübergreifende 75 14 Die Bibliothek von Alexandria Wissen als politische Macht 79 15 Google Der Schlitz 87 16 Antarktis Flucht ins Eis 92 Ein Projekt der Arbeitsgruppe »Manieren!« der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften II E X P E D I T I O N E N Lokale Globalität und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 17 Bikini-Atoll, Marshall IslandsDrei schwarze Sterne auf der Flagge 98 18 Schanghai Der Wirtschaftswunderwahnsinn 106 19 Bristlecone-Kiefern, White Mountains Wie man (fast) jede Krise übersteht 111 20 Brasília Wenn die Moderne träumt 113 Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der VolkswagenStiftung 21 Rift Valley, Kenia Die Wiege der Menschheit 121
  • 8. 22 United Nations University, TokioGelehrtenrepublik und neues Atlantis 125 51 Kiriwina, Papua-Neuguinea Verschont die Trobriander! 275 23 Kantiana in Königsberg Aus Ehrfurcht vor dem Denken 132 52 Europäische Südsternwarte, Chile Nach den Sternen greifen 278 24 Lambaréné, Gabun Albert Schweitzers ethisches Korrektiv 136 53 Sieben Häuser am Wolfgangsee Schwänzeltanz der Bienen 283 25 West Madison Street, Chicago Bühne des unsteten Lebens 142 54 Sir John Soane’s Museum, London Melancholie des Sammelns 288 26 Bauhaus in Dessau Relikt der Utopien 146 55 Aspen, Colorado Gipfelstürme der Physik 294 27 Bangalore Heiliges Mosaik aus Steinen und Mikrochips 150 28 Wittenberg Wiege und Themenpark der protestantischen Ethik 153 IV AU S F L Ü G E Überraschungen für Fortgeschrittene 29 Die Apple-Garage Die Legenden des Rocky Raccoon Clark 159 30 Miraikan, Tokio Humanoide hinterm Absperrband 163 56 Matterhorn Vertikale Pilgerreise 298 31 Baikonur, Kasachstan Himmelfahrt in der Steppe 168 57 Fuggerstadt Augsburg Geld und Glaube 309 32 Die Oase Essakane, Mali Wurzeln und Stamm der Weltmusik 173 58 Straße der Vulkane, Ecuador Humboldt vermisst die Anden 316 33 YIVO, New York Die untergegangene Welt des Ostjudentums 178 59 Porthcurno, Cornwall Die lange Leitung 321 34 Mauna Loa, Hawaii Eine Kurve verändert die Welt 183 60 Bahnhofkühlhaus, Basel Wie man lagert, so liegt man 327 35 Ibn Battuta Mall, Dubai Schaufenster einer anderen Aufklärung 188 61 Deutschland Kraftwerk Autobahn 332 62 Bureau International des Poids et Mesures, Sèvres Der Welt Standard 339 63 Päpstliches Geheimarchiv, Vatikan 43 Kilometer Geschichte 343 III E I N K E H R Paradiese des Geistes 64 Kriminalmuseum, Graz Der praktische Blick am Tatort 348 36 F-67075 Strasbourg Das jüngste Gericht 194 65 Charité, Berlin theatrum anatomicum 354 37 Plettenberg Der Ort als Gesetz 202 66 Summerhill School, Leiston Die Weltverbesserungsanstalt 360 38 Lyme Regis, Dorsetshire Fossiliensammeln am Strand des Lebens 210 39 Oberwolfach Der Welt entrückt im Paradies der Mathematiker 214 V AU S B L I C K E Erinnerungen an die Zukunft 40 Cold Spring Harbor, Long Island Wohnzimmer mit Wissenschaft 220 41 La Stazione Zoologica di Napoli Wo die Seeigel ihre Eier legen 228 67 Panthéon, Paris Zentralheiligtum und Zankapfel 368 42 Nature, Crinan Street 4, London Plaudern, Rauchen, Picheln 232 68 Internationaler Suchdienst, Arolsen Wider die Macht des Nichterzählten 376 43 Eichstätt Mit Schwanz und Krallen in kirchliche Obhut 240 69 The Golden Spike, Meishan Die Zeit festnageln 382 44 Kernforschungszentrum Dubna, Russland Atom rabotschij 245 70 Moskau 1929 Das Pantheon der Gehirne 388 45 San Millán de la Cogolla Wiege der spanischen Sprache 249 71 Phoenix, Arizona Der kühle Kult der Kryonik 393 46 Stevns Klint, Dänemark Der Ort, an dem die Welt unterging 253 72 Röcken bei Leipzig Nietzsches trautes Dörflein 398 47 Troia Schauplatz einer dichterischen Phantasie 257 73 Hier und Jetzt Auf keiner Stätte ruhn 402 48 Das Bohrkernlager in Bremen Lesen wie in einem Buch 261 74 Mars Krieg der Welten 407 49 Institute for Advanced Study, Princeton Ein Eden auf Zeit 265 75 Second Life Der Niedergang 413 50 Senior Common Room, Oxford Dinner zwischen Disziplinen 270 76 Der Unerreichbarkeitspol der Erde 417
  • 9. ABREISE A ngefangen hat alles mit einem Salonspiel zwischen Forschern, Schriftstellern und Journalisten: Was sind die Pilgerstätten der Wissenschaft? Welche Orte laden ein zum Entdecken und Verharren, zum Schauen, Staunen und Begreifen? Gibt es so etwas wie Mekkas der Moderne? Wir diskutierten per E-Mail, Skype und über ein Online- Forum. Als wollten wir die Frage nach realen Orten des Wissens von Anfang an ad absurdum führen. Doch dann geschah etwas Überraschendes. Je mehr Argumente wir gegen reale Pilgerorte der Moderne auflisteten, desto mehr Erlebnisse fielen uns ein, die nicht durch Datenleitungen passen: das erwartungsvolle Strahlen von Schulkindern, die mit Schlafsäcken unterm Arm durch das British Museum eilen, um bei den Mumien zu übernachten; das seltsame Gefühl, gemeinsam mit Geologen aus aller Welt am Strand von Stevns Klint genau die fingerdicke Tonschicht zu berühren, die entstand, als die Dinosaurier ausstar- ben; die Lust, in Bologna, der vielleicht ältesten Universitätsstadt Europas, ein fettes Fleischragout zu löffeln; das Frösteln, das sich an Palmenstränden des Bikiniatolls einstellt, wenn man an die Bom- benversuche denkt. Ziel dieses Buches ist es nicht, den einen kanonischen Ort zu finden oder zu erfinden. Die Mekkas der Moderne – falls sie existie- ren – kann es nur im Plural geben. Aber das geht anderen Welt- anschauungen ähnlich und den großen Religionen sowieso: Das Christentum bietet seinen Anhängern nicht nur Rom zur Pilger- reise an, sondern auch Wittenberg, die Wartburg oder den Jakobs- weg. Selbst Mekka ist nicht das einzige Zentrum des Islam, denn da waren immer auch Medina und der Felsendom in Jerusalem. 9
  • 10. Vermutlich sehen die Pilgerorte der Wissensgesellschaft für jedes Außerdem gibt es philosophische Hintertreppen, die wir durch Fach anders aus, je nachdem, ob es eher von Darwin, Freud oder Querverweise im Text markiert haben. Einer von ihnen führt von Newton geprägt ist. Gemeinsam wäre diesen Orten, dass sie eine der Universität der Vereinten Nationen in Tokio zu einem ihrer besondere Autorität ausstrahlen, manche Besucher betreten sie Vordenker im Panthéon in Paris. Dort schwingt ein Foucaultsches gar mit Ehrfurcht: das Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf Pendel, das die Drehung der Erde sichtbar macht. Symbolisch vielleicht, wo, glaubt man der Boulevardpresse, nach dem Gottes- verweist es auf die Pole, wo viele Forscher nicht nur das Klima teilchen gefahndet wird. Auch der Anblick der Saturn V-Mond- erforschen, sondern auch ihr eigenes Unterbewusstes. Was wieder- rakete ist ebenso beeindruckend wie die Berührung jahrhunderte- um zu Freuds Arbeitszimmer in Wien führt. alter Bücher im vatikanischen Archiv. Und der erste Mensch, der Schließlich haben wir neben einer globalen Grand Tour auch seinen Fuß auf den Mars setzen wird, diesen noch uneingelösten Schleichwege markiert am Ende des Buches. Die »Spur der Steine« Wechsel der Raumfahrtfantasien, wird die Symbolkraft spüren. zum Beispiel führt zu Orten der Geologie. »Frühstart« folgt Spuren der Protomoderne: Vorläufern der Neuzeit im Altertum, wie etwa So ist eine Art Reiseführer entstanden, eine kleine Heimatkunde die Bibliothek von Alexandria. Die »postkolonialen Aufbrüche« der globalen Wissenslandschaft, eine Essaysammlung im ursprüng- laden ein zum Flanieren durch Schwellenländer, die jeweils eigenen lichen Wortsinn: ein Experiment mit offenen Ausgängen. Wie Fortschrittsvorstellungen folgen. Vielleicht sollte man nicht nur könnte eine moderne Form der Bildungsreise aussehen, die nicht die Mekkas, sondern auch die Modernen im Plural verwenden: auf den Spuren antiker Künstler oder vergangener Dynastien und chinesische, arabische, brasilianische – antike. Ein Monopol auf die Schlösser wandelt, die sich weder auf das Genre der Museen noch Aufklärung jedenfalls haben westliche Industrienationen nicht. auf bestimmte Länder oder Disziplinen beschränkt, sondern offen Einige Orte stehen sogar in offenem Widerspruch zueinander. für viele Perspektiven ist, nach Gegenwart und Zukunft forscht? Das älteste Gestein des Planeten, über vier Milliarden Jahre alt, Eine Fährte zum Beispiel führt uns nach Afrika, zu den Wurzeln wurde mal auf Grönland vermutet, mal in Australien. Wir dagegen des Blues in Mali. Eine andere nach Schanghai, zum ungebremsten suchen es in Kanada, im Wissen um die Vorläufigkeit dieser Orts- Fortschrittshunger einer delirierenden Bauwut. Traumziele wie wahl. Unsere Route mag nicht nur zum Mitreisen einladen, im die Galápagos-Inseln werden angesteuert, wo Darwin den Grund- Lesesessel oder zu Fuß, sondern auch zu Zweifel und Einspruch. stein für seine Evolutionslehre legte. Ein Autor reist nach Samoa, Eine solche Lesehaltung scheint einem Buch angemessen, das wo romantische Wissenschaftler ein Paradies der sexuellen Be- die Pilgerstätten der Moderne und ihrer Aufklärung würdigt. Wir freiung erblickten, bis dieser Wunschtraum widerlegt wurde. Mek- laden die Leser daher dazu ein, im Internet darüber zu diskutieren, kas bis zum Widerruf, das alles haben diese Orte gemein bei dort (www.mekkasdermoderne.de), wo dieses Salonspiel seinen all ihrer geografischen und fachlichen Verschiedenheit. Schließlich Anfang nahm. sind sie alle modern, und das bedeutet: widerlegbar. Ein Ende dieser Expedition ist nicht erkennbar. Aber ein Ziel: Die Neuzeit entdeckte das Neue, das Unerwartete als Prinzip. Gute Reise! Auch wir wurden immer wieder überrascht von den Ortsbege- hungen, und wir laden die Leser auf diverse Entdeckungsreisen Die Herausgeber quer durchs Buch ein, je nach Vorliebe, je nach Lesegewohnheit. Es gibt verschiedene Lesepfade: Der eine führt geradeaus, Seite für Seite, von Cape Canaveral in Florida über Goethes Haus in Wei- mar bis zum Pol der Unerreichbarkeit im Pazifik. Ein weiterer Kompass kann die Weltkarte auf dem Vorsatzpapier sein, die das direkte Springen an den jeweiligen geografischen Ort erlaubt. 10 11
  • 11. AU T O R Peter Glaser 1 O RT Cape Canaveral, Florida Das Kap der hohen Hoffnung Florida A us dem Weltall sieht das Stück an der Atlantikküste aus wie ein BÜHNE griechisches Profil. Auf Höhe der Nasenwurzel sind zwei Flecken erkennbar. Beim Näherkommen, während man im Sturz- flug auf die Ostküste Floridas niederfährt, die sogenannte »Space Cape Canaveral Coast«, erscheinen sie wie zwei riesige Seerosenblätter – die Rän- der, das Aderwerk, das Grün. Wenn man nahe genug über dem Boden ist, sieht man dann in der Mitte der vermeintlichen Blätter, deren Adern sich bereits in Straßen aufgelöst haben, jeweils eine gewaltige Stahlkonstruktion aufragen. Es sind die Startplattformen der Space Shuttles. Das ist Launch Complex 39. Von den beiden Starttürmen führt eine lange, breite Straße auf eine wie ein Straßendorf hingestreckte Ansammlung von Gebäuden SZENE zu. Alles dort überragt ein imposanter Hallenwürfel, das Vehicle Assembly Building (VAB). Beim Aufmalen der 2144 Quadratmeter großen amerikanischen Flagge und des Nasa-Emblems auf eine der Technik Seitenwände wurden mehr als 22.000 Liter Farbe verbraucht. Das VAB ist mit 3,6 Millionen Kubikmetern das am Volumen gemessen drittgrößte Bauwerk der Welt. Zum Vergleich: Die Cheops-Pyramide umfasst 2,5 Millionen Kubikmeter. Im Zeitungsinnenteil der Micky Maus-Hefte wurde einmal berichtet, dass sich bedingt durch die gewaltige Größe der Raketenhalle manchmal eine eigene Wetterlage in dem Gebäude bildete. Eine eigene Wetterlage! Das Nasenrückenküstenstück ist gesäumt von weiteren Rake- tenstartrampen, die meisten davon betreibt die US Air Force. Wo von der Nase ausgehend ein Augenlid sein müsste, erstreckt sich eine weitere, sehr lange Piste. Es ist die Landebahn für die Space Shuttles, sie wird selten benutzt. Der geografische Name des Areals ist Merritt Island. Der mythische Name ist John F. Kennedy Space Center. 13
  • 12. 1 Meilensteine und Wegweiser 1 Ursprünglich für das Apollo-Programm erbaut, wurde es später O RT zum Startpunkt für die seit April 1981 durchgeführten Space Shuttle- Missionen umgebaut. In den fünfziger Jahren hatte der Himmel sich Florida in ein technisches Problem verwandelt. Die Frage stand im Raum, wer ihn als erster befahren würde. Der Himmel hieß nun Weltraum und hatte sich aus der duftigen Sphäre der Religion zu einem hand- festen politischen Interesse verdichtet. Im Oktober 1957 setzten die Russen »Sputnik I« aus, den ersten künstlichen Himmelskörper [e Baikonur 31]. Die Eroberung des Firmaments durch die Raketenwissenschaft begleitete mein Heranwachsen wie eine natürliche Leidenschaft. Als kleiner Junge in den sechziger Jahren fühlte man sich ganz BÜHNE selbstverständlich aufgerufen, mit an der Eroberung des Raums teil- zunehmen. Cape Canaveral wurde der zentrale Ort dieser Erstürmung. An- Cape Canaveral geblich benutzte Wernher von Braun eine Geschichte des Science Fiction-Autors Arthur C. Clarke, um Präsident Kennedy von der Notwendigkeit der bemannten Raumfahrt und von Flügen zum Mond zu überzeugen. Die Illustratoren populärer Magazine wie »Colliers« oder »Popular Mechanics« und Wunderwelten-Profis wie Walt Disney entwarfen grandiose Bilder von Raumstationen und Reisen durchs All, welche die Phantasien einer zukunftshungrigen Wenn die Raumpatrouille flog oder ein Lift-off von Cape Kennedy Generation entzündeten. In den monumentalen Bauwerken auf anlag (das später wieder in Cape Canaveral rückbenannt wurde, SZENE Cape Canaveral kristallisierten die luftigen Gedanken. da die Einwohner auf der 400 Jahre alten Namensgebung bestan- Bald nachdem im deutschen Fernsehen Commander Cliff McLane den), galt eine Ausnahmeregelung entgegen der sonst strikt dosier- mit dem schnellen Raumkreuzer Orion zur ersten Raumpatrouille ten Fernseherlaubnis. Technik gestartet war, hatte das US-Raumfahrtprogramm mit Griffen in So waren die Raketenstarts von Cape Kennedy zugleich auch die den Götterhimmel der alten Griechen – Mercury, Gemini, Apollo – Einflugschneise hinauf ins Erwachsenwerden [e Summerhill 66]: das der Sowjets überflügelt. Eine zeitgemäße Dunkelheit verhüllte Fernsehen nicht mehr nur bis zum Sandmännchen, sondern mit Orte weit jenseits des Eisernen Vorhangs, das Sternenstädtchen Open End, manchmal den ganzen Tag lang, während eine mäch- und Baikonur; machtpolitischer Nebel nahm die Sicht auf Peene- tige »Saturn V«-Rakete im Startturm wartete, Kältewolken von den münde und die Anfänge der Raketentechnologie im Deutschland Tankwänden wehten und Professor Heinz Haber physikalische, des Zweiten Weltkriegs. Am Vormittag des 24. Juli 1950 wurde technische und astronomische Hintergründe erläuterte. Passend der Weltraumbahnhof auf Cape Canaveral mit dem Start der ersten zu Countdowns lautet die Telefonvorwahl für Cape Canaveral übri- mehrstufigen Rakete überhaupt, einer ausgebauten V2-Rakete gens 321. namens »Bumper 8« von Rampe 3 des Long Range Proving Ground, Dem unausgesprochenen allgemeinen Aufruf zur Weltraum- eingeweiht. fahrt folgend, entwickelte ich in dem chemischen Laboratorium, Wir Jungs bauten unterdessen aus Draht und Isolierband die das aus einem Chemiekasten im Keller des Elternhauses hervor- Strahlenwaffen der Orion-Crew nach und laserten einander damit gegangen war, Festtreibstoffe nach dem Grundrezept einer Schwarz- draußen auf der Straße im Vorbeifahren von den Juniorfahrrädern. pulvermischung. Die Mischung, etwa ein Pfund, füllte ich in 14 15
  • 13. 1 Meilensteine und Wegweiser 1 einen Rundkolben aus Jenaer Glas und versuchte, das Geschoss im Die technische Himmelsbewältigung stagniert. Die Erde hat O RT Garten aus einem gusseisernen Christbaumfuß zu starten. Das sich in einen Schleier aus Satelliten gehüllt, aber die phantastischen Glas schmolz, in der Wiese blieb ein verkohlter Fleck und ich zog Verheißungen des Himmels vagabundieren nun wieder über die Florida mir den Zorn der Nachbarinnen zu, deren Wäsche mit Schwefel- Erdoberfläche. Nach der Challenger-Katastrophe trat die Hoffnungs- schwaden imprägniert wurde. Der Wissenschaft waren Opfer zu losigkeit der bemannten Raumfahrt unübersehbar zu Tage. Der bringen [e Bikini-Atoll 17]. Versuch, den exzessiv lebensfeindlichen Weltraum mit mensch- Die erste Mondlandung sah ich in der Sommerfrische mit den lichem Eroberungsdrang zu beleben, war nach dem milliarden- Bauern in einem Landgasthaus. In dieser langen Nacht trank ich vor teuren Einflug mehrerer Kilo Mondgestein längst in der Kälte des Aufregung zwei Liter Cola mit der Folge, dass ich Colageschmack Kosmos verweht. bis heute nicht mehr vertrage. Im September 2004 wurden Teile des Kennedy Space Center Der Überdruss am Raumfahren stellte sich also bald ein. Die von Hurrikan Frances schwer beschädigt. Ein Teil der Gebäude- nachfolgenden Mondlandemissionen, mit denen die siebziger Jahre verkleidung des VAB wurde weggerissen und der Bereich, in dem BÜHNE begannen, waren unbedeutend, langweilig, kalt und grau wie der die Hitzekacheln des Space Shuttle montiert werden, schwer Mond. Erinnert sich jemand an die zweite Mondlandung? Oder beschädigt. an die letzte? Der eine, entscheidende, himmlische Moment war Heute sehen wir in Cape Canaveral im Rocket Garden das para- Cape Canaveral längst verglüht, Cape Canaveral ein Riesenhaufen Zement und Stahl. doxe Gegenteil dessen, wozu die Anlage ursprünglich gebaut wor- Als die Ära der Space Shuttles begann, war der gewaltige Zauber den ist: liegende Raketen, die auch noch am Boden festgeschraubt verflogen, mit dem sich die Saturn-Raketen und die kleinen Apollo- sind. Längst wenden wir Himmel und All auf technologischem Kapseln obenauf aus der Erdschwere erhoben hatten. Shuttle-Starts Weg nach Innen. Das Internet ist die Demokratisierung der Raum- im Fernsehen waren banal, als würde man die Abfahrt eines Schnellzugs übertragen. Das eigentliche Produkt der Mondlandemission war längst einge- fahrt – nun kann jeder mitfliegen [e Google 15]. . fahren. Es war nie um Forschung gegangen, sondern immer nur SZENE darum, Wolkenkratzer zu bauen, die fliegen können. Als der deut- sche Raketenpionier Eugen Sänger 1958 sein Buch »Raumfahrt – technische Überwindung des Krieges« veröffentlichte, genügte Technik zur Begründung der Raumfahrt ein Zitat des Papstes. Es war einzig darum gegangen, mit den riesigen Raketen den Stahlhochbau zu derselben Vollendung zu bringen, zu der die alten Ägypter mit dem Pyramidenbau die Steinbearbeitung geführt hatten. Als modernes Zentrum der Himmelfahrt war Cape Canaveral weit mehr als ein technologischer Brennpunkt. Pyramidenbau und Raumfahrt gleichen sich in vielem. Die Ähn- lichkeiten zwischen einem Astronauten in seinem weißen Schutz- anzug und einer Mumie sind unübersehbar. Beide Großbauten, Pyramide und Rakete, dienen der Reise in die Unendlichkeit [e Phoenix 71 ]. Es ist Religion in der Maske von Maschinen – sofern Religion bedeutet, jenes besondere Gemeinschaftsgefühl hervor- zurufen, jenes Gefühl, eine Menschheit zu sein, mit der wir uns dem unendlichen Schweigen der Natur entgegenstellen. 16 17
  • 14. 2 AU T O R E N Harald Lesch, Hilmar Schmundt 2 Der Museumsshop am Eingang seines Hauses ist eine Zumutung. O RT Das Goethehaus in Weimar Schlange stehen, Eintrittskarte kaufen. Ein Hauch von Disneyland: Postkarten, Tassen, Büsten, Topflappen, T-Shirts [e Mona Lisa 4]. Odyssee am Frauenplan Weimar Der Geheimrat würde sich im Grabe umdrehen – aber nur, um besser sehen zu können. Er liebte den großen Auftritt, ein Meister der Inszenierung, nicht nur im Theater. Dies Haus war seine Bühne. Die Treppe ausladend, einladend. Aufwändig ließ Goethe den Zentraleingang umbauen, um besser Hof halten zu können. Die Stufen hinauf das Begrüßungsmosaik: SALVE. Ein Erkennungs- zeichen des Bildungsbürgertums, das diese Grußworte gern auf Fuß- D abtretern vor ihrer Wohnungstür platziert. as Haus am Frauenplan 1. Von außen wirkt es wie eine süß- Ein Salon reiht sich an den nächsten, Tiefblicke als Imponier- BÜHNE liche Idylle, die sonnige Fassade Platz beherrschend hingefläzt gehabe: Großes Sammlungszimmer, Majolikazimmer, Deckenzim- hinter einem sprudelnden Brünnlein. Doch die behagliche Kulisse mer, Junozimmer, Urbinozimmer. Dies hätte die Kulisse für einen trügt. Hier fanden einst Tiefbohrungen statt [e Bremen 48], boden- Kubrick-Film abgeben können, wäre die kreiselnde Raumstation Goethehaus los, riskant, in unerschöpfliche Quellen, ergiebig bis heute. Nicht im Science Fiction-Klassiker »2001 – Odyssee im Weltraum« im nur für Sonntagsreden pensionierter Studienräte, sondern auch für 18. Jahrhundert zwischengelandet. Statt einer Antwort immer neue Geologen, Biologen, Astrophysiker. Also rein ins Getümmel. Fragen, statt fester Standpunkte immer neue Abgründe. Eine Klassiker-Rennbahn. Die Stadt ist gepflastert mit Plaketten, Das Juno-Zimmer: ein mächtiger Frauenkopf aus Marmor starrt Verweisen, Schreinen. Schiller [e Königsberg 23], Herder, Wieland, eine Zimmerflucht entlang. »Keine Worte geben eine Ahnung Jean Paul, Nietzsche [e Röcken 72], Cranach [e Wittenberg 28], Bach davon, er ist wie ein Gesang Homers«, schreibt Goethe. Die Juno [e Lambaréné 24], Liszt, Wagner, Klee, Beckmann, Gropius, Bauhaus Ludovisi ist ein Souvenir von seiner Italienreise. Wahrscheinlich, [e Bauhaus 26], Unesco. Dazu noch Hitler und Buchenwald. Das so meint man heute, handelt es sich bei der Abgebildeten gar SZENE Jetzt verschwindet hinter einem Großaufgebot an Gestrigem. Über nicht um eine Göttin, sondern um Antonia minor, eine Nichte des drei Millionen Besucher kommen jedes Jahr in die thüringische Augustus. Aber darum geht es nicht. Rom und Troia liegen in Kleinstadt mit ihren rund 60.000 Einwohnern. Mehr als nach Jeru- Weimar, scheint Goethe seinen Besuchern mit auf den Weg geben Sammlung salem oder auf die Akropolis. zu wollen. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, das Gestern »Ich bin Weltbürger und Weimaraner«, sagte Goethe von sich: nur vergessen [e Troia 47]. Flirtend schreibt er über die Juno an »Von Weimar gehen die Tore und Straßen nach allen Enden der Charlotte von Stein: »Es war dies meine erste Liebschaft in Rom Welt«. Alle Touristenwege wiederum führen zum Haus am Frauen- und nun besitz ich diesen Wunsch. Stünd ich doch schon mit plan, wo der Dichterfürst mit kurzen Unterbrechungen fünfzig dir davor.« Hintergründige Sätze. Hintergründige Räume. So liebte Jahre lang wohnte. Von Goethedämmerung keine Spur: Über es der Geheimrat. 160.000 Besucher durchwandeln jedes Jahr sein Haus. Ein halbes Die Zimmerflucht im Vorderhaus ist eine bildungsbürgerliche Jahrhundert Literaturgeschichte, ein Nationaldichter, ein Klassiker, Bühne, eine Wunderkammer des Wissens. Heute kommen die ein klebriger Geniekult nah an der Satire: »O Weimar! Dir fiel ein Räume fast karg daher. Damals ist das anders, Goethe ist ein süch- besonder Los! Wie Bethlehem in Juda, klein und groß«. Vielleicht tiger Sammler, alles ist voll gestellt mit Skulpturen und Gemälden, sind es ja Minderwertigkeitskomplexe, die gerade die deutsche Mineralien, Büchern, Möbeln, Souvenirs: Mondmilch von wildem Provinz sich derartig nach dem Weltgeist recken lassen [e Pletten- Kirchli im Canton Appenzell; ein essbares, indisches Vogelnest, berg 37]. Goethes Einfluss auf die Kunst war gewaltig. Sein Einfluss zerbrochen; Wollproben in einem Pappkästchen; zwei Dutzend auf die Wissenschaft ist es noch heute. Knöpfe von kalkartigem Stein; vier Stück Bezoar von Gazellen. 18 19
  • 15. 2 Meilensteine und Wegweiser 2 Er sammelt 18.000 Steine, 9000 Grafiken, 4500 Gemmenabgüsse, Die Wirtschaftsgebäude: abgetrennt von den Repräsentations- O RT 8000 Bücher, dazu Gemälde, Plastiken, Manuskripte, das meiste räumen im Vorderhaus. Seine spätere Frau Christiane Vulpius muss Kopien – für Originale fehlen ihm Geld und Sinn. Wer braucht leider draußen bleiben bei den feinen Salons. Sie kocht, organisiert Weimar schon Originale, wenn eine Kopie die Seele ebenso berührt. Pirate- die Hausarbeit, hält den Laden am Laufen und sich jahrelang selbst bay und Google Books [e Google 15], Multitasking und Morphing, hauptsächlich im hinteren Gebäudeteil auf. Bigott? Vielleicht ist es all das würde ihm sofort einleuchten. Goethes Haus ist angelegt genau anders herum: Goethe liebt es, zu provozieren. Die höfische als Forschungsmuseum, Privatakademie, Institute for Advanced Gesellschaft lehnt seine unstandesgemäße Liaison mit der ehe- Study [e IAS 49]. Auf dem Flügel im Junozimmer spielt der jugend- maligen Hutmacherin ab. Aber Goethe lässt sich seine Frauenpläne liche Felix Mendelssohn. Die Juno, seine erste Liebschaft, die nicht durchkreuzen, nie. Noch als Witwer von zweiundsiebzig Göttin, die keine ist, wird ein Kristallisationspunkt der Kunsttheo- Jahren verliebt er sich unsterblich in Ulrike von Levetzow, einen rie, Wilhelm von Humboldt schreibt über sie, Jacob Burckhardt, Teenager. Er hält um ihre Hand an, erhält eine Abfuhr. Todunglück- Paul Heyse. lich schreibt er seine »Marienbader Elegie«: »Mir ist das All, ich bin BÜHNE Der Salon als Weltausstellung im Kleinen. Antike und Tagespoli- mir selbst verloren.« tik, Exotik und Provinz sind hier auf kleinstem Raum versammelt. Ich bin der Geist, der stets verneint – auch das ist ein Teil von Er ist ein leidenschaftlicher Leser des Koran, fordert statt einer Goethe. Seine Rolle als Doktor Faustus inszeniert er im vorderen Goethehaus Nationalliteratur eine Weltliteratur und postuliert im »West-Öst- Teil des Hauses, Wissen, Klarheit, Respektierlichkeit. Doch auch lichen Diwan«: »Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch Mephisto ist präsent, die Nachtseite, das Rätselhafte: Die Juno- hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen« Skuptur deutet ihn an, seine erste Liebschaft, die in Richtung der [e Dubai 35]. Raumflucht blickt. Hinter den repräsentativen Salons Wendeltrep- Goethes Salon ist ein gesellschaftliches Ereignis. Hier tafeln pen und enge Gänge, die diskret hinüberführen zum Hintergebäude. Fürsten und Denker, Geologen und Dichter, Botaniker und feine Die Idee eines »Unbewussten« ist vielleicht gar keine Erfindung Damen. Im Zentrum steht der Mensch, ist Goethes Maxime. Oft ist von Freud, sondern schon im »Mephisto« angelegt, Goethe ver- er es selbst, der im Mittelpunkt steht. Intellektuelle reisen aus ganz wendete den Begriff bereits 1777 [e Freuds Couch 9]. Er liebt das SZENE Europa an, um ihn zu treffen. Da es noch keine Fernleihe gibt zu intellektuelle Risiko. »Die Wahlverwandtschaften«, der Roman seiner Zeit, kein Internet [e Cern 11], kein iPhone [e Apple-Garage 29], einer Affäre zweier Paare überkreuz, ist angelegt wie ein erotisches müssen Salons wie die seinen herhalten als Kommunikations- Experiment, ein Sammlung zentrale. Man liest sich Gedichte vor und diskutiert über den Zwi- Skandal ersten Ran- schenkieferknochen, man spielt Theater und streitet sich über ges. Goethe ist die Natur des Lichts. Ein gutes Argument, ein treffendes Bild, von Spieler, die Behäbig- irgendjemand in die Runde geworfen, taucht später oft in Goethes keit des Hauses nur Gedichten oder Aufsätzen auf. Von wem etwas ist, wen kümmert’s, Fassade. Plagiarismus, who cares. Ein Gräuel für heutige Urheberrechts- Die Wunderkam- schützer und Patentanwälte. Manchmal weiß er selbst nicht mehr, mern des Wissens ob ein Gedicht von ihm stammt oder nicht. Einen derartig inten- im Frauenplan sind siven intellektuellen Austausch gibt es auch heute nur selten Theater und Labor [e Santa Fe 13, Oberwolfach 39, Oxford 50, Aspen 55]. Goethes Salon ist zugleich. Wenn er eine Sensation: Entertainment und Experiment, Forschung und ein neues Fundstück Show. Diese Bühne steht im Mittelpunkt und Vordergrund des ergattert, reicht er es Gebäudeensembles. Aber auch das ist natürlich wieder nur die halbe herum wie eine Tro- Wahrheit. Tür um Tür geht es weiter und immer weiter. phäe. Seine Maxime: 20 21
  • 16. 2 Meilensteine und Wegweiser 2 Im Zentrum steht der Mensch, und was er sinnlich wahrnimmt, Newton verneint – eine leichtfertige Zuspitzung. Hochmütig O RT das zählt mehr als Instrumente, Theorie und Mathematik. Er hat reimt er einen Spottvers: »Weiß hat Newton gemacht aus allen Far- seinen Immanuel Kant gelesen: »Der gestirnte Himmel über mir ben. Gar manches hat er euch weis gemacht, das ihr ein Säkulum Weimar und das moralische Gesetz in mir« [e Königsberg 23]. Aber Goethe geglaubt.« Ein theatralisches Duell mit einem Toten. Der Tote ge- verneint dessen kategorischen Imperativ. Kant erkennt Pflicht, winnt, Goethe gilt heute in diesem Punkt als widerlegt. wo Goethe Spiel sieht. Er ist Amateur im emphatischen Sinne, die Die Bibliothek, dahinter das Arbeitszimmer. Nach Pomp und Wissenschaft seine erste große Liebe. Leidenschaftlich wendet er Überfülle der Salons überrascht die Schmucklosigkeit. Ein karger sich gegen Plutonisten wie James Hutton, den britischen Nestor Raum, grün gestrichen, weder Sofa noch Gardinen, ein Stehpult, des Fachs [e Nuvvuagittuq 3]. Die Plutonisten glauben, dass Granit drei Schreibtische. Hier diktiert er die »Wahlverwandtschaften« und Basalt aus tief liegenden Schmelzzonen im Innern der Erde und wissenschaftliche Aufsätze. »Mit heiliger Ehrfurcht betritt man stammen, dem Reiche des Unterweltgottes Pluto. Goethe nimmt die Goethes Arbeitszimmer, in das, während er lebte, außer einigen überwältigenden Beweise seiner Gegner zur Kenntnis, bleibt aber seiner ältesten und vertrautesten Freunde niemand je Zutritt hatte«, BÜHNE Neptunist, also Anhänger des Wassermanns. Nicht Feuer, sondern schreibt ein Besucher später. Dann das Schlafzimmer: noch einfa- Fluten formen die Felsen, so glaubt er. Und polemisiert gegen cher. Ein Bett, eine große Tabelle über Tonlehre an der Tür, daneben Hutton: »Basalt, der schwarze Teufels-Mohr / aus tiefster Hölle eine geologische Zeittafel, die natürlich nicht Jahre oder Genera- Goethehaus bricht hervor, / Zerspaltet Fels, Gestein und Erden, / Omega muss tionen kartiert, sondern Äonen. Neben dem Fenster der Lehnstuhl, zum Alpha werden. / Und so wäre denn die Welt / Geognostisch auf in dem er 1832 stirbt. Er gestikuliert mit der Hand und ruft: »Licht, den Kopf gestellt.« Gut gereimt, aber falsch. Basalt ist vulkanischen mehr Licht!« Ursprungs, das ist heute allgemein akzeptiert. Trotzig vermerkt Mehr Licht: Das Treppenhaus hinab, raus in den Garten. Ein trä- Goethe 1828: »Ich finde immer mehr, dass man es mit der Mino- ger Augustnachmittag, schwer vom Blütenduft. Hier baut Christiane rität, die stets die Gescheitere ist, halten muss.« Das mag arrogant ihr Gemüse an: Spargel, Löwenzahn, Topinambur, Rapontica, Pasti- sein, vor allem aber beweist es Unabhängigkeit vom Zeitgeist nake, dazu Buchsbaumhecken wie in einem Bauerngarten. Für und Gruppendruck. Er bemüht sich um die Wiederaufnahme des den Geheimrat ist der Garten wie seine Romane, seine Ehe, seine SZENE Bergbaus im nahen Ilmenau – und scheitert auch dabei. Auch das Salons, sein Leben: ein Labor. Mit Kapuzinerkresse stellt er Keim- schreckt ihn nicht ab – ihm geht es um mehr, ums Große und versuche an für sein Buch »Die Metamorphose der Pflanzen«. Ganze. Eigenwillig verfolgt er so etwas wie die Physik komplexer Der Garten ist ruhig. Er gilt als Nebenschauplatz der Weltlitera- Sammlung Systeme [e Santa Fe 13]. Er setzt auf Gesamtschau, auch wenn er tur im Schatten der Salons im Vorderhaus. Doch eigentlich ist er das bei den Details daneben liegen mag: »Ein Jahrhundert, das sich bloß Zentrum. Mehr Licht, hier suchte Goethe es. Hier studierte er das auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürch- Knospen, Blühen und Vergehen. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt, tet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie wie es ist. Er sucht nach der Urpflanze, nach dem Urphänomen des Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft.« Werdens und Vergehens: Anziehung und Abstoßung, Einatmen und Der Streit ums Licht: wieder so ein Schauboxen ums Grundsätz- Ausatmen. Er sucht nach Urtier, Urmensch, Urphänomen. Seine liche. Als Widersacher sucht er sich erneut einen britischen Wis- Studien zum Zwischenkieferknochen, der sich beim Menschen über senschaftsstar aus: Isaac Newton. Der hatte hundert Jahre zuvor die Jahrtausende verändert hat, ist für ihn der Beleg: »Der Mensch einen weißen Lichtstrahl mit Hilfe von Prismen zerlegt in einzelne gehört mit zur Natur!« Der Mensch ist denselben Naturgesetzen Primärfarben. Goethe dagegen beschreibt in seiner »Farbenlehre« wie die Tiere unterworfen, wie alles Lebende. Damit ebnet Goethe das Licht als sinnliche Erfahrung mit Wirkung auf die Seele. Dafür den Weg für die Evolutionstheorie. Das zumindest glaubt der gefei- wird er heute oft belächelt. Dabei liegt er eigentlich nicht falsch, erte Physiker Hermann von Helmholtz [e Galápagos 5]. sondern nur anders. Newton beschreibt die Physik, Goethe die Goethe im Garten: Er spricht nicht von »Umwelt«, sondern Physiologie. Aber er überreizt sein Blatt, und spielt den Geist, der von »Mitwelt«. Der Mensch als Teil des Gesamtsystems Erde, als 22 23
  • 17. 2 Meilensteine und Wegweiser 2 prägend und geprägt. Das klingt heute fast wie ein Vorgriff auf die faltigsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles O RT Klimadebatte [e Antarktis 16, Mauna Loa 34]. Jeden Morgen studiert der Schöpfung, zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, Goethe das Wetter, fertigt Skizzen von den Wolken an, verfasst eine unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat.« Weimar »Witterungslehre«. Deren einzig beständiges Element: der Wandel, Beim Basalt und beim Licht mag Goethe danebenliegen – und ein »gewisses Pulsieren, ein Zu- und Abnehmen, ohne welches dennoch im geistigen Zentrum des naturwissenschaftlichen Auf- keine Lebendigkeit zu denken wäre.« bruchs der folgenden Generation. Alexander von Humboldt, der Im Küchengarten studiert Goethe Pflanzen – und Sterne. Im wohl berühmteste Weltreisende seiner Zeit, hat Werke Goethes Februar 1800 stellt er hier einen »Siebenfüßer« auf, ein Teleskop immer im Gepäck. 1806 schreibt er in einem Brief: »In den Wäldern mit einem über zwei Meter langen Tubus aus Mahagoni und einer des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden er- zweihundertfachen Vergrößerung. Er schreibt an seinen Freund kannte ich, wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur Friedrich Schiller: »Um sieben Uhr, da der Mond aufgeht, sind Sie ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in zu einer astronomischen Partie eingeladen, den Mond und den des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem BÜHNE Saturn zu betrachten; denn es finden sich heute Abend drei Tele- Gefühle durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf skope in meinem Hause.« Nachts stehen sie zwischen Spargel, mich gewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben, Löwenzahn, Topinambur, Rapontica, Pastinake und beobachten den gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war« [e Straße der Goethehaus Mond: »Es erregt die merkwürdigsten Gefühle, wenn man einen Vulkane 58]. so weit entfernten Gegenstandt so nahe gerückt sieht, wenn es uns Von Goethes Garten führen Tore in alle Welt: auch ins All. Ähn- möglich wird, den Zustand eines 50.000 Meilen von uns entfernten lich Paläontologen, die versteinerte Knochen studierten, um das Körpers mit so viel Klarheit einzusehen.« Im April lädt er Schiller Leben und Alter urzeitlicher Tiere zu rekonstruieren, kartieren erneut zu einer astronomischen Partie ein. Er hat einen Frauenplan: Astronomen heute die fossile Hintergrundstrahlung, den Nachhall »Es war eine Zeit, wo man den Mond nur empfinden wollte, jetzt des Urknalls. Mit fliegenden Weltraum-Teleskopen vermessen will man ihn sehen. Ich wünsche, dass es recht viele Neugierige Astrophysiker heute das Werden und Vergehen von Galaxien, die geben möge, damit wir die schönen Damen nach und nach in unser Geburt von schwarzen Löchern und den Sternentod, ein gewisses SZENE Observatorium locken.« Pulsieren, ein Zu- und Abnehmen, ohne welches keine Lebendig- Ein kleines, barockes Gartenhaus: die mineralogische Samm- keit zu denken wäre. Ein expandierendes Universum, das seit lung. Das Herzstück des Museums vielleicht. Und daher verriegelt. dem Urknall auseinanderdriftet, pulsierende Neutronensterne, Sammlung Die über 160.000 jährlich eintreffenden Besucher des Laborato- Braune Zwerge? All das erscheint wie eine Fortsetzung von Goethes riums am Frauenplan würden die Sammlung nur durcheinander- Vision einer atmenden, sich wandelnden Mitwelt. Selbst Albert bringen. Die Mineralogie war damals schwer in Mode, seit Goethe Einstein hat mit derlei Dynamik anfangs Probleme. Er ist zunächst mit seiner Liebe zum »öden Steinreich« halb Weimar ansteckte: ein überzeugter Anhänger eines statischen Universums – und »Ich komme mir vor wie Antäus, der sich immer wieder neu somit ein entschiedener Gegner eines aus einem Uratom gewach- gestärkt fühlt, je kräftiger man ihn mit seiner Mutter Erde in Be- senen Kosmos, wie ihn die Urknalltheorie annimmt. Erst 1930 rührung bringt.« lässt sich Einstein umstimmen und beschreibt die Hypothese eines Ein dämmriger Raum voller Holzschränke, Schachteln, eng be- Urknalls als schönste und beste Erklärung der Entstehungsge- schriftet mit Fundort und Name. Quarz und Glimmer, Granit und schichte des Alls. Kalk: Über 18.000 Steine sind hier versammelt. Nichts ist vor seiner »Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall romantischen Weltsicht sicher, selbst Mineralien sieht er als Teil ohne Folgen«, schreibt Friedrich Nietzsche [e Röcken 72]. Doch des Lebens an: »Ich fürchte den Vorwurf nicht, dass es ein Geist des hier irrt der Dichter. Die Meldung von Goethes Ableben ist maßlos Widerspruchs sein müsse«, schreibt er, »der mich von Betrachtung übertrieben, sein Sterbestuhl überbewertet. Goethes Odyssee im und Schilderung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannig- Weltraum hat gerade erst begonnen: Sein Forschungsprogramm 24 25
  • 18. 2 Meilensteine und Wegweiser AU T O R Jürgen Schönstein 3 läuft weiter, auch ohne ihn, geheimnisvoll wie die Juno von Ludo- O RT visi, seine erste Liebschaft. Der Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel, Québec Spurenelemente seines Denkens finden sich jede Woche in der Fundament der Tiefenzeit Québec Zeitung: Sterngeburten und Sternentod, Epigenetik und Klima- wandel. Die Wissenschaftszeitschrift »Nature« verdankt ihren Namen einem Gedicht von Goethe [e Nature 42]. Darin schreibt er über die Natur: »Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.« E Ein Fenster ist halb geöffnet. Draußen auf dem Kiesweg im Garten knirschen Schritte. Als könnte der Geheimrat jederzeit her- in paar flache Felsrücken an einer kalten Bucht im hohen Nor- einschneien. den Kanadas, kein Auto weit und breit, kein Internetanschluss, BÜHNE Sein Wissenschaftstheater am Frauenplan 1 schafft sich immer der nächste Ort über 30 Kilometer entfernt. Wer hierher kommt, neue Zuschauer. In der Mineraliensammlung zum Beispiel liegt bringt besser Zeit und Zelt und einen guten Schlafsack mit. Doch ein Stein, der Goethes Namen trägt, ein rötlich schimmerndes die Reise lohnt sich. Wer auf diesen grauschlierigen Felsen steht, Grünsteingürtel Brauneisenerz, das pflanzenähnlich anmutende Rosetten bilden betritt einen Grundstein des modernen Wissenschaftsgebäudes: kann und nur in Zusammenhang mit Wasser entsteht. Im Jahr 2004 die älteste intakte Gesteinsformation des Planeten, das Fundament untersuchen Weltraum-Geologen das All mit Hilfe der Raumsonde der sogenannten Tiefenzeit, einer schier unendlichen Vergangen- »Spirit« – Geist. Und finden dies wässrige Mineral auch auf dem heit, ohne die Darwins Idee vom Werden und Vergehen der Arten Mars: Goethit. . [e Galápagos 5] nicht denkbar wäre. Steine und Zeit gehören zusammen, der Begriff »steinalt« existierte schon lange, bevor uns der britische Geologe Charles Lyell mit seinen drei Bänden die »Principles of Geology« Anfang des SZENE 19. Jahrhunderts die Idee einer Erde vermittelte, die über Millionen und Milliarden von Jahren geformt wurde. Und nicht innerhalb einer Schöpfungswoche vor rund 6000 Jahren, wie in der Bibel Natur beschrieben. Doch was bedeutet »steinalt« wirklich? Im Harz findet man beispielsweise Mineralien, die vor etwa 500 Millionen Jahren aus- kristallisiert sind – nach menschlichen Maßstäben uralt, aber gemessen am Alter der Erde (rund 4,6 Milliarden Jahre) eher junges Material. Geradezu neumodischer Kram verglichen mit dem Grün- stein von Nuvvuagittuq, dem Gesteinsschild auf der Ostseite der kanadischen Hudson Bay. Dessen Alter wird von Wissenschaft- lern der McGill-Universität auf 4,28 Milliarden Jahre beziffert und hält damit den Altersrekord irdischen Gesteins. Natürlich gibt es Konkurrenten für diesen Rekord, in Australien zum Beispiel wurden Einschlüsse in Gesteinen entdeckt, die vielleicht noch ein wenig älter sind. Aber in Kanada handelt es sich um intakte Formationen aus der Entstehungszeit der damals noch jungen Erdkruste. 26 27
  • 19. 3 Meilensteine und Wegweiser 3 Sind solche Zeitspannen für uns überhaupt vorstellbar? Zeit ist sam wirkende Wechselspiel von Mutation und Selektion überhaupt O RT etwas, von dem es in meiner Wahlheimat New York nur sehr wenig erst formulieren konnte [e Stevns Klint 46, Meishan 69]. zu geben scheint: Die sprichwörtliche »New York Minute«, in der Als Erdwissenschaftler (Geograf, um genau zu sein) erfasst mich Québec sich die Geduldsspanne der New Yorker misst, verstreicht mit einem immer wieder mal ein Anflug von Genugtuung, dass es eben nicht Lidschlag; Eile ist eine Tugend; und die Geschichte der Stadt lässt Kepler, Galilei, Newton oder andere Giganten der frühen Astro- sich noch leicht in Jahrzehnten messen. Physik waren, die aus der Tiefe des Raums auf eine Tiefe der Zeit Aber wer, wie ich, einige Zeit in dieser Stadt verbracht hat, schlossen. Sondern die bescheidenen Steineklopfer, die mit gesenk- der lernt, selbst ohne erdwissenschaftlichen Wissenshintergrund, tem Blick am Boden direkt unter ihren Füßen ferne Urwelten ent- allein schon durch Beobachtung und Erfahrung, wie Zeit sich deckten [e Eichstätt 43]. vertikal manifestiert: Wenn Wolkenkratzer neu entstehen, dann Sie mussten ihre verwegenen Theorien gegen scheinbar unüber- bohren sie sich erst als Gruben ins Grundgebirge und wachsen dann windliche Widerstände behaupten, gleichsam mit dem Kopf durch praktisch im Wochenrhythmus um jeweils ein Stockwerk. Schon die Felswand. Die Widerstände kamen nicht nur von der Kirche, BÜHNE jedem Kind wird hier klar, dass die oberen Geschosse die jüngsten sondern von einer der größten wissenschaftlichen Autoritäten ihrer sind – manchmal, vor allem in Zeiten knapper Finanzmittel und Zeit. In einem Artikel für »Macmillan’s Magazine«, erschienen am damit verzögerter Fertigstellung, um Jahre jünger als das Funda- 5. März 1862, hatte kein geringerer als Sir William Thompson, der Grünsteingürtel ment [e Schanghai 18]. Nachwelt besser bekannt als der mit akademischen Ehren höchst- Dass sich Zeit rein morphologisch in Höhen oder Tiefen be- dekorierte Lord Kelvin, das Alter der Sonne auf maximal 20 Millio- schreiben lässt, wäre sicher auch zu den Zeiten des schottischen nen Jahre datiert. Diese Rechnung beruhte auf der Theorie, dass Geologen James Hutton (1726 – 1797) noch leicht vermittelbar die Sonne ihre Strahlungsenergie aus einem Dauerfeuer von Meteo- gewesen. Aber der Naturphilosoph und Geologe aus Edinburgh riteneinschlägen beziehe. Die Verbrennung reinen Kohlenstoffs, was brachte das damalige Weltbild gleich in doppelter Hinsicht ins damals als der effizienteste chemische Vorgang angesehen wurde, Schwanken. Einerseits beschrieb er das Gesicht der Erde nicht als hätte sogar nur für 3000 Sonnenjahre gereicht. Resultat eines einmaligen Schöpfungsaktes, sondern als Resultat Erst die Entdeckung der Radioaktivität, genauer gesagt: Ernest SZENE eines beständigen Umformungsprozesses. Eine Herkulesaufgabe: Rutherfords Überlegungen zum radioaktiven Zerfall als »Treibstoff« sein vierbändiges Werk »Theory of the Earth«, an dem er jahrelang der Sonne ein arbeitete, veröffentlichte er erst 1795, kurz vor seinem Tod. Noch knappes halbes Natur dramatischer aber war seine Forderung, dass diese geomorpholo- Jahrhundert später gischen Prozesse einer unerdenklich langen, unfassbar tiefen Zeit schob diesen wis- bedurften. In »Theory of the Earth« schreibt er: »Time, which senschaftlichen measures every thing in our idea, and is often deficient to our Stolperstein bei- schemes, is to nature endless and as nothing; it cannot limit that by seite und ebnete which alone it had existence; and, as the natural course of time, der Tiefenzeit den which to us seems infinite, cannot be bounded by any operation Weg. that may have an end, the progress of things upon this globe, that Hutton glaubte is, the course of nature, cannot be limited by time, which must an eine unendliche proceed in a continual succession.« Erdgeschichte. Erst dieses Konzept einer »Deep Time« erlaubte Lyell, in sei- »Wir finden keine nem Werk die Grundlagen der Geologie zu etablieren. Sie erst gab Spur eines An- Charles Darwin den zeitlich notwendigen Spielraum, mit dem er fangs, keine Aus- seine Theorie von der Entstehung der Arten durch das extrem lang- sicht auf ein Ende«, 28 29
  • 20. 3 Meilensteine und Wegweiser 3 von Samarium-Isotopen zu Neodym wirklich das Alter der meta- O RT morphen Formation selbst oder »nur« einiger Ausgangsmineralien bestimmen kann. »4,28 Milliarden ist die Zahl, die ich bevorzuge«, Québec gibt Francis freimütig zu. Nicht jede Hypothese lässt sich eben sofort beweisen, das ging schon Hutton so. Fruchtbar war seine Ver- mutung einer Tiefenzeit dennoch. Es ist nicht ohne wissenschaftliche Pointe, dass die Tiefe der Zeit, die Hutton einst aus der Erkenntnis des stetigen Wandels der Erdoberfläche folgerte, ausgerechnet in der flachen Weite der östlichen Hudson Bay sichtbar wird, wo sich eine Felsplatte seit mehr als Vier- und einem Viertelmilliarden Jahren ohne geologische Verformung erhalten hat. Anders als der Grand Canyon Arizonas, BÜHNE in dem selbst ein Laie – sofern er nicht überzeugter Junger-Erde- Kreationist ist – den sprichwörtlichen »Zahn der Zeit« nagen spürt, bietet sich der Nuvvuagittuq-Gürtel den Sinnen eher als eine Grünsteingürtel Metapher der Ferne denn der Tiefe an. »Zu wissen, dass dies die ältesten Felsgesteine der Welt sind, macht es zu etwas Besonderem«, beschrieb der Mit-Entdecker O’Neill sein beinahe ehrfürchtiges Gefühl, als er im Sommer 2008, nach der wissenschaftlichen Datierung des Gesteins, erstmals wieder den Grünsteingürtel betrat. schrieb er in einem Aufsatz, den er 1788 der Royal Society of Er wird wohl noch oft zurückkehren müssen, denn es scheint, Edinburgh präsentierte. Wir wissen inzwischen, dass es einen als ob Nuvvuagittuq noch einiges zu offenbaren hat. Die McGill- SZENE Anfang gegeben haben muss, und dass ein Ende durchaus plausibel Forscher sind sicher, dass die Formation, aus der sich der Gesteins- ist. Seit 4,54 Milliarden Jahren besteht, nach unseren heutigen gürtel gebildet hat, auf dem Grunde eines urzeitlichen Meeres Erkenntnissen, jener felsige Körper, der als dritter Planet um unser abgelegt wurde, die nur gut eine Viertelmilliarde Jahre junge Erde Natur Zentralgestirn kreist, und den wir Erde nennen. also schon eine Hydrosphäre besaß. Und so kommen wir also zum Nuvvuagittuq-Grünsteingürtel Mehr noch: Die hier auftretende Bändererz-Struktur aus Magnetit zurück: »Superior-Kraton« wird dieser Teil des uralten Kontinental- und Quarz – die auch typisch für die Sedimente im Umkreis von schildes bezeichnet, der das Herzstück der nordamerikanischen Tiefsee-Schloten ist – gilt weithin als ein Indikator für die Anwesen- Platte bildet. Als sich die Amphibolite und anderen Minerale form- heit von Bakterien. Falls sich dies bestätigen lässt, würden wir aus ten, aus denen er besteht, war die Erde gerade mal 260 Millionen der Tiefe der Zeit gewissermaßen das früheste Ticken der biologi- Jahre jung. Zugegeben, über das genaue Alter wird man unter Wis- senschaftlern sicher noch lange streiten. Der Geologe Don Francis, Professor an der kanadischen McGill-Universität ist gemeinsam mit schen Uhr unseres Heimatplaneten hören. . seinem Doktoranden Jonathan O’Neill Verfasser eines »Science«- Artikels [e Nature 42], in dem er das Alter des Grünsteingürtels zu bestimmen versuchte. Selbst diese Forscher räumen einen Spiel- raum von 3,8 bis 4,28 Milliarden Jahren ein, der aus der Ungewiss- heit resultiert, ob die Datierung durch den radioaktiven Zerfall 30 31
  • 21. 4 AU T O R Lars Blunck 4 Uffizien in Florenz zu verkaufen, da die Mona Lisa doch als Floren- O RT Mona Lisa, Paris tinerin nach Italien gehöre. Sei es die überbordende Vielfalt dispara- ter Deutungen, vom medizinischen Befund, die Dargestellte habe Digitale Bildverehrung und Paris an Syphilis gelitten, bis zur ermüdenden Debatte, ob denn nun die Florentiner Kaufmannsgattin Lisa del Giocondo dargestellt sei delegiertes Erleben oder vielleicht doch jemand ganz anderes. – Kurz: es gibt wohl kein Gemälde, das einen vergleichbaren globalen Bekanntheitsgrad erlangt hat, und das so häufig fotografisch reproduziert wurde wie die Mona Lisa. Zum Mythos, ja zum Kultobjekt aufgestiegen ist das Bild indes E erst im 20. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte. Und das Mu- s ist ein weiter Weg hierher, gleich ob man aus dem Ausland seum tut das seine dazu, Mythos und Kult tüchtig zu nähren und BÜHNE anreist oder bloß aus dem 4. Arrondissement herüberkommt in zu mehren; es ist darin sicherlich eher dem antiken Museion, die Salle des États. Denn nach dem Betreten des Louvre, dieses dem Heiligtum der Musen näher, als einem Ort anschaulichen Er- Museums der Superlative, eröffnet sich – kunsthistorisch, aber eben kenntnisgewinns und aufgeklärter Wissensvermittlung [e British Mona Lisa auch räumlich – ein Kosmos, in dem sich zu verlieren droht, wer Museum 12]. nicht mittels des obligaten Besucherfaltblatts durch die Museums- Musste sich das lediglich 77 mal 53 Zentimeter messende Ge- räume zu navigieren versteht. Schier unendliche Enfiladen tun mälde früher noch eine Museumswand mit anderen italienischen sich auf, weitläufige Treppenauf- und -abgänge sind zu bewältigen, Meisterwerken teilen, war es also gleichsam eingebettet in die verwinkelte Kabinette strapazieren jeden Orientierungssinn, kurz: Malerei der Hochrenaissance, so wird ihm seit 2005 ein eigener eine veritable Tour de Parcours durch mehr als 2000 Jahre Kunst- Platz gewährt, losgelöst von allen kunstgeschichtlichen Bezügen, geschichte. präsentiert als das adorable Chef d’Œuvre der Kunstgeschichte. Irgendwann aber, spätestens wenn man sich dem Sog der Besu- Tizian, Giorgione, Veronese und Co. sind seitdem zu Statisten SZENE cherströme ergeben hat, führt der Weg in die Belle Etage des Süd- degradiert; ihre Gemälde, die die Mona Lisa nunmehr an den Stirn- flügels. Der stetig ansteigende Geräuschpegel und die zunehmende und Längswänden der Salle des États flankieren, bereiten allen- Publikumsdichte lassen erahnen, dass man sich einem besonde- falls noch die rahmende Kulisse für den Atem nehmenden Auftritt Sammlung ren Ort nähert: der Salle des États. Dem Ort, nach dem sicherlich des unangefochtenen Stars in diesem Raum. gefragt werden wird, wer daheim berichtet, er habe den Louvre Durch zentimeterdickes Panzerglas gegen etwaige Übergriffe besucht, der Ort, an dem das vielleicht berühmteste Gemälde der geschützt [e Graz 64], ist das Bild eingelassen in eine meterhohe, Kunstgeschichte seinen Platz gefunden hat: die Mona Lisa, der monumentale Wand, die sich inmitten der Höhepunkt eines jeden Louvre-Besuchs. Salle des États, freigestellt vor den staunen- Worin sich Ruhm und Berühmtheit dieses von Leonardo da Vinci den Besuchern, aufbaut wie der Hauptaltar zwischen 1503 und 1506 in Öl auf Holz geschaffenen Gemäldes in einer gotischen Kathedrale. Der Vergleich begründen, wird heute wohl niemand mehr recht sagen können. mit einem Altar ist keineswegs zufällig Seien es die schwülstig-erotischen Phantastereien des 19. Jahr- gewählt, haben die Verantwortlichen des hunderts: Théophile Gautier sah sich in seinem berühmten Kom- Louvre bei der Inszenierung der Mona Lisa mentar von 1858 von der Dargestellten eingeschüchtert »wie ein doch alle Register gezogen, um religiöse Schuljunge vor einer Herzogin«. Sei es der spektakuläre Raub Assoziationen zu evozieren. Wie eine sakrale des Gemäldes im Jahr 1911 und dessen glückliche Wiederkehr in Preziose wird sie in ihrem klimatisierten den Louvre 1913 – der Dieb hatte versucht, das Gemälde an die Glasschrein bewahrt. Knapp unter diesem 32 33