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Zeitdokumente
Band 7
1926-1950
KARL
RICHTER
2
3
Karl Richter
1926 - 1981
Zeitdokumente
Band 7
1926-1950
Herausgegeben
von
Johannes Martin
und
Cornelia Klink
4
Vorwort
Als Karl Richter kurz vor seinem 25. Geburtstag im Oktober 1951 das
Organistenamt an der Markuskirche antrat und gleichzeitig die Verpflichtun-
gen eines Lehrers für Orgelspiel an der Staatlichen Hochschule für Musik in
München übernahm, hatte er nach Monaten der Neuorientierung einen Aus-
gangspunkt für seine spätere internationale Karriere gefunden. Was er in kur-
zer Zeit zunächst in München, dann weit über die Stadtgrenzen hinaus, schließ-
lich über Erdteile hinweg musikalisch schuf und bewirkte, erstaunte und er-
griff viele Zeitgenossen. Wie war es möglich, dass die geistigen, musikali-
schen und menschlichen Fähigkeiten für dieses besondere Wirken bei einem
jungen Musiker bereits in einem solch hohen Maße vorhanden waren? Wo
kam dieser mitreißend wirkende junge Organist, Cembalist und Dirigent Karl
Richter her?
Nach seinem Werdegang befragt, hat Karl Richter selbst immer wieder an sei-
ne Herkunft aus einem sächsischen evangelisch-lutherischen Superintendenten-
haus erinnert, an seine Verbundenheit mit den Orgeln Gottfried Silbermanns
und dessen Orgelbauschule, an seine Schülerzeit im Dresdner Kreuzchor un-
ter Rudolf Mauersberger und an seine Studien in Leipzig bei seinen Meistern
Karl Straube und Günther Ramin. Als er 1949, sofort nach Abschluss eines
Studiums, Thomasorganist in Leipzig wurde, ruhten Hoffnungen auf ihm. Seine
beiden wichtigsten Lehrer, Straube und Ramin, waren selbst Thomasorganisten
gewesen, bevor sie nacheinander Thomaskantoren wurden. Diesen Weg auf
den Kantorenstuhl der Thomaskirche konnte Karl Richter nicht gehen, ob-
wohl er ihm 1956 angeboten wurde. Der „Eiserne Vorhang“ lag zwischen ihm
und Leipzig. Er wurde nicht der Thomaskantor in der Nachfolge J. S. Bachs in
Leipzig, wie es seine verehrten Lehrer gewesen waren, sein „Thomaskantorat“
galt gleichsam der Welt und hatte einen Angelpunkt in der Markuskirche von
München. Für diesen besonderen Weg war er vorbereitet.
Neben Dokumenten, die im privaten Karl-Richter-Archiv von Johannes Mar-
tin bereits vorhanden waren, basiert der vorliegende Band vornehmlich auf
neu aufgefundenen Quellen. Es war nicht immer einfach, den Spuren zu fol-
gen und die noch vorhandenen Quellen in den Archiven zu sichten. Einiges
galt als zunächst nicht auffindbar – und fand sich dann doch, anderes war
leichter zugänglich. Die Beharrlichkeit des Suchens hat sich gelohnt, denn
Karl Richter als eine sehr früh reifende Künstlerpersönlichkeit gewann wäh-
rend derArbeit immer deutlicher an Gestalt. Die Entwicklung des jungen Künst-
5
lers stand bei der Recherche stets im Vordergrund und war doch nicht zu tren-
nen von Einflüssen, die aus der jeweiligen zeitgeschichtlichen Situation und
aus Richters Umgang mit verschiedenen Persönlichkeiten herrührten. Einige
Dokumente zu Begebenheiten aus der Kindheit und Jugendzeit, zu frühen Er-
schütterungen und frühen Erfolgen, lassen etwas von den immer deutlicher
hervortretenden Kräften der erwachsenen Persönlichkeit Karl Richters ahnen.
Zu den schon vorhandenen umfangreichen Publikationen über Karl Richter
versteht sich diese Dokumentation als Ergänzung. In den Anmerkungen zum
Text wird deshalb an mehreren Stellen auf die schon erschienenen Arbeiten
hingewiesen.
Den in den benutzten Archiven wirkendenArchivarinnen undArchivaren wird
herzlich für Ihre Unterstützung gedankt. Einige Zeitzeugen konnten Erinne-
rungen beitragen; besonderer Dank gebührt hier Herrn Pfarrer Christoph Rau,
Braunschweig.
153
Inhalt
Vorwort ..................................................................................................
Karl Richters Elternhaus ........................................................................
Karl Richter als Kruzianer ......................................................................
Karl Richters erster solistischer Auftritt .................................................
Karl Richter als Konfirmand ..................................................................
Vesper zum 2. Advent 1942 ....................................................................
Karl Richter als Chorpräfekt in der Weihnachtszeit ...............................
Christmette der Alumnen am Christtag-Morgen 1942 ...........................
Vesper am 6. März 1943 .........................................................................
Konzert des Kreuzchors am 27. März 1943 ...........................................
Ostermette am 25. April 1943 ................................................................
Musikalische Abendfeier im Dom zu Freiberg am 24. Juni 1943 ..........
Kirchenkonzert am 27. Juni 1943 in Bischofswerda ..............................
Bach-Tage 1948 in Leipzig .....................................................................
Kreuzchorvesper am 2. Juli 1948 ...........................................................
Ein Brief Karl Richters ...........................................................................
Karl Richter am Cembalo 1949 ..............................................................
Karl Richter an der Sauer-Orgel in der Thomaskirche 1949 ..................
Motetten in der Thomaskirche 1949 ......................................................
Motetten in der Thomaskirche 1950 ......................................................
Deutsche Bach-Feier Leipzig 1950 ........................................................
Motetten in der Thomaskirche ...............................................................
Weihnachts-Oratorium 1950 im Gewandhaus Leipzig ..........................
Letztes Orgelkonzert Karl Richters in der Thomaskirche ......................
Ausscheiden Karl Richters als Thomasorganist .....................................
Cembalokonzert am 12. Februar 1951 ...................................................
Konzert des Dresdner Kreuzchors 1953 in München ............................
Ein Brief Karl Richters 1979 an Herbert Kunath ...................................
Quellennachweise ...................................................................................
Karl Richter in Buch und Film ...............................................................
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Karl Richter wurde am 15. Oktober 1926 in Plauen im Vogtland in einen Ge-
schwisterkreis von drei Schwestern hineingeboren. Später sollte ihm noch eine
jüngere Schwester folgen. SeinVater, Dr. Johannes Christian Richter (1876-1935),
war 2. Pfarrer an der St. Johannis-Kirche in Plauen. Er stammte aus Freiberg,
wo der Großvater, Karl Julius Richter, Superintendent gewesen war. Die Mut-
ter, Klara Hedwig Richter (1893-1944), geborene Facilides, stammte aus Plau-
en. Ihr Vater war Arzt.
Karl Richters
Elternhaus
Karl Richters Geburtshaus, Schloßbergstraße 1a in Plauen im Vogtland,
aufgenommen am 28.2.2013
7
Am 29.11.1926, zum 1. Advent und Beginn des neuen Kirchenjahres, wurde
Karl Felix Johannes Richter zu Hause im Familienkreis getauft. Es ist in der
Johannis-Gemeinde Plauen nicht üblich, den Taufspruch im Taufbuch einzutra-
gen. So kann er hier nicht genannt werden.
Der vollständige Eintrag im Taufbuch lautet im Jahrgang 1926 unter der Nr. 319:
Tag, Stunde, Ort der Geburt: 15. Oktob. nachm. ¾ 8 h Schlossberg 10a
Tauftag: 29. November im Hause
Taufnamen der Kinder: Karl Felix Johannes 4. Kind 1. Sohn
Großvater Karl Julius Richter
geb. 1842 in Neusalza
gest. 1890 in Freiberg
Die Eltern
Dr. Johannes Christian und Klara Hedwig Richter
8
Name, Stand, Konfession und Wohnort des Vaters: Richter Christian Johannes
Pfarrer zu St. Johannis ev.-luth. getraut 22. Aug. 1921 in Plauen St. Joh.
Name, Konfession und Geburtsort der Mutter: Klara Hedwig geb. Facilides
aus Plauen ev.-luth.
Name, Stand Konfession und Aufenthalt der Paten:
Marg. Schreck, Rechtsanw.-Ehefrau, Roßwein
Charlotte Schreyer, Kaufm.-Ehefrau, hier
Christiane Goldberg, Assessor-Ehefrau, hier
Paul Neckner, Landger.-Direktor, Bautzen
Erich Voigt, Pfarrer, Leipzig-Reudnitz
Dr. Wilh. Kell, Reg.-Medizinalrat, Untergöltz. Ellermann [der Geistliche,
Anm. d. Verf.]
Als Karl Richter zwei Jahre alt war, wurde der Vater an die St. Marienkirche in
Marienberg im Erzgebirge als Superintendent berufen. Damit verließ die Fami-
lie das Vogtland, die Heimat der Mutter, und zog ins Erzgebirge um.
Ein Superintendentenhaushalt mit fünf Kindern in der kleinen, aber belebten
ehemaligen Silberbergbau-Stadt Marienberg, im westlichen Teil des „frommen
Erzgebirges“, war ohne Zweifel ein lebhaftes und offenes Haus.Auf dem erhöh-
ten Platz der Stadt lag die sehenswerte spätgotische Pfarrkirche. Ganz aus der
Nähe, aus Mauersberg, stammte Kreuzkantor Rudolf Mauersberger (1889-1971),
der ab 1930 in Dresden amtierte. Mauersberg gehörte zur Ephorie von Johannes
Richter. Wahrscheinlich kannten er und der Kreuzkantor sich persönlich.
Der sechsjährige Karl Richter inmit-
ten seiner Schwestern
9
Sieben Jahre wuchs Karl Richter in Marienberg auf, dann, nach der ersten schwe-
ren Erschütterung der Familie infolge des frühen Todes von Johannes Richter
am 3. Advent 1935, zog die Mutter mit den Kindern nach Freiberg, ebenfalls
eine erzgebirgische Bergbaustadt mit ihrer bekannten Bergakademie, der
Orgelbautradition Gottfried Silbermanns, dem Dom mit den eindrucksvollen
Schnitzereien:Auf dem spätromanischen Lettner des Domes steht eine Triumph-
kreuzgruppe aus dem frühen 13. Jahrhundert, an den Säulen im Kirchenschiff
die Figuren der klugen und törichten Jungfrauen und Christus als Bräutigam,
darstellend das Gleichnis aus Matth. 25, 1-13. Karl Richter erzählte später selbst
über diese ersten Jahre:
„In Plauen im Vogtland bin ich geboren…in einem Pfarrhaus wurde sehr viel
Musik gemacht; ich hab auch viel’ Geschwister, es wurde viel gesungen, die Verbin-
dung mit der Kirche, Orgel und Kirchenchor hat mich frühzeitig zum Singen und zur
Musik überhaupt gebracht. Ich habe über Freiberg im Erzgebirge meinen Weg ge-
macht als Kind und habe dort das große Erlebnis der berühmten und schönsten exi-
stierenden Silbermannorgel gehabt, bis ich den Kreuzchor kam und dort als Kind ge-
sungen habe…“1
Eine weitere schwere Erschütterung der Familie ereignete sich mit dem frühen Tod
derMutter,HedwigRichter,dieam6.Februar1944inFreibergeinemHerzversagen
erlag. Sie fand ihre letzte Ruhe auf dem Freiberger Donat-Friedhof neben ihrem
Mann,derebenfallsdortbestattetwurde.KarlRichterwardamalssiebzehnJahrealt
und bereits zum Militärdienst eingezogen
worden.EinvonRichtersSchwesterGabrie-
leSieg,geb.Richter,überliefertesFotozeigt
ihn im Jahr 1943 mit der Mutter in gelöster,
froherStimmung.KleidungundBelaubung
der Bäume auf dem Foto sprechen dafür,
dass es im Herbst 1943 aufgenommen wur-
de, vielleicht in der Nähe zu Richters 17.
Geburtstag.
Der zwölfjährige
Karl Richter übt
an der Orgel der
Trinitatiskirche
in Dresden
(Foto vom September 1938)
10
Karl Richter als Kruzianer in der Chorprobe
Archiviert unter: Fotosammlung Chorproben, Knabenchor, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.7-F 168
(Scan und Speicherung auf Datenträger durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden)
Das Foto zeigt Mitglieder des Knabenchores und des Männerchores bei einer
Chorprobe, Karl Richter steht in der zweiten Reihe als Fünfter von links. Er
trägt eine Brille.
Das Foto ist undatiert, aber vermutlich wurde es frühestens Ende 1938 und spä-
testens Anfang 1940 aufgenommen. Die Probe fand im Gesangssaal des dama-
ligen Kreuzschulgebäudes am Georgplatz statt. Dieses nicht mehr bestehende
Gebäude in der Dresdner Innenstadt war vom 1.5.1866 bis zur Zerstörung am
13.2.1945 die Heimat der Kreuzschule (Gymnasium), des Kreuzchores und des
Alumnats.
Die aufgrund der räumlichen Entfernung vom Elternhaus imAlumnat wohnenden
Jungen wurden als Alumnen bezeichnet, die zwischen Elternhaus und Schule/
Chor täglich pendelnden Jungen als Kurrendaner. Karl Richter warAlumne, d. h.,
er wohnte und lebte mit etwa 34 anderen Jungen und jungen Männern im Schul-
gebäude, fuhr jedoch in den Ferien und an den so genannten „Heimfahr-
wochenenden“ nach Hause. In den Ferien war das Alumnat geschlossen. Da er
11
nach Freiberg/ Sa. einen vergleichsweise kurzen Heimweg hatte, der auch da-
mals schon mit einer guten Eisenbahnverbindung zu erreichen war, blieb ein
regelmäßiger und relativ enger Kontakt zur Mutter, den vier Schwestern und
den Freiberger Bekannten erhalten.
In den Chorlisten wurde Karl Richter erstmals am 27.4.1938 genannt2
. Demnach
trat er um Ostern 1938, mit Beginn des Schuljahres, in den Kreuzchor ein.3
Der
Aufnahme in den Chor wurden eine Vorbereitungszeit und die Eignungsprüfung
vorangestellt; außerdem mussten die schulischen Leistungen dem gymnasialen
Niveau entsprechen. In Freiberg/ Sa., dem Wohnort der Familie Richter seit dem
frühen Tod des Vaters, Dr. Johannes Richter, im Jahr 1935, erhielt der damals
zehn- bis elfjährige Karl bereits Orgelunterricht bei Arthur Eger (1900 – 1968).
Eger war Schüler Karl Straubes (1873-1950) und ab 1926 Organist am Freiberger
Dom mit seiner wunderbaren Silbermannorgel. Vermutlich bereitete Domkantor
Arthur Eger den Jungen, der bereits in der Domkurrende mitsang, für die Auf-
nahme in den Kreuzchor vor. In Dresden fand Karl
RichterAufnahme in der Schulklasse 1b des Kreuz-
gymnasiums und sang zunächst im Sopran.
Von diesem Zeitpunkt an erschien sein Name regel-
mäßig in den Chorlisten. Offensichtlich durchlief er
sowohl die Schulklassen als auch den Weg des Chor-
sängers ohne Unterbrechungen oder größere Pro-
bleme. Im Schuljahr 1942/1943 sang er im Tenor
und wurde Chorpräfekt. Der Chorpräfekt hatte die
Aufgabe, den Kreuzkantor, damals Rudolf Mauers-
berger (1889 – 1971), bei der Chorarbeit zu unter-
stützen. Zu seinen alltäglichenAufgaben gehörte es,
in den Proben zu korrepetieren, selbständig Register-
proben abzuhalten und den Chor vor Gottesdiensten
und Auftritten zu ordnen.
Am 19.7.1943 wurde Karl Richter zum Reichs-
arbeitsdienst (RAD) eingezogen4
. Zu diesem Zeit-
punkt war er 16 Jahre und neun Monate alt.
12
Karl Richters erster solistischer Auftritt
77. Fastnachtskonzert des Kreuzchors
Archiviert unter: Programmsammlung 1939, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-25f, Fiche 71
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
13
14
15
16
77. Fastnachtskonzert des Kreuzchors, Programm-Nummer 4. a):
„Ein kleiner Kruzianer spielt zuerst die Bachinvention auf dem Klavier vor“
Das ist der erste öffentliche, solistischeAuftritt Karl Richters als Kruzianer. Die
Fastnachtskonzerte fanden in der Regel in jedem Jahr statt und waren ein Höhe-
punkt im Schul- und Chorleben. Sie waren öffentlich, d. h. neben Lehrern, El-
tern und Sympathisanten des Kreuzchors wurden sie auch von den Dresdner
Bürgern gern besucht. Solange es die Fastnachtskonzerte gab (sie wurden in den
Kriegsjahren eingestellt), lag die Leitung in den Händen des Chorpräfekten.
Es gibt im Zusammenhang mit diesem ersten solistischen Auftritt Karl Richters
eine interessante Erinnerung eines Mitkruzianers, des späteren Professors für
Maschinenbau an der Technischen Universität Dresden, Franz Holzweißig:
„Der Instrumentalübungsplan verteilte die Möpse5
auf die drei Klaviere, die in
den beiden Spielzimmern und im Speisesaal standen, sie waren zwar gestimmt, aber
sonst jämmerliche Kästen. Da der Plan aushing, mußte immer mit einer Kontrolle ge-
rechnet werden. Vor allem in den Spielzimmern, die neben dem Gesangssaal lagen,
guckte öfters Mauersberger rein. Mindestens einmal im Jahr war Vorspiel vor dem
ganzen Chor. Es war sehr unangenehm, wenn Mauersberger dabei feststellte, dass seit
dem vorigen Mal keine Fortschritte gemacht wurden.Als Karl Richter noch Mops war,
spielte er eine dreistimmige Invention von Bach vor. Mauersberger war voll des Lobes
und sagte, als er wieder vor den Flügel ging, zum Knabenchor: ‚Ihr wisst ja gar nicht,
wie schwer das ist.’“6
Dieses Vorspiel muss Ende 1938 oder Anfang 1939 stattgefunden haben, denn
im Februar 1939 folgte dann der erste solistische Auftritt, wahrscheinlich mit
eben der Bachinvention, an die sich Franz Holzweißig im Zusammenhang mit
dem Vorspiel in der Schule erinnerte.
Der am unteren Rand des Programm-Titelblattes angebrachte Hinweis, dass die
Kreuzschule Trauer hatte und deshalb Operette und Tanz entfielen, bezog sich
auf das Ableben des Rektors Hans Helck (Rektor von 1921 bis 1939).
Karl Richter als Konfirmand
Karl Richter wurde am 6. April 1941 im Dom zu Freiberg konfirmiert. Den
Konfirmandenunterricht hat er sehr wahrscheinlich in Dresden bei einem der
drei Kreuzkirchenpfarrer erhalten, während die Konfirmation in der Heimatge-
meinde stattfand. Dieses Vorgehen war bei den Kruzianern das übliche. An der
17
Kreuzkirche wirkten damals die Pfarrer Gotthold Ludwig Seidel, Martin Johan-
nes Krömer und Wilhelm Otto Schumann. Diese drei Pfarrer gehörten dem
Pfarrernotbund in Sachsen an, der ab 1933 begonnen hatte, bekenntnistreue Pfar-
rer und Vikare zu sammeln.Alle drei Pfarrer der Kreuzkirche fanden am 13./14.
Februar beim Luftangriff auf Dresden den Tod. Bei welchem der Kreuzkirch-
Pfarrer Karl Richter unterrichtet wurde, wissen wir nicht; die Unterlagen fielen
den Kriegsflammen zum Opfer.
Der Eintrag im Konfirmandenbuch der Domkirchgemeinde zu Freiberg lautet:
39. Richter, Karl Felix Johannes, geboren 15. Oktober 1926, getauft 29. No-
vember 1926, ev.-luth., konfirmiert am 6.4.1941.
Als Konfirmationsspruch ist das alttestamentliche Wort aus Psalm 143, 10 ver-
merkt. In der Übersetzung der Luther-Bibel lautet dieser Spruch:
„Lehre mich zu tun nach deinem Wohlgefallen, denn du bist mein Gott;
dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.“
Der Konfirmator Karl Richters war Pfarrer Johannes Sachsenweger, der die 2.
Pfarrstelle am Dom seit 1928 innehatte. Der Freiberger Dom war, ähnlich der
Frauenkirche in Dresden, ein besonderer Ort des Kirchenkampfes. Ab 1.1.1943
wurde Sachsenweger mit der Hauptvertretung auch der 1. Pfarrstelle am Dom
betraut, die mit dem zeitweilig beurlaubten Superintendenten Arndt von
Kirchbach besetzt war. Arndt von Kirchbach war 1936 Superintendent in Frei-
berg geworden, gehörte zu den führenden Köpfen des Pfarrernotbundes in Sach-
sen und leistete aktiven kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.7
Pfarrer Sachsenweger gehörte nicht dem Pfarrernotbund an, er war aber auch
kein NSDAP-Mitglied und kein Deutscher Christ.
Der kirchenmusikalische Einsatz des Domkantors Arthur Eger, dem es wenige
Tage vor Kriegsbeginn 1939 noch gelungen war, die regelmäßigenAbendmusi-
ken im Dom einzuführen, wurde als deutliches Signal für die Notwendigkeit
einer verstärkten geistlichen Besinnung in dieser dunklen Zeit verstanden.8
Es
darf angenommen werden, dass Eger auch zum Konfirmationsgottesdienst 1941
die Silbermannorgel im Dom spielte. Arthur Eger nahm an der musikalischen
Entwicklung Karl Richters über viele folgende Jahre hinweg Anteil.
Es ist nicht bekannt, wie viel von den inneren und äußeren Kämpfen seiner
Kirche dem damals vierzehnjährigen Konfirmanden Karl Richter bewusst war.
Sicher hätte ihm gerade in dieser Zeit die Begleitung durch den Vater viel be-
deuten können. Die Superintendentenstelle in Marienberg/ Sa., die sein Vater Jo-
hannes Richter bis zu seinem Tod am 3. Advent 1935 inne gehabt hatte, konnte
18
1937 mit dem Notbundpfarrer Friedrich Winter (emeritiert 1955) besetzt wer-
den.9
Marienberg/ Sa. galt als Hochburg der bekenntnistreuen Gemeindeglieder.
Es ist bekannt, dass Karl Richter und seine Familie noch gute Kontakte nach
Marienberg hatten, auch dann, als die Familie nach Freiberg umgezogen war.
Vesper zum 2. Advent (5.12.1942) in der Kreuzkirche –
geleitet von Karl Richter
Archiviert unter: Programmsammlung 1942, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-53, Fiche 80
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Es war üblich, dass der Chorpräfekt nach der Pfingstvesper ein Kurrendesingen
mit volkstümlichen Chorsätzen vor dem Südportal der Kreuzkirche, dem so ge-
nannten Trauportal, leitete. Außerdem dirigierte er eine Motette in der Vesper
am Schuljahresende. Diese Aufgaben fallen dem Chorpräfekten (praefectus
primus) auch heute noch zu. Rudolf Mauersberger übertrug in einzelnen Fällen
seinen Chorpräfekten weitere dirigentische Aufgaben. Das tat er eigentlich nur,
wenn er selbst ernstlich verhindert war, was in späteren Jahren, z. B. Ende der
60er Jahre, aufgrund von Krankheitszeiten vorkam.Ansonsten gab Mauersberger
den Chor nur sehr selten aus der Hand. In der Präfektenzeit Karl Richters ge-
schah es mehrmals, wie die erhaltenen Programme zeigen. Warum Mauersberger
am 5. Dezember 1942 die gesamte Leitung der Vesper in Karl Richters Hände
legte, war nicht mehr zu ermitteln.
Die Vesper in der Kreuzkirche am 5. Dezember 1942 fand im Kirchengebäude
der Reformierten Kirche in Dresden (Ringstraße) statt. Die große Kreuzkirche
war nicht mehr heizbar. Wie die Kreuzkirche wurde auch die Reformierte Kir-
che beim Bombenangriff auf Dresden am 13. 2.1945 zerstört.
Die Verzierung am Kopf des Vesperprogramms vom 5.12.1942 bezieht sich auf
den Sandsteinfries an der Orgel- und Chorempore der Kreuzkirche, wie er bis
zur Zerstörung 1945 bestand.Aufgrund der Kriegsbeschädigungen sind nur Reste
des unteren Engelfrieses erhalten geblieben. Die Innengestalt der Kreuzkirche
hat sich nach demWiederaufbau stark verändert. Erhalten geblieben ist die hallen-
artige barocke Grundstruktur des riesigen Kirchenraumes.
Die Orgel spielte in derVesper am 5.12.1942 Herbert Collum (1914-1982), Kreuz-
19
20
21
organist von 1935 bis 1982. Herbert Collum war ein vielseitiger Musiker: Orga-
nist, Cembalist, Komponist und Chorleiter (er gründete den als gemischten Chor
Erwachsener auftretenden Collum-Chor). Er organisierte große Bachzyklen mit
Orgel-, Kammer- und Orchesterabenden. Begabten Kruzianern erteilte er Orgel-
unterricht, so auch Karl Richter. Beim Wiederaufbau der Kreuzkirche nach dem
Krieg setzte er sich intensiv für die Errichtung der völlig neu zu erbauenden
Orgel (Jehmlich-Orgel) ein.10
Durch Herbert Collum erklang in der Vesper am 5.12.1942 die bekannte Choral-
fantasie von Dietrich Buxtehude (1637-1707) über „Wie schön leuchtet der
Morgenstern“. Diese Fantasie hat Karl Richter später oft selbst gespielt und sie
in München immer wieder in die Programme für die Weihnachtsliederabende
des Münchener Bach-Chores aufgenommen.11
Die beiden Stücke von Gustav Brand und Robert Volkmann hat Mauersberger
ab und zu in der Advents- und Weihnachtszeit singen lassen. Von den drei an-
spruchsvollen weihnachtlichen Motetten Max Regers, die Karl Richter am
5.12.1942 dirigierte, war die wohl bekannteste „Unser lieben Frauen Traum“,
die beiden anderen dürften nur selten aufgeführt worden sein.
Karl Richter als Chorpräfekt in der Weihnachtszeit
22
Archiviert unter: Fotosammlung Chorproben, Probe mit Präfekt,
Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.7-F 168
(als Scan bezeichnet mit F 168a und Speicherung auf Datenträger
durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden)
Das Foto zeigt eine Chorprobe im Gesangssaal der Kruzianer, der sich bis 1945
im dritten Obergeschoss der Kreuzschule am Georgplatz in Dresden befand.
Dieses Gebäude vereinigte die Räume der Kreuzschule und des Alumnats unter
einem Dach. Es wurde beim Bombardement am 13. Februar 1945 vollständig
zerstört. Franz Holzweißig, Kruzianer ab 1938 und später Professor für Maschi-
nenwesen an der TU Dresden, erinnerte sich an den Gesangssaal:
„Vorn am Fenster stand auf einem Podest der Flügel und im rechten Winkel zur
Tastatur die Bankreihen für den Chor. Damit war die eine Hälfte des Raumes gefüllt,
die andere war frei, um auch Proben in Choraufstellung halten zu können. An Vorder-
und Hinterwand standen Notenschränke und in der hinteren Fensterecke war der Schreib-
sekretär des Kantors.“12
Auf dem Foto sitzt der Chorpräfekt Karl Richter in der Weihnachtszeit 1942 am
Flügel. Neben ihm steht Rudolf Mauersberger, der Kreuzkantor. Über dem Flü-
gel hängt ein HerrnhuterAdventsstern, in Sachsen ein beliebter und verbreiteter
weihnachtlicher Schmuck.13
Außerdem ist am rechten oberen Bildrand der Ad-
ventskranz zu erkennen, Mauersberger achtete darauf, dass der Gesangssaal eine
gewisse Wohnlichkeit ausstrahlte.
„Während der Chor 1938 in Amerika war, wurde der Gesangssaal prächtig
renoviert.An den hell gestrichenen Notenschränken und den Säulen prangten die Wap-
pen der Städte, in denen der Chor gesungen hatte, und Stadtansichten der Hauptstädte.
Über den Notenschränken waren Porträtgemälde von Luther, Schütz und Bach aufge-
hängt und darüber stand der Spruch: ‚Das edelste, echteste und schönste Organ der
Musik, das Organ, dem unsere Musik allein ihr Dasein verdankt, ist die menschliche
Stimme’ von Richard Wagner. Vor dem großen Mittelfenster hing ein Transparent mit
Lichtkasten und auswechselbaren Bildfeldern.Auf diesen waren zur jeweiligen Jahres-
zeit passende Liedanfänge umrahmt von bildlichen Darstellungen ausgesägt und mit
Transparentpapier hinterklebt. Die Gestaltung stammte von meinem Zeichenlehrer,…Die
Deckenbalken ruhten auf Holzsäulen. Auch sie waren mit Sprüchen verziert.“14
Der Gesangssaal und dieAula, die unter dem Gesangssaal lag, waren die schön-
sten Räume des Hauses. Ansonsten dominierte die Zweckmäßigkeit. Die 34
Alumnen (also 2 x 17 Jungen), darunter auch Karl Richter, bewohnten zwei so
genannte „Kammern“:
23
“Jede Kammer umfasste drei Räume, die eigentliche Kammer, in der an den
Wänden die 17 Schränke standen, ein großer Tisch in der Mitte des Zimmers und unter
den mit Eisenstäben gesicherten Fenstern ein Kofferschrank. Stühle gab es keine, und
meine Mutter musste sich, wenn sie mich besuchte und wir noch Probe hatten, wie alle
Alumnen, auf den Tisch setzen. Von der Kammer aus kam man in den Waschsaal. In
ihm gab es an den Wänden für jedenAlumnus ein Waschbecken…Von da aus ging es in
den Schlafsaal, der in vier Reihen 17 Betten, sowie einen großen Schrank mit den
Konzertanzügen enthielt. Die letzte Reihe hatte fünf Betten.“15
Daneben standen den Jungen noch der Speisesaal im Erdgeschoss, der nur zu den
Mahlzeiten und zum Klavierüben benutzt wurde, zwei kleinere Spielzimmer mit
je einem Klavier und der Arbeitssaal, in dem gelernt und die Hausaufgaben erle-
digt wurden, zu Verfügung. Im Arbeitssaal hatte jeder ein Pult mit Fach für die
Schulsachen, außerdem standen Regale mit Handbibliothek und Wörterbüchern
bereit. Der Arbeitssaal stieß an die Wohnung des Alumneninspektors, des eigent-
lichen Erziehers für dieAlumnen. Zur Zeit Karl Richters war dasArthur Gebauer
(gest. 1956), gleichzeitig Mathematiklehrer an der Kreuzschule. Im Arbeitssaal
führten die Präfekten, der Chorpräfekt und der Hauspräfekt, die Aufsicht in den
Arbeitsstunden. Im Keller befanden sich ein Dusch- und ein Wannenraum, der
einmal pro Woche genutzt werden konnte. Für Kranke gab es zwei Krankenzim-
mer, die sich neben derWohnung des Hausinspektors befanden. EinAlumnatsarzt,
selbst ehemaliger Kruzianer, betreute die Alumnen im Krankheitsfalle. Der Ta-
gesablauf war von 5.45 Uh (Wecken) bis 20.50 Uhr (Schlafenszeit) geregelt.
Täglich gab es von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr eine „Freizeit“, in der aber auch die
Klavierstunde und mindestens zwei Übungsstunden am Instrument pro Woche
sowie kleine häusliche Aufgaben erledigt werden mussten.
Die Advents- und Weihnachtszeit war aufgrund der hohen Dichte von kirchli-
chen Aufgaben und Konzerten anstrengend, aber sie wurde – so gut es möglich
war – auch festlich begangen.
„Am Heiligen Abend wurde im Arbeitssaal beschert. Es war ein anstrengender
Tag. Früh Probe für das Krippenspiel und dann die drei Christvespern. Nach der ersten
gab es Kaffee und Stollen im Gemeindesaal, und nach der zweiten rannten einige
Ältere herüber ins „Woolworth“, wo erst um 18 Uhr geschlossen wurde, und machten
Weihnachtseinkäufe.Als es sie noch gab, waren die Schokoladenweihnachtsmänner da
schon preisgesenkt. Die Bescherung begann mit dem Einzug. Wir stellten uns am
Gesangssaal auf und zogen, jeder mit einer brennenden Kerze in der Hand, den Gang
entlang in den Arbeitssaal. Dabei wurde ‚Lobt Gott ihr Christen…’gesungen. Die Flü-
geltüren waren geöffnet und wir sahen schon den schön geschmückten Christbaum
während des Einzugs.“16
24
Nun sagte der jüngste Kruzianer die Weihnachtsgeschichte (Lk 2, 1-20) auf,
Alumneninspektor und Hauspräfekt sprachen einige Worte. Schließlich folgte
die Bescherung:
„Das Licht wurde ausgemacht, und wir suchten jeder unseren Platz mit Ge-
schenken in der langen Reihe der zusammengestellten Arbeitstische. Jeder bekam ei-
nen Teller mit Weihnachtsgebäck, einen Klavierauszug und ein Buch, das man sich
vorher in der Buchhandlung Holze und Pahl in der Waisenhausstraße aussuchen
konnte…Dann gab es noch Kleinigkeiten…Nach der Bescherung aßen wir Kartoffel-
salat mit Würstchen, machten noch ein paar Spiele, und relativ bald schickte Gebauer
die Möpse (die jüngsten Kruzianer, Anmerk. d. Verfass.) ins Bett, wir hatten einen
schweren Tag hinter uns und am 1. Weihnachtsfeiertag ging es schon halb fünf Uhr
wieder los, um das Christmettenspiel in der Kreuzkirche aufzuführen… Nach der Met-
te bekamen wir Stollen, und nachdem die Kirchenmusik zum Hauptgottesdienst gesun-
gen war, durften die Alumnen nach Hause fahren, die Kurrendaner sangen die
Schlussliturgie. Es gab wohl keinen Alumnus, der die verspätete Heimfahrt bedauert
hätte, erwartete uns doch zu Hause eine erneute Bescherung.“17
Diese Erinnerungen geben einen Eindruck davon, was auch Karl Richter als
Kruzianer im Alumnat erlebt hat, als kleiner „Mops“, als „Mittlerer“ in der Pu-
bertätszeit und als „Oberer“ in seinem Präfekten-Jahr. DasAmt des Chorpäfekten
bedeutete auch damals in erster Linie, dafür bereit zu sein, bereits ein gewisses
Maß an Verantwortung für den Ablauf und das Gelingen der Chorarbeit mit zu
tragen.
Christmette der Alumnen am Christtag-Morgen 1942,
Karl Richter an der Orgel
Archiviert unter: Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv,
Programmsammlung 1942, 20.4-53, Fiche 80
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Die „Christmette der Alumnen“ wurde von Rudolf Mauersberger musikalisch
gestaltet und ab 1936 in Dresden eingeführt. Mauersberger stammte aus dem
Erzgebirge, aus Mauersberg bei Marienberg/ Sa. In den evangelischen Kirchen
des Erzgebirges war es üblich, sich am 1. Christtag morgens zeitig zu einem
festlichen Gottesdienst zu versammeln - der Christmette. Diese Mette war litur-
gisch und musikalisch ausgestaltet, teilweise mit einem so genannten Metten-
spiel, die Christgeburt darstellend. Die Spiele gingen meist auf alte Vorlagen
zurück und führten die Traditionen der mittelalterlichen Mysterienspiele weiter.
Mauersberger war der Liturgie stark zugetan. Er wagte deshalb erstmals 1936
25
26
27
denVersuch, in der Großstadt Dresden eine solche Christmette mit Christgeburts-
spiel aufzuführen. Mittels bewusster Betonung altkirchlicher liturgischer For-
men wollte er den deutsch-christlichen Bestrebungen nationalsozialistischer
Kräfte geistig und musikalisch etwas entgegensetzen.
Das im Kopfteil des Programms ausgesprochene Gedenken an einen Studienas-
sessor der Kreuzschule gibt wieder, was im Leben der Kruzianer damals be-
drückende Gegenwart war: Die Lehrer der Kreuzschule wechselten häufig, da
sie zum Militär eingezogen wurden, die älteren Kruzianer erhielten den Gestel-
lungsbefehl zum Reichsarbeitsdienst und von dort, oder auch direkt von der
Schulbank, kamen sie zum Kriegseinsatz. Todesmeldungen trafen ein. Die Na-
men der bekannt gewordenen Toten erschienen auf Programmzetteln. In dieser
Zeit, die eine „ständige Ausnahmesituation“ darstellte, absolvierte Karl Richter
einen großen Teil seiner Schulzeit und durchschritt die Entwicklung vom Kind
zum jungen Mann.
Karl Richter begleitete die liturgischen Teile und die Gemeindelieder in der
Christmette der Alumnen 1942 auf der Orgel; die „Hirtenmusik“ für Orgel und
Oboe von Hermann Behr (*1915) musizierte er mit Heinz Butowski, der (nach
nicht ganz sicheren Recherchen) damals Oboist der Dresdner Philharmonie war.
Neben Reaktionsfähigkeit und Einfühlung in die vielfältigen Programmpunkte
imAblauf der Mette musste Karl Richter hier als Orgelspieler auch Erfahrungen
in der Begleitung des Gemeindegesangs unter Beweis stellen.
In der Christmette vertrat Karl Richter den schon genannten Kreuzorganisten
Herbert Collum, der einer seiner Orgellehrer war. Soviel bekannt ist, übte Karl
Richter als Schüler auf verschiedenen Orgeln in Dresden, häufig auf der Orgel
der Trinitatiskirche in Dresden-Johannstadt. Diese Kirche und ihre Orgel wurde
durch Bomben zerstört. Die Kirchenruine steht noch; in ihr wurden Räume für
die Gemeinde wieder ausgebaut. Weitere Innenstadtkirchen mit größeren Or-
geln waren die Annenkirche, die Matthäuskirche, die Johanniskirche, die
Jakobikirche, die Frauenkirche (damals auch als Dom bezeichnet) sowie die
Sophienkirche. Die beiden letzteren besaßen Silbermannorgeln, die Karl Rich-
ter kannte.18
Alle genannten Kirchen und ihre Orgeln wurden kriegszerstört; die
Annenkirche, die Matthäuskirche und, als spätes Projekt, die Frauenkirche wur-
den als Bauwerke wieder hergestellt.
28
Vesper am 6. März 1943 – Karl Richter dirigiert Bach
29
Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv 20.4-18, Fiche 80
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
30
Wie schon am 5. Dezember 1942 leitete auch am 6. März 1943 Chorpräfekt
Karl Richter die Vesper des Kreuzchores. Auf dem Programm standen zwei
Chorwerke von Johann Sebastian Bach (1685-1750): die doppelchörige Motet-
te „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ und zumAusklang der Vesper „Ich
halte treulich still“ für vierstimmigen Chor aus dem Schemellischen Gesang-
buch von 1731. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ ist eine der beiden
autographen Motetten Bachs. Der Text für die Motette stammt aus Röm. 8, 26-
27, der Choral ist eine Luther-Dichtung.19
Auch das Lied „Ich halte treulich
still“ gilt als Bach-Komposition; bekanntlich stammen nicht alle Lieder im Ge-
sangbuch Schemellis aus Bachs Feder.
Interessant ist, dass in der Vesper das Glaubenslied (Credo) „Wir glauben all an
einen Gott“, Text von Tobias Clausnitzer (1618-1684), gesungen wurde20
. Im
evangelischen Sonntagsgottesdienst kann dieses Lied anstelle desApostolischen
Glaubensbekenntnisses erklingen. DieVesper ist zwar eine gottesdienstliche Fei-
er, jedoch war und ist in ihr ein Credo nicht üblich.21
Allerdings: Die Texte der
Motette, des Glaubensliedes und des Schemelli-Liedes stehen im engen theologi-
schen Zusammenhang und sprechen den Hörern Trost und Glaubensgewissheit
zu. Vom Osterfest 1943 zurückgerechnet, war der 6.3.1943 im liturgischen Ka-
lender der Vorabend des Sonntags Estomihi („Sei mir ein starker Gott“). Auch
in dieser Hinsicht passte das Glaubenslied. Ob Karl Richter das Lied vorschla-
gen durfte, ließ sich nicht mehr ermitteln.
Der junge, aus Dresden stammende Eberhard Bonitz (1921-1980)22
spielte in
Vertretung für den (eingezogenen?) Kreuzorganisten Herbert Collum in der Ves-
per die Orgel.
Das für einen so jugendlichen Dirigenten anspruchsvolle Programm hat Karl
Richter vor dem Vortrag sicher selbst mit den Kruzianern geprobt. Zwar waren
die Bachmotetten Bestandteil des festen Repertoires, aber dennoch mussten sie
von Jahr zu Jahr grundsätzlich neu einstudiert werden. Ein Knabenchor ist ja
ununterbrochen in der Veränderung aufgrund der Zu- und Abgänge von Chori-
sten und infolge der Stimmentwicklung jedes einzelnen Kindes. Das Dresdner
Vesper-Publikum war zwar treu, aber auch kritisch und „verwöhnt“. Eine Bach-
motette, gesungen vom Kreuzchor, durfte nicht „daneben gehen“. Es musste
damit gerechnet werden, dass die Presse die Vespern beobachtete. Rudolf
Mauersbergers Ansprüche an die musikalische Qualität waren hoch, ein Risiko
wollte er sicher nicht eingehen. Karl Richter musste diesen hohen Ansprüchen
entsprechen, wenn er die Leitung der Vesper innehatte.
31
Konzert des Kreuzchors am 27.3.1943
im Hygienemuseum Dresden
32
Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-27, Fiche 80
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
33
Es war üblich, dass der Kreuzchor nicht nur in Kirchen, sondern auch in Konzertsä-
len oder an anderen geeigneten Orten auftrat, z. B. in der Semperoper, im Dresdner
Zwinger oder im Schlossgarten Pillnitz. Die Programme wurden dann entsprechend
angepasst. Es gab (und gibt) also auch „weltliche“ Konzerte des Kreuzchors, die
von Konzertagenturen, den Kommunen oder Kulturverantwortlichen angefordert
und organisiert wurden. Auch im Hygienemuseum Dresden befand sich ein großer
Saal, der für Konzertaufführungen genutzt wurde.
Am 27. März 1943 setzte Rudolf Mauersberger seinen Chorpräfekten Karl Richter
ein, um ein weltliches Konzert zu leiten. Neben Madrigalen aus der Renaissance
enthielt die Programmfolge einen „Durchgang“ durch die Chorliteratur bis hin zu
Volksliedern und einigen Stücken der recht schwierig zu bewältigenden modernen
ChormusikErnstPeppings(1901-1981)23
. Peppings Chorzyklus „Der Wagen“ war
durch Rudolf Mauersberger erst 1942 mit den Kruzianern im Dresdner Gewerbe-
haus zur Uraufführung gekommen. Das Konzert ist überschrieben mit „Verpflich-
tung der Jugend“. Es enthält außer der Chormusik keine weiteren Programmteile,
auchkeineVerpflichtung,AnsprachenoderandereWortteile.DasDatum(27.3.1943)
liegt zwar gegen Ende des Schuljahres hin, aber Ostern, der damalige Termin des
Schuljahresabschlusses, lag 1943 erst auf dem 25. April. Auch war der 27. März
kein staatlicher Feiertag.
Nachdem die nationalsozialistischen Machthaber die meisten freidenkenden und
freireligiösenGemeinschaftenverbotenunddamitderenJugendweihefeiernzurück-
gedrängt hatten, wollten sie nun die evangelische Konfirmation und die katholische
Firmung weitgehend ausschalten. Sie führten im Zusammenhang mit den festlichen
Schulentlassungen eigene Jugendfeiern ein. Es muss angenommen werden, dass es
sich bei dem vorliegenden Programm um ein gesondert stattfindendes Konzert han-
delte, dem eine Feier zu einem anderen Zeitpunkt vorausgegangen war. Die erhalte-
nenArchivdokumente erlauben keine klare Einsicht in etwaige Zusammenhänge.
Rudolf Mauersberger war grundsätzlich bemüht, den kirchlichen Charakter des
Kreuzchores soweit wie möglich zu wahren, entzog sich jedoch staatlich verordne-
ten Konzerten nicht völlig – was er sicher auch nicht konnte. Es ist zu vermuten,
dass er an dem weltlichen Konzert vom 27.3.1943 kein Interesse hatte, was er durch
die Nicht-Übernahme des Dirigates zeigen wollte.24
Ein ähnliches Verhalten
Mauersbergers trat auch auf einer staatlicherseits angeordneten Chorreise im Früh-
jahr 1943 auf. Es war selbstverständlich für einen Chorpräfekten, auf Anordnung
desKreuzkantorsmusikalischeAufgabenzuübernehmen. Für den sechzehnjährigen
Präfekten Karl Richter hat es sicher eine nicht unerhebliche physische und psy-
chische Anstrengung bedeutet, das abendfüllende Konzert zu leiten.
34
Ostermette in der Kreuzkirche am 25. April 1943,
an der Orgel Karl Richter
35
Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-39, Fiche 80
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
36
Die Ostermette des Kreuzchors am Ostermorgen wurde von Rudolf Mauers-
berger im Jahre 1941 eingeführt. Der im Kopfteil des Programmblattes genann-
te Rudolf Decker (1912-1991), Theologe, Pfarrer und in späteren Jahren Kir-
chenmusik-Sachverständiger der Landeskirche, war mit Rudolf Mauersberger
befreundet. Er schrieb das Textbuch für das Ostermettenspiel, in dem - analog
zum Christgeburtsspiel - das Ostergeschehen von den Kruzianern szenisch dar-
gestellt wurde. Musikalisch wurden Sätze aus der „Auferstehungshistorie“ von
Heinrich Schütz, Chöre von Johannes Eccard, Johann Hermann Schein und Jo-
hann Schop in die Darstellung einbezogen, also Musik aus dem 16. und 17.
Jahrhundert. Die eingefügten Choräle wurden von der ganzen Gemeinde mitge-
sungen und von Bläsern und Orgel begleitet. Die Ostermette ist auch heute noch
fester Bestandteil im Jahresprogramm des Dresdner Kreuzchors.
Während die „drei Frauen“ von Knabensolisten übernommen wurden, mussten
junge Männerstimmen die Wächter- und Jüngerrollen sowie „Die zween Män-
ner am Grabe“ übernehmen. Eine dieser jungen Männerstimmen in der Mette
1943 gehörte TheodorAdam, dem später sehr bekannten Bass-Bariton, mit dem
Karl Richter in seiner Münchener Zeit zahlreicheAufführungen und Plattenein-
spielungen gestaltete.
Karl Richter musste während der Mette variabel und einfühlsam an der Orgel
agieren, außerdem in der riesigen Kirche (mit entsprechendem Nachhall) den
Gemeindegesang so begleiten, dass Bläser, Orgel und Liedgesang zusammen-
klangen. Ob er nach der Mette ein Orgelnachspiel geboten hat, ist nicht belegt,
aber doch wahrscheinlich.
Natürlich war die Ostermette nur ein Punkt im Osterprogramm des Kreuzchores.
Am Gründonnerstag und Karfreitag wurde jeweils die Matthäuspassion musi-
ziert, am Karfreitagvormittag ein Gottesdienst (da die Orgel am Karfreitag
schwieg, a cappella), am Samstag die Vesper und am Ostersonntag neben der
Mette der Gottesdienst mit festlicher Kirchenmusik, ebenso am Ostermontag
eine Festmusik im Gottesdienst. Welche Dienste Karl Richter als Chorpräfekt in
den Gottesdiensten übernahm, konnte nicht ermittelt werden, weil für die Got-
tesdienste keine Programme gedruckt wurden. Da nicht nur in der Kreuzkirche,
sondern an den Hochfesten gastweise auch in der Frauenkirche (Dom) zu musi-
zieren war, waren gerade die Feiertage für die Kruzianer von vielfältigen musi-
kalischen Einsätzen geprägt.
37
Musikalische Abendfeier in Dom zu Freiberg am 24. Juni 1943
Archiviert unter: Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.06-1671.92
(Fotokopie des Programmzettels)
Am 24. Juni, dem Fest Johannes des Täufers, gestalteten Karl Richter und zehn
Kruzianer ein abendfüllendes Programm mit Vokalwerken und Orgelmusik im
Freiberger Dom. Domkantor Arthur Eger hatte im Jahr 1939 die Abendmusiken
eingeführt; das Programm am 24.6.1943 war die 38. Abendmusik. Die Abend-
musiken fanden etwa einmal im Monat statt.
Die große Silbermannorgel im Dom ist das erste große Instrument, das Gott-
fried Silbermann (1683-1753) baute; sie wurde 1714 fertig gestellt. Es folgten
weitere Orgeln in Freiberg, so 1717 die Orgel in der Jakobikirche und die 1719
38
Silbermann-Orgel im Freiberger Dom
39
eingeweihte Orgel der Johanniskirche (Hospitalkirche). Schließlich erhielt die
St. Petrikirche zu Freiberg 1735 eine Silbermannorgel, die fast zeitgleich im
Bau war mit der Orgel für die Dresdner Frauenkirche.
Die Orgel der Johanniskirche war in den dreißiger Jahren stark gefährdet, da das
Kirchengebäude sehr schadhaft geworden war. Domkantor Eger erwirkte die
Umsetzung der Orgel auf den Lettner des Freiberger Doms und die Restauration
durch die Firma Eule (Bautzen). Am 1. Februar 1939 konnte sie wieder erklin-
gen und wurde die kleine Silbermannorgel genannt.
Selbstverständlich hatte Karl Richter das Programm für die Abendmusik mit
Arthur Eger besprochen. Aber auch Karl Straube (1873-1950), der Karl Richter
seit 1940 einmal pro Woche in Leipzig an der Orgel unterrichtete, interessierte
sich sicher für das musikalischeVorhaben seines Schülers. Karl Straube,Thomas-
organist von 1903-1918 und Thomaskantor von 1918-1939, gleichzeitig Profes-
sor für Orgel am damaligen Leipziger Konservatorium, war mit Jahresende 1939
pensioniert worden. Straubes Mutter war Engländerin; Straube war äußerst be-
lesen in englischer Literatur25
. Für die Nationalsozialisten war der international
anerkannte Orgel- und Bachspezialist nach Kriegsausbruch als Thomaskantor
nicht mehr tragbar.
Dass der damals 66jährige Straube trotz seiner Pensionierung Karl Richter als
Schüler annahm, geschah nach der Erinnerung zeitnah lebender Zeugen auf eine
Anfrage Mauersbergers hin, der selbst (1912-1914 und 1918/1919) Straube-Schü-
ler gewesen war26
. Karl Richter erhielt den Unterricht als Privatschüler diens-
tags im Leipziger Konservatorium, in dem Straube auch nach der Pensionierung
unterrichtete. Dazu musste Karl Richter nach dem Dresdner Schulunterricht nach
Leipzig fahren – und natürlich auch zurück. Straube unterrichtete ihn kostenlos.
Karl Richter verehrte Straube als seinen Lehrer mit Dankbarkeit. Als junger
Thomasorganist spielte er nach Straubes Tod am 27.4.1950 nicht nur in der Trau-
erfeier die Orgel, sondern ließ auch in der festlichen Motette am 29.7.1950,
innerhalb der Deutschen Bachfeier 1950, Karl Straube zum Gedenken Präludi-
um und Fuge h-moll von J. S. Bach erklingen.
Das Programm für die MusikalischeAbendfeier vom 24.6.1943 in Freiberg ent-
hielt bis auf ein Abendlied ausschließlich Werke von J. S. Bach und H. Schütz.
Je zweimal waren die kleine und große Silbermannorgel mit Bachwerken zu
hören. Schon die Werkauswahl spiegelte den beachtlichenAusbildungsstand des
jungen Karl Richter wider. Auch die Vokalwerke leitete er und hat dafür sicher
mit den Kruzianern geprobt.
40
Kirchenkonzert des Dresdner Kreuzchors am 27.6.1943
in der Christuskirche zu Bischofswerda
41
42
Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-54, Fiche 81
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Nur drei Tage nach der Abendmusik vom 24.6.1943 im Freiberger Dom spielte
Karl Richter erneut zwei größere Orgelwerke von J. S. Bach, diesmal im Rah-
men eines Kreuzchorkonzerts, dessen Kollekte dem Deutschen Roten Kreuz
zugute kommen sollte.
Das Musizieren in den gottesdienstlichen Feiern war bis zur Zerstörung Dres-
dens noch möglich; die letzte Kreuzchorvesper fand am 10. Februar 1945 in der
Dresdner Sophienkirche statt. Konzerte in Kirchen wurden jedoch erschwert.
Hatte der Kreuzchor noch 1941 innerhalb von fünf Monaten sechs oratorische
Aufführungen herausgebracht,27
so waren nach dem Herbst 1944 große Auffüh-
rungen nicht mehr möglich. Erna Hedwig Hofmann, ab 1947 Sekretärin Rudolf
Mauersbergers und Autorin mehrerer Veröffentlichungen über den Kreuzchor,
schrieb über die zunehmenden Einschränkungen:
„Im übrigen ist es das Bestreben der ‚kulturellen Lenkung’, die wenigen ‚künst-
lerischen Einsätze’, die dem Kreuzchor noch verbleiben, auf Saalkonzerte zu beschrän-
ken. Kirchenkonzerte werden wegen angeblicher Heizungsschwierigkeiten nicht ge-
stattet. Der Kreuzchor läßt sich durch Wehrmachtskommandos und Garnisonen, die
gleichzeitig über genügend Kohlen verfügen, in Kirchgemeinden einladen, singt nach
wie vor seine musica sacra und bringt damit Hunderten, ja Tausenden die vielleicht
letzte innere Stärkung. So bleibt der Kreuzchor Kirchenchor bis zum Ende – trotz aller
Bemühungen staatlicher Stellen, die andere Ziele verfolgen. Im Schreibtisch des stell-
vertretenden Bürgermeisters liegt die Akte, die durch einen Federstrich der siebenhun-
ertjährigen ‚capella sanctae crucis’ einen neuen Charakter geben soll. Sie wird nicht
unterschrieben.Im Herbst 1944 beschließt der Kreuzchor mit einerAufführung der Hohen
Messe von Johann Sebastian Bach auf dem Altarplatz seine Konzerttätigkeit.“28
Ein Kirchenkonzert, auf den von E. H. Hofmann beschriebenen Wegen zustan-
de gekommen, fand am 27.6.1943 in der Christuskirche (Haupt- und Garnison-
kirche) zu Bischofswerda statt. Heizungsfragen werden im Juni keine Rolle ge-
spielt haben, wohl aber die generelle Einschränkung der Konzerttätigkeit des
Kreuzchors.
Im Programm erklangen einige der bekanntesten Chorwerke von Anton Bruck-
ner, Heinrich Schütz und J. S. Bach, die auch damals zum festen Repertoire des
Kreuzchors zählten. Karl Richter spielte, wie bereits am 24.6.1943 in Freiberg,
zwei größere Orgelwerke aus dem Band IV der Peters-Ausgabe, die G-Dur Fan-
43
tasie mit ihrem schönen fünfstimmigen Satz und das Präludium und die Fuge in
C-Dur, bei deren Vortrag der junge Organist seine bis dahin erreichte Virtuosität
zeigen konnte.
In diesem Konzert hatte Karl Richter seinen letzten nachweisbaren öffentlichen
Einsatz als Chorpräfekt, bevor er im Juli 1943 zum Reichsarbeitsdienst einberu-
fen wurde. Gelegenheiten gottesdienstlichen Musizierens gab es sicher noch bis
zum Einberufungstag.
Bach -Tage 1948 in Leipzig
Konzert des Dresdner Kreuzchors am 11. April 1948
An der Orgel: Karl Richter
Archiviert unter: Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-39 und 40, Fiche 95
(gedrucktes Programm-Deckblatt und Vortrags-Folge;
Rückvergrößerungen durch Stadtarchiv Dresden)
Orgelunterricht
bei Karl Straube
44
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46
47
Obwohl sich einzelne ehemalige Kruzianer der Nachkriegszeit erinnerten, Karl
Richter habe in den Jahren von etwa 1946 bis 1949 in mehren Fällen Konzerte
und Reisen des Dresdner Kreuzchors begleitet,29
konnten Archivdokumente nur
spärlich als Belege für diese Aussagen aufgefunden werden. Ein auswärtiges
Kreuzchorkonzert, an dem Karl Richter nachweislich beteiligt war, fand anläss-
48
lich der Bach-Tage 1948 in Leipzig statt. Er trug in diesem Konzert zwei größe-
re Orgelwerke von J. S. Bach vor. Der Kreuzchor sang unter Rudolf Mauersberger.
Karl Richter war damals Student an der Staatlichen Hochschule für Musik in
Leipzig, ein reichliches Jahr vor seinem Abschlussexamen.
Dass Karl Richter in seiner Studienzeit relativ engen Kontakt zu Rudolf
Mauersberger und den Kruzianern hielt, bezeugte auch die bereits mehrfach
erwähnte Erna Hedwig Hofmann, ab 1947 Sekretärin des Kreuzkantors. In ih-
ren „Erinnerungen an Karl Richter“ schrieb sie:
„Mauersberger hat sich oft und gern der gemeinsamen Arbeit mit dem jungen
Karl Richter erinnert. Er hob hervor, daß sich sein einstiger Präfekt als glänzender,
dabei unerbittlicher Chorerzieher erwiesen habe, dem absolute Perfektion und strenge
Disziplin selbstverständlich waren. Er habe es verstanden, gleichzeitig den damaligen
‚Oberen’ ein äußerst beliebter ‚Kumpel’ zu sein und dabei trotzdem den in seiner Stel-
lung gebotenen Abstand zu halten. Die ‚Möpse’ freilich, also die Jüngsten des Chores,
hatten ihm stets eine an Ehrfurcht grenzende Hochachtung entgegengebracht.“30
Weiter erinnerte sich E. H. Hofmann, dass Karl Richter zwischen 1946 und
1948 Mauersberger mitunter gegen Abend besucht habe. Und da Mauersberger
von ihrer entfernten Verwandtschaft mit Karl Richter wusste, wurde sie eingela-
den, an diesen abendlichen Gesprächen teilzunehmen. Natürlich stand die Mu-
sik im Mittelpunkt des geistigen Austauschs. Vielleicht ist anlässlich eines sol-
chen Gesprächs auch der Plan entstanden, dass Karl Richter für das Kreuzchor-
konzert zu den Bach-Tagen 1948 in Leipzig zwei Orgelwerke beitragen sollte.
Zur Eröffnung des Konzerts in der Thomaskirche am 11.4.1948 bot Karl Rich-
ter Präludium und Fuge in h-moll, außerdem begleitete er das Knabenduett „Die
Furcht des Herrn“ von Heinrich Schütz auf der Orgel. Vor der großen Bach-
motette „Jesu, meine Freude“ erklang die Orgelsonate in c-moll, ein konzertan-
tes Werk, das den Hörer mit besinnlicher Freude erfüllen kann. Die Wilhelm-
Sauer-Orgel der Thomaskirche, erbaut 1889, hatte Karl Straube als Thomas-
organist schon gespielt. Straube hatte das Instrument 1908 mithilfe selbst ein-
geworbener Spenden und mit Mitteln aus eigener Tasche von 63 auf 88 Register
erweitern lassen31
- ein nicht alltäglicher Einsatz eines Organisten. Die Orgel
war danach für die Wiedergabe von Werken Max Regers besonders geeignet,
was ein Anliegen Straubes gewesen war – Straube war mit Reger befreundet.
Nur fünfzehn Monate nach dem Konzert vom April 1948 sollte Karl Richter
dann selbst die Orgelbank der Thomaskirche als Thomasorganist besetzen.
49
Kreuzchorvesper, Freitag, den 2. Juli 1948, 19 Uhr
in der Heilig-Geist-Kirche Dresden Blasewitz,
an der Orgel: Karl Richter
50
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Archiviert unter: Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-115, Fiche 96
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Erst zwischen 1947 und 1948 konnten die regelmäßigen Kreuzchorvespern, wenn
auch nicht in der Kreuzkirche, als wichtige Elemente des Chorlebens wieder
stattfinden. Das mühsame Zurückkommen zu einigermaßen geregelten Verhält-
nissen im Chor- und Schulleben der Kruzianer hat Karl Richter zeitweise miter-
lebt. Die Schwierigkeiten des Neuanfangs nach dem Krieg waren groß32
.
Nachdem die Kreuzschule und das Choralumnat seit dem 13. Februar 1945 nicht
mehr existierten und die Kreuzkirche infolge der Zerstörungen nicht benutzbar
war, sammelten sich Überlebende und einige Neulinge ab dem 1. Juli 1945 in
der teilzerstörten Oberschule Dresden-Plauen. Das Alumnat war behelfsmäßig
in den Kellerräumen des Gebäudes untergebracht. Wie anderswo auch, fehlte es
hier an allen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Hörer und Besucher erster Kon-
zerte wurden nicht selten um Lebensmittelspenden für das Alumnat gebeten.
Das war der Zustand, auf den Karl Richter in Dresden traf, als er in den ersten
Wochen des Jahres 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Sobald als
möglich wollte er sein als Kreuzschüler 1938 begonnenes Orgelstudium bei Karl
Straube in Leipzig fortsetzen33
.
Nach den Erinnerungen von Erna Hedwig Hofmann wandte Karl Richter sich
im Frühling 1946 in Dresden an sie mit der Bitte, ihn „pro forma“ bei sich als
Untermieter aufzunehmen. Er berichtete ihr, dass er wieder im Chor mitgesun-
gen und als zusätzlicher Präfekt gearbeitet habe, aber der Verwaltungsleiter des
Kreuzchors wolle ihn nicht mehr im Alumnat dulden (da er kein Schüler mehr
sei). Es ginge hauptsächlich darum, dass er als ihr Untermieter behördlich regi-
striert werde und Lebensmittelkarten erhalten könne; sicher musste er sie abge-
ben, um im Alumnat mit essen zu können. Frau Hofmann stimmte zu. Ob Karl
Richter je vom Quartierrecht bei ihr und ihren Eltern in der Dresdner Niederwald-
straße Gebrauch machte, erwähnte sie in ihrem Bericht nicht34
. Zum Winterse-
mester 1946/ 1947 immatrikulierte sich Karl Richter dann in Leipzig an der
Staatlichen Hochschule für Musik und wohnte, gemeinsam mit einer seiner
Schwestern, in Leipzig.
Der Kreuzchor konnte im Februar 1947 einen Teil des Schulgebäudes auf der
Eisenacher Straße/ Dornblüthstraße in Dresden-Striesen beziehen. Vor der NS-
Zeit war es ein Freimaurer-Institut gewesen. Damit endete das Kellerdasein der
Alumnen.Auch dieses neue Domizil des Chores, in dem es nun bessere Lebens-
52
und Arbeitsbedingungen und neben einem Probensaal auch ein Dienstzimmer
für den Kreuzkantor gab, hat Karl Richter bei seinen Besuchen kennen gelernt.
Die Kreuzchorvespern wurden in der Heilig-Geist-Kirche Dresden-Blasewitz,
nur einige Gehminuten vom Alumnat entfernt, wieder eingerichtet.
Am 2. Juli 1948 eröffnete Karl Richter die Vesper musikalisch mit Toccata,
Adagio und Fuge in C-dur von J. S. Bach. Von der Toccata und Fuge in C-dur
schrieb Albert Schweitzer, sie habe „heute noch dieselbe Gewalt über die Ge-
müter, wie je zuvor.“35
Die Wiedergabe dieses Werkes erfordert hohe Virtuosi-
tät und Kraft vom Organisten; Schweitzer sprach vom „wahren Pathos“, wel-
ches er gegenüber einem „falschen Pathos“ abgrenzte. Er meinte, dass diejeni-
gen, die in der Musik des 19. Jahrhunderts aufgewachsen sind, ein Unterschei-
dungsvermögen für wahres und falsches Pathos besitzen. Dem seltenen wahren
Pathos, also wie in der Toccata und Fuge C-dur, dürfe sich der Hörer dann,
sozusagen ausnahmsweise, mit „doppelten Entzücken“ hingeben.
Wir wissen nicht, wie Karl Richter das Werk damals wiedergegeben hat. Zu
diesem Zeitpunkt, also etwa ab 1948, studierte er bereits vornehmlich bei Gün-
ther Ramin (1898-1956), dem damaligen Thomaskantor; denn etwa ab 1947/48
war Straube durch Krankheiten in seinem Befinden beeinträchtigt. Fest steht,
dass Ramin damals bereits den spätromantischen Stil verlassen hatte, was sich
sicher auch in der Arbeit mit seinen Studenten widerspiegelte. Das Solo für
Knabenalt im Abendlied am Ende der Vesper, eine Komposition Rudolf
Mauersbergers, Textdichtung von Gottfried Kinkel (1815-1882)36
, wurde von
dem damals knapp dreizehnjährigen Kruzianer Peter Schreier gesungen; Karl
Richter begleitete ihn an der Orgel.
Rund siebzehn Jahre später, im Jahr 1965, sorgte Karl Richter, inzwischen Pro-
fessor für Kirchenmusik und Orgelspiel in München und international tätiger
Dirigent, für das Debüt des dreißigjährigen Tenors Peter Schreier in Österreich,
indem er ihn für die Hohe Messe in h-moll von J. S. Bach nach Wien holte37
.
Eine intensive und langjährige Zusammenarbeit schloss sich an. Peter Schreier
war einer der wenigen in der DDR lebenden Künstler, denen es gestattet wurde,
noch nach der endgültigen Abriegelung der DDR 1961 durch den „Eisernen
Vorhang“ zu reisen. Auch der Bass-Bariton Theo Adam, Karl Richters Schul-
und Alterskamerad, gehörte zu ihnen. Zahlreiche Konzerte und Plattenaufnah-
men entstanden auf Einladung und unter der Stabführung Karl Richters mit die-
sen beiden Sängern. Vielleicht sollte Richters Engagement für das gemeinsame
Musizieren, selbst über „eiserne Grenzen“ hinweg, einmal besonders gewürdigt
werden.
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Kopie eines Briefes: Karl Richter an Domkantor Arthur Eger, 15.10.1948
Zwei lose Blätter in: Personalia, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.06-1671.92
Im Herbst 1947 (14.9.47-7.10.47) war der Dresdner Kreuzchor erstmals über
die Grenze der Sowjetischen Besatzungszone in den Westen gereist, die Tournee-
leitung hatte die Konzertdirektion Kempf in Frankfurt a. M. Im Jahr darauf,
1948, wurde wieder eine dreiwöchige Reise nach Süddeutschland geplant, die
am 6.10.1948 beginnen sollte. Karl Richter sollte an dieser Reise teilnehmen. In
ihrem Bericht schrieb E. H. Hofmann darüber:
„Mauersberger setzte Richter auf die Reiseliste, obwohl Dittrich [Anmerkung
der Verfasserin: Dr. Paul Dittrich war der damalige Verwaltungsleiter des Dresdner
Kreuzchors] ihn gestrichen hatte. ‚Ich kann bei der gegenwärtigen Situation im Chor
auf Richter nicht verzichten, er ist mir unentbehrlich’, erklärte Mauersberger.“38
Die Reise begann mit einem Konzert in Fulda, am 14.10.1948 sang der Chor im
Münster zu Ulm.Am 15.10.1948 starb Mauersbergers sehr geliebte Mutter, 87jäh-
rig, in Mauersberg im sächsischen Erzgebirge. Sofort stellte sich Karl Richter
für die Chorleitung zur Verfügung. Aber Mauersberger lehnte ab, blieb der Be-
erdigung seiner Mutter fern und führte die Reise selbst zu Ende. Erna Hed-
wig Hofmann erinnerte sich im Folgenden:
„Wie mir später Mitglieder des damaligen Männerchores erzählten, soll Karl
Richter geäußert haben, daß dieser Entschluß des Kantors für ihn niederschmetternd
gewesen sei und bei ihm einen schweren Vertrauensbruch bewirkt habe.“39
Das enge Verhältnis, das der Kreuzkantor zu seiner Mutter und zu seinem Hei-
matort Mauersberg hatte, war im Chor allgemein bekannt. Dennoch fuhr er nicht
zur Beisetzung nach Hause. Vermutlich erschien Mauersberger die Verantwor-
tung der Chorleitung für den 22jährigen Richter zu groß, die Reise für den Chor
und für sich selbst zu bedeutsam – Genaueres ist nicht bekannt. Richter setzte
die Reise nach diesem Vorkommnis mit fort.40
Nach der Rückkehr konzentrier-
te er sich auf den Abschluss seines Studiums in Leipzig.
Unbeachtet schien geblieben zu sein, dass Karl Richter an diesem 15. Oktober
seinen 22. Geburtstag hatte.Auch ein ehemaliger Kurzianer, der an dieser Reise
teilnahm, konnte sich im mündlichen Gespräch mit der Verfasserin nicht mehr
erinnern, dass damals Richters Geburtstag irgendwie Beachtung gefunden hät-
te. Von eben diesem 15. Oktober 1948 datiert der vorliegende Brief, den er an
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Arthur Eger schrieb; seit seiner Kindheit durfte er ihn „Onkel Arthur“ nennen.
In der fünften Zeile des Briefes fällt auf: Richter schrieb, dass die Tournee noch
bis zum 28. Januar andauere. Es könnte sich um einen Fehler handeln, denn die
Tournee, auf der er sich befand, dauerte einschließlich der Rückreise bis zum
28. Oktober. Oder hatte das Datum ‚28. Januar’ eine andere Bedeutung?
Inhaltlich ging es um die Gestaltung einer geplantenAbendmusik im Freiberger
Dom, an der Karl Richter wesentlich mitwirken sollte und zu der Karl Straube
eingeladen war. Weder seinen Geburtstag noch den Trauerfall Mauersbergers
erwähnte er. Möglich, dass er den Brief früh am Tage schrieb, noch bevor der
Todesfall bekannt wurde. Vielleicht bedeutete der Brief für ihn, unabhängig da-
von, zu welcher Tageszeit er ihn verfasste, eine persönliche Freude, die er sich
an seinem Geburtstag zuteil werden ließ.An einen vertrauten Menschen zu schrei-
ben, kann entlasten und eine innere Nähe zum Adressaten schaffen. Und Karl
Richter nahm inhaltlich das in den Blick, was ihm besonders am Herzen lag –
die Musik.
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Karl Richter am Cembalo
(Fotonegativ: Bacharchiv Leipzig)
Das Bild am Cembalo ist im Jahr 1949 im privaten Bereich entstanden
(Wohnzimmertüren, Wohnzimmertapeten, neben dem Cembalo ein Schreibtisch
mit Tintenfass); wo es aufgenommen wurde, ist nicht eindeutig klar. Es könnte in
Günther Ramins Wohnung sein, denn er besaß ein Cembalo privat. Im Bach-
archiv war das Foto bisher nicht bekannt, es existierte nur als Fotonegativ
(Kleinbildkamera). Es zeigt Richter wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte
1949; er ist sehr schlank, trägt einen umgearbeiteten Anzug und zur Schonung
der Ärmelkanten „Klavierspielerstulpen“.
Zu diesem Foto machte Dieter Ramin, der Sohn von Günther Ramin, Anfang
November 2013 folgende Anmerkungen:
...Das Cembalo stand bei uns auf der Diele an der Wand. Es hatte schwarze
Tasten und die Züge waren weiss. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das
Bild bei uns gemacht wurde. Allerdings stand es normalerweise nicht vor einer
Tür, obwohl die Intarsien der Tür dem Stile der Wohnung entsprachen. Das
Cembalo stand auf einem Pedal, das damals gratis geliefert wurde, aber das ist
ja nicht zu sehen...
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Karl Richter an der Sauer-Orgel in der Thomaskirche
Archiviert unter: Bacharchiv Leipzig, „Sammlung Heyde“,
Foto 969, A 8 und A 45 (beide nur als Foto-Negative vorhanden),
Herstellung der Scans und der Fotoabzüge mit Unterstützung des Bacharchivs Leipzig
Die Tätigkeit Karl Richters als Organist an der Thomaskirche in Leipzig dauerte
eineinhalb Jahre. In seiner Sitzung vom 3. Mai 1949 verhandelte der Kirchen-
vorstand der Thomas-Matthäi-Gemeinde unter Punkt 4. der Tagesordnung über
die künftige Anstellung Karl Richters als Organist – geplant zunächst für ein
Jahr.43
Er hatte das Amt vom 1. 7. 1949 bis zum 31.12.1950, also achtzehn
Monate, inne. In dieser kurzen Zeit hat er sich, bei Dienstantritt noch keine 23
Jahre alt, mit einem unglaublich reichen Repertoire an Orgelliteratur der Öffent-
lichkeit vorgestellt. In den wöchentlichen Motetten, jeweils freitags und sams-
tags in der Thomaskirche, brachte er von Mal zu Mal andere Werke zu Gehör,
darunter auch Stücke, die er später wohl selten gespielt hat, wie z. B. Präludium
und Fuge in e-moll von Nikolaus Bruhns (am 24.3.1950). Auf die Dienste in
den Motetten folgten allwöchentlich die sonntäglichen Gottesdienste mit ihrem
liturgischen Orgelspiel und die Ausgestaltung liturgischer Feiern im Rahmen
von kirchlichen Amtshandlungen.
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Neben dem Internationalen Bachfest 1950, das vielfältige Aufgaben für den
Thomasorganisten mit sich brachte, begleitete Karl Richter im Frühjahr 1950 den
Thomanerchor unter Günther Ramin auf eine Konzertreise in die Bundesrepublik
Deutschland und in die Schweiz und spielte im August 1950 für den Rundfunk,
dann schon alsBachpreisträger,inderThomaskirche Orgelwerke ein.44
Und selbst-
verständlich spielte er Continuo bei denAufführungen von Kantaten und Oratori-
en des Thomanerchores, sowohl an der Orgel als auch am Cembalo. Dazu kamen
eigene solistischeAuftritte, also Orgelkonzerte und Cembalokonzerte. Leider sind
nicht alle Programmzettel aus dieser reichen Schaffensperiode des jungen Karl
Richter erhalten; erst ab 1950 wurden im Bach-Archiv Leipzig die Dokumente
systematisch gesammelt. Dennoch zeugen die erhaltenen Programme von einem
ganz außergewöhnlichen Wirken, das sicher verbunden war mit ebenso außeror-
dentlichem Fleiß. Die Presse begann sich mit dem jungen Künstler zu beschäfti-
gen. Einige Kritiken sind erhalten und können hier vorgelegt werden.
Eine zusätzliche Aufgabe hatte der junge Organist Karl Richter als Lehrkraft im
Fach Orgel an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater Leipzig über-
nommen, welche er von Juli 1949 bis zum März 1951, also bis zum Ende des
Wintersemesters 1950/51 und bis kurz vor seinem Weggang aus Leipzig ausüb-
te.45
Zu seinen Schülern gehörten sein späterer Nachfolger im Amt des Thomas-
organisten Hannes Kästner und die damaligen Studierenden Gerhard Richter, Bri-
gitte Hannibal und Albrecht Haupt.
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Karl Richter im Jahr 1949
Foto: Aus dem Nachlass von Karl Richters Schwester Gabriele Sieg
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Deutsche Bach-Feier Leipzig 1950, Programmheft
Archiviert unter: Programmsammlung 1950, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-127ff, Fiche 103
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Zum Ende des Sommersemesters 1949 schloss Karl Richter sein Studium an der
Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Leipzig mit dem Staatsexamen
ab; die Prüfungen absolvierte er vom 1. bis zum 19. Juli 1949 in folgenden Fä-
chern: Liturgisches Orgelspiel (sehr gut),Virtuoses Orgelspiel (mitAuszeichnung),
Lehrprobe Methodik des Klavierspiels (gut), Klavierspiel (mit Auszeichnung),
Orchester- und Chordirigieren (gut) – als Gesamtprädikat erreichte er „sehr gut“.
Im Juli 1949 wurde Karl Richter Thomasorganist in Leipzig. Er hätte mit einiger
Wahrscheinlichkeit auch die Stelle an der Heilig-Geist-Kirche in Dresden bekom-
men können, lehnte aber ab, sich zu bewerben, da ihm das Organistenamt an St.
Thomas einen größerenWirkungskreis versprach.41
Am 27.April1950 starb 77jäh-
rig sein ehemaliger Lehrer Karl Straube, vormals selbst Thomasorganist und Tho-
maskantor. In der Trauermottete am 28. April 1950 spielte Karl Richter ihm zum
Gedenken in der Thomaskirche die Passacaglia von J. S. Bach.
Nur knapp ein Vierteljahr darauf fand in Leipzig vom 23. bis 31. Juli 1950 die
Deutsche Bach-Feier anlässlich des 200.Todestages J. S. Bachs statt. Karl Straube
hatte für die „Bach-Gedenkschrift 1950“ im Auftrag der Internationalen Bach-
Gesellschaft noch einen großenArtikel verfasst.42
Nun erlebte er das Bach-Fest
mit der Beisetzung der Gebeine Bachs in der Thomaskirche, sie waren vom
Johannis-Friedhof in Leipzig überführt worden, nicht mehr mit.
Für Karl Richter war das Bach-Fest 1950 sozusagen eine Feuerprobe. Er nahm
am Internationalen Bach-Wettbewerb
teil. Am 26. Juli 1950 wurden die Preis-
träger bekannt gegeben: Karl Richter
erhielt einen 1. Preis im Fach Orgel.
ImRahmenderBach-FeiertraterinLeip-
zig zehnmal hervor, sowohl als Cembalist
als auch als Organist. Am 24. Juli spielte
er das Cembalo in einem Kammerkon-
zert-Programm, am 26. Juli das Cemba-
lo in der Hohen Messe h-moll, am 27.
Juli das Cembalo in einem Kammerkon-
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zert und am 28. Juli trat er viermal auf: um 9 Uhr in einer Gedenkstunde am
Sarkophag Bachs spielte er den Orgelchoral „Vor deinen Thron tret ich hier-
mit“, der als letzte Komposition Bachs gilt, um 11 Uhr in der Nationalfeier
konzertierte er auf dem Cembalo in zwei Orchesterwerken, um 15 Uhr gab er
ein eigenes Orgelkonzert in der Thomaskirche und um 18.30 Uhr übernahm er
das Continuospiel am Cembalo in der Johannes-Passion. Am nächsten Tag,
dem 29. Juli, eröffnete er die Motette in der Thomaskirche zum Gedenken an
Karl Straube mit Präludium und Fuge in h-moll an der Orgel; am 30. Juli
spielte er im Festgottesdienst um 9 Uhr die Orgel, am gleichen Tag fand um
14.30 Uhr das Konzert der Bach-Preisträger statt.
Am 31. Juli fuhr er mit nach Rötha, der Herkunftsstätte der von ihm sehr ge-
schätzten Silbermannorgel. Sie wurde 1950 im Saal des alten Rathauses Leipzig
aufgestellt und konnte erst 1960 nach Rötha zurückkehren.
Bei näherer Beschäftigung mit dem Gesamtprogramm für die Bach-Feier 1950
begegnen dem Leser Namen von Musikern und Musikerinnen aus ganz Deutsch-
land und dem Ausland, die sich – so will es scheinen – noch einmal am histori-
schen Ort um Johann Sebastian Bach zum gemeinsamen Musizieren, Lernen
und Feiern eingefunden hatten. Mit einigen von ihnen, z. B. mit Diethard Hell-
mann, Joseph Keilberth und Gert Lutze blieb für Karl Richter auf viele Jahre
nach diesem Bachfest von 1950 die enge musikalische und menschliche Verbin-
dung bestehen. Er erlebte, wie einzelne von ihnen früher oder später den glei-
chen Weg gingen, den er 1951 nahm – weg aus der DDR. Andere Künstler, die
er teilweise gut kannte und schätzte wie Erhard und Rudolf Mauersberger, Gün-
ther Ramin, Ekkehard Tietze oder Amadeus Webersinke hatten pädagogische
oder kirchliche Aufgaben übernommen und fühlten sich verpflichtet, der musi-
kalischen Sache wegen zu bleiben. So ließ die Bach-Feier mit der Beisetzung
der Gebeine Johann Sebastian Bachs in der Thomaskirche bereits etwas von
einem noch anderen Abschied ahnen.
Auch den heutigen Leser lässt das Programm an manchen Stellen aufmerken
und nachdenken darüber, wie die Staatsträger der DDR die Hand auf die Künst-
lerinnen und Künstler zu legen begannen. „Kulturschaffende“ nannte der dama-
lige Staatspräsident der DDR sie im Vorwort des Programmheftes. Von der „ech-
ten Volksverbundenheit“ Bachs war die Rede – die Glaubensverbundenheit der
Musik Bachs blieb unerwähnt. So genannte „weltliche Musik“ Bachs wurde für
den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), einer der DDR-Staatsfüh-
rung zugeordneten Organisation, in zwei besonderen Konzerten, in „geschlos-
senen Veranstaltungen“, aufgeführt.
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Noch hielt Landesbischof Hugo Hahn, ein führender Kopf der Bekennenden
Kirche in Sachsen, am 28. Juli dieAnsprache am Bach-Sarkophag, noch konnte
sein Amtsbruder Landesbischof Hans Lilje aus Hannover am 30. Juli die Pre-
digt im Festgottesdienst in der Thomaskirche halten. Wie lange war diese Ge-
meinsamkeit noch möglich?
Am 30. Juli fand eine der beiden „geschlossenen Veranstaltungen“ für den FDGB
im Leipziger Opernhaus statt. Die Leitung des Konzertes „Von Johann Sebasti-
an Bach zur Gegenwart“ hatte Hans Sandig, langjähriger Leiter der musikali-
schen Vereinigungen des Mitteldeutschen Rundfunks. Er eröffnete das Konzert
mit der weltlichen Bachkantate BWV 212, auch als „Bauern-Kantate“ bezeich-
net. Für das Programm wurde die ebenfalls übliche Bezeichnung der Kantate
„Mer hahn en neue Oberkeet“ gewählt. Der Tenor dieser „geschlossenen Veran-
staltung“ war wohl nicht zu überhören.
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Das Ausscheiden als Thomasorganist
und der Neubeginn Karl Richters in München
Am 1. März 1951 wandte sich Staatsrat Dr. Meinzolt im Bayerischen Staatsmi-
nisterium für Unterricht und Kultus an den Präsidenten des Ev.-Luth. Landes-
kirchenamtes in Sachsen, Herrn Dr. Erich Kotte, und bat umAuskunft, da an der
Staatlichen Hochschule für Musik in München die Stelle eines Lehrers für Or-
gel und die Organistenstelle an einer evangelischen Kirche in München zu be-
setzen sei. Meinzolt schrieb:
„Er [gemeint ist Karl Richter] soll ein sehr tüchtiger Musiker sein, muss je-
doch aus ‚persönlichen Gründen’ aus dem Kirchendienst in Leipzig ausscheiden. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir baldgefälligst mitteilen würden, welche Bewandtnis
es mit diesen ‚persönlichen Gründen’ hat.“46
Was war dieser Anfrage vorausgegangen, wie kam sie zustande?
Der Kirchenvorstand der Thomas-Matthäi-Gemeinde Leipzig hatte am 19. De-
zember1950, also kurz vor Weihnachten, den Beschluss gefasst, Karl Richter
nicht länger als Thomas-Organisten zu beschäftigen. Eine Begründung für diese
Entscheidung wurde nicht aktenkundig gemacht und eine solche ist auch ge-
danklich heute, nach mehr als sechzig Jahren, kaum nachvollziehbar. Einen
dienstlichen oder fachlichen Grund gab es jedenfalls nicht. Im Protokoll des
Kirchenvorstandes heißt es:
4. „Die Probezeit des Organisten Karl Richter ist abgelaufen. Der Vorsitzende
berichtet, daß das Landeskirchenamt [Richter als ständigen Thomasorganisten]47
aus
persönlichen, nicht aus musikalisch-künstlerischen Gründen es ablehnt, Richter als stän-
digen Thomasorganisten zu bestätigen. Demzufolge scheidet Richter in beiderseitigem
Einvernehmen mit Ende des Jahres aus dem Dienst der Thomas-Matthäi-Gemeinde
aus. Mit der Vertretung wird bis auf weiteres Johannes Kästner beauftragt. Monatliche
Vergütung 300 DM. Im übrigen wird dem LKA die Erledigung der Organistenstelle
berichtet und dabei gebeten werden, von der Ausschreibung der Stelle abzusehen.“48
Von den damals amtierenden Geistlichen unterzeichnete neben Laien-Kirchen-
vorstehern Pfarrer Rüdiger Alberti dieses Protokoll.49
Karl Richter wird diese Entscheidung noch vor Weihnachten mitgeteilt worden
sein.Aus den erhaltenen Programmzetteln wissen wir, dass er bis zum Jahresen-
de in der Thomaskirche die Orgel gespielt hat, zuletzt in zwei Konzerten an den
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Abenden des 29. und 30. Dezember 1950 die sechs Sonaten für Orgel von J. S.
Bach.50
Auch am Silvestertag, der 1950 auf einen Sonntag fiel, hat er den Orgel-
dienst in der Thomaskirche versehen, er spielte Fantasie und Fuge g-moll von J.
S. Bach in der Silvester-Motette der Thomaner; das erhaltene Programm kann
vorgelegt werden.
Obwohl er in Leipzig noch Lehrverpflichtungen hatte, musste sich Karl Richter
nun nach einer geeigneten Stelle umsehen. Aber was war eine geeignete Stelle
für einen Internationalen Bachpreisträger, einen Mann, der von der Orgelbank
der Thomaskirche Leipzig kam, der ehemaligen Wirkungsstätte Johann Sebasti-
an Bachs und der damaligen Bachpflegestätte schlechthin? Er hat sehr viel spä-
ter, im Jahr 1979, in einem Interview mit der WELT-Journalistin Kläre Warn-
ecke auf diese Zeit zurück geblickt und gesagt:
„Ich habe damals, als ich in den Westen kam, in mehreren Städten Probe ge-
spielt. Auch in Freiburg. Aber da wurde ich nicht genommen, weil der Genzmer und
der Gustav Schreck der Meinung waren, dass ich kein Verhältnis zur zeitgenössischen
Musik hätte. Dann habe ich in München Probe gespielt. Und da hat mir der unlängst
verstorbene Robert Heger als Präsident der Hochschule geschrieben, das Ministerium
könne sich nicht entschließen, einen 24jährigen ins Lehrerkollegium aufzunehmen,
aber sie würden mir anbieten, die Vertretung als Orgellehrer zu übernehmen für ein
Semester - in der Zeit könnten sie sich dann um einen Besseren bemühen. Ich habe den
Vorschlag angenommen und natürlich gehofft, dass sie keinen Besseren finden. Ja, so
ist es gewesen.“51
So ist es gewesen: Nicht nur Dr. Meinzolt von Bayerischen Staatsministerium
fragte nach dem beeindruckenden Vorspiel Karl Richters in München52
beim
Sächsischen Landeskirchenamt in Dresden nach, was es denn mit den „persön-
lichen Gründen“ des jungen Organisten auf sich hätte. Auch andere, ähnliche
Anfragen an das Landeskirchenamt in Dresden liegen vor. So wandte sich das
Ev.-Luth. Landeskirchenamt Hannover am 2. Juni 1951 an das Landeskirchen-
amt in Dresden mit den Worten:
„Wie wir erfahren haben, ist Richter die Anstellungsfähigkeit im dortigen Be-
reich [gemeint ist Leipzig] entzogen.
Wir bitten um vertrauliche Mitteilung, welche Umstände hierzu Veranlassung gegeben
haben…“53
Alle Anfragenden erhielten die Antwort, mit welcher der sächsische Landesbi-
schof Hugo Hahn bereits dieAnfrage des Hauptabteilungsleiters Grünbaum der
„Hauptabteilung Verbindung zu den Kirchen“, anhängig beim Stellvertretenden
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Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, vom 15.1.1951 an den Präsiden-
ten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsen beschieden hatte. Offenbar war
man bei der Regierungsstelle in Berlin auf die Situation in Leipzig aufmerksam
gemacht worden. Allerdings war Richters Ausscheiden aus dem Organistenamt
zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen. Die Antwort Bischof Hugo Hahns wur-
de im Landeskirchenamt mehrfach benutzt und weiteren Anfragenden, meist
mit einem kurzem persönlichenAnschreiben, zugesandt. In ihrer ersten Fassung
vom 2. Februar 1951, unterschrieben von Hugo Hahn, lautete sie:
„…Herr Präsident Kotte hat mir Ihr Schreiben vom 15. Januar 1951 überge-
ben, da die Angelegenheit unseres Organisten Karl Richter eine seelsorgerliche ist und
ich bisher von unserer Kirchenleitung allein, und zwar mehrfach, mit ihm persönlich
gesprochen habe. Der seelsorgerliche Charakter unserer Gespräche bedingt es, dass ich
Ihnen darüber keine näheren Auskünfte geben kann. Nur soviel kann ich ausdrücklich
aufgrund des in dieser Sache gefassten Beschlusses des Kirchenvorstandes der Thomas-
kirche mitteilen: Das Ausscheiden unseres Herrn Richter ist nicht aus musikalisch-
künstlerischen, sondern aus persönlichen Gründen erfolgt.
Es geschah nach Ablauf seiner Probezeit, und zwar in beiderseitigem Einvernehmen
zwischen dem Kirchenvorstand und Herrn Richter.“54
Das Schreiben schließt mit einem Hinweis, man möge sich, um Näheres zu
erfahren, an Herrn Richter selbst wenden.
In keinem der erhaltenen Protokolle des Kirchenvorstandes der Thomas-Matthäi-
Gemeinde Leipzig finden sich Hinweise auf Aussprachen mit Karl Richter, die
auf ein „beiderseitiges Einvernehmen“ seinesAusscheidens aus demAmt schlie-
ßen lassen. Sollten Gespräche stattgefunden haben, wurde darüber nichts doku-
mentiert, bzw. die Dokumente sind heute nicht mehr auffindbar.
Dass der Landesbischof sich selbst einer solchen Angelegenheit annahm, ist
zumindest bemerkenswert. Bischof Hugo Hahn55
kannte die Leipziger Verhält-
nisse aus seiner Zeit als Pfarrer an der Thomaskirche.Auch kannte er Karl Rich-
ter vom Bachfest in Leipzig her; bei der Beisetzung der Bachgebeine in der
Thomaskirche hatten sie liturgisch zusammengewirkt. Der Bischof wollte ver-
mutlich Karl Richter als Thomasorganisten nicht verlieren; dafür sprechen sei-
ne persönlichen Bemühungen wie das Führen mehrerer seelsorgerlicher Gesprä-
che mit ihm. Auch die Bezeichnungen Richters in seiner Antwort als „unseres
Organisten“ und „unseres Herrn Richter“ lassen ahnen, dass er entweder eine
Nähe zu Richter ausdrücken wollte oder den Empfängern bedeuten lies: das ist
allein unsere (kirchliche) Angelegenheit. Für die eigentliche Anstellung des
Thomasorganisten waren die Kirchgemeinde und der Kirchenvorstand selbst
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zuständig. Immerhin wirkt es bis heute irritierend, dass der Kirchenvorstand der
Thomas-Matthäi-Gemeinde im Beschluss vom 19.12.1950 sich darauf berief,
das Landeskirchenamt (LKA) habe der ständigen Anstellung nicht zugestimmt.
Und ebenfalls irritierend wirkt es, zumindest aus heutiger Sicht, dass Bischof
Hahn einem Vertreter der staatlichen Macht in der DDR, eben jenem Hauptab-
teilungsleiter Grünbaum, den Hinweis gab, man möge sich, um Näheres zu er-
fahren, an Richter selbst wenden. Die Widersprüche lassen sich nicht mehr auf-
klären. Aber sie zeigen an, wie kompliziert die Dinge lagen.
In Leipzig formierte sich Widerstand gegen das Ausscheiden Richters aus dem
Organistenamt, der allerdings angesichts des in der Weihnachtszeit überraschend
bekannt werdenden Beschlusses zu spät kam. So wandte sich am 19.2.1951 der
Inhaber der Konzertdirektion Jost an das Landeskirchenamt:
„…Ich schreibe diese Zeilen von mir aus, ohne jede Beeinflussung von anderer
Seite. Herr Richter ist eines der größten Talente, die ich seit meiner 55jährigen
Konzerttätigkeit kennen gelernt habe, und bedaure unendlich, dass dieser gro-
ße, bescheidene Künstler und Mensch als Orgelspieler und Cembalist von der
Kirche entlassen worden ist…Ich und viele tausend andere Menschen bedau-
ern den Schritt ungemein…“56
Auch Herr Jost erhielt am 22. 2. 1951 eine Antwort, gez. D. Hahn, mit dem
gleichen Wortlaut wie Herr Grünbaum von der Hauptabteilung „Verbindung zu
den Kirchen“.
Zahlreiche Studenten in Leipzig, teilweise eifrige Kirchenbesucher und Hörer
in Karl Richters Konzerten, teilweise direkt seine Schüler in der Hochschule,
formierten sich von sich aus zu einer Gegenaktion. Am 28. März 1951, 10.30
Uhr, sprach der Student Christoph Rau in Begleitung eines Kommilitonen im
Landeskirchenamt vor. Auch darüber gibt es im Landeskirchenarchiv eine Ak-
tennotiz. Christoph Rau, heute Theologe und Pfarrer der Christengemeinschaft
in Braunschweig, erinnerte sich in einem Brief an d. Verf. vom 7.11.2012 an
seinen damaligen Besuch im Landeskirchenamt in Dresden:
„…Als sich herausstellte, dass der Leipziger Superintendent an KRs Suspen-
dierung festhielt, beschlossen wir, eine Delegation an das Landeskirchenamt zu sen-
den. Da ich in Dresden zuhause war, bot es sich an, dass ich der Delegation angehören
würde. Auch der von der Idee beseelte A. Haupt (später Kantor und Organist in Ulm)
wollte sich für KR einzusetzen (sic!)…Wir beiden fuhren also nach D., das
Landeskirchenamt befand sich damals infolge des Totalschadens in der Münchener
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Straße. Dass unser Anliegen keine günstige Aufnahme fand, wissen Sie bereits. Der
zuständige Oberkirchenrat Noth (später Landesbischof von Sachsen) beschied uns klipp
und klar, die Angelegenheit sei ausgiebig besprochen und der Beschluss der Kirchen-
leitung stehe unumstößlich fest. Darauf kehrten wir zurück, in der festen Absicht, nun
einen anderen Weg zu wählen…“57
Dieser andere Weg bestand darin, dass die Studenten nach der Motette in der
Thomaskirche Unterschriftenlisten für eine Petition an die Kirchenleitung an
denAusgängen auslegen wollten. Dieses Unternehmen scheiterte. Christoph Rau
erinnerte sich:
„…durch irgendjemand uns bis heute unbekannt Gebliebenen erhielt der Superinten-
dent Wind von unserem Vorhaben…Als ich KR einige Tage danach auf seine Frage hin
von unserem Plan erzählte, schmunzelte er, erklärte aber, auch seinerseits stehe fest,
dass er fortgehen wolle…“
Karl Richters eigene Entscheidung war zu jenem Zeitpunkt, also Ende März/
Anfang April 1951, bereits gefällt. Zum Grund für das Ausscheiden aus dem
Organistenamt an der Thomaskirche äußerte sich der Zeitzeuge Christoph Rau:
„Uns war bekannt, dass KR wegen eines illegalen Verhältnisses zu einem Mäd-
chen suspendiert worden sei. Ein anderer Grund dürfte nicht vorgelegen haben, jeden-
falls ist mir kein anderer bekannt geworden. Wir hielten diese Begründung für über-
holt, schon darum mussten wir gegen eine so konventionelle Entscheidung angehen,
das stand außer allem Zweifel.“58
Ein weiterer noch lebender Zeitzeuge bestätigte gegenüber d. Verf. mündlich,
dass eben dieser Grund, ein freundschaftliches Verhältnis des 23jährigen Rich-
ter zu einem etwa gleichaltrigen Mädchen den Ärger des kirchlichen Oberhaup-
tes in Leipzig erregt hätte, wobei schon einige Zeit vor der Entlassung Richters
dieses Freundschaftsverhältnis in der Lösung gewesen sei. Ein dienstlicher oder
künstlerischer Grund sei ganz und gar auszuschließen.
Bischof Hugo Hahn dachte wohl längere Zeit an dieses Ausscheiden Richters
und die Entscheidung der kirchlichen Behörden zurück. So hat er Ende 1951
wohl Günther Ramin, den Thomaskantor, umAuskunft über Karl Richter gebe-
ten. ImArchiv der Thomaskirch-Gemeinde Leipzig ist ein Brief Günther Ramins
vom 20.11.1951 an Landesbischof Hugo Hahn erhalten, indem es u. a. heißt:
„…Was Karl Richter anbelangt, so hat er augenblicklich für ein Probejahr
eine Anstellung in München an der Markuskirche und der dortigen Hochschule erhal-
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ten. Näheres weiß ich Ihnen nicht darüber zu sagen…“ 59
Günther Ramin war es auch, der sichAnfang 1951, noch vor dem Vorspiel Rich-
ters in München, gegenüber dem damaligen Stadtdekan, Dr. Theodor Heckel,
fürsprechend über Karl Richter geäußert hatte.60
Dennoch: Karl Richter konnte
sich nicht sicher sein, dass er die Organistenstelle in St. Markus, die der nach
Detmold berufene Michael Schneider inne gehabt hatte, bekommen würde. Er
bewarb sich auch nach dem Vorspiel weiter, die o. g.Anfrage des Landeskirchen-
amtes Hannover an das Landeskirchenamt in Dresden noch im Juni 1951 zeigt
das beispielhaft.Auch sein jugendliches Alter wurde als ein gewisses Hindernis
für eine Anstellung angesehen. Schließlich fiel die Entscheidung und Richter
konnte am 1. Oktober 1951 sein neues Organistenamt, verbunden mit der Lehr-
tätigkeit in der Staatlichen Hochschule für Musik in München, an der Markus-
kirche in München antreten.
Vielleicht hatte die Treue, mit der er an diesem Amt bist zu seinem Tod 1981
festhielt, auch etwas mit der damaligen Situation zu tun? In München an der
Markuskirche hatte er einen neuen selbständigenAusgangspunkt für sein weite-
res Wirken gefunden. Karl Richter brachte nach München viel mit: sein großes
Repertoire, seinen Fleiß, seine ungeheure Musikalität und seinenArbeitswillen,
seine Liebe zur Musik, seine tiefen musikalischen Kenntnisse besonders der
Werke J. S. Bachs, seine Verwurzelung im evangelischen Glauben, verbunden
mit einer ökumenischen Offenheit – und eine menschliche Hypothek. Was ihm
in Leipzig geschehen war, hatte für Folgen gesorgt.Auch das war einAusgangs-
punkt seines weiteren Wirkens.
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Konzert des Dresdner Kreuzchors am 24.9.1953
in der Markuskirche, München
Archiviert unter: Programmsammlung 1953, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-72f, Fiche 111
(Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Im April 1951 verließ Karl Richter Leipzig und wandte sich zunächst nach Zü-
rich. Für manche, die sich mit ihm verbunden fühlten, wird es eine schmerzliche
Trennung gewesen sein. Es ruhten Hoffnungen auf ihm. Rudolf Mauersberger
sah in ihm, er hat es wiederholt geäußert, einen möglichen Nachfolger für das
Amt des Kreuzkantors.61
Familienangehörige und Bekannte wie Domkantor
Arthur Eger, die ihn viele Jahre begleitet hatten, werden ihn vermisst haben.
Lehrer wie Günther Ramin, Kollegen wie Amadeus Webersinke62
und erste ei-
gene Orgelschüler wie Hannes Kästner63
blieben in Leipzig zurück.
Als er sich um das Organistenamt in St. Markus in München bewarb, war er
trotz seiner Jugend, er war 24 Jahre alt, musikalisch gesehen kein „unbeschrie-
benes Blatt“. Er war Internationaler Bach-Preisträger und Gewinner des Orgel-
preises „Concours International D’ Exécution Musicale Genf“, außerdem war er
bis zum 31.12.1950 Thomasorganist gewesen. Nun machte er eine Zeit der be-
ruflichen Neuorientierung und des Suchens durch. In München ging es um die
Stelle, die Michael Schneider innehatte, welcher einem Ruf an die Musikakade-
mie Detmold folgen wollte.Auch Michael Schneider war von 1930-1932 Straube-
Schüler gewesen. Es gab bereits ausgewiesene Bewerber für dieses Kantoren-
amt, das mit einer Lehrtätigkeit für evangelische Kirchenmusik und Orgelspiel
an der Münchner Musikakademie verbunden war. Im Oktober, noch vor seinem
25. Geburtstag, wurde Karl Richter berufen und er begann sofort zu arbeiten.
Knapp zwei Jahre darauf, im September 1953, gab es ein Wiedersehen mit Ru-
dolf Mauersberger und dem Dresdner Kreuzchor. Der Kreuzchor reiste durch
Süddeutschland mit einem umfangreichen Chorprogramm, welches hier vorge-
legt werden kann. An drei Stellen des Programms war auch Orgelmusik vorge-
sehen. Der Organist kam in der Regel aus der jeweiligen gastgebenden Kirche –
in der Münchener Markuskirche war es Karl Richter. Dessen Orgelspiel kündig-
te Rudolf Mauersberger den Kruzianern mit der Aufforderung an, diesmal gut
zuzuhören:
„Da spielt einer, der war einmal Kruzianer und heißt Karl Richter. Nur so, wie
ich euch jetzt kenne, wird das keiner von euch je schaffen.“64
136
Auch die mitgereiste E. H. Hofmann erinnerte sich an Richters Orgelspiel:
„Als spätere Mitreisende einer Kreuzchor-Tournee, deren Plan auch ein Kon-
zert in der Münchner Markuskirche enthielt, erlebte ich nach Jahren Karli in seinem
bundesdeutschen Wirkungsbereich. Ich war überwältigt von seinem Orgelspiel, seiner
beseelten, glutvollen Interpretation, welche dieArchitektur des kompositorischen Auf-
baus minutiös nachzeichnete.“65
Kreuzkantor Rudolf Mauersberger hat mit eigener Hand auf dem Programm
vermerkt: 24.9.53 – München, Markuskirche [25./26. Rundfunk –
Grammophon=Ges.] Ob die Rundfunkaufnahmen an den beiden auf das Kon-
zert folgenden Tagen ebenfalls in der Markuskirche stattfanden und ob Karl
Richter auch während dieser Rundfunkaufnahmen Orgelmusik beisteuerte, ist
bisher nicht bekannt. Im Herbst des Jahres 1954 gastierte der Kreuzchor erneut
in München, diesmal in der Lukaskirche. Karl Richter wirkte in diesem Konzert
nicht an der Orgel mit.66
Dass es dennoch zu einer persönlichen Begegnung mit
Rudolf Mauersberger kam, kann vermutet werden.
137
138
139
140
141
Kopie eines Briefes von Karl Richter an Herbert Kunath,
datiert mit 7.3.1979
Archiviert unter: Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden,
Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.06-1671.92
(zwei lose Blätter)
Sehr viele Kreuzschüler bewahren auch nach dem Ende ihrer Schulzeit ein Ge-
fühl der Verbundenheit miteinander, oft lebenslang.
Es ist bekannt, dass Karl Richter in seinen Münchener Jahren mit ehemaligen
Kruzianern regelmäßig auf künstlerischem Gebiet zusammenarbeitete, heraus-
ragend war sicher die Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Schulkamera-
den, dem Bass-Bariton TheoAdam und mit dem um eine „Chorgeneration“ jün-
geren Tenor Peter Schreier. Letzteren lernte er allerdings erst nach dem 2. Welt-
krieg beim Kreuzchor kennen; damals studierte er bereits in Leipzig.Außerhalb
des künstlerischen Zusammenwirkens unterlagen Kontakte zwischen West und
Ost den Bedingungen, die der „Eiserne Vorhang“ geschaffen hatte.
Eine menschliche Verbundenheit, die aus der Schulzeit stammte, blieb zwischen
Karl Richter und Herbert Kunath bestehen. Die politische Grenze konnte ihre
Freundschaft nicht unterbinden. Herbert Kunath stammte aus Pirna, war drei
Jahre älter als Richter (Jahrgang 1923) und trat 1933 in den Kreuzchor ein. Ab
1969 lehrte er auf einer Professur für Bauingenieurwesen an der Technischen
Universität Dresden.67
Im Jahr 1977 ereilte ihn aufgrund einer schweren
Bandscheibenerkrankung eine Querschnittslähmung, die ihn in den Rollstuhl
zwang. Er starb 1989, 66jährig, in Dresden.
Herbert Kunath hat sich nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden aus seiner
Professur verstärkt mit musikhistorischen Fragestellungen beschäftigt, die so-
wohl die Geschichte des Dresdner Kreuzchors als auch die Erforschung der
Dresdner Orgeln und deren Organisten betrafen.68
In seinen letzten von Krank-
heit geprägten Lebensjahren, pflegte er die Kontakte zu ehemaligen Kruzianern
besonders intensiv. Aus den 1970er Jahren datieren einige erhaltene Briefe von
ihm an Richter und einige Briefe Richters an Kunath.69
Ein solcher Briefgruß
Richters an Kunath ist auch das hier vorgestellte Dokument. In einem anderen
dieser Briefe wird ein weiter zurückliegendes (zufälliges?) Treffen in Finnland
angesprochen, ohne genauere Angaben.70
Alle Briefe Richters sind, obwohl in
herzlichen Worten geschrieben, kurz gehalten. Es ging ihm wohl darum, dem
142
Freund, so nennt Richter seinen Briefpartner Kunath, Zeichen seiner Verbun-
denheit und gute Wünsche über den „Eisernen Vorhang“ hinweg zu senden.
Selbst in die orthopädische Fachklinik des damaligen Bezirkes Dresden, nach
Hohwald (bei Sebnitz) schrieb er ihm einmal aus Zürich/ Erlenbach, seinem
Wohnort in der Schweiz, herzliche Genesungswünsche. Richter selbst hatte in
jenen Jahren mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen; seine großen
Schriftzüge könnten mit seinem Augenleiden zusammenhängen.
Als Herbert Kunath vom Tode Karl Richters am 15.2.1981 erfuhr, war er sehr
betroffen. Karl Richter hatte ihm in seinem Brief vom 7.3.1979 von den Auf-
nahmen an der Silbermannorgel in Freiberg im September 1978 geschrieben
und einen (ver-)tröstenden Satz auf ein Wiedersehen angefügt. Kunath hatte
diese Aufnahme, die kurzzeitig auch in der DDR als ETERNA-Schallplatte er-
hältlich war, inzwischen gehört und über sein Hörerlebnis dem Freund brieflich
berichtet.Auch danach erhielt er mindestens noch einmal einen Gruß von Rich-
ter. Zu einem Wiedersehen kam es nicht mehr. Herbert Kunath konnte nur noch
dafür sorgen, dass Karl Richter in die „Ecce-Feier“ für die verstorbenen Kreuz-
schüler des Jahres 1981 eingeschlossen wurde.
Es ist fester Brauch, dass diese Ecce-Feier, eine geistliche Gedenkstunde, in
jedem Jahr einmal im Anschluss an die letzte Kreuzchorvesper des Kirchenjah-
res, also in zeitlicher Nähe zum Ewigkeitssonntag (Totensonntag/ Christ-Kö-
nig-Sonntag), für die im vergangenen Kirchenjahr verstobenen Kreuzschüler
stattfindet. Herbert Kunath korrespondierte in dieser Sache auch mit Karl Rich-
ters Schwester Gabriele Sieg, die in Freiberg/ Sa. wohnte und die es übernahm,
die engere Familie Richters über die bevorstehende Feier zu informieren.71
Am 14.11.1981 fand das Ecce-Gedenken für Karl Richter in der Heinrich-Schütz-
Kapelle der Kreuzkirche statt. Der Lebenslauf einschließlich eines kurzen Ab-
risses seiner ausgedehnten Wirksamkeit wurde vorgetragen. Dann erklang „Ecce
quomodo moritur iustus“ von Jacobus Gallus (1550-1591)72
, gesungen von den
lebenden Kruzianern für die verstorbenen Kruzianer.
Das wiedervereinigte Deutschland erlebte Herbert Kunath nicht mehr; im No-
vember 1989 wurde seiner in der Ecce-Feier der Kruzianer gedacht.
143
144
Quellennachweise
DieAnmerkungen wurden in ausführlicher Form ausgeführt. Sie enthalten die genauen
bibliografischen Angaben aller verwendeten Quellen. Nochmals gesondert genannt
werden hier die benutzten Archivquellen:
Archivquellen:
Fotosammlung Chorproben, Knabenchor, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner
Kreuzchor, 20.7 F 168 (Scan und Speicherung auf CD durch Fotolabor des Stadtar-
chivs Dresden)
Fotosammlung Chorproben, Probe mit Präfekt, Stadtarchiv Dresden,Außenstelle Dresd-
ner Kreuzchor, 20.7 F 168 (als Scan bezeichnet mit F 168a und Speicherung auf CD
durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden)
Programmsammlung 1939, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 71, Nr.25f (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Programmsammlung 1942, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 80, Nr. 57 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 80, Nr. 18 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 80, Nr. 27 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 80, Nr. 39 (Rückvergrößerung durch Stadtarchivs Dresden)
Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 81, Nr. 54 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
Fotokopie eines Programmzettels vom 24. Juni 1943, Loseblatt-Einlage in:
Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden,Außenstelle Dresdner Kreuzchor, Sg. 20.06,
Nr. 1671.92
Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 81, Nr. 54 (Rückvergrößerung durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden)
Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor,
20.4 Fiche 95, Nr. 38 (maschinenschriftlicher Programmentwurf) und Nr. 39, 40 (ge-
drucktes Programm-Deckblatt und Vortrags-Folge; Rückvergrößerungen durch Stadt-
archiv Dresden)
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Preview: Karl Richter in Muenchen - Zeitdokumente 1926 -1950 Kindheit und Jugend (Volume 7)

  • 2. 2
  • 3. 3 Karl Richter 1926 - 1981 Zeitdokumente Band 7 1926-1950 Herausgegeben von Johannes Martin und Cornelia Klink
  • 4. 4 Vorwort Als Karl Richter kurz vor seinem 25. Geburtstag im Oktober 1951 das Organistenamt an der Markuskirche antrat und gleichzeitig die Verpflichtun- gen eines Lehrers für Orgelspiel an der Staatlichen Hochschule für Musik in München übernahm, hatte er nach Monaten der Neuorientierung einen Aus- gangspunkt für seine spätere internationale Karriere gefunden. Was er in kur- zer Zeit zunächst in München, dann weit über die Stadtgrenzen hinaus, schließ- lich über Erdteile hinweg musikalisch schuf und bewirkte, erstaunte und er- griff viele Zeitgenossen. Wie war es möglich, dass die geistigen, musikali- schen und menschlichen Fähigkeiten für dieses besondere Wirken bei einem jungen Musiker bereits in einem solch hohen Maße vorhanden waren? Wo kam dieser mitreißend wirkende junge Organist, Cembalist und Dirigent Karl Richter her? Nach seinem Werdegang befragt, hat Karl Richter selbst immer wieder an sei- ne Herkunft aus einem sächsischen evangelisch-lutherischen Superintendenten- haus erinnert, an seine Verbundenheit mit den Orgeln Gottfried Silbermanns und dessen Orgelbauschule, an seine Schülerzeit im Dresdner Kreuzchor un- ter Rudolf Mauersberger und an seine Studien in Leipzig bei seinen Meistern Karl Straube und Günther Ramin. Als er 1949, sofort nach Abschluss eines Studiums, Thomasorganist in Leipzig wurde, ruhten Hoffnungen auf ihm. Seine beiden wichtigsten Lehrer, Straube und Ramin, waren selbst Thomasorganisten gewesen, bevor sie nacheinander Thomaskantoren wurden. Diesen Weg auf den Kantorenstuhl der Thomaskirche konnte Karl Richter nicht gehen, ob- wohl er ihm 1956 angeboten wurde. Der „Eiserne Vorhang“ lag zwischen ihm und Leipzig. Er wurde nicht der Thomaskantor in der Nachfolge J. S. Bachs in Leipzig, wie es seine verehrten Lehrer gewesen waren, sein „Thomaskantorat“ galt gleichsam der Welt und hatte einen Angelpunkt in der Markuskirche von München. Für diesen besonderen Weg war er vorbereitet. Neben Dokumenten, die im privaten Karl-Richter-Archiv von Johannes Mar- tin bereits vorhanden waren, basiert der vorliegende Band vornehmlich auf neu aufgefundenen Quellen. Es war nicht immer einfach, den Spuren zu fol- gen und die noch vorhandenen Quellen in den Archiven zu sichten. Einiges galt als zunächst nicht auffindbar – und fand sich dann doch, anderes war leichter zugänglich. Die Beharrlichkeit des Suchens hat sich gelohnt, denn Karl Richter als eine sehr früh reifende Künstlerpersönlichkeit gewann wäh- rend derArbeit immer deutlicher an Gestalt. Die Entwicklung des jungen Künst-
  • 5. 5 lers stand bei der Recherche stets im Vordergrund und war doch nicht zu tren- nen von Einflüssen, die aus der jeweiligen zeitgeschichtlichen Situation und aus Richters Umgang mit verschiedenen Persönlichkeiten herrührten. Einige Dokumente zu Begebenheiten aus der Kindheit und Jugendzeit, zu frühen Er- schütterungen und frühen Erfolgen, lassen etwas von den immer deutlicher hervortretenden Kräften der erwachsenen Persönlichkeit Karl Richters ahnen. Zu den schon vorhandenen umfangreichen Publikationen über Karl Richter versteht sich diese Dokumentation als Ergänzung. In den Anmerkungen zum Text wird deshalb an mehreren Stellen auf die schon erschienenen Arbeiten hingewiesen. Den in den benutzten Archiven wirkendenArchivarinnen undArchivaren wird herzlich für Ihre Unterstützung gedankt. Einige Zeitzeugen konnten Erinne- rungen beitragen; besonderer Dank gebührt hier Herrn Pfarrer Christoph Rau, Braunschweig.
  • 6. 153 Inhalt Vorwort .................................................................................................. Karl Richters Elternhaus ........................................................................ Karl Richter als Kruzianer ...................................................................... Karl Richters erster solistischer Auftritt ................................................. Karl Richter als Konfirmand .................................................................. Vesper zum 2. Advent 1942 .................................................................... Karl Richter als Chorpräfekt in der Weihnachtszeit ............................... Christmette der Alumnen am Christtag-Morgen 1942 ........................... Vesper am 6. März 1943 ......................................................................... Konzert des Kreuzchors am 27. März 1943 ........................................... Ostermette am 25. April 1943 ................................................................ Musikalische Abendfeier im Dom zu Freiberg am 24. Juni 1943 .......... Kirchenkonzert am 27. Juni 1943 in Bischofswerda .............................. Bach-Tage 1948 in Leipzig ..................................................................... Kreuzchorvesper am 2. Juli 1948 ........................................................... Ein Brief Karl Richters ........................................................................... Karl Richter am Cembalo 1949 .............................................................. Karl Richter an der Sauer-Orgel in der Thomaskirche 1949 .................. Motetten in der Thomaskirche 1949 ...................................................... Motetten in der Thomaskirche 1950 ...................................................... Deutsche Bach-Feier Leipzig 1950 ........................................................ Motetten in der Thomaskirche ............................................................... Weihnachts-Oratorium 1950 im Gewandhaus Leipzig .......................... Letztes Orgelkonzert Karl Richters in der Thomaskirche ...................... Ausscheiden Karl Richters als Thomasorganist ..................................... Cembalokonzert am 12. Februar 1951 ................................................... Konzert des Dresdner Kreuzchors 1953 in München ............................ Ein Brief Karl Richters 1979 an Herbert Kunath ................................... Quellennachweise ................................................................................... Karl Richter in Buch und Film ............................................................... 4 6 10 12 16 18 21 24 28 31 34 37 40 43 49 53 55 56 58 64 78 114 121 125 127 133 135 141 144 152
  • 7. 6 Karl Richter wurde am 15. Oktober 1926 in Plauen im Vogtland in einen Ge- schwisterkreis von drei Schwestern hineingeboren. Später sollte ihm noch eine jüngere Schwester folgen. SeinVater, Dr. Johannes Christian Richter (1876-1935), war 2. Pfarrer an der St. Johannis-Kirche in Plauen. Er stammte aus Freiberg, wo der Großvater, Karl Julius Richter, Superintendent gewesen war. Die Mut- ter, Klara Hedwig Richter (1893-1944), geborene Facilides, stammte aus Plau- en. Ihr Vater war Arzt. Karl Richters Elternhaus Karl Richters Geburtshaus, Schloßbergstraße 1a in Plauen im Vogtland, aufgenommen am 28.2.2013
  • 8. 7 Am 29.11.1926, zum 1. Advent und Beginn des neuen Kirchenjahres, wurde Karl Felix Johannes Richter zu Hause im Familienkreis getauft. Es ist in der Johannis-Gemeinde Plauen nicht üblich, den Taufspruch im Taufbuch einzutra- gen. So kann er hier nicht genannt werden. Der vollständige Eintrag im Taufbuch lautet im Jahrgang 1926 unter der Nr. 319: Tag, Stunde, Ort der Geburt: 15. Oktob. nachm. ¾ 8 h Schlossberg 10a Tauftag: 29. November im Hause Taufnamen der Kinder: Karl Felix Johannes 4. Kind 1. Sohn Großvater Karl Julius Richter geb. 1842 in Neusalza gest. 1890 in Freiberg Die Eltern Dr. Johannes Christian und Klara Hedwig Richter
  • 9. 8 Name, Stand, Konfession und Wohnort des Vaters: Richter Christian Johannes Pfarrer zu St. Johannis ev.-luth. getraut 22. Aug. 1921 in Plauen St. Joh. Name, Konfession und Geburtsort der Mutter: Klara Hedwig geb. Facilides aus Plauen ev.-luth. Name, Stand Konfession und Aufenthalt der Paten: Marg. Schreck, Rechtsanw.-Ehefrau, Roßwein Charlotte Schreyer, Kaufm.-Ehefrau, hier Christiane Goldberg, Assessor-Ehefrau, hier Paul Neckner, Landger.-Direktor, Bautzen Erich Voigt, Pfarrer, Leipzig-Reudnitz Dr. Wilh. Kell, Reg.-Medizinalrat, Untergöltz. Ellermann [der Geistliche, Anm. d. Verf.] Als Karl Richter zwei Jahre alt war, wurde der Vater an die St. Marienkirche in Marienberg im Erzgebirge als Superintendent berufen. Damit verließ die Fami- lie das Vogtland, die Heimat der Mutter, und zog ins Erzgebirge um. Ein Superintendentenhaushalt mit fünf Kindern in der kleinen, aber belebten ehemaligen Silberbergbau-Stadt Marienberg, im westlichen Teil des „frommen Erzgebirges“, war ohne Zweifel ein lebhaftes und offenes Haus.Auf dem erhöh- ten Platz der Stadt lag die sehenswerte spätgotische Pfarrkirche. Ganz aus der Nähe, aus Mauersberg, stammte Kreuzkantor Rudolf Mauersberger (1889-1971), der ab 1930 in Dresden amtierte. Mauersberg gehörte zur Ephorie von Johannes Richter. Wahrscheinlich kannten er und der Kreuzkantor sich persönlich. Der sechsjährige Karl Richter inmit- ten seiner Schwestern
  • 10. 9 Sieben Jahre wuchs Karl Richter in Marienberg auf, dann, nach der ersten schwe- ren Erschütterung der Familie infolge des frühen Todes von Johannes Richter am 3. Advent 1935, zog die Mutter mit den Kindern nach Freiberg, ebenfalls eine erzgebirgische Bergbaustadt mit ihrer bekannten Bergakademie, der Orgelbautradition Gottfried Silbermanns, dem Dom mit den eindrucksvollen Schnitzereien:Auf dem spätromanischen Lettner des Domes steht eine Triumph- kreuzgruppe aus dem frühen 13. Jahrhundert, an den Säulen im Kirchenschiff die Figuren der klugen und törichten Jungfrauen und Christus als Bräutigam, darstellend das Gleichnis aus Matth. 25, 1-13. Karl Richter erzählte später selbst über diese ersten Jahre: „In Plauen im Vogtland bin ich geboren…in einem Pfarrhaus wurde sehr viel Musik gemacht; ich hab auch viel’ Geschwister, es wurde viel gesungen, die Verbin- dung mit der Kirche, Orgel und Kirchenchor hat mich frühzeitig zum Singen und zur Musik überhaupt gebracht. Ich habe über Freiberg im Erzgebirge meinen Weg ge- macht als Kind und habe dort das große Erlebnis der berühmten und schönsten exi- stierenden Silbermannorgel gehabt, bis ich den Kreuzchor kam und dort als Kind ge- sungen habe…“1 Eine weitere schwere Erschütterung der Familie ereignete sich mit dem frühen Tod derMutter,HedwigRichter,dieam6.Februar1944inFreibergeinemHerzversagen erlag. Sie fand ihre letzte Ruhe auf dem Freiberger Donat-Friedhof neben ihrem Mann,derebenfallsdortbestattetwurde.KarlRichterwardamalssiebzehnJahrealt und bereits zum Militärdienst eingezogen worden.EinvonRichtersSchwesterGabrie- leSieg,geb.Richter,überliefertesFotozeigt ihn im Jahr 1943 mit der Mutter in gelöster, froherStimmung.KleidungundBelaubung der Bäume auf dem Foto sprechen dafür, dass es im Herbst 1943 aufgenommen wur- de, vielleicht in der Nähe zu Richters 17. Geburtstag. Der zwölfjährige Karl Richter übt an der Orgel der Trinitatiskirche in Dresden (Foto vom September 1938)
  • 11. 10 Karl Richter als Kruzianer in der Chorprobe Archiviert unter: Fotosammlung Chorproben, Knabenchor, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.7-F 168 (Scan und Speicherung auf Datenträger durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden) Das Foto zeigt Mitglieder des Knabenchores und des Männerchores bei einer Chorprobe, Karl Richter steht in der zweiten Reihe als Fünfter von links. Er trägt eine Brille. Das Foto ist undatiert, aber vermutlich wurde es frühestens Ende 1938 und spä- testens Anfang 1940 aufgenommen. Die Probe fand im Gesangssaal des dama- ligen Kreuzschulgebäudes am Georgplatz statt. Dieses nicht mehr bestehende Gebäude in der Dresdner Innenstadt war vom 1.5.1866 bis zur Zerstörung am 13.2.1945 die Heimat der Kreuzschule (Gymnasium), des Kreuzchores und des Alumnats. Die aufgrund der räumlichen Entfernung vom Elternhaus imAlumnat wohnenden Jungen wurden als Alumnen bezeichnet, die zwischen Elternhaus und Schule/ Chor täglich pendelnden Jungen als Kurrendaner. Karl Richter warAlumne, d. h., er wohnte und lebte mit etwa 34 anderen Jungen und jungen Männern im Schul- gebäude, fuhr jedoch in den Ferien und an den so genannten „Heimfahr- wochenenden“ nach Hause. In den Ferien war das Alumnat geschlossen. Da er
  • 12. 11 nach Freiberg/ Sa. einen vergleichsweise kurzen Heimweg hatte, der auch da- mals schon mit einer guten Eisenbahnverbindung zu erreichen war, blieb ein regelmäßiger und relativ enger Kontakt zur Mutter, den vier Schwestern und den Freiberger Bekannten erhalten. In den Chorlisten wurde Karl Richter erstmals am 27.4.1938 genannt2 . Demnach trat er um Ostern 1938, mit Beginn des Schuljahres, in den Kreuzchor ein.3 Der Aufnahme in den Chor wurden eine Vorbereitungszeit und die Eignungsprüfung vorangestellt; außerdem mussten die schulischen Leistungen dem gymnasialen Niveau entsprechen. In Freiberg/ Sa., dem Wohnort der Familie Richter seit dem frühen Tod des Vaters, Dr. Johannes Richter, im Jahr 1935, erhielt der damals zehn- bis elfjährige Karl bereits Orgelunterricht bei Arthur Eger (1900 – 1968). Eger war Schüler Karl Straubes (1873-1950) und ab 1926 Organist am Freiberger Dom mit seiner wunderbaren Silbermannorgel. Vermutlich bereitete Domkantor Arthur Eger den Jungen, der bereits in der Domkurrende mitsang, für die Auf- nahme in den Kreuzchor vor. In Dresden fand Karl RichterAufnahme in der Schulklasse 1b des Kreuz- gymnasiums und sang zunächst im Sopran. Von diesem Zeitpunkt an erschien sein Name regel- mäßig in den Chorlisten. Offensichtlich durchlief er sowohl die Schulklassen als auch den Weg des Chor- sängers ohne Unterbrechungen oder größere Pro- bleme. Im Schuljahr 1942/1943 sang er im Tenor und wurde Chorpräfekt. Der Chorpräfekt hatte die Aufgabe, den Kreuzkantor, damals Rudolf Mauers- berger (1889 – 1971), bei der Chorarbeit zu unter- stützen. Zu seinen alltäglichenAufgaben gehörte es, in den Proben zu korrepetieren, selbständig Register- proben abzuhalten und den Chor vor Gottesdiensten und Auftritten zu ordnen. Am 19.7.1943 wurde Karl Richter zum Reichs- arbeitsdienst (RAD) eingezogen4 . Zu diesem Zeit- punkt war er 16 Jahre und neun Monate alt.
  • 13. 12 Karl Richters erster solistischer Auftritt 77. Fastnachtskonzert des Kreuzchors Archiviert unter: Programmsammlung 1939, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-25f, Fiche 71 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
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  • 17. 16 77. Fastnachtskonzert des Kreuzchors, Programm-Nummer 4. a): „Ein kleiner Kruzianer spielt zuerst die Bachinvention auf dem Klavier vor“ Das ist der erste öffentliche, solistischeAuftritt Karl Richters als Kruzianer. Die Fastnachtskonzerte fanden in der Regel in jedem Jahr statt und waren ein Höhe- punkt im Schul- und Chorleben. Sie waren öffentlich, d. h. neben Lehrern, El- tern und Sympathisanten des Kreuzchors wurden sie auch von den Dresdner Bürgern gern besucht. Solange es die Fastnachtskonzerte gab (sie wurden in den Kriegsjahren eingestellt), lag die Leitung in den Händen des Chorpräfekten. Es gibt im Zusammenhang mit diesem ersten solistischen Auftritt Karl Richters eine interessante Erinnerung eines Mitkruzianers, des späteren Professors für Maschinenbau an der Technischen Universität Dresden, Franz Holzweißig: „Der Instrumentalübungsplan verteilte die Möpse5 auf die drei Klaviere, die in den beiden Spielzimmern und im Speisesaal standen, sie waren zwar gestimmt, aber sonst jämmerliche Kästen. Da der Plan aushing, mußte immer mit einer Kontrolle ge- rechnet werden. Vor allem in den Spielzimmern, die neben dem Gesangssaal lagen, guckte öfters Mauersberger rein. Mindestens einmal im Jahr war Vorspiel vor dem ganzen Chor. Es war sehr unangenehm, wenn Mauersberger dabei feststellte, dass seit dem vorigen Mal keine Fortschritte gemacht wurden.Als Karl Richter noch Mops war, spielte er eine dreistimmige Invention von Bach vor. Mauersberger war voll des Lobes und sagte, als er wieder vor den Flügel ging, zum Knabenchor: ‚Ihr wisst ja gar nicht, wie schwer das ist.’“6 Dieses Vorspiel muss Ende 1938 oder Anfang 1939 stattgefunden haben, denn im Februar 1939 folgte dann der erste solistische Auftritt, wahrscheinlich mit eben der Bachinvention, an die sich Franz Holzweißig im Zusammenhang mit dem Vorspiel in der Schule erinnerte. Der am unteren Rand des Programm-Titelblattes angebrachte Hinweis, dass die Kreuzschule Trauer hatte und deshalb Operette und Tanz entfielen, bezog sich auf das Ableben des Rektors Hans Helck (Rektor von 1921 bis 1939). Karl Richter als Konfirmand Karl Richter wurde am 6. April 1941 im Dom zu Freiberg konfirmiert. Den Konfirmandenunterricht hat er sehr wahrscheinlich in Dresden bei einem der drei Kreuzkirchenpfarrer erhalten, während die Konfirmation in der Heimatge- meinde stattfand. Dieses Vorgehen war bei den Kruzianern das übliche. An der
  • 18. 17 Kreuzkirche wirkten damals die Pfarrer Gotthold Ludwig Seidel, Martin Johan- nes Krömer und Wilhelm Otto Schumann. Diese drei Pfarrer gehörten dem Pfarrernotbund in Sachsen an, der ab 1933 begonnen hatte, bekenntnistreue Pfar- rer und Vikare zu sammeln.Alle drei Pfarrer der Kreuzkirche fanden am 13./14. Februar beim Luftangriff auf Dresden den Tod. Bei welchem der Kreuzkirch- Pfarrer Karl Richter unterrichtet wurde, wissen wir nicht; die Unterlagen fielen den Kriegsflammen zum Opfer. Der Eintrag im Konfirmandenbuch der Domkirchgemeinde zu Freiberg lautet: 39. Richter, Karl Felix Johannes, geboren 15. Oktober 1926, getauft 29. No- vember 1926, ev.-luth., konfirmiert am 6.4.1941. Als Konfirmationsspruch ist das alttestamentliche Wort aus Psalm 143, 10 ver- merkt. In der Übersetzung der Luther-Bibel lautet dieser Spruch: „Lehre mich zu tun nach deinem Wohlgefallen, denn du bist mein Gott; dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.“ Der Konfirmator Karl Richters war Pfarrer Johannes Sachsenweger, der die 2. Pfarrstelle am Dom seit 1928 innehatte. Der Freiberger Dom war, ähnlich der Frauenkirche in Dresden, ein besonderer Ort des Kirchenkampfes. Ab 1.1.1943 wurde Sachsenweger mit der Hauptvertretung auch der 1. Pfarrstelle am Dom betraut, die mit dem zeitweilig beurlaubten Superintendenten Arndt von Kirchbach besetzt war. Arndt von Kirchbach war 1936 Superintendent in Frei- berg geworden, gehörte zu den führenden Köpfen des Pfarrernotbundes in Sach- sen und leistete aktiven kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.7 Pfarrer Sachsenweger gehörte nicht dem Pfarrernotbund an, er war aber auch kein NSDAP-Mitglied und kein Deutscher Christ. Der kirchenmusikalische Einsatz des Domkantors Arthur Eger, dem es wenige Tage vor Kriegsbeginn 1939 noch gelungen war, die regelmäßigenAbendmusi- ken im Dom einzuführen, wurde als deutliches Signal für die Notwendigkeit einer verstärkten geistlichen Besinnung in dieser dunklen Zeit verstanden.8 Es darf angenommen werden, dass Eger auch zum Konfirmationsgottesdienst 1941 die Silbermannorgel im Dom spielte. Arthur Eger nahm an der musikalischen Entwicklung Karl Richters über viele folgende Jahre hinweg Anteil. Es ist nicht bekannt, wie viel von den inneren und äußeren Kämpfen seiner Kirche dem damals vierzehnjährigen Konfirmanden Karl Richter bewusst war. Sicher hätte ihm gerade in dieser Zeit die Begleitung durch den Vater viel be- deuten können. Die Superintendentenstelle in Marienberg/ Sa., die sein Vater Jo- hannes Richter bis zu seinem Tod am 3. Advent 1935 inne gehabt hatte, konnte
  • 19. 18 1937 mit dem Notbundpfarrer Friedrich Winter (emeritiert 1955) besetzt wer- den.9 Marienberg/ Sa. galt als Hochburg der bekenntnistreuen Gemeindeglieder. Es ist bekannt, dass Karl Richter und seine Familie noch gute Kontakte nach Marienberg hatten, auch dann, als die Familie nach Freiberg umgezogen war. Vesper zum 2. Advent (5.12.1942) in der Kreuzkirche – geleitet von Karl Richter Archiviert unter: Programmsammlung 1942, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-53, Fiche 80 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Es war üblich, dass der Chorpräfekt nach der Pfingstvesper ein Kurrendesingen mit volkstümlichen Chorsätzen vor dem Südportal der Kreuzkirche, dem so ge- nannten Trauportal, leitete. Außerdem dirigierte er eine Motette in der Vesper am Schuljahresende. Diese Aufgaben fallen dem Chorpräfekten (praefectus primus) auch heute noch zu. Rudolf Mauersberger übertrug in einzelnen Fällen seinen Chorpräfekten weitere dirigentische Aufgaben. Das tat er eigentlich nur, wenn er selbst ernstlich verhindert war, was in späteren Jahren, z. B. Ende der 60er Jahre, aufgrund von Krankheitszeiten vorkam.Ansonsten gab Mauersberger den Chor nur sehr selten aus der Hand. In der Präfektenzeit Karl Richters ge- schah es mehrmals, wie die erhaltenen Programme zeigen. Warum Mauersberger am 5. Dezember 1942 die gesamte Leitung der Vesper in Karl Richters Hände legte, war nicht mehr zu ermitteln. Die Vesper in der Kreuzkirche am 5. Dezember 1942 fand im Kirchengebäude der Reformierten Kirche in Dresden (Ringstraße) statt. Die große Kreuzkirche war nicht mehr heizbar. Wie die Kreuzkirche wurde auch die Reformierte Kir- che beim Bombenangriff auf Dresden am 13. 2.1945 zerstört. Die Verzierung am Kopf des Vesperprogramms vom 5.12.1942 bezieht sich auf den Sandsteinfries an der Orgel- und Chorempore der Kreuzkirche, wie er bis zur Zerstörung 1945 bestand.Aufgrund der Kriegsbeschädigungen sind nur Reste des unteren Engelfrieses erhalten geblieben. Die Innengestalt der Kreuzkirche hat sich nach demWiederaufbau stark verändert. Erhalten geblieben ist die hallen- artige barocke Grundstruktur des riesigen Kirchenraumes. Die Orgel spielte in derVesper am 5.12.1942 Herbert Collum (1914-1982), Kreuz-
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  • 21. 20
  • 22. 21 organist von 1935 bis 1982. Herbert Collum war ein vielseitiger Musiker: Orga- nist, Cembalist, Komponist und Chorleiter (er gründete den als gemischten Chor Erwachsener auftretenden Collum-Chor). Er organisierte große Bachzyklen mit Orgel-, Kammer- und Orchesterabenden. Begabten Kruzianern erteilte er Orgel- unterricht, so auch Karl Richter. Beim Wiederaufbau der Kreuzkirche nach dem Krieg setzte er sich intensiv für die Errichtung der völlig neu zu erbauenden Orgel (Jehmlich-Orgel) ein.10 Durch Herbert Collum erklang in der Vesper am 5.12.1942 die bekannte Choral- fantasie von Dietrich Buxtehude (1637-1707) über „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Diese Fantasie hat Karl Richter später oft selbst gespielt und sie in München immer wieder in die Programme für die Weihnachtsliederabende des Münchener Bach-Chores aufgenommen.11 Die beiden Stücke von Gustav Brand und Robert Volkmann hat Mauersberger ab und zu in der Advents- und Weihnachtszeit singen lassen. Von den drei an- spruchsvollen weihnachtlichen Motetten Max Regers, die Karl Richter am 5.12.1942 dirigierte, war die wohl bekannteste „Unser lieben Frauen Traum“, die beiden anderen dürften nur selten aufgeführt worden sein. Karl Richter als Chorpräfekt in der Weihnachtszeit
  • 23. 22 Archiviert unter: Fotosammlung Chorproben, Probe mit Präfekt, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.7-F 168 (als Scan bezeichnet mit F 168a und Speicherung auf Datenträger durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden) Das Foto zeigt eine Chorprobe im Gesangssaal der Kruzianer, der sich bis 1945 im dritten Obergeschoss der Kreuzschule am Georgplatz in Dresden befand. Dieses Gebäude vereinigte die Räume der Kreuzschule und des Alumnats unter einem Dach. Es wurde beim Bombardement am 13. Februar 1945 vollständig zerstört. Franz Holzweißig, Kruzianer ab 1938 und später Professor für Maschi- nenwesen an der TU Dresden, erinnerte sich an den Gesangssaal: „Vorn am Fenster stand auf einem Podest der Flügel und im rechten Winkel zur Tastatur die Bankreihen für den Chor. Damit war die eine Hälfte des Raumes gefüllt, die andere war frei, um auch Proben in Choraufstellung halten zu können. An Vorder- und Hinterwand standen Notenschränke und in der hinteren Fensterecke war der Schreib- sekretär des Kantors.“12 Auf dem Foto sitzt der Chorpräfekt Karl Richter in der Weihnachtszeit 1942 am Flügel. Neben ihm steht Rudolf Mauersberger, der Kreuzkantor. Über dem Flü- gel hängt ein HerrnhuterAdventsstern, in Sachsen ein beliebter und verbreiteter weihnachtlicher Schmuck.13 Außerdem ist am rechten oberen Bildrand der Ad- ventskranz zu erkennen, Mauersberger achtete darauf, dass der Gesangssaal eine gewisse Wohnlichkeit ausstrahlte. „Während der Chor 1938 in Amerika war, wurde der Gesangssaal prächtig renoviert.An den hell gestrichenen Notenschränken und den Säulen prangten die Wap- pen der Städte, in denen der Chor gesungen hatte, und Stadtansichten der Hauptstädte. Über den Notenschränken waren Porträtgemälde von Luther, Schütz und Bach aufge- hängt und darüber stand der Spruch: ‚Das edelste, echteste und schönste Organ der Musik, das Organ, dem unsere Musik allein ihr Dasein verdankt, ist die menschliche Stimme’ von Richard Wagner. Vor dem großen Mittelfenster hing ein Transparent mit Lichtkasten und auswechselbaren Bildfeldern.Auf diesen waren zur jeweiligen Jahres- zeit passende Liedanfänge umrahmt von bildlichen Darstellungen ausgesägt und mit Transparentpapier hinterklebt. Die Gestaltung stammte von meinem Zeichenlehrer,…Die Deckenbalken ruhten auf Holzsäulen. Auch sie waren mit Sprüchen verziert.“14 Der Gesangssaal und dieAula, die unter dem Gesangssaal lag, waren die schön- sten Räume des Hauses. Ansonsten dominierte die Zweckmäßigkeit. Die 34 Alumnen (also 2 x 17 Jungen), darunter auch Karl Richter, bewohnten zwei so genannte „Kammern“:
  • 24. 23 “Jede Kammer umfasste drei Räume, die eigentliche Kammer, in der an den Wänden die 17 Schränke standen, ein großer Tisch in der Mitte des Zimmers und unter den mit Eisenstäben gesicherten Fenstern ein Kofferschrank. Stühle gab es keine, und meine Mutter musste sich, wenn sie mich besuchte und wir noch Probe hatten, wie alle Alumnen, auf den Tisch setzen. Von der Kammer aus kam man in den Waschsaal. In ihm gab es an den Wänden für jedenAlumnus ein Waschbecken…Von da aus ging es in den Schlafsaal, der in vier Reihen 17 Betten, sowie einen großen Schrank mit den Konzertanzügen enthielt. Die letzte Reihe hatte fünf Betten.“15 Daneben standen den Jungen noch der Speisesaal im Erdgeschoss, der nur zu den Mahlzeiten und zum Klavierüben benutzt wurde, zwei kleinere Spielzimmer mit je einem Klavier und der Arbeitssaal, in dem gelernt und die Hausaufgaben erle- digt wurden, zu Verfügung. Im Arbeitssaal hatte jeder ein Pult mit Fach für die Schulsachen, außerdem standen Regale mit Handbibliothek und Wörterbüchern bereit. Der Arbeitssaal stieß an die Wohnung des Alumneninspektors, des eigent- lichen Erziehers für dieAlumnen. Zur Zeit Karl Richters war dasArthur Gebauer (gest. 1956), gleichzeitig Mathematiklehrer an der Kreuzschule. Im Arbeitssaal führten die Präfekten, der Chorpräfekt und der Hauspräfekt, die Aufsicht in den Arbeitsstunden. Im Keller befanden sich ein Dusch- und ein Wannenraum, der einmal pro Woche genutzt werden konnte. Für Kranke gab es zwei Krankenzim- mer, die sich neben derWohnung des Hausinspektors befanden. EinAlumnatsarzt, selbst ehemaliger Kruzianer, betreute die Alumnen im Krankheitsfalle. Der Ta- gesablauf war von 5.45 Uh (Wecken) bis 20.50 Uhr (Schlafenszeit) geregelt. Täglich gab es von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr eine „Freizeit“, in der aber auch die Klavierstunde und mindestens zwei Übungsstunden am Instrument pro Woche sowie kleine häusliche Aufgaben erledigt werden mussten. Die Advents- und Weihnachtszeit war aufgrund der hohen Dichte von kirchli- chen Aufgaben und Konzerten anstrengend, aber sie wurde – so gut es möglich war – auch festlich begangen. „Am Heiligen Abend wurde im Arbeitssaal beschert. Es war ein anstrengender Tag. Früh Probe für das Krippenspiel und dann die drei Christvespern. Nach der ersten gab es Kaffee und Stollen im Gemeindesaal, und nach der zweiten rannten einige Ältere herüber ins „Woolworth“, wo erst um 18 Uhr geschlossen wurde, und machten Weihnachtseinkäufe.Als es sie noch gab, waren die Schokoladenweihnachtsmänner da schon preisgesenkt. Die Bescherung begann mit dem Einzug. Wir stellten uns am Gesangssaal auf und zogen, jeder mit einer brennenden Kerze in der Hand, den Gang entlang in den Arbeitssaal. Dabei wurde ‚Lobt Gott ihr Christen…’gesungen. Die Flü- geltüren waren geöffnet und wir sahen schon den schön geschmückten Christbaum während des Einzugs.“16
  • 25. 24 Nun sagte der jüngste Kruzianer die Weihnachtsgeschichte (Lk 2, 1-20) auf, Alumneninspektor und Hauspräfekt sprachen einige Worte. Schließlich folgte die Bescherung: „Das Licht wurde ausgemacht, und wir suchten jeder unseren Platz mit Ge- schenken in der langen Reihe der zusammengestellten Arbeitstische. Jeder bekam ei- nen Teller mit Weihnachtsgebäck, einen Klavierauszug und ein Buch, das man sich vorher in der Buchhandlung Holze und Pahl in der Waisenhausstraße aussuchen konnte…Dann gab es noch Kleinigkeiten…Nach der Bescherung aßen wir Kartoffel- salat mit Würstchen, machten noch ein paar Spiele, und relativ bald schickte Gebauer die Möpse (die jüngsten Kruzianer, Anmerk. d. Verfass.) ins Bett, wir hatten einen schweren Tag hinter uns und am 1. Weihnachtsfeiertag ging es schon halb fünf Uhr wieder los, um das Christmettenspiel in der Kreuzkirche aufzuführen… Nach der Met- te bekamen wir Stollen, und nachdem die Kirchenmusik zum Hauptgottesdienst gesun- gen war, durften die Alumnen nach Hause fahren, die Kurrendaner sangen die Schlussliturgie. Es gab wohl keinen Alumnus, der die verspätete Heimfahrt bedauert hätte, erwartete uns doch zu Hause eine erneute Bescherung.“17 Diese Erinnerungen geben einen Eindruck davon, was auch Karl Richter als Kruzianer im Alumnat erlebt hat, als kleiner „Mops“, als „Mittlerer“ in der Pu- bertätszeit und als „Oberer“ in seinem Präfekten-Jahr. DasAmt des Chorpäfekten bedeutete auch damals in erster Linie, dafür bereit zu sein, bereits ein gewisses Maß an Verantwortung für den Ablauf und das Gelingen der Chorarbeit mit zu tragen. Christmette der Alumnen am Christtag-Morgen 1942, Karl Richter an der Orgel Archiviert unter: Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, Programmsammlung 1942, 20.4-53, Fiche 80 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Die „Christmette der Alumnen“ wurde von Rudolf Mauersberger musikalisch gestaltet und ab 1936 in Dresden eingeführt. Mauersberger stammte aus dem Erzgebirge, aus Mauersberg bei Marienberg/ Sa. In den evangelischen Kirchen des Erzgebirges war es üblich, sich am 1. Christtag morgens zeitig zu einem festlichen Gottesdienst zu versammeln - der Christmette. Diese Mette war litur- gisch und musikalisch ausgestaltet, teilweise mit einem so genannten Metten- spiel, die Christgeburt darstellend. Die Spiele gingen meist auf alte Vorlagen zurück und führten die Traditionen der mittelalterlichen Mysterienspiele weiter. Mauersberger war der Liturgie stark zugetan. Er wagte deshalb erstmals 1936
  • 26. 25
  • 27. 26
  • 28. 27 denVersuch, in der Großstadt Dresden eine solche Christmette mit Christgeburts- spiel aufzuführen. Mittels bewusster Betonung altkirchlicher liturgischer For- men wollte er den deutsch-christlichen Bestrebungen nationalsozialistischer Kräfte geistig und musikalisch etwas entgegensetzen. Das im Kopfteil des Programms ausgesprochene Gedenken an einen Studienas- sessor der Kreuzschule gibt wieder, was im Leben der Kruzianer damals be- drückende Gegenwart war: Die Lehrer der Kreuzschule wechselten häufig, da sie zum Militär eingezogen wurden, die älteren Kruzianer erhielten den Gestel- lungsbefehl zum Reichsarbeitsdienst und von dort, oder auch direkt von der Schulbank, kamen sie zum Kriegseinsatz. Todesmeldungen trafen ein. Die Na- men der bekannt gewordenen Toten erschienen auf Programmzetteln. In dieser Zeit, die eine „ständige Ausnahmesituation“ darstellte, absolvierte Karl Richter einen großen Teil seiner Schulzeit und durchschritt die Entwicklung vom Kind zum jungen Mann. Karl Richter begleitete die liturgischen Teile und die Gemeindelieder in der Christmette der Alumnen 1942 auf der Orgel; die „Hirtenmusik“ für Orgel und Oboe von Hermann Behr (*1915) musizierte er mit Heinz Butowski, der (nach nicht ganz sicheren Recherchen) damals Oboist der Dresdner Philharmonie war. Neben Reaktionsfähigkeit und Einfühlung in die vielfältigen Programmpunkte imAblauf der Mette musste Karl Richter hier als Orgelspieler auch Erfahrungen in der Begleitung des Gemeindegesangs unter Beweis stellen. In der Christmette vertrat Karl Richter den schon genannten Kreuzorganisten Herbert Collum, der einer seiner Orgellehrer war. Soviel bekannt ist, übte Karl Richter als Schüler auf verschiedenen Orgeln in Dresden, häufig auf der Orgel der Trinitatiskirche in Dresden-Johannstadt. Diese Kirche und ihre Orgel wurde durch Bomben zerstört. Die Kirchenruine steht noch; in ihr wurden Räume für die Gemeinde wieder ausgebaut. Weitere Innenstadtkirchen mit größeren Or- geln waren die Annenkirche, die Matthäuskirche, die Johanniskirche, die Jakobikirche, die Frauenkirche (damals auch als Dom bezeichnet) sowie die Sophienkirche. Die beiden letzteren besaßen Silbermannorgeln, die Karl Rich- ter kannte.18 Alle genannten Kirchen und ihre Orgeln wurden kriegszerstört; die Annenkirche, die Matthäuskirche und, als spätes Projekt, die Frauenkirche wur- den als Bauwerke wieder hergestellt.
  • 29. 28 Vesper am 6. März 1943 – Karl Richter dirigiert Bach
  • 30. 29 Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv 20.4-18, Fiche 80 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
  • 31. 30 Wie schon am 5. Dezember 1942 leitete auch am 6. März 1943 Chorpräfekt Karl Richter die Vesper des Kreuzchores. Auf dem Programm standen zwei Chorwerke von Johann Sebastian Bach (1685-1750): die doppelchörige Motet- te „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ und zumAusklang der Vesper „Ich halte treulich still“ für vierstimmigen Chor aus dem Schemellischen Gesang- buch von 1731. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ ist eine der beiden autographen Motetten Bachs. Der Text für die Motette stammt aus Röm. 8, 26- 27, der Choral ist eine Luther-Dichtung.19 Auch das Lied „Ich halte treulich still“ gilt als Bach-Komposition; bekanntlich stammen nicht alle Lieder im Ge- sangbuch Schemellis aus Bachs Feder. Interessant ist, dass in der Vesper das Glaubenslied (Credo) „Wir glauben all an einen Gott“, Text von Tobias Clausnitzer (1618-1684), gesungen wurde20 . Im evangelischen Sonntagsgottesdienst kann dieses Lied anstelle desApostolischen Glaubensbekenntnisses erklingen. DieVesper ist zwar eine gottesdienstliche Fei- er, jedoch war und ist in ihr ein Credo nicht üblich.21 Allerdings: Die Texte der Motette, des Glaubensliedes und des Schemelli-Liedes stehen im engen theologi- schen Zusammenhang und sprechen den Hörern Trost und Glaubensgewissheit zu. Vom Osterfest 1943 zurückgerechnet, war der 6.3.1943 im liturgischen Ka- lender der Vorabend des Sonntags Estomihi („Sei mir ein starker Gott“). Auch in dieser Hinsicht passte das Glaubenslied. Ob Karl Richter das Lied vorschla- gen durfte, ließ sich nicht mehr ermitteln. Der junge, aus Dresden stammende Eberhard Bonitz (1921-1980)22 spielte in Vertretung für den (eingezogenen?) Kreuzorganisten Herbert Collum in der Ves- per die Orgel. Das für einen so jugendlichen Dirigenten anspruchsvolle Programm hat Karl Richter vor dem Vortrag sicher selbst mit den Kruzianern geprobt. Zwar waren die Bachmotetten Bestandteil des festen Repertoires, aber dennoch mussten sie von Jahr zu Jahr grundsätzlich neu einstudiert werden. Ein Knabenchor ist ja ununterbrochen in der Veränderung aufgrund der Zu- und Abgänge von Chori- sten und infolge der Stimmentwicklung jedes einzelnen Kindes. Das Dresdner Vesper-Publikum war zwar treu, aber auch kritisch und „verwöhnt“. Eine Bach- motette, gesungen vom Kreuzchor, durfte nicht „daneben gehen“. Es musste damit gerechnet werden, dass die Presse die Vespern beobachtete. Rudolf Mauersbergers Ansprüche an die musikalische Qualität waren hoch, ein Risiko wollte er sicher nicht eingehen. Karl Richter musste diesen hohen Ansprüchen entsprechen, wenn er die Leitung der Vesper innehatte.
  • 32. 31 Konzert des Kreuzchors am 27.3.1943 im Hygienemuseum Dresden
  • 33. 32 Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-27, Fiche 80 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
  • 34. 33 Es war üblich, dass der Kreuzchor nicht nur in Kirchen, sondern auch in Konzertsä- len oder an anderen geeigneten Orten auftrat, z. B. in der Semperoper, im Dresdner Zwinger oder im Schlossgarten Pillnitz. Die Programme wurden dann entsprechend angepasst. Es gab (und gibt) also auch „weltliche“ Konzerte des Kreuzchors, die von Konzertagenturen, den Kommunen oder Kulturverantwortlichen angefordert und organisiert wurden. Auch im Hygienemuseum Dresden befand sich ein großer Saal, der für Konzertaufführungen genutzt wurde. Am 27. März 1943 setzte Rudolf Mauersberger seinen Chorpräfekten Karl Richter ein, um ein weltliches Konzert zu leiten. Neben Madrigalen aus der Renaissance enthielt die Programmfolge einen „Durchgang“ durch die Chorliteratur bis hin zu Volksliedern und einigen Stücken der recht schwierig zu bewältigenden modernen ChormusikErnstPeppings(1901-1981)23 . Peppings Chorzyklus „Der Wagen“ war durch Rudolf Mauersberger erst 1942 mit den Kruzianern im Dresdner Gewerbe- haus zur Uraufführung gekommen. Das Konzert ist überschrieben mit „Verpflich- tung der Jugend“. Es enthält außer der Chormusik keine weiteren Programmteile, auchkeineVerpflichtung,AnsprachenoderandereWortteile.DasDatum(27.3.1943) liegt zwar gegen Ende des Schuljahres hin, aber Ostern, der damalige Termin des Schuljahresabschlusses, lag 1943 erst auf dem 25. April. Auch war der 27. März kein staatlicher Feiertag. Nachdem die nationalsozialistischen Machthaber die meisten freidenkenden und freireligiösenGemeinschaftenverbotenunddamitderenJugendweihefeiernzurück- gedrängt hatten, wollten sie nun die evangelische Konfirmation und die katholische Firmung weitgehend ausschalten. Sie führten im Zusammenhang mit den festlichen Schulentlassungen eigene Jugendfeiern ein. Es muss angenommen werden, dass es sich bei dem vorliegenden Programm um ein gesondert stattfindendes Konzert han- delte, dem eine Feier zu einem anderen Zeitpunkt vorausgegangen war. Die erhalte- nenArchivdokumente erlauben keine klare Einsicht in etwaige Zusammenhänge. Rudolf Mauersberger war grundsätzlich bemüht, den kirchlichen Charakter des Kreuzchores soweit wie möglich zu wahren, entzog sich jedoch staatlich verordne- ten Konzerten nicht völlig – was er sicher auch nicht konnte. Es ist zu vermuten, dass er an dem weltlichen Konzert vom 27.3.1943 kein Interesse hatte, was er durch die Nicht-Übernahme des Dirigates zeigen wollte.24 Ein ähnliches Verhalten Mauersbergers trat auch auf einer staatlicherseits angeordneten Chorreise im Früh- jahr 1943 auf. Es war selbstverständlich für einen Chorpräfekten, auf Anordnung desKreuzkantorsmusikalischeAufgabenzuübernehmen. Für den sechzehnjährigen Präfekten Karl Richter hat es sicher eine nicht unerhebliche physische und psy- chische Anstrengung bedeutet, das abendfüllende Konzert zu leiten.
  • 35. 34 Ostermette in der Kreuzkirche am 25. April 1943, an der Orgel Karl Richter
  • 36. 35 Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-39, Fiche 80 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden)
  • 37. 36 Die Ostermette des Kreuzchors am Ostermorgen wurde von Rudolf Mauers- berger im Jahre 1941 eingeführt. Der im Kopfteil des Programmblattes genann- te Rudolf Decker (1912-1991), Theologe, Pfarrer und in späteren Jahren Kir- chenmusik-Sachverständiger der Landeskirche, war mit Rudolf Mauersberger befreundet. Er schrieb das Textbuch für das Ostermettenspiel, in dem - analog zum Christgeburtsspiel - das Ostergeschehen von den Kruzianern szenisch dar- gestellt wurde. Musikalisch wurden Sätze aus der „Auferstehungshistorie“ von Heinrich Schütz, Chöre von Johannes Eccard, Johann Hermann Schein und Jo- hann Schop in die Darstellung einbezogen, also Musik aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Die eingefügten Choräle wurden von der ganzen Gemeinde mitge- sungen und von Bläsern und Orgel begleitet. Die Ostermette ist auch heute noch fester Bestandteil im Jahresprogramm des Dresdner Kreuzchors. Während die „drei Frauen“ von Knabensolisten übernommen wurden, mussten junge Männerstimmen die Wächter- und Jüngerrollen sowie „Die zween Män- ner am Grabe“ übernehmen. Eine dieser jungen Männerstimmen in der Mette 1943 gehörte TheodorAdam, dem später sehr bekannten Bass-Bariton, mit dem Karl Richter in seiner Münchener Zeit zahlreicheAufführungen und Plattenein- spielungen gestaltete. Karl Richter musste während der Mette variabel und einfühlsam an der Orgel agieren, außerdem in der riesigen Kirche (mit entsprechendem Nachhall) den Gemeindegesang so begleiten, dass Bläser, Orgel und Liedgesang zusammen- klangen. Ob er nach der Mette ein Orgelnachspiel geboten hat, ist nicht belegt, aber doch wahrscheinlich. Natürlich war die Ostermette nur ein Punkt im Osterprogramm des Kreuzchores. Am Gründonnerstag und Karfreitag wurde jeweils die Matthäuspassion musi- ziert, am Karfreitagvormittag ein Gottesdienst (da die Orgel am Karfreitag schwieg, a cappella), am Samstag die Vesper und am Ostersonntag neben der Mette der Gottesdienst mit festlicher Kirchenmusik, ebenso am Ostermontag eine Festmusik im Gottesdienst. Welche Dienste Karl Richter als Chorpräfekt in den Gottesdiensten übernahm, konnte nicht ermittelt werden, weil für die Got- tesdienste keine Programme gedruckt wurden. Da nicht nur in der Kreuzkirche, sondern an den Hochfesten gastweise auch in der Frauenkirche (Dom) zu musi- zieren war, waren gerade die Feiertage für die Kruzianer von vielfältigen musi- kalischen Einsätzen geprägt.
  • 38. 37 Musikalische Abendfeier in Dom zu Freiberg am 24. Juni 1943 Archiviert unter: Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.06-1671.92 (Fotokopie des Programmzettels) Am 24. Juni, dem Fest Johannes des Täufers, gestalteten Karl Richter und zehn Kruzianer ein abendfüllendes Programm mit Vokalwerken und Orgelmusik im Freiberger Dom. Domkantor Arthur Eger hatte im Jahr 1939 die Abendmusiken eingeführt; das Programm am 24.6.1943 war die 38. Abendmusik. Die Abend- musiken fanden etwa einmal im Monat statt. Die große Silbermannorgel im Dom ist das erste große Instrument, das Gott- fried Silbermann (1683-1753) baute; sie wurde 1714 fertig gestellt. Es folgten weitere Orgeln in Freiberg, so 1717 die Orgel in der Jakobikirche und die 1719
  • 40. 39 eingeweihte Orgel der Johanniskirche (Hospitalkirche). Schließlich erhielt die St. Petrikirche zu Freiberg 1735 eine Silbermannorgel, die fast zeitgleich im Bau war mit der Orgel für die Dresdner Frauenkirche. Die Orgel der Johanniskirche war in den dreißiger Jahren stark gefährdet, da das Kirchengebäude sehr schadhaft geworden war. Domkantor Eger erwirkte die Umsetzung der Orgel auf den Lettner des Freiberger Doms und die Restauration durch die Firma Eule (Bautzen). Am 1. Februar 1939 konnte sie wieder erklin- gen und wurde die kleine Silbermannorgel genannt. Selbstverständlich hatte Karl Richter das Programm für die Abendmusik mit Arthur Eger besprochen. Aber auch Karl Straube (1873-1950), der Karl Richter seit 1940 einmal pro Woche in Leipzig an der Orgel unterrichtete, interessierte sich sicher für das musikalischeVorhaben seines Schülers. Karl Straube,Thomas- organist von 1903-1918 und Thomaskantor von 1918-1939, gleichzeitig Profes- sor für Orgel am damaligen Leipziger Konservatorium, war mit Jahresende 1939 pensioniert worden. Straubes Mutter war Engländerin; Straube war äußerst be- lesen in englischer Literatur25 . Für die Nationalsozialisten war der international anerkannte Orgel- und Bachspezialist nach Kriegsausbruch als Thomaskantor nicht mehr tragbar. Dass der damals 66jährige Straube trotz seiner Pensionierung Karl Richter als Schüler annahm, geschah nach der Erinnerung zeitnah lebender Zeugen auf eine Anfrage Mauersbergers hin, der selbst (1912-1914 und 1918/1919) Straube-Schü- ler gewesen war26 . Karl Richter erhielt den Unterricht als Privatschüler diens- tags im Leipziger Konservatorium, in dem Straube auch nach der Pensionierung unterrichtete. Dazu musste Karl Richter nach dem Dresdner Schulunterricht nach Leipzig fahren – und natürlich auch zurück. Straube unterrichtete ihn kostenlos. Karl Richter verehrte Straube als seinen Lehrer mit Dankbarkeit. Als junger Thomasorganist spielte er nach Straubes Tod am 27.4.1950 nicht nur in der Trau- erfeier die Orgel, sondern ließ auch in der festlichen Motette am 29.7.1950, innerhalb der Deutschen Bachfeier 1950, Karl Straube zum Gedenken Präludi- um und Fuge h-moll von J. S. Bach erklingen. Das Programm für die MusikalischeAbendfeier vom 24.6.1943 in Freiberg ent- hielt bis auf ein Abendlied ausschließlich Werke von J. S. Bach und H. Schütz. Je zweimal waren die kleine und große Silbermannorgel mit Bachwerken zu hören. Schon die Werkauswahl spiegelte den beachtlichenAusbildungsstand des jungen Karl Richter wider. Auch die Vokalwerke leitete er und hat dafür sicher mit den Kruzianern geprobt.
  • 41. 40 Kirchenkonzert des Dresdner Kreuzchors am 27.6.1943 in der Christuskirche zu Bischofswerda
  • 42. 41
  • 43. 42 Archiviert unter: Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-54, Fiche 81 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Nur drei Tage nach der Abendmusik vom 24.6.1943 im Freiberger Dom spielte Karl Richter erneut zwei größere Orgelwerke von J. S. Bach, diesmal im Rah- men eines Kreuzchorkonzerts, dessen Kollekte dem Deutschen Roten Kreuz zugute kommen sollte. Das Musizieren in den gottesdienstlichen Feiern war bis zur Zerstörung Dres- dens noch möglich; die letzte Kreuzchorvesper fand am 10. Februar 1945 in der Dresdner Sophienkirche statt. Konzerte in Kirchen wurden jedoch erschwert. Hatte der Kreuzchor noch 1941 innerhalb von fünf Monaten sechs oratorische Aufführungen herausgebracht,27 so waren nach dem Herbst 1944 große Auffüh- rungen nicht mehr möglich. Erna Hedwig Hofmann, ab 1947 Sekretärin Rudolf Mauersbergers und Autorin mehrerer Veröffentlichungen über den Kreuzchor, schrieb über die zunehmenden Einschränkungen: „Im übrigen ist es das Bestreben der ‚kulturellen Lenkung’, die wenigen ‚künst- lerischen Einsätze’, die dem Kreuzchor noch verbleiben, auf Saalkonzerte zu beschrän- ken. Kirchenkonzerte werden wegen angeblicher Heizungsschwierigkeiten nicht ge- stattet. Der Kreuzchor läßt sich durch Wehrmachtskommandos und Garnisonen, die gleichzeitig über genügend Kohlen verfügen, in Kirchgemeinden einladen, singt nach wie vor seine musica sacra und bringt damit Hunderten, ja Tausenden die vielleicht letzte innere Stärkung. So bleibt der Kreuzchor Kirchenchor bis zum Ende – trotz aller Bemühungen staatlicher Stellen, die andere Ziele verfolgen. Im Schreibtisch des stell- vertretenden Bürgermeisters liegt die Akte, die durch einen Federstrich der siebenhun- ertjährigen ‚capella sanctae crucis’ einen neuen Charakter geben soll. Sie wird nicht unterschrieben.Im Herbst 1944 beschließt der Kreuzchor mit einerAufführung der Hohen Messe von Johann Sebastian Bach auf dem Altarplatz seine Konzerttätigkeit.“28 Ein Kirchenkonzert, auf den von E. H. Hofmann beschriebenen Wegen zustan- de gekommen, fand am 27.6.1943 in der Christuskirche (Haupt- und Garnison- kirche) zu Bischofswerda statt. Heizungsfragen werden im Juni keine Rolle ge- spielt haben, wohl aber die generelle Einschränkung der Konzerttätigkeit des Kreuzchors. Im Programm erklangen einige der bekanntesten Chorwerke von Anton Bruck- ner, Heinrich Schütz und J. S. Bach, die auch damals zum festen Repertoire des Kreuzchors zählten. Karl Richter spielte, wie bereits am 24.6.1943 in Freiberg, zwei größere Orgelwerke aus dem Band IV der Peters-Ausgabe, die G-Dur Fan-
  • 44. 43 tasie mit ihrem schönen fünfstimmigen Satz und das Präludium und die Fuge in C-Dur, bei deren Vortrag der junge Organist seine bis dahin erreichte Virtuosität zeigen konnte. In diesem Konzert hatte Karl Richter seinen letzten nachweisbaren öffentlichen Einsatz als Chorpräfekt, bevor er im Juli 1943 zum Reichsarbeitsdienst einberu- fen wurde. Gelegenheiten gottesdienstlichen Musizierens gab es sicher noch bis zum Einberufungstag. Bach -Tage 1948 in Leipzig Konzert des Dresdner Kreuzchors am 11. April 1948 An der Orgel: Karl Richter Archiviert unter: Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-39 und 40, Fiche 95 (gedrucktes Programm-Deckblatt und Vortrags-Folge; Rückvergrößerungen durch Stadtarchiv Dresden) Orgelunterricht bei Karl Straube
  • 45. 44
  • 46. 45
  • 47. 46
  • 48. 47 Obwohl sich einzelne ehemalige Kruzianer der Nachkriegszeit erinnerten, Karl Richter habe in den Jahren von etwa 1946 bis 1949 in mehren Fällen Konzerte und Reisen des Dresdner Kreuzchors begleitet,29 konnten Archivdokumente nur spärlich als Belege für diese Aussagen aufgefunden werden. Ein auswärtiges Kreuzchorkonzert, an dem Karl Richter nachweislich beteiligt war, fand anläss-
  • 49. 48 lich der Bach-Tage 1948 in Leipzig statt. Er trug in diesem Konzert zwei größe- re Orgelwerke von J. S. Bach vor. Der Kreuzchor sang unter Rudolf Mauersberger. Karl Richter war damals Student an der Staatlichen Hochschule für Musik in Leipzig, ein reichliches Jahr vor seinem Abschlussexamen. Dass Karl Richter in seiner Studienzeit relativ engen Kontakt zu Rudolf Mauersberger und den Kruzianern hielt, bezeugte auch die bereits mehrfach erwähnte Erna Hedwig Hofmann, ab 1947 Sekretärin des Kreuzkantors. In ih- ren „Erinnerungen an Karl Richter“ schrieb sie: „Mauersberger hat sich oft und gern der gemeinsamen Arbeit mit dem jungen Karl Richter erinnert. Er hob hervor, daß sich sein einstiger Präfekt als glänzender, dabei unerbittlicher Chorerzieher erwiesen habe, dem absolute Perfektion und strenge Disziplin selbstverständlich waren. Er habe es verstanden, gleichzeitig den damaligen ‚Oberen’ ein äußerst beliebter ‚Kumpel’ zu sein und dabei trotzdem den in seiner Stel- lung gebotenen Abstand zu halten. Die ‚Möpse’ freilich, also die Jüngsten des Chores, hatten ihm stets eine an Ehrfurcht grenzende Hochachtung entgegengebracht.“30 Weiter erinnerte sich E. H. Hofmann, dass Karl Richter zwischen 1946 und 1948 Mauersberger mitunter gegen Abend besucht habe. Und da Mauersberger von ihrer entfernten Verwandtschaft mit Karl Richter wusste, wurde sie eingela- den, an diesen abendlichen Gesprächen teilzunehmen. Natürlich stand die Mu- sik im Mittelpunkt des geistigen Austauschs. Vielleicht ist anlässlich eines sol- chen Gesprächs auch der Plan entstanden, dass Karl Richter für das Kreuzchor- konzert zu den Bach-Tagen 1948 in Leipzig zwei Orgelwerke beitragen sollte. Zur Eröffnung des Konzerts in der Thomaskirche am 11.4.1948 bot Karl Rich- ter Präludium und Fuge in h-moll, außerdem begleitete er das Knabenduett „Die Furcht des Herrn“ von Heinrich Schütz auf der Orgel. Vor der großen Bach- motette „Jesu, meine Freude“ erklang die Orgelsonate in c-moll, ein konzertan- tes Werk, das den Hörer mit besinnlicher Freude erfüllen kann. Die Wilhelm- Sauer-Orgel der Thomaskirche, erbaut 1889, hatte Karl Straube als Thomas- organist schon gespielt. Straube hatte das Instrument 1908 mithilfe selbst ein- geworbener Spenden und mit Mitteln aus eigener Tasche von 63 auf 88 Register erweitern lassen31 - ein nicht alltäglicher Einsatz eines Organisten. Die Orgel war danach für die Wiedergabe von Werken Max Regers besonders geeignet, was ein Anliegen Straubes gewesen war – Straube war mit Reger befreundet. Nur fünfzehn Monate nach dem Konzert vom April 1948 sollte Karl Richter dann selbst die Orgelbank der Thomaskirche als Thomasorganist besetzen.
  • 50. 49 Kreuzchorvesper, Freitag, den 2. Juli 1948, 19 Uhr in der Heilig-Geist-Kirche Dresden Blasewitz, an der Orgel: Karl Richter
  • 51. 50
  • 52. 51 Archiviert unter: Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-115, Fiche 96 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Erst zwischen 1947 und 1948 konnten die regelmäßigen Kreuzchorvespern, wenn auch nicht in der Kreuzkirche, als wichtige Elemente des Chorlebens wieder stattfinden. Das mühsame Zurückkommen zu einigermaßen geregelten Verhält- nissen im Chor- und Schulleben der Kruzianer hat Karl Richter zeitweise miter- lebt. Die Schwierigkeiten des Neuanfangs nach dem Krieg waren groß32 . Nachdem die Kreuzschule und das Choralumnat seit dem 13. Februar 1945 nicht mehr existierten und die Kreuzkirche infolge der Zerstörungen nicht benutzbar war, sammelten sich Überlebende und einige Neulinge ab dem 1. Juli 1945 in der teilzerstörten Oberschule Dresden-Plauen. Das Alumnat war behelfsmäßig in den Kellerräumen des Gebäudes untergebracht. Wie anderswo auch, fehlte es hier an allen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Hörer und Besucher erster Kon- zerte wurden nicht selten um Lebensmittelspenden für das Alumnat gebeten. Das war der Zustand, auf den Karl Richter in Dresden traf, als er in den ersten Wochen des Jahres 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Sobald als möglich wollte er sein als Kreuzschüler 1938 begonnenes Orgelstudium bei Karl Straube in Leipzig fortsetzen33 . Nach den Erinnerungen von Erna Hedwig Hofmann wandte Karl Richter sich im Frühling 1946 in Dresden an sie mit der Bitte, ihn „pro forma“ bei sich als Untermieter aufzunehmen. Er berichtete ihr, dass er wieder im Chor mitgesun- gen und als zusätzlicher Präfekt gearbeitet habe, aber der Verwaltungsleiter des Kreuzchors wolle ihn nicht mehr im Alumnat dulden (da er kein Schüler mehr sei). Es ginge hauptsächlich darum, dass er als ihr Untermieter behördlich regi- striert werde und Lebensmittelkarten erhalten könne; sicher musste er sie abge- ben, um im Alumnat mit essen zu können. Frau Hofmann stimmte zu. Ob Karl Richter je vom Quartierrecht bei ihr und ihren Eltern in der Dresdner Niederwald- straße Gebrauch machte, erwähnte sie in ihrem Bericht nicht34 . Zum Winterse- mester 1946/ 1947 immatrikulierte sich Karl Richter dann in Leipzig an der Staatlichen Hochschule für Musik und wohnte, gemeinsam mit einer seiner Schwestern, in Leipzig. Der Kreuzchor konnte im Februar 1947 einen Teil des Schulgebäudes auf der Eisenacher Straße/ Dornblüthstraße in Dresden-Striesen beziehen. Vor der NS- Zeit war es ein Freimaurer-Institut gewesen. Damit endete das Kellerdasein der Alumnen.Auch dieses neue Domizil des Chores, in dem es nun bessere Lebens-
  • 53. 52 und Arbeitsbedingungen und neben einem Probensaal auch ein Dienstzimmer für den Kreuzkantor gab, hat Karl Richter bei seinen Besuchen kennen gelernt. Die Kreuzchorvespern wurden in der Heilig-Geist-Kirche Dresden-Blasewitz, nur einige Gehminuten vom Alumnat entfernt, wieder eingerichtet. Am 2. Juli 1948 eröffnete Karl Richter die Vesper musikalisch mit Toccata, Adagio und Fuge in C-dur von J. S. Bach. Von der Toccata und Fuge in C-dur schrieb Albert Schweitzer, sie habe „heute noch dieselbe Gewalt über die Ge- müter, wie je zuvor.“35 Die Wiedergabe dieses Werkes erfordert hohe Virtuosi- tät und Kraft vom Organisten; Schweitzer sprach vom „wahren Pathos“, wel- ches er gegenüber einem „falschen Pathos“ abgrenzte. Er meinte, dass diejeni- gen, die in der Musik des 19. Jahrhunderts aufgewachsen sind, ein Unterschei- dungsvermögen für wahres und falsches Pathos besitzen. Dem seltenen wahren Pathos, also wie in der Toccata und Fuge C-dur, dürfe sich der Hörer dann, sozusagen ausnahmsweise, mit „doppelten Entzücken“ hingeben. Wir wissen nicht, wie Karl Richter das Werk damals wiedergegeben hat. Zu diesem Zeitpunkt, also etwa ab 1948, studierte er bereits vornehmlich bei Gün- ther Ramin (1898-1956), dem damaligen Thomaskantor; denn etwa ab 1947/48 war Straube durch Krankheiten in seinem Befinden beeinträchtigt. Fest steht, dass Ramin damals bereits den spätromantischen Stil verlassen hatte, was sich sicher auch in der Arbeit mit seinen Studenten widerspiegelte. Das Solo für Knabenalt im Abendlied am Ende der Vesper, eine Komposition Rudolf Mauersbergers, Textdichtung von Gottfried Kinkel (1815-1882)36 , wurde von dem damals knapp dreizehnjährigen Kruzianer Peter Schreier gesungen; Karl Richter begleitete ihn an der Orgel. Rund siebzehn Jahre später, im Jahr 1965, sorgte Karl Richter, inzwischen Pro- fessor für Kirchenmusik und Orgelspiel in München und international tätiger Dirigent, für das Debüt des dreißigjährigen Tenors Peter Schreier in Österreich, indem er ihn für die Hohe Messe in h-moll von J. S. Bach nach Wien holte37 . Eine intensive und langjährige Zusammenarbeit schloss sich an. Peter Schreier war einer der wenigen in der DDR lebenden Künstler, denen es gestattet wurde, noch nach der endgültigen Abriegelung der DDR 1961 durch den „Eisernen Vorhang“ zu reisen. Auch der Bass-Bariton Theo Adam, Karl Richters Schul- und Alterskamerad, gehörte zu ihnen. Zahlreiche Konzerte und Plattenaufnah- men entstanden auf Einladung und unter der Stabführung Karl Richters mit die- sen beiden Sängern. Vielleicht sollte Richters Engagement für das gemeinsame Musizieren, selbst über „eiserne Grenzen“ hinweg, einmal besonders gewürdigt werden.
  • 54. 53 Kopie eines Briefes: Karl Richter an Domkantor Arthur Eger, 15.10.1948 Zwei lose Blätter in: Personalia, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.06-1671.92 Im Herbst 1947 (14.9.47-7.10.47) war der Dresdner Kreuzchor erstmals über die Grenze der Sowjetischen Besatzungszone in den Westen gereist, die Tournee- leitung hatte die Konzertdirektion Kempf in Frankfurt a. M. Im Jahr darauf, 1948, wurde wieder eine dreiwöchige Reise nach Süddeutschland geplant, die am 6.10.1948 beginnen sollte. Karl Richter sollte an dieser Reise teilnehmen. In ihrem Bericht schrieb E. H. Hofmann darüber: „Mauersberger setzte Richter auf die Reiseliste, obwohl Dittrich [Anmerkung der Verfasserin: Dr. Paul Dittrich war der damalige Verwaltungsleiter des Dresdner Kreuzchors] ihn gestrichen hatte. ‚Ich kann bei der gegenwärtigen Situation im Chor auf Richter nicht verzichten, er ist mir unentbehrlich’, erklärte Mauersberger.“38 Die Reise begann mit einem Konzert in Fulda, am 14.10.1948 sang der Chor im Münster zu Ulm.Am 15.10.1948 starb Mauersbergers sehr geliebte Mutter, 87jäh- rig, in Mauersberg im sächsischen Erzgebirge. Sofort stellte sich Karl Richter für die Chorleitung zur Verfügung. Aber Mauersberger lehnte ab, blieb der Be- erdigung seiner Mutter fern und führte die Reise selbst zu Ende. Erna Hed- wig Hofmann erinnerte sich im Folgenden: „Wie mir später Mitglieder des damaligen Männerchores erzählten, soll Karl Richter geäußert haben, daß dieser Entschluß des Kantors für ihn niederschmetternd gewesen sei und bei ihm einen schweren Vertrauensbruch bewirkt habe.“39 Das enge Verhältnis, das der Kreuzkantor zu seiner Mutter und zu seinem Hei- matort Mauersberg hatte, war im Chor allgemein bekannt. Dennoch fuhr er nicht zur Beisetzung nach Hause. Vermutlich erschien Mauersberger die Verantwor- tung der Chorleitung für den 22jährigen Richter zu groß, die Reise für den Chor und für sich selbst zu bedeutsam – Genaueres ist nicht bekannt. Richter setzte die Reise nach diesem Vorkommnis mit fort.40 Nach der Rückkehr konzentrier- te er sich auf den Abschluss seines Studiums in Leipzig. Unbeachtet schien geblieben zu sein, dass Karl Richter an diesem 15. Oktober seinen 22. Geburtstag hatte.Auch ein ehemaliger Kurzianer, der an dieser Reise teilnahm, konnte sich im mündlichen Gespräch mit der Verfasserin nicht mehr erinnern, dass damals Richters Geburtstag irgendwie Beachtung gefunden hät- te. Von eben diesem 15. Oktober 1948 datiert der vorliegende Brief, den er an
  • 55. 54 Arthur Eger schrieb; seit seiner Kindheit durfte er ihn „Onkel Arthur“ nennen. In der fünften Zeile des Briefes fällt auf: Richter schrieb, dass die Tournee noch bis zum 28. Januar andauere. Es könnte sich um einen Fehler handeln, denn die Tournee, auf der er sich befand, dauerte einschließlich der Rückreise bis zum 28. Oktober. Oder hatte das Datum ‚28. Januar’ eine andere Bedeutung? Inhaltlich ging es um die Gestaltung einer geplantenAbendmusik im Freiberger Dom, an der Karl Richter wesentlich mitwirken sollte und zu der Karl Straube eingeladen war. Weder seinen Geburtstag noch den Trauerfall Mauersbergers erwähnte er. Möglich, dass er den Brief früh am Tage schrieb, noch bevor der Todesfall bekannt wurde. Vielleicht bedeutete der Brief für ihn, unabhängig da- von, zu welcher Tageszeit er ihn verfasste, eine persönliche Freude, die er sich an seinem Geburtstag zuteil werden ließ.An einen vertrauten Menschen zu schrei- ben, kann entlasten und eine innere Nähe zum Adressaten schaffen. Und Karl Richter nahm inhaltlich das in den Blick, was ihm besonders am Herzen lag – die Musik.
  • 56. 55 Karl Richter am Cembalo (Fotonegativ: Bacharchiv Leipzig) Das Bild am Cembalo ist im Jahr 1949 im privaten Bereich entstanden (Wohnzimmertüren, Wohnzimmertapeten, neben dem Cembalo ein Schreibtisch mit Tintenfass); wo es aufgenommen wurde, ist nicht eindeutig klar. Es könnte in Günther Ramins Wohnung sein, denn er besaß ein Cembalo privat. Im Bach- archiv war das Foto bisher nicht bekannt, es existierte nur als Fotonegativ (Kleinbildkamera). Es zeigt Richter wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte 1949; er ist sehr schlank, trägt einen umgearbeiteten Anzug und zur Schonung der Ärmelkanten „Klavierspielerstulpen“. Zu diesem Foto machte Dieter Ramin, der Sohn von Günther Ramin, Anfang November 2013 folgende Anmerkungen: ...Das Cembalo stand bei uns auf der Diele an der Wand. Es hatte schwarze Tasten und die Züge waren weiss. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das Bild bei uns gemacht wurde. Allerdings stand es normalerweise nicht vor einer Tür, obwohl die Intarsien der Tür dem Stile der Wohnung entsprachen. Das Cembalo stand auf einem Pedal, das damals gratis geliefert wurde, aber das ist ja nicht zu sehen...
  • 57. 56 Karl Richter an der Sauer-Orgel in der Thomaskirche Archiviert unter: Bacharchiv Leipzig, „Sammlung Heyde“, Foto 969, A 8 und A 45 (beide nur als Foto-Negative vorhanden), Herstellung der Scans und der Fotoabzüge mit Unterstützung des Bacharchivs Leipzig Die Tätigkeit Karl Richters als Organist an der Thomaskirche in Leipzig dauerte eineinhalb Jahre. In seiner Sitzung vom 3. Mai 1949 verhandelte der Kirchen- vorstand der Thomas-Matthäi-Gemeinde unter Punkt 4. der Tagesordnung über die künftige Anstellung Karl Richters als Organist – geplant zunächst für ein Jahr.43 Er hatte das Amt vom 1. 7. 1949 bis zum 31.12.1950, also achtzehn Monate, inne. In dieser kurzen Zeit hat er sich, bei Dienstantritt noch keine 23 Jahre alt, mit einem unglaublich reichen Repertoire an Orgelliteratur der Öffent- lichkeit vorgestellt. In den wöchentlichen Motetten, jeweils freitags und sams- tags in der Thomaskirche, brachte er von Mal zu Mal andere Werke zu Gehör, darunter auch Stücke, die er später wohl selten gespielt hat, wie z. B. Präludium und Fuge in e-moll von Nikolaus Bruhns (am 24.3.1950). Auf die Dienste in den Motetten folgten allwöchentlich die sonntäglichen Gottesdienste mit ihrem liturgischen Orgelspiel und die Ausgestaltung liturgischer Feiern im Rahmen von kirchlichen Amtshandlungen.
  • 58. 57 Neben dem Internationalen Bachfest 1950, das vielfältige Aufgaben für den Thomasorganisten mit sich brachte, begleitete Karl Richter im Frühjahr 1950 den Thomanerchor unter Günther Ramin auf eine Konzertreise in die Bundesrepublik Deutschland und in die Schweiz und spielte im August 1950 für den Rundfunk, dann schon alsBachpreisträger,inderThomaskirche Orgelwerke ein.44 Und selbst- verständlich spielte er Continuo bei denAufführungen von Kantaten und Oratori- en des Thomanerchores, sowohl an der Orgel als auch am Cembalo. Dazu kamen eigene solistischeAuftritte, also Orgelkonzerte und Cembalokonzerte. Leider sind nicht alle Programmzettel aus dieser reichen Schaffensperiode des jungen Karl Richter erhalten; erst ab 1950 wurden im Bach-Archiv Leipzig die Dokumente systematisch gesammelt. Dennoch zeugen die erhaltenen Programme von einem ganz außergewöhnlichen Wirken, das sicher verbunden war mit ebenso außeror- dentlichem Fleiß. Die Presse begann sich mit dem jungen Künstler zu beschäfti- gen. Einige Kritiken sind erhalten und können hier vorgelegt werden. Eine zusätzliche Aufgabe hatte der junge Organist Karl Richter als Lehrkraft im Fach Orgel an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater Leipzig über- nommen, welche er von Juli 1949 bis zum März 1951, also bis zum Ende des Wintersemesters 1950/51 und bis kurz vor seinem Weggang aus Leipzig ausüb- te.45 Zu seinen Schülern gehörten sein späterer Nachfolger im Amt des Thomas- organisten Hannes Kästner und die damaligen Studierenden Gerhard Richter, Bri- gitte Hannibal und Albrecht Haupt.
  • 59. 58
  • 60. 59
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  • 63. 62 Karl Richter im Jahr 1949 Foto: Aus dem Nachlass von Karl Richters Schwester Gabriele Sieg
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  • 79. 78 Deutsche Bach-Feier Leipzig 1950, Programmheft Archiviert unter: Programmsammlung 1950, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-127ff, Fiche 103 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Zum Ende des Sommersemesters 1949 schloss Karl Richter sein Studium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Leipzig mit dem Staatsexamen ab; die Prüfungen absolvierte er vom 1. bis zum 19. Juli 1949 in folgenden Fä- chern: Liturgisches Orgelspiel (sehr gut),Virtuoses Orgelspiel (mitAuszeichnung), Lehrprobe Methodik des Klavierspiels (gut), Klavierspiel (mit Auszeichnung), Orchester- und Chordirigieren (gut) – als Gesamtprädikat erreichte er „sehr gut“. Im Juli 1949 wurde Karl Richter Thomasorganist in Leipzig. Er hätte mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Stelle an der Heilig-Geist-Kirche in Dresden bekom- men können, lehnte aber ab, sich zu bewerben, da ihm das Organistenamt an St. Thomas einen größerenWirkungskreis versprach.41 Am 27.April1950 starb 77jäh- rig sein ehemaliger Lehrer Karl Straube, vormals selbst Thomasorganist und Tho- maskantor. In der Trauermottete am 28. April 1950 spielte Karl Richter ihm zum Gedenken in der Thomaskirche die Passacaglia von J. S. Bach. Nur knapp ein Vierteljahr darauf fand in Leipzig vom 23. bis 31. Juli 1950 die Deutsche Bach-Feier anlässlich des 200.Todestages J. S. Bachs statt. Karl Straube hatte für die „Bach-Gedenkschrift 1950“ im Auftrag der Internationalen Bach- Gesellschaft noch einen großenArtikel verfasst.42 Nun erlebte er das Bach-Fest mit der Beisetzung der Gebeine Bachs in der Thomaskirche, sie waren vom Johannis-Friedhof in Leipzig überführt worden, nicht mehr mit. Für Karl Richter war das Bach-Fest 1950 sozusagen eine Feuerprobe. Er nahm am Internationalen Bach-Wettbewerb teil. Am 26. Juli 1950 wurden die Preis- träger bekannt gegeben: Karl Richter erhielt einen 1. Preis im Fach Orgel. ImRahmenderBach-FeiertraterinLeip- zig zehnmal hervor, sowohl als Cembalist als auch als Organist. Am 24. Juli spielte er das Cembalo in einem Kammerkon- zert-Programm, am 26. Juli das Cemba- lo in der Hohen Messe h-moll, am 27. Juli das Cembalo in einem Kammerkon-
  • 80. 79 zert und am 28. Juli trat er viermal auf: um 9 Uhr in einer Gedenkstunde am Sarkophag Bachs spielte er den Orgelchoral „Vor deinen Thron tret ich hier- mit“, der als letzte Komposition Bachs gilt, um 11 Uhr in der Nationalfeier konzertierte er auf dem Cembalo in zwei Orchesterwerken, um 15 Uhr gab er ein eigenes Orgelkonzert in der Thomaskirche und um 18.30 Uhr übernahm er das Continuospiel am Cembalo in der Johannes-Passion. Am nächsten Tag, dem 29. Juli, eröffnete er die Motette in der Thomaskirche zum Gedenken an Karl Straube mit Präludium und Fuge in h-moll an der Orgel; am 30. Juli spielte er im Festgottesdienst um 9 Uhr die Orgel, am gleichen Tag fand um 14.30 Uhr das Konzert der Bach-Preisträger statt. Am 31. Juli fuhr er mit nach Rötha, der Herkunftsstätte der von ihm sehr ge- schätzten Silbermannorgel. Sie wurde 1950 im Saal des alten Rathauses Leipzig aufgestellt und konnte erst 1960 nach Rötha zurückkehren. Bei näherer Beschäftigung mit dem Gesamtprogramm für die Bach-Feier 1950 begegnen dem Leser Namen von Musikern und Musikerinnen aus ganz Deutsch- land und dem Ausland, die sich – so will es scheinen – noch einmal am histori- schen Ort um Johann Sebastian Bach zum gemeinsamen Musizieren, Lernen und Feiern eingefunden hatten. Mit einigen von ihnen, z. B. mit Diethard Hell- mann, Joseph Keilberth und Gert Lutze blieb für Karl Richter auf viele Jahre nach diesem Bachfest von 1950 die enge musikalische und menschliche Verbin- dung bestehen. Er erlebte, wie einzelne von ihnen früher oder später den glei- chen Weg gingen, den er 1951 nahm – weg aus der DDR. Andere Künstler, die er teilweise gut kannte und schätzte wie Erhard und Rudolf Mauersberger, Gün- ther Ramin, Ekkehard Tietze oder Amadeus Webersinke hatten pädagogische oder kirchliche Aufgaben übernommen und fühlten sich verpflichtet, der musi- kalischen Sache wegen zu bleiben. So ließ die Bach-Feier mit der Beisetzung der Gebeine Johann Sebastian Bachs in der Thomaskirche bereits etwas von einem noch anderen Abschied ahnen. Auch den heutigen Leser lässt das Programm an manchen Stellen aufmerken und nachdenken darüber, wie die Staatsträger der DDR die Hand auf die Künst- lerinnen und Künstler zu legen begannen. „Kulturschaffende“ nannte der dama- lige Staatspräsident der DDR sie im Vorwort des Programmheftes. Von der „ech- ten Volksverbundenheit“ Bachs war die Rede – die Glaubensverbundenheit der Musik Bachs blieb unerwähnt. So genannte „weltliche Musik“ Bachs wurde für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), einer der DDR-Staatsfüh- rung zugeordneten Organisation, in zwei besonderen Konzerten, in „geschlos- senen Veranstaltungen“, aufgeführt.
  • 81. 80 Noch hielt Landesbischof Hugo Hahn, ein führender Kopf der Bekennenden Kirche in Sachsen, am 28. Juli dieAnsprache am Bach-Sarkophag, noch konnte sein Amtsbruder Landesbischof Hans Lilje aus Hannover am 30. Juli die Pre- digt im Festgottesdienst in der Thomaskirche halten. Wie lange war diese Ge- meinsamkeit noch möglich? Am 30. Juli fand eine der beiden „geschlossenen Veranstaltungen“ für den FDGB im Leipziger Opernhaus statt. Die Leitung des Konzertes „Von Johann Sebasti- an Bach zur Gegenwart“ hatte Hans Sandig, langjähriger Leiter der musikali- schen Vereinigungen des Mitteldeutschen Rundfunks. Er eröffnete das Konzert mit der weltlichen Bachkantate BWV 212, auch als „Bauern-Kantate“ bezeich- net. Für das Programm wurde die ebenfalls übliche Bezeichnung der Kantate „Mer hahn en neue Oberkeet“ gewählt. Der Tenor dieser „geschlossenen Veran- staltung“ war wohl nicht zu überhören.
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  • 128. 127 Das Ausscheiden als Thomasorganist und der Neubeginn Karl Richters in München Am 1. März 1951 wandte sich Staatsrat Dr. Meinzolt im Bayerischen Staatsmi- nisterium für Unterricht und Kultus an den Präsidenten des Ev.-Luth. Landes- kirchenamtes in Sachsen, Herrn Dr. Erich Kotte, und bat umAuskunft, da an der Staatlichen Hochschule für Musik in München die Stelle eines Lehrers für Or- gel und die Organistenstelle an einer evangelischen Kirche in München zu be- setzen sei. Meinzolt schrieb: „Er [gemeint ist Karl Richter] soll ein sehr tüchtiger Musiker sein, muss je- doch aus ‚persönlichen Gründen’ aus dem Kirchendienst in Leipzig ausscheiden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir baldgefälligst mitteilen würden, welche Bewandtnis es mit diesen ‚persönlichen Gründen’ hat.“46 Was war dieser Anfrage vorausgegangen, wie kam sie zustande? Der Kirchenvorstand der Thomas-Matthäi-Gemeinde Leipzig hatte am 19. De- zember1950, also kurz vor Weihnachten, den Beschluss gefasst, Karl Richter nicht länger als Thomas-Organisten zu beschäftigen. Eine Begründung für diese Entscheidung wurde nicht aktenkundig gemacht und eine solche ist auch ge- danklich heute, nach mehr als sechzig Jahren, kaum nachvollziehbar. Einen dienstlichen oder fachlichen Grund gab es jedenfalls nicht. Im Protokoll des Kirchenvorstandes heißt es: 4. „Die Probezeit des Organisten Karl Richter ist abgelaufen. Der Vorsitzende berichtet, daß das Landeskirchenamt [Richter als ständigen Thomasorganisten]47 aus persönlichen, nicht aus musikalisch-künstlerischen Gründen es ablehnt, Richter als stän- digen Thomasorganisten zu bestätigen. Demzufolge scheidet Richter in beiderseitigem Einvernehmen mit Ende des Jahres aus dem Dienst der Thomas-Matthäi-Gemeinde aus. Mit der Vertretung wird bis auf weiteres Johannes Kästner beauftragt. Monatliche Vergütung 300 DM. Im übrigen wird dem LKA die Erledigung der Organistenstelle berichtet und dabei gebeten werden, von der Ausschreibung der Stelle abzusehen.“48 Von den damals amtierenden Geistlichen unterzeichnete neben Laien-Kirchen- vorstehern Pfarrer Rüdiger Alberti dieses Protokoll.49 Karl Richter wird diese Entscheidung noch vor Weihnachten mitgeteilt worden sein.Aus den erhaltenen Programmzetteln wissen wir, dass er bis zum Jahresen- de in der Thomaskirche die Orgel gespielt hat, zuletzt in zwei Konzerten an den
  • 129. 128 Abenden des 29. und 30. Dezember 1950 die sechs Sonaten für Orgel von J. S. Bach.50 Auch am Silvestertag, der 1950 auf einen Sonntag fiel, hat er den Orgel- dienst in der Thomaskirche versehen, er spielte Fantasie und Fuge g-moll von J. S. Bach in der Silvester-Motette der Thomaner; das erhaltene Programm kann vorgelegt werden. Obwohl er in Leipzig noch Lehrverpflichtungen hatte, musste sich Karl Richter nun nach einer geeigneten Stelle umsehen. Aber was war eine geeignete Stelle für einen Internationalen Bachpreisträger, einen Mann, der von der Orgelbank der Thomaskirche Leipzig kam, der ehemaligen Wirkungsstätte Johann Sebasti- an Bachs und der damaligen Bachpflegestätte schlechthin? Er hat sehr viel spä- ter, im Jahr 1979, in einem Interview mit der WELT-Journalistin Kläre Warn- ecke auf diese Zeit zurück geblickt und gesagt: „Ich habe damals, als ich in den Westen kam, in mehreren Städten Probe ge- spielt. Auch in Freiburg. Aber da wurde ich nicht genommen, weil der Genzmer und der Gustav Schreck der Meinung waren, dass ich kein Verhältnis zur zeitgenössischen Musik hätte. Dann habe ich in München Probe gespielt. Und da hat mir der unlängst verstorbene Robert Heger als Präsident der Hochschule geschrieben, das Ministerium könne sich nicht entschließen, einen 24jährigen ins Lehrerkollegium aufzunehmen, aber sie würden mir anbieten, die Vertretung als Orgellehrer zu übernehmen für ein Semester - in der Zeit könnten sie sich dann um einen Besseren bemühen. Ich habe den Vorschlag angenommen und natürlich gehofft, dass sie keinen Besseren finden. Ja, so ist es gewesen.“51 So ist es gewesen: Nicht nur Dr. Meinzolt von Bayerischen Staatsministerium fragte nach dem beeindruckenden Vorspiel Karl Richters in München52 beim Sächsischen Landeskirchenamt in Dresden nach, was es denn mit den „persön- lichen Gründen“ des jungen Organisten auf sich hätte. Auch andere, ähnliche Anfragen an das Landeskirchenamt in Dresden liegen vor. So wandte sich das Ev.-Luth. Landeskirchenamt Hannover am 2. Juni 1951 an das Landeskirchen- amt in Dresden mit den Worten: „Wie wir erfahren haben, ist Richter die Anstellungsfähigkeit im dortigen Be- reich [gemeint ist Leipzig] entzogen. Wir bitten um vertrauliche Mitteilung, welche Umstände hierzu Veranlassung gegeben haben…“53 Alle Anfragenden erhielten die Antwort, mit welcher der sächsische Landesbi- schof Hugo Hahn bereits dieAnfrage des Hauptabteilungsleiters Grünbaum der „Hauptabteilung Verbindung zu den Kirchen“, anhängig beim Stellvertretenden
  • 130. 129 Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, vom 15.1.1951 an den Präsiden- ten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsen beschieden hatte. Offenbar war man bei der Regierungsstelle in Berlin auf die Situation in Leipzig aufmerksam gemacht worden. Allerdings war Richters Ausscheiden aus dem Organistenamt zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen. Die Antwort Bischof Hugo Hahns wur- de im Landeskirchenamt mehrfach benutzt und weiteren Anfragenden, meist mit einem kurzem persönlichenAnschreiben, zugesandt. In ihrer ersten Fassung vom 2. Februar 1951, unterschrieben von Hugo Hahn, lautete sie: „…Herr Präsident Kotte hat mir Ihr Schreiben vom 15. Januar 1951 überge- ben, da die Angelegenheit unseres Organisten Karl Richter eine seelsorgerliche ist und ich bisher von unserer Kirchenleitung allein, und zwar mehrfach, mit ihm persönlich gesprochen habe. Der seelsorgerliche Charakter unserer Gespräche bedingt es, dass ich Ihnen darüber keine näheren Auskünfte geben kann. Nur soviel kann ich ausdrücklich aufgrund des in dieser Sache gefassten Beschlusses des Kirchenvorstandes der Thomas- kirche mitteilen: Das Ausscheiden unseres Herrn Richter ist nicht aus musikalisch- künstlerischen, sondern aus persönlichen Gründen erfolgt. Es geschah nach Ablauf seiner Probezeit, und zwar in beiderseitigem Einvernehmen zwischen dem Kirchenvorstand und Herrn Richter.“54 Das Schreiben schließt mit einem Hinweis, man möge sich, um Näheres zu erfahren, an Herrn Richter selbst wenden. In keinem der erhaltenen Protokolle des Kirchenvorstandes der Thomas-Matthäi- Gemeinde Leipzig finden sich Hinweise auf Aussprachen mit Karl Richter, die auf ein „beiderseitiges Einvernehmen“ seinesAusscheidens aus demAmt schlie- ßen lassen. Sollten Gespräche stattgefunden haben, wurde darüber nichts doku- mentiert, bzw. die Dokumente sind heute nicht mehr auffindbar. Dass der Landesbischof sich selbst einer solchen Angelegenheit annahm, ist zumindest bemerkenswert. Bischof Hugo Hahn55 kannte die Leipziger Verhält- nisse aus seiner Zeit als Pfarrer an der Thomaskirche.Auch kannte er Karl Rich- ter vom Bachfest in Leipzig her; bei der Beisetzung der Bachgebeine in der Thomaskirche hatten sie liturgisch zusammengewirkt. Der Bischof wollte ver- mutlich Karl Richter als Thomasorganisten nicht verlieren; dafür sprechen sei- ne persönlichen Bemühungen wie das Führen mehrerer seelsorgerlicher Gesprä- che mit ihm. Auch die Bezeichnungen Richters in seiner Antwort als „unseres Organisten“ und „unseres Herrn Richter“ lassen ahnen, dass er entweder eine Nähe zu Richter ausdrücken wollte oder den Empfängern bedeuten lies: das ist allein unsere (kirchliche) Angelegenheit. Für die eigentliche Anstellung des Thomasorganisten waren die Kirchgemeinde und der Kirchenvorstand selbst
  • 131. 130 zuständig. Immerhin wirkt es bis heute irritierend, dass der Kirchenvorstand der Thomas-Matthäi-Gemeinde im Beschluss vom 19.12.1950 sich darauf berief, das Landeskirchenamt (LKA) habe der ständigen Anstellung nicht zugestimmt. Und ebenfalls irritierend wirkt es, zumindest aus heutiger Sicht, dass Bischof Hahn einem Vertreter der staatlichen Macht in der DDR, eben jenem Hauptab- teilungsleiter Grünbaum, den Hinweis gab, man möge sich, um Näheres zu er- fahren, an Richter selbst wenden. Die Widersprüche lassen sich nicht mehr auf- klären. Aber sie zeigen an, wie kompliziert die Dinge lagen. In Leipzig formierte sich Widerstand gegen das Ausscheiden Richters aus dem Organistenamt, der allerdings angesichts des in der Weihnachtszeit überraschend bekannt werdenden Beschlusses zu spät kam. So wandte sich am 19.2.1951 der Inhaber der Konzertdirektion Jost an das Landeskirchenamt: „…Ich schreibe diese Zeilen von mir aus, ohne jede Beeinflussung von anderer Seite. Herr Richter ist eines der größten Talente, die ich seit meiner 55jährigen Konzerttätigkeit kennen gelernt habe, und bedaure unendlich, dass dieser gro- ße, bescheidene Künstler und Mensch als Orgelspieler und Cembalist von der Kirche entlassen worden ist…Ich und viele tausend andere Menschen bedau- ern den Schritt ungemein…“56 Auch Herr Jost erhielt am 22. 2. 1951 eine Antwort, gez. D. Hahn, mit dem gleichen Wortlaut wie Herr Grünbaum von der Hauptabteilung „Verbindung zu den Kirchen“. Zahlreiche Studenten in Leipzig, teilweise eifrige Kirchenbesucher und Hörer in Karl Richters Konzerten, teilweise direkt seine Schüler in der Hochschule, formierten sich von sich aus zu einer Gegenaktion. Am 28. März 1951, 10.30 Uhr, sprach der Student Christoph Rau in Begleitung eines Kommilitonen im Landeskirchenamt vor. Auch darüber gibt es im Landeskirchenarchiv eine Ak- tennotiz. Christoph Rau, heute Theologe und Pfarrer der Christengemeinschaft in Braunschweig, erinnerte sich in einem Brief an d. Verf. vom 7.11.2012 an seinen damaligen Besuch im Landeskirchenamt in Dresden: „…Als sich herausstellte, dass der Leipziger Superintendent an KRs Suspen- dierung festhielt, beschlossen wir, eine Delegation an das Landeskirchenamt zu sen- den. Da ich in Dresden zuhause war, bot es sich an, dass ich der Delegation angehören würde. Auch der von der Idee beseelte A. Haupt (später Kantor und Organist in Ulm) wollte sich für KR einzusetzen (sic!)…Wir beiden fuhren also nach D., das Landeskirchenamt befand sich damals infolge des Totalschadens in der Münchener
  • 132. 131 Straße. Dass unser Anliegen keine günstige Aufnahme fand, wissen Sie bereits. Der zuständige Oberkirchenrat Noth (später Landesbischof von Sachsen) beschied uns klipp und klar, die Angelegenheit sei ausgiebig besprochen und der Beschluss der Kirchen- leitung stehe unumstößlich fest. Darauf kehrten wir zurück, in der festen Absicht, nun einen anderen Weg zu wählen…“57 Dieser andere Weg bestand darin, dass die Studenten nach der Motette in der Thomaskirche Unterschriftenlisten für eine Petition an die Kirchenleitung an denAusgängen auslegen wollten. Dieses Unternehmen scheiterte. Christoph Rau erinnerte sich: „…durch irgendjemand uns bis heute unbekannt Gebliebenen erhielt der Superinten- dent Wind von unserem Vorhaben…Als ich KR einige Tage danach auf seine Frage hin von unserem Plan erzählte, schmunzelte er, erklärte aber, auch seinerseits stehe fest, dass er fortgehen wolle…“ Karl Richters eigene Entscheidung war zu jenem Zeitpunkt, also Ende März/ Anfang April 1951, bereits gefällt. Zum Grund für das Ausscheiden aus dem Organistenamt an der Thomaskirche äußerte sich der Zeitzeuge Christoph Rau: „Uns war bekannt, dass KR wegen eines illegalen Verhältnisses zu einem Mäd- chen suspendiert worden sei. Ein anderer Grund dürfte nicht vorgelegen haben, jeden- falls ist mir kein anderer bekannt geworden. Wir hielten diese Begründung für über- holt, schon darum mussten wir gegen eine so konventionelle Entscheidung angehen, das stand außer allem Zweifel.“58 Ein weiterer noch lebender Zeitzeuge bestätigte gegenüber d. Verf. mündlich, dass eben dieser Grund, ein freundschaftliches Verhältnis des 23jährigen Rich- ter zu einem etwa gleichaltrigen Mädchen den Ärger des kirchlichen Oberhaup- tes in Leipzig erregt hätte, wobei schon einige Zeit vor der Entlassung Richters dieses Freundschaftsverhältnis in der Lösung gewesen sei. Ein dienstlicher oder künstlerischer Grund sei ganz und gar auszuschließen. Bischof Hugo Hahn dachte wohl längere Zeit an dieses Ausscheiden Richters und die Entscheidung der kirchlichen Behörden zurück. So hat er Ende 1951 wohl Günther Ramin, den Thomaskantor, umAuskunft über Karl Richter gebe- ten. ImArchiv der Thomaskirch-Gemeinde Leipzig ist ein Brief Günther Ramins vom 20.11.1951 an Landesbischof Hugo Hahn erhalten, indem es u. a. heißt: „…Was Karl Richter anbelangt, so hat er augenblicklich für ein Probejahr eine Anstellung in München an der Markuskirche und der dortigen Hochschule erhal-
  • 133. 132 ten. Näheres weiß ich Ihnen nicht darüber zu sagen…“ 59 Günther Ramin war es auch, der sichAnfang 1951, noch vor dem Vorspiel Rich- ters in München, gegenüber dem damaligen Stadtdekan, Dr. Theodor Heckel, fürsprechend über Karl Richter geäußert hatte.60 Dennoch: Karl Richter konnte sich nicht sicher sein, dass er die Organistenstelle in St. Markus, die der nach Detmold berufene Michael Schneider inne gehabt hatte, bekommen würde. Er bewarb sich auch nach dem Vorspiel weiter, die o. g.Anfrage des Landeskirchen- amtes Hannover an das Landeskirchenamt in Dresden noch im Juni 1951 zeigt das beispielhaft.Auch sein jugendliches Alter wurde als ein gewisses Hindernis für eine Anstellung angesehen. Schließlich fiel die Entscheidung und Richter konnte am 1. Oktober 1951 sein neues Organistenamt, verbunden mit der Lehr- tätigkeit in der Staatlichen Hochschule für Musik in München, an der Markus- kirche in München antreten. Vielleicht hatte die Treue, mit der er an diesem Amt bist zu seinem Tod 1981 festhielt, auch etwas mit der damaligen Situation zu tun? In München an der Markuskirche hatte er einen neuen selbständigenAusgangspunkt für sein weite- res Wirken gefunden. Karl Richter brachte nach München viel mit: sein großes Repertoire, seinen Fleiß, seine ungeheure Musikalität und seinenArbeitswillen, seine Liebe zur Musik, seine tiefen musikalischen Kenntnisse besonders der Werke J. S. Bachs, seine Verwurzelung im evangelischen Glauben, verbunden mit einer ökumenischen Offenheit – und eine menschliche Hypothek. Was ihm in Leipzig geschehen war, hatte für Folgen gesorgt.Auch das war einAusgangs- punkt seines weiteren Wirkens.
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  • 136. 135 Konzert des Dresdner Kreuzchors am 24.9.1953 in der Markuskirche, München Archiviert unter: Programmsammlung 1953, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.4-72f, Fiche 111 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Im April 1951 verließ Karl Richter Leipzig und wandte sich zunächst nach Zü- rich. Für manche, die sich mit ihm verbunden fühlten, wird es eine schmerzliche Trennung gewesen sein. Es ruhten Hoffnungen auf ihm. Rudolf Mauersberger sah in ihm, er hat es wiederholt geäußert, einen möglichen Nachfolger für das Amt des Kreuzkantors.61 Familienangehörige und Bekannte wie Domkantor Arthur Eger, die ihn viele Jahre begleitet hatten, werden ihn vermisst haben. Lehrer wie Günther Ramin, Kollegen wie Amadeus Webersinke62 und erste ei- gene Orgelschüler wie Hannes Kästner63 blieben in Leipzig zurück. Als er sich um das Organistenamt in St. Markus in München bewarb, war er trotz seiner Jugend, er war 24 Jahre alt, musikalisch gesehen kein „unbeschrie- benes Blatt“. Er war Internationaler Bach-Preisträger und Gewinner des Orgel- preises „Concours International D’ Exécution Musicale Genf“, außerdem war er bis zum 31.12.1950 Thomasorganist gewesen. Nun machte er eine Zeit der be- ruflichen Neuorientierung und des Suchens durch. In München ging es um die Stelle, die Michael Schneider innehatte, welcher einem Ruf an die Musikakade- mie Detmold folgen wollte.Auch Michael Schneider war von 1930-1932 Straube- Schüler gewesen. Es gab bereits ausgewiesene Bewerber für dieses Kantoren- amt, das mit einer Lehrtätigkeit für evangelische Kirchenmusik und Orgelspiel an der Münchner Musikakademie verbunden war. Im Oktober, noch vor seinem 25. Geburtstag, wurde Karl Richter berufen und er begann sofort zu arbeiten. Knapp zwei Jahre darauf, im September 1953, gab es ein Wiedersehen mit Ru- dolf Mauersberger und dem Dresdner Kreuzchor. Der Kreuzchor reiste durch Süddeutschland mit einem umfangreichen Chorprogramm, welches hier vorge- legt werden kann. An drei Stellen des Programms war auch Orgelmusik vorge- sehen. Der Organist kam in der Regel aus der jeweiligen gastgebenden Kirche – in der Münchener Markuskirche war es Karl Richter. Dessen Orgelspiel kündig- te Rudolf Mauersberger den Kruzianern mit der Aufforderung an, diesmal gut zuzuhören: „Da spielt einer, der war einmal Kruzianer und heißt Karl Richter. Nur so, wie ich euch jetzt kenne, wird das keiner von euch je schaffen.“64
  • 137. 136 Auch die mitgereiste E. H. Hofmann erinnerte sich an Richters Orgelspiel: „Als spätere Mitreisende einer Kreuzchor-Tournee, deren Plan auch ein Kon- zert in der Münchner Markuskirche enthielt, erlebte ich nach Jahren Karli in seinem bundesdeutschen Wirkungsbereich. Ich war überwältigt von seinem Orgelspiel, seiner beseelten, glutvollen Interpretation, welche dieArchitektur des kompositorischen Auf- baus minutiös nachzeichnete.“65 Kreuzkantor Rudolf Mauersberger hat mit eigener Hand auf dem Programm vermerkt: 24.9.53 – München, Markuskirche [25./26. Rundfunk – Grammophon=Ges.] Ob die Rundfunkaufnahmen an den beiden auf das Kon- zert folgenden Tagen ebenfalls in der Markuskirche stattfanden und ob Karl Richter auch während dieser Rundfunkaufnahmen Orgelmusik beisteuerte, ist bisher nicht bekannt. Im Herbst des Jahres 1954 gastierte der Kreuzchor erneut in München, diesmal in der Lukaskirche. Karl Richter wirkte in diesem Konzert nicht an der Orgel mit.66 Dass es dennoch zu einer persönlichen Begegnung mit Rudolf Mauersberger kam, kann vermutet werden.
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  • 142. 141 Kopie eines Briefes von Karl Richter an Herbert Kunath, datiert mit 7.3.1979 Archiviert unter: Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Kreuzschularchiv, 20.06-1671.92 (zwei lose Blätter) Sehr viele Kreuzschüler bewahren auch nach dem Ende ihrer Schulzeit ein Ge- fühl der Verbundenheit miteinander, oft lebenslang. Es ist bekannt, dass Karl Richter in seinen Münchener Jahren mit ehemaligen Kruzianern regelmäßig auf künstlerischem Gebiet zusammenarbeitete, heraus- ragend war sicher die Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Schulkamera- den, dem Bass-Bariton TheoAdam und mit dem um eine „Chorgeneration“ jün- geren Tenor Peter Schreier. Letzteren lernte er allerdings erst nach dem 2. Welt- krieg beim Kreuzchor kennen; damals studierte er bereits in Leipzig.Außerhalb des künstlerischen Zusammenwirkens unterlagen Kontakte zwischen West und Ost den Bedingungen, die der „Eiserne Vorhang“ geschaffen hatte. Eine menschliche Verbundenheit, die aus der Schulzeit stammte, blieb zwischen Karl Richter und Herbert Kunath bestehen. Die politische Grenze konnte ihre Freundschaft nicht unterbinden. Herbert Kunath stammte aus Pirna, war drei Jahre älter als Richter (Jahrgang 1923) und trat 1933 in den Kreuzchor ein. Ab 1969 lehrte er auf einer Professur für Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Dresden.67 Im Jahr 1977 ereilte ihn aufgrund einer schweren Bandscheibenerkrankung eine Querschnittslähmung, die ihn in den Rollstuhl zwang. Er starb 1989, 66jährig, in Dresden. Herbert Kunath hat sich nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden aus seiner Professur verstärkt mit musikhistorischen Fragestellungen beschäftigt, die so- wohl die Geschichte des Dresdner Kreuzchors als auch die Erforschung der Dresdner Orgeln und deren Organisten betrafen.68 In seinen letzten von Krank- heit geprägten Lebensjahren, pflegte er die Kontakte zu ehemaligen Kruzianern besonders intensiv. Aus den 1970er Jahren datieren einige erhaltene Briefe von ihm an Richter und einige Briefe Richters an Kunath.69 Ein solcher Briefgruß Richters an Kunath ist auch das hier vorgestellte Dokument. In einem anderen dieser Briefe wird ein weiter zurückliegendes (zufälliges?) Treffen in Finnland angesprochen, ohne genauere Angaben.70 Alle Briefe Richters sind, obwohl in herzlichen Worten geschrieben, kurz gehalten. Es ging ihm wohl darum, dem
  • 143. 142 Freund, so nennt Richter seinen Briefpartner Kunath, Zeichen seiner Verbun- denheit und gute Wünsche über den „Eisernen Vorhang“ hinweg zu senden. Selbst in die orthopädische Fachklinik des damaligen Bezirkes Dresden, nach Hohwald (bei Sebnitz) schrieb er ihm einmal aus Zürich/ Erlenbach, seinem Wohnort in der Schweiz, herzliche Genesungswünsche. Richter selbst hatte in jenen Jahren mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen; seine großen Schriftzüge könnten mit seinem Augenleiden zusammenhängen. Als Herbert Kunath vom Tode Karl Richters am 15.2.1981 erfuhr, war er sehr betroffen. Karl Richter hatte ihm in seinem Brief vom 7.3.1979 von den Auf- nahmen an der Silbermannorgel in Freiberg im September 1978 geschrieben und einen (ver-)tröstenden Satz auf ein Wiedersehen angefügt. Kunath hatte diese Aufnahme, die kurzzeitig auch in der DDR als ETERNA-Schallplatte er- hältlich war, inzwischen gehört und über sein Hörerlebnis dem Freund brieflich berichtet.Auch danach erhielt er mindestens noch einmal einen Gruß von Rich- ter. Zu einem Wiedersehen kam es nicht mehr. Herbert Kunath konnte nur noch dafür sorgen, dass Karl Richter in die „Ecce-Feier“ für die verstorbenen Kreuz- schüler des Jahres 1981 eingeschlossen wurde. Es ist fester Brauch, dass diese Ecce-Feier, eine geistliche Gedenkstunde, in jedem Jahr einmal im Anschluss an die letzte Kreuzchorvesper des Kirchenjah- res, also in zeitlicher Nähe zum Ewigkeitssonntag (Totensonntag/ Christ-Kö- nig-Sonntag), für die im vergangenen Kirchenjahr verstobenen Kreuzschüler stattfindet. Herbert Kunath korrespondierte in dieser Sache auch mit Karl Rich- ters Schwester Gabriele Sieg, die in Freiberg/ Sa. wohnte und die es übernahm, die engere Familie Richters über die bevorstehende Feier zu informieren.71 Am 14.11.1981 fand das Ecce-Gedenken für Karl Richter in der Heinrich-Schütz- Kapelle der Kreuzkirche statt. Der Lebenslauf einschließlich eines kurzen Ab- risses seiner ausgedehnten Wirksamkeit wurde vorgetragen. Dann erklang „Ecce quomodo moritur iustus“ von Jacobus Gallus (1550-1591)72 , gesungen von den lebenden Kruzianern für die verstorbenen Kruzianer. Das wiedervereinigte Deutschland erlebte Herbert Kunath nicht mehr; im No- vember 1989 wurde seiner in der Ecce-Feier der Kruzianer gedacht.
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  • 145. 144 Quellennachweise DieAnmerkungen wurden in ausführlicher Form ausgeführt. Sie enthalten die genauen bibliografischen Angaben aller verwendeten Quellen. Nochmals gesondert genannt werden hier die benutzten Archivquellen: Archivquellen: Fotosammlung Chorproben, Knabenchor, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.7 F 168 (Scan und Speicherung auf CD durch Fotolabor des Stadtar- chivs Dresden) Fotosammlung Chorproben, Probe mit Präfekt, Stadtarchiv Dresden,Außenstelle Dresd- ner Kreuzchor, 20.7 F 168 (als Scan bezeichnet mit F 168a und Speicherung auf CD durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden) Programmsammlung 1939, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 71, Nr.25f (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Programmsammlung 1942, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 80, Nr. 57 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 80, Nr. 18 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 80, Nr. 27 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 80, Nr. 39 (Rückvergrößerung durch Stadtarchivs Dresden) Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 81, Nr. 54 (Rückvergrößerung durch Stadtarchiv Dresden) Fotokopie eines Programmzettels vom 24. Juni 1943, Loseblatt-Einlage in: Personalia Sammlung, Stadtarchiv Dresden,Außenstelle Dresdner Kreuzchor, Sg. 20.06, Nr. 1671.92 Programmsammlung 1943, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 81, Nr. 54 (Rückvergrößerung durch Fotolabor des Stadtarchivs Dresden) Programmsammlung 1948, Stadtarchiv Dresden, Außenstelle Dresdner Kreuzchor, 20.4 Fiche 95, Nr. 38 (maschinenschriftlicher Programmentwurf) und Nr. 39, 40 (ge- drucktes Programm-Deckblatt und Vortrags-Folge; Rückvergrößerungen durch Stadt- archiv Dresden)