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Die Wissenschaftstheorie Galileis - oder: Contra Feyerabend
Author(s): Klaus Fischer
Reviewed work(s):
Source: Journal for General Philosophy of Science / Zeitschrift für allgemeine
Wissenschaftstheorie, Vol. 23, No. 1 (1992), pp. 165-197
Published by: Springer
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/25170925 .
Accessed: 08/02/2012 07:12

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                Philosophy of Science / Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie.




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DISCUSSION



      DIE WISSENSCHAFTSTHEORIE GALILEIS - ODER: CONTRA
                                                FEYERABEND



                                                 KLAUS FISCHER




                                                            - or:
SUMMARY.           Galileo's     Philosophy    of Science         Contra   Feyerabend.   In analyzing Galileo's

methodology,           philosophers     of science were    using, misusing,      and abusing   his ideas rather
unashamedly            to suit    their own
                                        purposes.      Like so many    others    before him, Paul Feyerabend
had come          to    the              that his methodological
                                 conclusion                               ideas might    gain momentum         by
demonstrating       their compatibility     with    those of Galileo.    The reinterpretation   of Galileo      as
a true, though disguised,        anarchist,   was considered       by Feyerabend    as the most  forceful,   and
 indeed conclusive,      case against   rationalism     in methodology     which might be conceived      in view
of the privileged position ascribed to Galileo   by both philosophers  and historians                 of science.
  The paper argues - against Feyerabend        - that Galileo was not a methodological         anarchist,
neither   in theory nor in practice.    He had firm methodological        convictions    that remained
basically   the same throughout     his entire career. In his view, essential    and accidental    causes
of phenomena     were not given by experience.    Although   mathematical     and geometrical    analysis
was needed to discriminate    between   them, experience   and experiment was considered      by Galileo
 from his middle        periode on as a means      to identify among   the set of explanations,     demonstrable
"ex   suppositione"         as being mathematically      correct, those which    could in addition     be applied
 to reality. Thus,      Galileo   was neither an inductivist nor a naive falsificationist,      nor a Copernican
zealot adapting    his methodology       to the needs of his presumed       fight for heliocentrism,     come
what be. Only      after the reconstruction      of mechanics     was    in a fairly advanced      stage, and
after his own telescopic    observations     had provided     independent     evidence in favor of the new
 astronomy,     Galileo  was in a position     to appreciate   the Copernican      system as a most     forceful
 ally in his fight for the recognition        of his physical    achievements.     Through      the end of his
 life, his view of the heliocentric       system    remained    rather traditional      in adhering   firmly to
 the principles   of epicyclic and circular motion,      as far as the heavens were concerned.


Key    words:     Galileo,   Feyerabend,     methodological       anarchism     vs rationalism,     reasoning       "ex
 suppositione",       demonstrative    regress, experiment,     mathematics     and reality, falsification.


                                                  ?Das Ende der Suche nach der Wahrheit.           Und vergessen
                                                 Sie nicht, daB der Weg zuriick zu einer weniger         toleranten
                                                 Methodologie      durch die historische    Forschung     versperrt
                                                  ist!" - Paul Feyerabend,      ,Uber die Methode.    Ein Dialog',
                                                  in Unter dem Pflaster    liegt der Strand 3, 1976, 148).




Wie kaum ein anderer Symboltrager       der neuzeitlichen Wissenschaft     ist
Galilei  zum Opfer seiner Interpreten geworden. Und nur allzuoft waren
die Ergebnisse der Analyse nicht durch abgewogene Beurteilung der Quellen,


Journal for General Philosophy  of Science    23: 165-197,    1992.
?   1992 Kluwer Academic Publishers.    Printed   in the Netherlands.
166 DISCUSSION


sondern durch die Moden          des aktuellen       ?Diskurses"    bestimmt.     Viele
Umstande     kamen dieser Formbarkeit       entgegen:  Die Vielfalt der Galileischen
Arbeitsgebiete,    die Menge   des erhaltenen Materials,       der Mangel     an einer
systematischen     Abhandlung     zur Methode       aus der Hand Galileis.       Nicht
uberraschen     kann deshalb, daB die Zahl der Versuche,           seine ?Methode"
zu verstehen,     zwar den erhofften,     doch sicherlich nicht den tatsachlich
gewonnenen       Erkenntnissen    entspricht.   Das    ungebrochene      Interesse an
Galilei    ist verstandlich: Durch eine Untersuchung        seiner Arbeit erhofft man
 sich Aufklarung        dariiber, worin die wesentlichen      Unterschiede    zwischen
mittelalterlicher      und moderner Wissenschaft      liegen,  wie er die herrschende
Kosmologie        zertrummerte    und warum er die Entwicklung       der neuzeitlichen
Physik mit Erfolg                  einleiten       konnte.

Galileo     occupies       a unique position  in the philosophy    of science (...) Virtually    every philosopher
of    science   had       felt or feels the need to come        to grips with Galileo,        in the sense that he
 either    derives     his theories from his analysis of Galileo,     or he tests the theories he has otherwise
 formulated          by applying    them    to the case of Galileo1.



A.        ,   andrchico'? - Feyerabends
          Galileo                                                    Vereinnahmung                   Galileis fiir den
methodologischen    Anarchismus

Ein Indiz fiir den Auslegungsspielraum       der Galileischen   Methode  zeigt sich
 in den von Paul Feyerabend        vorgelegten   Analysen     zum Thema2, die in
der Diskussion   der vergangenen     15 Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben.
Dabei   standen weniger    seine Fallstudien    als die abstrakteren Teile seiner
Polemik     gegen den Rationalismus         im Vordergrund.      Zu Unrecht,   wie
Feyerabend meint. Denn
die Fallstudien           bilden   das Zentrum           des Buches.           Sie   sind das Material,     an dem die Mangel
 eines     abstrakt-rationalen        Vorgehens   erlautert  und terminologisch                     fixiert werden.  Die mehr
 abstrakten Erorterungen             und die Polemik    gegen den Rationalismus                        sind ohne     dieses Material
und       ohne
            diese Erlauterungen                nicht     denkbar.        Sie     sind durchaus       sekundar.     Dennoch           haben
die meisten   Kritiker  nur diese            Erorterungen untersucht                    (...). Was   Wunder,      dafi      sie zu einem
verzerrten       Bilde meiner      Absichten     kamen (WM 26)3.


Versuchen   wir also, das Feyerabend      widerfahrene   Unrecht verzerrender      In
terpretation zu korrigieren und seine Fallstudie       zur Galileischen Revolution
an den Tatsachen    zu messen.
  Feyerabends   Grundidee      ist einfach. Er will zeigen, dafi die Vielfalt mog
 licher Situationen,   in die Wissenschaftler regelmaBig geraten, das Festhalten
an einer einzigen, fest umreilibaren Methodologie        verbietet. Mit besonderer
Deutlichkeit     zeigt sich dies in den grofien historischen     Umwalzungen     der
Wissenschaft4.

Betrachten   wir die Kopernikanische        Hypothese,      deren Erfindung,    Verteidigung    und Teilbe

 statigung fast alien methodologischen       Regeln    zuwiderlauft,   die man sich heute vorstellen   kann

(WM 105)(...) Man beginnt mit einem starken Glauben,                 der der Vernunft    und der Erfahrung
der Zeit zuwiderlauft.  Der Glaube     breitet sich aus und findet Stiitzen     in anderen Anschauungen,
die ebenso       unverniinftig       oder   noch       unverniinftiger          sind   (Tragheitsgesetz,       Fernrohr).      Die    For
DISCUSSION 167


schung wird jetzt in neue Richtungen      gelenkt, man baut neue Instrumente,       setzt ,Daten'   in
neue Beziehungen   zu den Theorien,    bis eine Ideologic  zustande   kommt,  die reich genug     ist,
um unabhangige   Argumente     fur jeden ihrer Teile bereitzustellen,   und beweglich     genug, um
solche Argumente  jederzeit bei Bedarf zu finden (WM 40f)(...) Meiner Ansieht      nach hat Galilei
widerlegte  Theorien        so eingefiihrt,daB sie einander    erhielten,     er hat auf diese Weise   eine
neue Weltauffassung       geschaffen,    die nur lose (wenn       iiberhaupt)     mit der vorangehenden
Kosmologie   (einschlieBlich    der Alltagserfahrung)     verbunden     war, er hat Scheinverbindungen
zu den Wahrnehmungsbestandteilen            dieser Kosmologie    hergestellt,    die erst heute durch echte
Theorien   ersetzt werden    (physiologische   Optik, Theorie   der Kontinua),     und       er hat, wo    immer

moglich,   alte Tatsachen    durch eine neuartige     Erfahrung    ersetzt, die   er glatt     erfand,    um   die

Kopernikanische     Auffassung     zu stiitzen (WM 226).


Nach    Galilei den Induktivisten    (Wohlwill, Mach),    den Epigonen      (Duhem)
und    den Rationalisten    (Koyre, Cassirer)    bekommen    wir bei Feyerabend
Galilei den Anarchisten,      Opportunisten    und Ideologen     vorgefuhrt. Diese
mit Absicht provozierende      Darstellung    soil zunachst thesenformig      zusam
mengefaBt      und anschlieUend mit der Arbeitsweise       Galileis  und der Ent
wicklung     seiner Ideen verglichen werden. Feyerabend           behauptet:
    1. Zur Zeit Galileis     verfugte die Schulphilosophie        iiber ein umfassendes
und intellektuell befriedigendes       System  der Naturerklarung.        Es stiitzte sich
 im wesentlichen       auf Aristoteles  und Ptolemaus      und schlofi neben Physik
und Astronomie          auch Meteorologie,     Astrologie,     Wahrnehmungstheorie
 (WM 161f, 203ff), Psychologie,        Anthropologic,      Politik und Theologie       ein
 (WM 205).    Wie jedes umfassende       System   hatte auch dieses mit einer Reihe
von Problemen        zu kampfen. Doch diese Probleme rechtfertigten nicht seine
Verwerfung,       solange man keine Alternative       besaB, die ahnlich umfassend
war und diese Probleme nicht hatte (WM 158f).
   2. Galilei verstieB gegen jede verniinftige methodologische             Regel, indem
er das heliozentrische     System akzeptierte,   obwohl es genausoviele       empirische
Problem       hatte wiedas geozentrische     (WM 118, 148, 160). Uberdies    gab
es keine   Physik,   die zu diesem      System paflte und die beobachtbaren
Bewegungen     irdischer Objekte    erklaren konnte. Die wissenschaftliche   Re
volution  der Neuzeit     begann mit einem Schritt zuriick zu Theorien mit
geringerem Gehalt, geringerer Konsistenz       und Erklarungsleistung   (WM 145f,
212).
   3. In Ermangelung  einer umfassenden Alternative muBte Galilei eine Fiille
von Hilfshypothesen   (WM 208) zur Rettung der kopernikanischen         Theorie
erfinden und sie durch Tricks vor der Widerlegung          schiitzen (WM 153f,
Anm.).  Die Rettung     des Heliozentrismus      war in dieser Phase Galileis
propagandistischem   Geschick,  nicht der tatsachlichen Erklarungskraft   seiner
Axiome   zu verdanken. Dogmatismus        rettete sie vor den rationalen Argu
menten   seiner aristotelischen  Gegner    (WM 123, 144, 213, 216, 221, 226).
   4. Trotz dieses anfanglichen     Riickstandes    hatte Galilei Erfolg, weil er
kontrainduktiv    vorging und die heliozentrische       Hypothese     als Heuristik
zur Konstruktion    mit ihr kompatibler Hilfswissenschaften       wie Kosmologie,
Dynamik      (WM 134, 142f), geometrische        und physiologische    Optik   (WM
 188, 192f), Wahrnehmungstheorie      und Meteorologie     benutzte. Deren Theo
168 DISCUSSION


rien waren zunachst ebenso falsifiziert wie der Heliozentrismus    und konnten
nur durch wechselseitige   Stiitzung uberleben (WM 152f, 198,209f, 223, 224f).
Erst ihre weitere Entfaltung       erzeugte neue Wahrnehmungen      (WM 109ff,
 115, 136f, 137, 145f, 196f), die mit der kopernikanischen  Theorie kompatibel
waren, und verdrangte andere Evidenz, die nur im aristotelischen       Kontext
sinnvoll erschien (WM 146).
   5. Durch dogmatisches    Beharren auf einer falsifizierten Zentralhypothese,
die Entwicklung   eines Korsetts von Hilfswissenschaften     und die Umdeutung
problematischer     Evidenz   (WM 124ff, 128, 132, 190f, 192, 194) entstand
ein neues System der Naturerklarung,      das das alte verdrangen      konnte. Es
 siegte nicht, weil es einen groBeren Gehalt    oder eine geringere Zahl von
Problemen     als das Vorgangersystem   aufwies. Es siegte vor allem deshalb,
weil es aufgrund historisch kontingenter    Umstande       eine groBere Zahl von
                                             - vereinfacht           - der bessere
Anhangern     gewinnen konnte. Galilei war                    gesagt
Marktschreier    und Seelenfanger. Nicht die Kraft rationaler Argumente,       son
dern eine ?Abstimmung mit den FiiBen" bzw. mit Schreibfeder und Drucker
presse entschied iiber den Konflikt der Systeme. Begunstigt wurde die Rezep
tion des Systems durch das Aufkommen          einer neuen sozialen Klasse, die das
Ideal einer freien und pluralistischen    Gesellschaft    vertrat (WM 213, 215).
   6. Feyerabends     entscheidende    SchluBfolgerung:     Ware Galilei   Empirist
oder Falsifikationist   gewesen, so hatte er scheitern miissen. Seine Ergebnisse
waren davon abhangig, daB er pragmatisch          vorging und sich an keine Regel
der Vernunft     oder der Methodologie      gebunden    fiihlte. Regeln benutzte er
 in opportunistischer   Weise    als strategisches   Mittel   zur Durchsetzung     seiner
 Ideen (WM 105).


B. Einige problematische      Pramissen    der Feyerabendschen     Analyse

 Im folgenden     soil der ?nervus rerum" der anarchistischen          Umdeutung:     die
historische   Entwicklung      der Galileischen      Physik   und Methodologie,         im
Mittelpunkt    stehen. Zuvor jedoch einige Bemerkungen             zu anderen Voraus
 setzungen der Darstellung      Feyerabends:
    (1) Man kann dariiber streiten, ob die Schwierigkeiten                der postscho
 lastischen Naturphilosophie        im spaten 16. Jh. nur das iibliche Format
?normalwissenschaftlicher"         Probleme     erreichten. Es laBt sich mit guten
Griinden    argumentieren,      daB bereits die als Antworten           auf endemische
Probleme der hochscholastischen          Synthesen erfolgten      Innovationen   des 14.
Jahrhunderts      einen tiefgreifenden Wandel         bewirkt hatten, der keine all
gemein konsensfahigen        Losungen     hervorgebracht     hatte. Im 15. und 16. Jt.
kann von einem einheitlichen          und konsistenten       System abendlandischer
Naturphilosophie       kaum mehr die Rede sein. Die Absorption              des Wissens
der antiken und islamischen philosophischen           Systeme,   die aus dem Bemuhen
um Harmonisierung         auftauchenden     Widerspruche,      theoretische und empi
rische Schwierigkeiten      der einzelnen Schulrichtungen,         sowie eigenstandige
Neuerungen      innerhalb der Spatscholastik       hatten sie in ein eklektisches    und
DISCUSSION 169


begrenzt   pluralistisches    Konglomerat      transformiert,    dessen Fraktionen    in
Reaktion    auf neue Herausforderungen          unterschiedliche    Wege einschlugen.
Dies gilt selbst fiir die Auslaufer     der Spatscholastik     im engeren Sinn5.
    (2) Auch die Frage der vergleichenden            Bewahrung     von ptolemaischem
und kopernikanischem          System   ist umstritten. Obwohl die neue Lehre vor
der Erfindung      des Fernrohrs     nicht prognostisch      uberlegen war, hatte sie
andere Vorteile.     Sie enthielt die erste empirisch befriedigende       Theorie, die
nur gleichformige      Kreisbewegungen      verwandte. Damit erfullte sie eine zen
trale aristotelische Forderung  besser als die ptolemaische.  Zu den Vorteilen
des neuen Systems zahlte auch seine Einheitlichkeit      und die sich zwanglos
ergebende Ordnung der Planeten. DaB es mit der irdischen Physik des Aristo
teles Konflikte gab, war Kopernikus    bekannt, doch hier hatte die Scholastik
bereits eine Alternative    entwickelt, die mit der Erdbewegung       kompatibel
war. Die Dynamik     der Pariser Spatscholastiker    Buridan und Oresme enthielt
bereits das Prinzip der kinematischen       Relativitat,  nach dem eine tagliche
Drehung    der Erde sich nicht an den Bewegungserscheinungen         auf der Erd
oberflache   feststellen laBt. Einige der vor Buridan und Oresme angefiihrten
Beispiele   gleichen denen Galileis      bis ins Detail.   Kopernikus      und seine
Anhanger     konnten folglich nicht nur antiaristotelische   Quellen    wie Plutarch
 (Kohasionstheorie),  Aristarch,    die Platonisten  (neue Raumtheorie)      oder das
Corpus    Hermeticum   anfuhren,     um sich physikalisch   zu verteidigen6.
   Dem kam entgegen, daB auch die aristotelische           Himmelsphysik        durch
neue Beobachtungen      in Bedrangnis geriet. Herausragende      Ergeignisse   waren
die Nova von 1572 und der Komet von 1577. Astronomen              wie Tycho Brahe
und Michael Maestlin wiesen nach, daB der Komet sich zwischen den Spharen
der Planeten       bewegte      und daher nicht als meteorologisches            Phanomen
 interpretiert  werden        konnte. Zudem      schnitt seine Bahn die Sphare der
Venus7.     Sowohl       die Theorie     der festen Himmelsspharen           als auch das
aristotelische   Axiom,       daB es im Himmel      kein Werden und Vergehen         gebe,
waren damit hinfallig. Tychos SchluB ist kurz und biindig: "The Aristotelian
philosophy     (...) cannot be valid in teaching that nothing new can originate
 in the heavens       (...) for I have discovered     otherwise    of this comet"8. Die
spatscholastische       Naturphilosophie      des ausgehenden       16. Jhts. befand sich
 in einem FlieBprozeB,          dessen Geschwindigkeit     allerdings durch inkompe
 tente Versuche      ideologischer    Steuerung von oben verlangsamt wurde.
    (3) Feyerabend macht viel Wirbel um die angebliche Fragwiirdigkeit                 der
neuen Beobachtungen            mit Hilfe des Fernrohrs9. Galilei hatte das Zustan
dekommen    teleskopischer     Abbildungen     nicht erklaren konnen. Das Gerat
selbst habe vielfaltige Tauschungen        erzeugt und seine Wirkungsweise      bei
irdischen Phanomenen       sei nicht ohne weiteres auf den Himmel     iibertragbar
gewesen. All dies hat einen wahren Kern, aber es tragt nicht das Argument,
das Feyerabend     vorbringt:   daB namlich das Fernrohr         fiir Galilei mehr
Probleme    schuf als es loste. Feyerabend     ubersieht, daB ein technologisches
System nicht in alien Einzelheiten       erklarbar sein muB, um seinen Zweck
zu erfullen10. Jahrhundertelang      hatte man Brillen und Lupen, aber auch
170 DISCUSSION


das Schwarzpulver,       Pumpen und andere mechanische        Gerate mit groBem
Erfolg benutzt,      ohne ihre Wirkungsweise     zu verstehen. Man hatte den
Umgang mit ihnen gelernt und wuBte die erwunschten von den unerwunsch
 ten Effekten  in alien relevanten Beziigen zu unterscheiden.    In gleicher Weise
muBte man sich mit der Funktionsweise         des Fernrohrs praktisch vertraut
machen,     um zu sehen, daB etwa farbige Rander, Verzerrungen,           Strahlen
kranze,    Unscharfen         oder Vibrationen
                                             keine Merkmale     der beobachteten
Gegenstande,        sondern    beherrschbare
                                          Eigenheiten  des Gerats waren. Galilei
ging deshalb    keinerlei Risiko  ein, sondern beweist nur wissenschaftlichen
?Pferdeverstand",     wenn er in Reaktion     auf den Tauschungsvorwurf      seiner
aristotelischen  Kritiker einen Preis fiir denjenigen aussetzte, der ein Teleskop
bauen konne, das die neuen Monde mit ihren prognostizierbaren           Umlaufen
nur um den Jupiter, nicht jedoch um jeden anderen Himmelskorper          erzeugen
konne.    Dabei     war
                     es auch von Galilei unbestritten,    daB die teleskopische
Wahrnehmung     eines Objektes   eine falsche Erscheinung     hervorrufen   kann.
Die Beobachtung    Scheiners, daB der Saturn manchmal       langlich und manch
mal von zwei Begleitern     umgeben   erscheine, "results either from the im
perfection of the telescope or the eye of the observer,         for the shape of
Saturn is thus: <0 as shown by perfect vision and perfect            instruments,
but appears thus:0    where perfection    is lacking, the shape and distinction
of the three stars being imperfectly    seen"11. Es ist klar, daB Galilei    hier
falschlich annimmt, daB die optische Unscharfe       ein Zusammenfliessen    von
drei hypothetisch  angenommenen      eng benachbarten     leuchtenden Objekten
verursacht. Diese Annahme    hatte einen weiteren Vorteil "(in) barring some
very   strange    event   remote    from   every   other   motion   known   to or   even   ima

gined by us"12. Ein Lehrstuck zur Interaktion von Theorie und Erfahrung!
  Die Schulastronomen       lernten die Vorziige    des neuen Instruments       sehr
schnell. Bereits wenige Monate nachdem Galilei begonnen hatte, seine Gerate
zu bauen, war der Jesuit Christoph     Scheiner von der Universitat     Ingolstadt
einer seiner scharfsten Konkurrenten     bei der Beobachtung      der Sonnenflec
ken. Schon zuvor hatte Christopher        Clavius    vom Collegio    Romano      die
von Galilei     im ?Sidereus Nuncius"      publizierten  Neuigkeiten      iiber die
Jupitermonde    und die Oberflache       des Mondes mit Hilfe eines Galileischen
Fernrohrs und auf Verlangen       des Kardinals Robert Bellarmin - Konsultor
                     - im wesentlichen
des HI. Offiziums                            bestatigt. Dabei hatte er schon selb
standige Beobachtungen       angefiihrt,    indem er Galileis Ansichten   iiber die
Konstitution   der MilchstraBe    korrigierte.    Diese enthalte namlich nicht nur
Sterne, wie Galilei   behauptet    hatte, sondern auch ?dichteres und zusam
menhangendes    Material".    Er hatte offenbar bereits Objekte   identifiziert,
die heute als Emissions-   oder Absorptionsnebel   bekannt sind.
   Feyerabend   weiB, daB er auf sehr diinnem Eis balanciert, wenn er sich
bei der friihen Bewertung     von Fernrohrbeobachtungen    auf die Ansichten
orthodoxer    Aristoteliker     beruft, die Galilei  in seinen Briefen   iiber die
Sonnenflecken     sehr klar von den sachkundigen Astronomen        zu unterschei
den weiB. Folgerichtig,     aber durchaus unbegriindet, mokiert er sich dariiber,
DISCUSSION 171


?wie schnell der Wirklichkeitscharakter          der neuen Erscheinungen     akzeptiert
und (...) offentlich anerkannt wurde", und er wirft den jesuitischen Astro
nomen Clavius, Magini          und Grienberger       vor, es sei wohl ?klar, daB sie
dabei die Methoden       ihrer eigenen Philosophie      verletzten oder aber die Sache
nur sehr oberflachlich       untersuchten"13.    Mit anderen Worten:      Feyerabend
nimmt      es den Genannten         iibel, daB sie seiner eigenen Karikatur          des
?aristotelischen    Scholastikers"     nicht gerecht werden. Nicht nur akzeptierten
die Fachastronomen        des Collegio Romano       bereits nach sehr kurzer Zeit
                                                  - und
einhellig die Galileischen     Beobachtungen                gaben damit die aristo
 telischen Gegner Galileis     der Lacherlichkeit             - sie          es sogar,
                                                      preis         wagten
 in Rom eine offentliche Ehrung Galileis        zu veranstalten,    die nach Augen
zeugenberichten      zu einem Triumphzug      fiir diesen wurde. Bei der Abreise
Galileis   schrieb der Kardinal del Monte      an den GroBherzog         der Toskana,
 in dessen Diensten    Galilei  stand: ?Lebten wir noch unter einer romischen
Republik,    so hatte man zu seiner Ehre im Kapitol eine Saule errichtet"14.
    (4) Der Haupteinwand     gegen Feyerabends Darstellung      leitet sich aus dem
Umstand ab, daB Feyerabend       die historische Entwicklung    der Ideen Galileis
auf den Kopf      stellt. Er spiegelt uns einen Galilei     vor, der sich in das
kopernikanische     System vernarrt und anschlieBend     zu dessen Rettung einen
 lebenslangen Propagandafeldzug       startet. Im Rahmen dieses Unternehmens
entwickelt er eine neue Physik, die mit der heliozentrischen         Theorie   iiber
einstimmt,   ersinnt alle Arten von Hilfshypothesen,       die das ganze vor der
Erfahrung retten, und fuhlt sich dabei an keinen anderen methodologischen
Grundsatz    als den, Kopernikus    um jeden Preis zu retten, gebunden. Dieses
Zerrbild gilt es im folgenden zu korrigieren.


C. Die historische Entwicklung      der Physik Galileis
I. Zwei wichtige Entdeckungen       der neueren Galilei-Forschung

Die angesprochenen      Punkte   sollen hier nicht einzeln diskutiert,    sondern
 in Form eines kurzen Abrisses der Entwicklung      der Ideen Galileis behandelt
werden. Dabei wird die Phase imMittelpunkt       stehen, die Galilei zum Prinzip
der kinematischen    Relativitat  und zur Tragheitsidee    hinfiihrte. Man kann
zeigen, daB hier keinerlei kopernikanische   Vorurteile,  keine Tricks und keine
Propaganda     im Spiel waren,   sondern sich jeder Schritt auf der Basis des
vorangehenden    Wissenstandes     und der inzwischen aufgetauchten        theore
tischen   und   empirischen Widerspriiche    erklart. Das wichtigste    Argument
gegen Feyerabend        ergibt sich aus dem Umstand,     daB Galilei    alle Kom
ponenten    seiner neuen Bewegungslehre     bereits vor 1609, das heiBt vor der
Kontroverse      um die Kopernikanische      Astronomie     ausgearbeitet    hatte.
Nichts deutet darauf hin, daB er den Heliozentrismus         vor dieser Zeit fiir
ein zentrales Problem hielt15.
   Zu Beginn eine Bemerkung     zu zwei wichtigen Entdeckungen    der neueren
Forschung.   Eine Auswertung   der sogenannten Arbeitsblatter  Galileis durch
Stillman Drake und andere16 ergab, daB diese vorwiegend aus Berechnungen
172 DISCUSSION


bestehenden    Unterlagen    auf umfangreiches       und subtiles Experimentieren
zuriickgehen.    Es handelte    sich dabei nicht um gelegentliche          Spielereien,
sondern um systematisch      variierte Reihenexperimente,        die fiir die Entwick
 lung der physikalischen   Ideen Galileis zwischen 1603 und 1609 unentbehrlich
waren. Die Rolle des Experiments         bei Galilei    ist nach dieser Entdeckung
hoher zu veranschlagen       als dies die rationalistische      Auffassung     zulassen
wollte. Nach Koyre dienten Galileis Experimente,             soweit sie nicht fingiert
                                         -
waren, nur didaktischen      Zwecken        gewissermafien      der rhetorischen     Be
statigung   theoretischer Ableitungen.     Diese Vermutung         kann man ad acta
 legen.
  Deutlich wurde dabei auch, dafi Galilei an Traditionen            ankniipfen konnte.
                                      -
Bereits vor ihm fiihrten andere         wie die Mechaniker     Guidobaldo    del Monte,
Tartaglia   und Benedetti,     aber auch Aristoteliker      wie Hieronymus      Borrius,
einer der Lehrer Galileis       in Pisa - Experimente       zum freien Fall oder zum
Bahnverlauf    bei erzwungener           Bewegung    durch, und dies mit         teilweise
ahnlichen Ergebnissen      und ahnlichen Fehlern17. Die empirischen Argumente
und experimentellen     Befunde,        die Galilei  in seinen friihen Schriften       iiber
die Bewegung    anfuhrt,     stammen nur zum geringeren Teil von ihm selbst.
In wesentlichen Aspekten gehoren sie entweder zum Standardrepertoire                  einer
der konkurrierenden       Spielarten       der Schulphilosophie     oder zur jiingeren
Tradition     der Mechanik.      Diese   hatte    in Italien     durch    die Edition     und
Verbreitung     archimedischer      Schriften     im   16. Jh.    einen    starken      Impuls
erfahren18.

   Die zweite Entdeckung         betrifft die Fruhschriften    Galileis. Diese wurden
bisher als eine Art Kolleghefte         gesehen,  Mitschriften    von Vorlesungen,     die
Galilei   als Student       in Pisa gehorte hatte. Man          schloB aus, daB diese
Abhandlungen        im Stil scholastischer      Disputationen     die Meinung     des Be
griinders   der neuzeitlichen      Physik wiedergeben      konnten. Diese Ansicht hat
 sich als revisionsbediirftig     erwiesen. Der amerikanische Wissenschaftshisto
 riker William Wallace        wies anhand praziser Textvergleiche          nach, dafi es
 sich dabei um Unterlagen        handelt, die Galilei um 1590 kurz vor oder nach
 seiner Ernennung       zum Professor      fiir Mathematik     an der Universitat     Pisa
zusammenstellte,         vermutlich   als Vorlage   fiir eigene Vorlesungen.    Wallace
konnte      zeigen,   dafi sich Galilei      dabei vor allem auf unveroffentlichte
Manuskripte       jesuitischer Professoren des Collegio Romano        stiitzte (vor allem
Rugerius, Menu, Valla, Vitelleschi).         Diese Arbeiten gehorten zu den besten,
die die zeitgenossische       Schulphilosophie     anzubieten hatte19. Die Frage der
 inhaltlichen Abhangigkeit          Galileis   auch von scholastischen       Traditionen
mufite hiervon ausgehend vollig neu aufgerollt werden.


77. Archimedische     Anfange

Auch zur Bewegungslehre         liegt eine kurze Schrift Galileis vor, die im gleichen
 scholastischen   Stil abgefafit ist, inhaltlich aber als Bindeglied     zur grofieren
Abhandlung      ?De Motu" verstanden werden kann. De Motu will nicht mehr
DISCUSSION 173


die Meinungen      und Argumente       der Schulphilosophie      sammeln,    sondern
die Ursachen     und Gesetze    von Bewegung      in systematischer Weise unter
suchen. Stilistisch wie inhaltlich kniipft Galilei darin an eine seiner fruhesten
           - La Bilancetta   -
Arbeiten                         an, die er 1586 als 22-jahriger verfaBt hatte20.
In ihr konnte er ein beriihmtes Experiment des Archimedes          verallgemeinern.
Dieser hatte bekanntlich mit Hilfe einer Waage und eines Eimers mit Wasser
den Goldgehalt    der Krone des Konigs Hieron        bestimmt   und damit den
Juwelier als Betriiger entlarvt. Grundlage    des Experiments    war die Uber
 legung, daB sich das Gewicht      in Wasser   getauchter Korper      in direkter
Proportion   zu ihrem spezifischen Gewicht    vermindert. Galilei konstruierte
 im AnschluB    an diesen Ansatz   eine hydrostatische    Waage, mit der man
die Metallgehalte    von Zwei-Komponenten-Legierungen          messen    konnte.
Dabei wandte er jene Kenntnisse      des Euklid und des Archimedes        an, die
 ihn sein Privatlehrer    Ostilio   Ricci   gelehrt   hatte,   als er noch   auf Wunsch
 seines Vaters Medizin     studierte.
   Mit dieser Arbeit      und einer weiteren     iiber die Schwerpunkte       ebener
Flachen, die ebenfalls vollig in archimedischer     Tradition steht, erregte Galilei
die Aufmerksamkeit       einiger Personen, die fiir seine weitere Karriere wichtig
wurden21. Unter ihnen sind der Mechaniker Marchese Guidobaldo             del Monte
und Astronom      Christopher    Clavius vom Collegio Romano hervorzuheben.
Die damit angedeutete Kombination          von wissenschaftlichen    Interessen war
fiir Galileis weitere Arbeit entscheidend.      Sie war zudem einzigartig,      denn
die auBerhalb der Schulwissenschaft       stehenden Mechaniker      des 16. Jhs.
wie Commandino,       Cardano, Tartaglia, Benedetti und Guidobaldo       verstan
den in der Regel sowenig von Philosophie        wie die Schulphilosophen      von
Mechanik.     Im Falle Galileis  fiihrten diese heterogenen   Einflusse   bereits
 in den friihen Schriften zur Bewegung    zu Widerspriichen,  deren Auflosung
die Reformulierung          mechanischer      Lehrsatze    erzwang und schliefilich     zur
neuen Mechanik         fiihrte.
   Diese Widerspriiche          ergaben sich in direkter Weise aus Galileis Vorhaben,
naturliche und gewaltsame Bewegungen                auf exakte mechanische     Prinzipien
zuriickzufiihren.      Die spatscholastische         Impetustheorie  konnte dies nicht
 leisten, weil sie bestenfalls den Grund und das MaB der gewaltsamen,                nicht
jedoch    der natiirlichen Bewegungen          bestimmen konnte. Nicht hier, sondern
 in den klaren Axiomen           des Archimedes     glaubte Galilei die Losung fiir sein
Problem zu finden. Es ist die erklarte Strategic von De Motu, die naturliche
Bewegung      von Korpern          nach oben oder unten auf die Verhaltnisse            der
Gewichte     und Bewegungen           der beiden Arme einer Waage       zuriickfuhren22.
Zur Realisierung         dieses Vorhabens       kniipfte er an genau dieselbe Schrift
an wie vorher schon Tartaglia             und Bendetti: Archimedes'      Arbeit     ?Uber
schwimmende     Korper".    In dieser Schrift hatte Archimedes     die Kraft, mit
der ein Korper    im Wasser    nach unten gezogen oder nach oben getrieben
wird, mit dem Unterschied     der spezifischen Gewichte   erklart. Diesen Ansatz
verallgemeinert  Galilei,  indem er die Geltung    der Archimedischen     Axiome
auf alle Korper, die sich in beliebigen Medien       bewegen,   ausdehnt. Dieser
174 DISCUSSION


Ansatz stand inWiderspruch        zur aristotelischen      Lehrmeinung.     Ein Korper
fallt oder sinkt nach Aristoteles      deshalb,    weil er eine besondere Qualitat
der Schwere aufweist, nicht weil das Medium               spezifisch leichter ist als er
selbst. Andererseits   steigt er deshalb, weil er einen UberschuB          der Qualitat
Leichtigkeit besitzt, nicht weil das Medium,        in dem er sich befindet, spezifisch
schwerer ist als er selbst.
   Die Verbindung     zur Bewegungslehre        schafft die Hypothese,      daB die aus
den Unterschieden      der spezifischen Gewichte      herriihrende  Kraft der Ge
schwindigkeit   fallender oder steigender Korper proportional         ist. Dies ent
spricht  sowohl der statischen Annahme,         dafi Kraft und virtuelle Verschie
bung in Gleichgewichtssystemen         proportional    sind, als auch dem aristo
telischen   Grundsatz,      dafi eine konstante Kraft eine konstante          Bewegung
erzeugt.  Galilei schliefit daraus, dafi Korper mit konstanter Geschwindigkeit
 steigen oder fallen, und dafi das Mafi dieser Bewegung           in seinem wirksamen
Gewicht      liegt.  Die   in der statischen Tradition       sowohl des Jordanus        de
Nemore     als auch der aristotelischen        Schrift ?De Mechanica"       zu findende
Begriindung      fiir den Zusammenhang       von Gewicht bzw. Kraft und Geschwin
digkeit   beruht auf folgender Uberlegung:            Man befestige     an einer Waage
zwei Gewichte,        von denen das eine doppelt        so schwer ist wie das andere.
Danach     bringe man die Waage          ins Gleichgewicht.    In dieser Konstellation
wird das schwerere Gewicht           nach einer unmerklichen        Vergrofierung     das
nur halb so grofie Gegengewicht            mit der doppelten Geschwindigkeit,          die
es selbst hat, bewegen konnen. Dies ergibt sich aus der einfachen Rechnung,
dafi der eine Arm der Waage             im angenommenen         Fall doppelt so lang wie
der andere ist. Analoges         gilt   bei einer Verdrei- oder Vervierfachung              des
einen Gewichts23.
   Was den physikalischen        Gehalt betrifft, kommt Galilei           in De Motu nicht
 iiber gangige Lehrmeinungen          hinaus. In einigen Punkten fallt er sogar hinter
vorliegende     Untersuchungen         zuriick - etwa bei der Analyse            des Wurfes
und der Fallbeschleunigung.           Zur Bahn eines geworfenen             Korpers    erklart
Galilei,   dafi der eingepragte          Impetus den Korper           zunachst     geradlinig
vorwartstreibe,     bis er nach seiner Erschopfung           in eine sehr kurze gebogene
und sodann        in eine senkrecht        zur Erdmitte       verlaufende     Fallbewegung
 iibergehe. Dabei      hatte bereits Tartaglia       gezeigt, dafi sich Geschosse           auf
einer durchgehend         gekriimmten       Bahn bewegen.         Tartaglia    konnte     seine
Ansicht    allerdings    ebensowenig      wie Galilei nach strengen Mafistaben              be
weisen.     Die Beschleunigung     fallender Korper erklart Galilei     entgegen der
peripatetischen     Lehrmeinung     als ein akzidentelles   Phanomen.   Dabei greift
er auf eine Idee des griechischen           Astronomen     Hipparch    zuriick. Nach
Hipparch
             - wie Galilei   ihn versteht - verfugt jeder Korper, der nach oben
geworfen werde, am Wendepunkt              noch iiber genau den Betrag an einge
pragter Kraft, der notig ist, ihn am Fallen zu hindern. Beginnt                 er nun
sich zum Zentrum        zu bewegen,      so entweicht dieser nach oben gerichtete
Restimpetus     nicht augenblicklich,      sondern erst nach und nach. Erst dann
werde die natiirliche Geschwindigkeit            erreicht, die der wirkenden     Kraft
DISCUSSION 175


entspricht. Eine sehr gewundene Erklarung findet er auch fiir das von ihm
als gesichert angesehene   Phanomen,    daB leichte Korper zunachst schneller
fallen als schwere, und erst nach einer gewissen Zeit von den letzteren
uberhoit werden. Dies sei darauf zuriickzufiihren,      so Galilei, dafi Qualitaten
 in leichte Korper zwar schneller eingepragt werden konnen, dafi sie aber
auch wieder    schneller entweichen. Ahnlich      sei es im Falle anderer Arten
der Bewegung,     etwa der Erwarmung     leichter und schwerer Korper. Solche
und ahnliche Beispiele zeigen, dafi Galilei durchaus noch den aristotelischen
Bewegungsbegriff      verwendet24.
   An diesem Punkt befindet sich auch die Schnittstelle       zwischen statischem
Ansatz und Impetusbegriff        innerhalb der friihen Physik Galileis. Mit dem
unterschiedlichen     Aufnahmeverhalten       verschieden   schwerer Korper     fiir
 eingepragte   Krafte erklart dieser nicht nur die Tatsache, dafi man eine Kugel
aus Holz nicht so weit schiefien konne wie eine aus Blei. Er wendet diesen
Grundsatz     auch zur Erklarung      der unter verschiedenen   Neigungswinkeln
 zu erzielenden Schufiweiten      an. Es werde namlich umso mehr Bewegungs
kraft in ein Projektil eingepragt, je grofier dieser Winkel      sei. Dann namlich
 sei das wirksame Gewicht        des Projektils    am grofiten und biete der vom
entziindeten Pulver ausgehenden        Bewegungskraft     den grofiten Widerstand.
Galilei    argumentiert    hier in Analogie     zur schiefen Ebene,     bei der das
wirksame Gewicht,        das das Mafi der Bewegung        des Korpers    nach unten
bestimmt,     mit dem Neigungswinkel     der Ebene abnimmt. Auch hier versucht
Galilei    also Bewegungen,     in diesem Fall die gewaltsame       Bewegung     eines
Projektils     durch eine Kanone, mittels     statischer Modelle    zu erklaren. Die
Argumentation     mit der schiefen Ebene     schafft zugleich die begriffliche
Verbindung    zwischen dem durch einen einmaligen Vorgang        eingepragten
und dem durch den Unterschied      der spezifischen Gewichte    kontinuierlich
erzeugten   Impetus, der das Mafi der Bewegung       von Korpern    nach oben
oder unten bestimmt. Naturliche   und gewaltsame Bewegungen werden damit
durch die gleichen    Prinzipien   erklart.


III. Methodische     Aspekte   der friihen Physik   Galileis

Einige Merkmale       heben Galileis   Traktat     von anderen  zeitgenossischen
Analysen    zur Bewegung ab:
    (1) Die Verschmelzung    praziser begrifflicher Analyse nach Art der Schul
physik mit der quantitativen    Sprache der statischen Mechanik.     Diese Uber
 tragung statischer Uberlegungen     auf frei fallende Korper war von der stati
 schen Tradition   her gesehen unzulassig.      So wurde von ihr auch niemals
versucht, was Galilei      in De Motu unternahm       und was sich nur aus seiner
wissenschaftlichen     Biographie    erklaren lafit. Bei dieser Verkniipfung  blieb
er in Schwierigkeiten     stecken, die eine Reformulierung      bestimmter Axiome
erzwangen. Er benotigte        15 Jahre, bis er aus der Sackgasse herausfand.
    (2) Galilei beweist ein prazises, logisch schlussiges Denken, das die eigenen
Voraussetzungen     nicht nach Belieben andert und nicht vor radikalen Konse
176 DISCUSSION


quenzen    zuriicksteckt.    Bei seinen Kollegen        und Zeitgenossen       kann man
dieses Vertrauen      in die Richtigkeit    der eigenen Folgerungen          nicht immer
beobachten.     Inkonsistent war etwa Benedetti bei seiner Analyse               der Fall
geschwindigkeit     verschieden   schwerer Korper im Vakuum, wenn er sie einmal
als dem spezifischen        Gewicht     proportional,       das andere Mal        aber als
unabhangig    vom Gewicht       erklart. Benedetti fordert ideale Bedingungen            der
Rotation    und argumentiert       dann mit dem Widerstand             der Luft. Inkon
sequent war auch die Taktik einiger Professoren                 des Collegio     Romano,
den Konflikt     zwischen     Impetustheorie     und aristotelischer      Antiperistasis
Theorie (Bewegung durch ein dem Medium                verliehenes Vermogen)       dadurch
zu ?losen", dafi sie beiden Parteien zur Halfte Recht gaben25. Eine solche
Strategic war fiir Galilei        nicht akzeptabel.       Wo     andere auf der Basis
schwammiger      oder willkiirlich  geanderter   Voraussetzungen      mutmafien,
deduziert Galilei ohne iibertriebene Riicksicht    auf Lehrmeinungen     und auf
den Augenschein      aus den fiir ihn evidenten      und explizit aufgefiihrten
Pramissen;  wo andere Kompromisse          suchen, strebt Galilei    nach klaren
Aussagen   und Entscheidungen;     wo andere Autoritaten      anfuhren, verlangt
Galilei   evidente Axiome    oder eindeutige empirische Befunde.
  Das    logisch konsequente    Denken Galileis     zeigt sich in der Analyse    eines
Grenzfalls    von Bewegung,    namlich der auf einer Ebene, die ihren Abstand
zum Zentrum der Welt nicht andert. Seine Uberlegung               ist wie folgt: Eine
perfekte   Kugel, die auf einer perfekten schiefen Ebene mit unendlich kleiner
Neigung     gelegt wird, beginnt,   in natiirlicher Bewegung     abwarts zu rollen.
Umgekehrt      kommt       die gewaltsame       Bewegung       einer Kugel,    die in die
entgegengesetzte     Richtung gestofien wird, langsam zur Ruhe. Wie aber sieht
es aus, wenn die Ebene keine Neigung                hat? Er kommt zu dem Schlufi,
dafi die Bewegung         der Kugel hier weder naturlich noch gewaltsam             noch
gemischt, sondern neutral ist und zu ihrer Erhaltung keiner weiteren Krafte
bedarf. Dasselbe      gelte auch fiir Konstellationen,       in denen homogene Korper
um ihren eigenen Schwerpunkt             rotieren,   oder in denen der Schwerpunkt
 inhomogener      rotierender Korper mit dem Mittelpunkt              der Welt, also der
Erde,   zusammenfallt.       Damit war bereits in De Motu             die Grundlage   fiir
die spatere Formulierung          der Tragheitsidee     und des Prinzips der kinema
 tischen Relativitat    gelegt26, obwohl Galilei      in dieser Schrift noch zugunsten
des Geozentrismus      argumentiert.
   (3) Ein weiterer    Unterschied    zwischen Galilei und seinen Kollegen             aus
den Reihen     der Mechaniker      und der Schulphilosophen           besteht    in seiner
Einsicht, dafi es zwischen mathematischer         Analyse und wirklicher Bewegung
eine Differenz     gibt, dafi diese Differenz       jedoch eine exakte quantitative
Behandlung     nicht vereitelt - wie dies zum Beispiel Guidobaldo             del Monte
annahm. Der Marchese          del Monte    kritisierte die Idealisierung,     die in der
Annahme     liege, Korper  fielen parallel zur Erdoberflache,     wo sie doch faktisch
zur Erdmitte     hin konvergieren     miissen. Desgleichen       konne man bei der
Analyse   mechanischer     Probleme nicht von Reibungsverlusten            abstrahieren,
 so dafi das Produkt von Kraft bzw. Gewicht              und virtueller Verschiebung
DISCUSSION 177


in Gleichgewichtssystemen        (bei VergroBerung   eines der Gewichte  um einen
unendlich keinen Betrag) eben faktisch nicht identitisch sei, wie dies Galilei
annahm. Konsequenterweise          leugnete Guidobaldo    auch die Anwendbarkeit
des statischen Instrumentariums        auf Probleme der Bewegungslehre27.
  Galilei dagegen      sieht schon in seinen friihesten Schriften sehr klar, dafi
der Physiker bei der Suche nach Prinzipien von storenden Faktoren,          soweit
 sie per accidens wirken,      absehen mufi. Erst bei der Berechnung         realer
Prozesse   und der Bewertung         von Beobachtungen      sind diese storenden
Einfliisse wieder   sukzessive   einzufuhren. Nur so konnte Galilei bereits in
De Motu zum Begriff der neutralen Bewegung             kommen, die ohne weitere
Zufuhr von Kraft andauert. Bei dieser Aussage weifi er, dafi keine reale
Bewegung     unbegrenzt     andauern wird, weil viele storende Faktoren          sie
behindern werden. Die Behauptung          gilt unter den eingefuhrten Pramissen,
die die Grundstruktur      der untersuchten     Vorgange  beschreiben,  jedoch in
 reiner Form nirgends realisiert sind.
   Was war die Folge von De Motu? Galilei war iiberzeugt,              dafi seine
archimedischen   Prinzipien   richtig sind28. Nach seinem Urteil setzten sie nur
das voraus. was klar und evident war und deshalb keines Beweises bedurfte.
Umso mifilicher mufi es ihm erschienen sein, dafi sich seine Theoreme          iiber
die Geschwindigkeit      schwerer Korper      empirisch nicht bestatigen    liefien.
?Wenn man zwei Korper, nach deren Eigenschaften            sich der erste doppelt
so schnell bewegen    sollte als der zweite, von einem Turm fallen lafit, dann
wird der erste nicht merklich          schneller und schon gar nicht zweimal           so
 schnell den Boden erreichen"29. Das gleiche gait fiir die Bewegung                  ent
 lang der schiefen Ebene. ?Die Proportionen,            die wir abgeleitet haben, sind
nicht beobachtbar"30,       heifit es lapidar. Der iiberraschende       Zusatz: ?Wenn
man eine Beobachtung         macht, dann die, dafi der leichtere Korper am An
fang der Bewegung         dem schwereren        vorausteilt"31.  Doch     dies geschehe
zweifellos    nur per accidens. Es verdecke         zwar die wahren Ursachen         des
Bewegungsprozesses,        hebe sie jedoch nicht auf. Das gleiche gelte fiir die
unter realen Bedingungen           niemals    vernachlassigbaren     Widerstande,     die
durch Reibung,       die Form des sich bewegenden          Korpers oder Bewegungen
 imMedium      selbst erzeugt wurden. ?Fiir diese akzidentellen Faktoren konnen
keine Regeln gegeben werden, weil sie in unzahlbaren               Formen auftreten32
 (....) Was wir suchen, sind die Ursachen          der Effekte, und diese Ursachen
 sind uns nicht       in der Erfahrung       gegeben"33.     Sie konnen     nicht durch
Vervielfaltigung     von Beispielen,   sondern nur durch die Arbeit des Verstandes
gefunden werden. Zu diesem Zweck,               so erlautert Galilei   am Beispiel der
neutralen  Bewegung, miissen wir davon ausgehen, dafi die Ebene sozusagen
?unkorperlich",     also von vollkommener   Harte und Glatte     ist. Der sich
bewegende     Korper    mufi von vollkommener    Form   sein, die sich einer
Bewegung     nicht widersetzt. Unter diesen Bedingungen   werde ein Korper
auf einer Ebene, die ihren Abstand     zum Zentrum nicht verandere, durch
eine Kraft     kleiner   als jede   gegebene Kraft bewegt. Auch     die anderen
abgeleiteten   Gesetzmafiigkeiten       sind nur unter diesen idealen, aber die
178 DISCUSSION


wahren  Ursachen der Phanomene        erfassenden Bedingungen,      beobachtbar34.
   DaB Galilei mit seinen Antworten      nicht zufrieden war, ersieht man daran,
daB er De Motu nicht publiziert hat. Es war ihm nicht gelungen, aus seiner
Theorie   testbare Konsequenzen      abzuleiten.    Zuviele Akzidenzien     muBten
unter realen Verhaltnissen    beriicksichtigt    werden. Fiir diese Akzidenzien
wie Beschleunigung,    Reibung,     Luftwiderstand,      Form der Korper,     hatte
Galilei keine Theorie. Er war daher nicht imstande,          ihren Einflufi auf die
kausalen Ablaufe    zu berechnen     und seine Ableitungen       an der Erfahrung
zu uberpriifen.


IV Auf dem Weg zur neuen Mechanik:              Moment,     Beschleunigung      und die neue
Rolle des systematischen Experiments

Die kommenden          zehn Jahre machte Galilei keine wesentlichen               Fortschritte
bei der Losung        dieser Probleme.          Um     1601/2 verfafite er dann auf der
Grundlage      alterer Vorlagen         eine Schrift,       in der er die Funktionsweise
einfacher mechanischer          Gerate wie Hebel, Waage,              schiefe Ebene, Winde,
Flaschenzug      und Schraube          erlautert35. Vor allem geht es ihm um den
Nachweis,    dafi es nicht moglich        sei, wie viele glaubten, mit Hilfe kunstvoller
mechanischer      Erfindungen Krafte zu gewinnen. Die Mechanik                   konne Krafte
nicht gewinnen,         sondern nur transformieren.             Was man mit         ihrer Hilfe
 scheinbar  an Kraft und Gewicht gewinnt, geht an Weg und Geschwindigkeit
verloren. Um jenen Faktor zu kennzeichnen,                     der bei der Transformation
der genannten Grofien            erhalten bleibt, fiihrt Galilei         einen neuen Begriff
ein: das MOMENT.           Das Moment         ist gewissermafien     die resultierende Form
der durch eine Konstellation            einfacher Maschinen          transformierten      Input
grofie. ?Moment          ist die Tendenz       zur Bewegung        nach unten, die weniger
durch das Gewicht            des beweglichen        Korpers     als durch die Anordnung
verschiedener      schwerer Korper bedingt             ist"36. Diese Tendenz,      so erlautert
Galilei   spater    in den Discorsi,       sei ?eben so grofi wie die Kraft oder wie
der geringste Widerstand,           der hinreicht zum Gleichgewicht"37.               ?Schwere
Korper",     so Galilei weiter,       ?setzen einer Bewegung            nur insofern Wider
stand entgegen, als diese sie vom Zentrum der Erde entfernt"38. Anderer
seits setzen sie sich nur dann in Bewegung,   wenn sich ihr Abstand     zum
Zentrum verringert. Das gewonnene    oder verlorene Moment    ist dabei nur
vom Betrag der Abstandsanderung      zum Zentrum    abhangig,  nicht dage
gen  vom tatsachlichen Weg, den der Korper nimmt, nicht von der Zeit,
die er dafiir benotigt.
   Diese Theoreme       implizieren, dafi Galilei    in Le Meccaniche    die Abhan
gigkeit   der Fallgeschwindigkeit      vom spezifischen Gewicht     aufgegeben   hat.
Andernfalls    ware das Moment        nicht nur von Weg, Kraft, Zeit, Geschwin
digkeit, absolutem Gewicht,         sondern auch vom spezifischen Gewicht         ab
hangig.    Ein spezifisch    schwererer Korper,       der iiber eine schiefe Ebene
abwarts rollt, konnte dann einen absolut gleich schweren aber spezifisch
 leichteren Korper auf eine grofiere Hohe         treiben als die, von der er selbst
DISCUSSION 179


fiel. Auch das Gleichgewicht          einer Waage,     an deren Armen         sich Korper
mit unterschiedlichen      spezifischen Gewichten       befinden, ware aufgrund der
Verschiedenheit     ihres dynamischen       Verhaltens    labil. Bereits eine unendlich
kleine Stoning wiirde geniigen, um das Verhalten einer Anordnung                  einfacher
Maschinen,     die sich aus Komponenten          unterschiedlichen      spezifischen Ge
wichts   zusammensetzt,       unvorhersehbar        zu machen.     Diese    Folgerungen
wurden nicht nur der Erfahrung,              sondern auch den Prinzipien des Archi
medes zuwider laufen.
   Noch      eine andere Annahme           aus De Motu wird jetzt stillschweigend
fallengelassen.    Wenn      gleich schwere Korper        sich dem Zentrum       der Erde
 iiber gleiche vertikale Distanzen         auf unterschiedlich    langen Wegen nahern,
dann gewinnen         sie identische Momente.        Die Zunahme       der Geschwindig
keiten wiederum        entspricht    bei identischem Gewicht und gleicher vertikaler
Distanz     der Zunahme       an Moment39. Da wie angenommen               nur Zeiten und
Wege,     nicht aber die resultierenden           Momente      und Geschwindigkeiten
verschieden      sind, miissen      die beiden Korper diese Geschwindigkeiten             in
unterschiedlicher      Weise      gewonnen      haben. Dies    liefi vermuten,     dafi die
Beschleunigung        nicht wie in De Motu            angenommen       ein akzidentelles,
 sondern ein wesentliches         Merkmal      von Bewegung      darstellt40. Damit war
ein zentrales Postulat der friihen Galileischen    Bewegungslehre        gescheitert.
  Galilei plante nun eine neue Abhandlung           iiber die Bewegung.       Er hatte
erkannt,   dafi das Phanomen      der Beschleunigung        einer intensiven Unter
suchung bedurfte. Nach dem Fehlschlag         von De Motu wufite er, dafi theo
retische Analysen     zur Auswahl    der gesuchten     Prinzipien    nicht geniigten,
sondern durch experimentelle Untersuchungen          von Akzidenzien      zu erganzen
waren. Durch      systematische   Variation   akzidenteller     Faktoren     suchte er
Konvergenzen     aufzuspiiren      (Fallbeschleunigung,      spezifisches Gewicht). An
dere Bedingungen      hielt er konstant,        um die Wirkung          von Faktoren     zu
kontrollieren   (Reibung, Luftwiderstand,          Form der Korper). Nur so konnte
er hoffen, die in De Motu aufgetauchten            Probleme     sowie die Widerspriiche
zwischen De Motu und der mechanischen                  Schrift zu beseitigen. Die Zeit
zwischen der Abfassung         von Le Meccaniche          und seinen astronomischen
Entdeckungen,     also die sieben Jahre zwischen            1602 und 1609 waren eine
Phase intensiven Experimentierens.          Die Dokumente       zeigen auch, dafi Galilei
bereits vorher Pendelexperimente            und Fallversuche       mit schiefen Ebenen
gemacht hatte, allerdings         ohne dafi ihm dies weitergeholfen            hatte. Die
wichtigsten   Experimente,       die Galilei    in diesen Jahren durchfuhrt,         lassen
sich in zwei Gruppen      einteilen41:
  Die erste untersucht      das Problem der Fallbeschleunigung              mit Hilfe der
 schiefen Ebene. Auf folio 107v finden sich die Daten           eines dieser Expe
rimente, das um 1604 durchgefuhrt         wurde. Die geringe Abweichung           von
den korrekten Werten     lafit darauf schliefien, dafi Galilei ein sehr sorgfaltiger
Experimentator    war und iiber ein beachtliches         handwerkliches   Geschick
verfiigte. Andere Mefiergebnisse     unterstiitzen  diesen Eindruck. Obwohl die
Daten42 des genannten      Experimentes      klar zeigten, dafi sich bei der Fall
180 DISCUSSION


bewegung      die zuriickgelegten        Strecken wie die Quadrate der entsprechenden
Fallzeiten     verhielten,     leitete Galilei      daraus kein Gesetz            ab. Aus seinen
bisherigen     Studien zur Bewegung wufite er, dafi Akzidenzien                      den Physiker,
der sich auf der Spur einer Entdeckung                    wahnt,      leicht tauschen konnen.
Er versuchte nicht, von seinen Daten ausgehend zu verallgemeinern,                           sondern
 eine theoretische       Erklarung       zu finden, aus denen die Regelmafiigkeiten,
die sich in den Daten           gezeigt hatten,         ihrerseits ableitbar waren.            In den
 folgenden    vier Jahren konstruierte            er eine Reihe von Beweisen,               die teils
 richtige, teils falsche Elemente enthielten43.
   Der Beweis, den Galilei             in den Discorsi44       anfuhrt, beruht im Kern auf
einer Anwendung            des ?mean-speed-theorems",                 das von den Oxforder
Spatscholastikern        im 14. Jh. aufgestellt wurde. Es lautet, dafi ein proiectum
 in einer gleichformig       beschleunigten        Bewegung       denselben Weg durchlauft,
den es auch mit einer gleichbleibenden               Geschwindigkeit         zuriicklegen wiirde,
die halb so hoch wie die Endgeschwindigkeit                       im beschleunigten         Fall ist.
Wenn also ein gleichformig              - in scholastischer
                                                                  Terminologie        ?uniformiter
difform" - beschleunigtes             proiectum       in einer Stunde eine maximale               Ge
 schwindigkeitsintensitat         von 50 erreicht, so wiirde es denselben Weg                        in
gleicher   Zeit auch mit einer uniformen Geschwindigkeitsintensitat                           von 25
durchmessen. Dies heifit physikalisch,               dafi sich in der uniformiter difformen
Bewegung        in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuwachse                       addieren.
Die zuriickgelegten Wege verhalten                sich dann wie die Elemente der Reihe
der ungeraden         Zahlen     1-3-5-7-9                   usw. Addiert man die Wege,
 so sieht man, dafi mit einer Verdoppelung                    der Zeit eine Vervierfachung
des Weges, mit einer Verdreifachung              der Zeit eine Verneunfachung            des Weges
 einhergeht,     usf.45. Die Quellen         zeigen, dafi Galilei        die Flachen       des Dia
gramms nicht ohne Beweis mit den zuriickgelegten                            Wegen       gleichsetzt,
 sondern eine Summierung der unendlich vielen durchlaufenen                         verschiedenen
Momentangeschwindigkeiten                des gleichformig       beschleunigten        Korpers ver
 sucht. Auch fiir diese ?graphische              Integration"      gibt es bei Nicole Oresme
 ein - Galilei vermutlich unbekanntes              -                           Vorbild.
                                                      spatscholastisches
   Die zweite Gruppe            von Experimenten            untersucht       die Frage,       ob das
Zeitquadratgesetz        auch dann giiltig bleibt, wenn sich der Fallbewegung                     eine
 zweite Bewegungstendenz             in waagrechter       Richtung      hinzugesellt.     In diesem
Fall findet eine Superposition              der beiden Bewegungen              statt, so dafi eine
gebogene Bewegung mit der Form einer Parabel resultiert. Auch hier hat
Galilei das Ergebnis nicht mit Hilfe des Experiments                       gefunden. Auch hier
zeigt er sich als geschickter Experimentator,                dessen Daten auch heute noch
prasentabel      sind. Er kannte das Ergebnis bereits, denn es ist eine logische
Folge des Zeitquadratgesetzes   sowie der Annahme,                        dafi eine eingepragte
Kraft den Korper auf einer Geraden weitertreibt.


 V Galileis Beweisverfahren

Ungeachtet       der   logischen    Prioritat     theoretischer    Ableitungen        ist die expe
DISCUSSION 181


rimentell gewonnene      Erfahrung nicht iiberfliissig. Nur sie kann zeigen, ob
die ?ex suppositione"      mathematisch    abgeleiteten  Schliisse auch fiir reale
Bewegungsvorgange       gelten. Die folgende von Wallace gefundene Briefstelle
scheint das Galileische   Verfahren am klarsten zu erlautern:

 I argue ex suppositione,     imagining      for myself    a motion     towards a point   that departs  from
 rest and goes on accelerating,      increasing   its velocity with the same ratio as the time increases,
 and from such a motion         I demonstrate      conclusively     [io dimostro concludentemente]     many
 properties  [accidenti]. I add further that if experience          should show that such properties    were
 found       to be verified                in the motion       of heavy        bodies  descending    naturally,  we could without
 error      affirm         that     this       is the     same motion       I defined      and supposed;      and even   if not, my
 demonstrations,                  founded        on my supposition,             lose nothing   of their force and conclusiveness;
 just as nothing              prejudices          the conclusions  demonstrated                  by Archimedes     concerning       the spiral
 that no moving                   body       is found       in nature     that moves         spirally     in this way. But        in the case
 of the motion                supposed     by me [figurato   da me]   it has happened    [e accaduto]   that all the
 properties          [tutte      le passioni]  that I demonstrate   are verified  in the motion    of heavy bodies
 falling    naturally46.

  Eine Analyse       der Galileischen   Spatwerke   zeigt, dafi sich seine Metho
dologie zwischen De Motu und den Discorsi          nur wenig verandert hat. Seine
Argumentationsweise          hat in der Regel folgende Struktur. Aus einer Be
hauptung seines wissenschaftlichen       Gegners, die die Erklarung eines Phano
mens     intendiert,   leitet Galilei weitere Konsequenzen      ab und zeigt an
schliefiend, dafi diese entweder empirisch falsch sind oder zu theoretischen
Widerspriichen      fiihren. Gedankenexperimente        werden unterstiitzend   ein
geschoben. Anschliefiend       stellt er seine eigene Erklarung vor und erlautert
 ihre geometrischen       und physikalischen      Pramissen.   Zur Erhartung    der
Erklarung    leitet er weitere Folgerungen    aus den gemachten Voraussetzungen
ab, die anhand moglichst      einfacher Beobachtungen     nachpriifbar     sind. Die
so bestatigte Hypothese      erklart Galilei  fiir ?demonstriert",      ohne damit
implizieren   zu wollen,   sie sei nun unwiderlegbar.      Sie ist nach wie vor
hypothetisch   in jenem Sinne, dafi esMenschen     nicht moglich   sei, die absolute
                       -                                                                         -
Wahrheit                     gemessen               am                         Wissen                 zu   erkennen,       denn      ?unser
                                                            gottlichen
Erkennen      (steht) sowohl hinsichtlich der Art als hinsichtlich    der Menge
des Erkannten unendlich weit gegen das gottliche zuriick"47. Galilei besteht
jedoch darauf, dafi das menschliche       Erkenntnisvermdgen      bei konkurrie
renden Theorien - etwa kopernikanische       versus ptolemaische    - in der
                                                                             Lage
sei, die falsche auszusondern,
 da notwendig                 eines      der     beiden    (...) richtig und das andere       falsch    sein muB,    und mithin
                                                                                -               nur innerhalb
 unausbleiblich               die Grunde             fiir die wahre     Lehre      ich meine                        der Grenzen
                                                    - sich
menschlicher               Wissenschaft                        als ebenso   beweiskraftig    herausstellen    miissen,   wie die

 gegenteiligen             als nichtig         und verfehlt48.


  Galilei behauptet nicht, dafi er einen absolut schliissigen und unfehlbaren
Grund    fiir die Falschheit  des aristotelischen  Systems wisse und das ko
pernikanische    daher de facto wahr sei. Er will nur

 alles     das,   was       Aristoteles,   Ptolemaus               und    andere        bisher       fiir die Unbeweglichkeit       der Erde
 angefiihrt       haben,        zur Sprache bringen;                zweitens      versuchen,          dies zu widerlegen;     endlich  solche
182 DISCUSSION

Tatsachen   beizubringen,              auf Grund            derer   man        zur Uberzeugung     gelangen     kann,         die Erde
sei, so gut wie der Mond               oder     ein anderer         Planet,      unter die von Natur    kreisformig           bewegten
Korper   zu rechnen49.


Mehrfach    betont Galilei, dafi er nicht den Anspruch       erhebe, die Bewegung
der Erde beweisen     zu konnen, dafi aber, ?wenn Aristoteles         hier ware, er
entweder von uns iiberzeugt wiirde, oder unsere Grunde widerlegte               und
uns eines besseren belehren wiirde"50.
   Im Falle der Mathematik         sieht er die Differenz zwischen menschlichem
und gottlichem Wissen      allerdings   nahezu verschwinden.

Nimmt       man     (...) das Verstehen       intensive,   insofern dieser Ausdruck                      die     Intensitat,  d.h. die
Vollkommenheit            in der Erkenntnis         irgend einer einzelnen Wahrheit                         bedeutet,     so behaupte

 ich, dafi      der menschliche     Intellekt     einige Wahrheiten     so vollkommen                         begreift   und ihrer so
unbedingt     gewifi    ist, wie   es nur die Natur     selbst   sein kann. Dahin                                 gehoren      die   rein
mathematischen       Erkenntnisse,    namlich die Geometrie    und die Arithmetik51.


In einer oft genannten                        Stelle des            ?I1 Saggiatore"             hatte Galilei             weiterhin
erklart, die Philosophie                      stiinde
                                                        -                                           -                   vor uns liegt,
geschrieben         in jenem    grofien        Buch           ich meine         das Universum           das    offen
aber nicht       verstanden     werden         kann,    bevor       man       nicht
                                                                         gelernt             hat,   seine
                                                                                                Sprache                  zu verstehen
und      die Buchstaben        zu     interpretieren,  in denen   sie geschrieben     ist. Es ist geschrieben  in der

 Sprache     der Mathematik,            und die Buchstaben    dieser Sprache     sind Dreiecke,    Kreise und andere
geometrische        Figuren      (...)52.

   Eine   unvorsichtige    Lesart konnte     daraus    schliefien,   dafi Galilei    den
Absolutheitsanspruch      mathematischer     Erkenntnis auf die Physik iibertragen
will53. Doch    dies ist nicht der Fall. Obwohl Galilei           auch in der Physik
dem mathematischen         Beweis den Vorzug       vor empirischer       oder philoso
phischer    Argumentation     gibt, weifi er, dafi eine physikalische         Erklarung
physikalische   Hypothesen     erfordert. Entgegen der platonisierenden         Galilei
 Interpretation    ist seine Vorstellung     des Verhaltnisses       von Physik      und
Mathematik      der des Aristoteles      sehr ahnlich. Folgende         Stelle aus der
Physikvorlesung                mag          als Beleg        geniigen:
Sind     auf diese Weise        die    verschiedenen        Bedeutungen   des Terminus                ,Natur4 bestimmt,     so           ist
nunmehr         der Unterschied             zwischen     dem Mathematiker     und dem                           zu bedenken               -
                                                                                                    Physiker
denn Flachen,    Korperformen,     Strecken und Punkte, welche                           den Gegenstand     des Mathematikers
                                                   -. Ebenso    ist zu klaren,
bilden, eignen ja auch den Naturkorpern                                           ob die Astronomie       .eine
von der Physik verschiedene       oder eine zur Physik gehorende Wissenschaft             ist. Denn   es ware
doch widersinnig,    wenn der Physiker     zu den Gegenstanden       seiner Wissenschaft     zwar das Wesen
von Sonne und Mond,         aber nicht deren notwendige       Eigenschaften      zahlen sollte, noch dazu,
wenn die Naturphilosophen        ganz offensichtlich    auch iiber die Gestalt       von Mond     und Sonne
handeln      und    dann      auch
                            die Frage     erortern,  ob die Erde und die Welt       kugelformig      sei oder
nicht.    Nun      sind aber
                        alle diese Dinge     auch Themen     des Mathematikers,      jedoch    immer unter
Ausklammerung       der Tatsache,     dafi sie Begrenzungen      eines Naturkorpers       sind (...) Darum
behandelt  er sie auch als selbstandige   Gegenstande;    denn sie konnen wirklich      inUnabhangigkeit
vom Naturgeschehen              betrachtet      werden         (Buch      2, 193b 23-35).


An den Vertretern   der Ideenlehre kritisiert Aristoteles,    dafi sie nicht die
mathematischen*  Verhaltnisse,  sondern die Naturverhaltnisse      als in diesem
DISCUSSION 183


Sinne    selbstandig setzen, was unzulassig   sei. Anschliefiend                                                erortert Aristo
 teles, was den Gegenstand    der Physik bildet:

Der    Terminus      ,Natur' bedeutet     also zweierlei: sowohl die Gestalt   wie das Material    (...) Wenn
aber   (...) Gestalt   und Material     die Gegenstande     einer und derselben Wissenschaft    sein miissen
(...) dann wird man den SchluB ziehen miissen,              daB auch in der Physik beide Naturmomente
zusammen       den Gegenstand       darstellen   (194a 12, 20-26).

Auch in jenen ?mathematischen     Disziplinen  (...) die einen naturwissenschaft
 lichen Einschlag zeigen" wie Optik, Harmonik, Astronomie,       Mechanik,     zeige
 sich der Unterschied   der beiden Gegenstandsspharen.        Wahrend
                                                              ?           die Geo
metrie die Linie in der Natur unter Absehung        von der Tatsache betrachtet,
dafi sie eine Linie in der Natur      ist, betrachtet die Optik die mathematische
Linie, aber nicht unter dem methodischen             Gesichtspunkt       eines mathema
 tischen, sondern eines Naturgebildes"           (194a 7, 11; vgl. auch Metaphysik
XIII, III, 7).
    Ein sehr gutes Beispiel fiir das von Aristoteles          beschriebene     Verhaltnis
von Physik und Mathematik          und zugleich fiir den Status der mit mathe
matischen   Argumenten      abgeleiteten     physikalischen      Schlufifolgerungen       ist
die Kontroverse    um die Interpretation        der Sonnenflecken       zwischen Galilei
und Christoph     Scheiner. Um die Sonne vor dem Makel                  der Beflecktheit
zu bewahren, hatte Scheiner die Hypothese             aufgestellt,   die beobachtbaren
Phanomene      seien Himmelskorper,      die in geringer Entfernung um die Sonne
kreisen. Dieses Argument       versucht Galilei zunachst durch Verweis auf die
unregelmafiige     Erscheinung     und die irregulare Struktur      der in Frage
stehenden Phanomene        zu entkraften.

Anyone    who      wished         to maintain            that     the spots were  a congeries   of minute          stars would      have
 to introduce       into    thesky innumerable                     movements,      tumultuous,    uneven,          and without       any
regularity.   But     this does not harmonize                     with any plausible   philosophy54.

Dafi man zwanzig oder dreifiig Flecken        in gemeinsamer    Bewegung    auf der
Sonnenscheibe    sehe, sei ein fiir Planeten sehr ungewohnliches    Verhalten.
   Obwohl Galilei es fiir leichter erklart, eine falsche Hypothese   zu widerlegen
als die nach seiner Auffassung     wahre zu etablieren55, entzieht er sich dieser
Aufgabe   nicht. Hierbei wird die konstruktive   Funktion   der Geometrie   im
Galileis Beweisfuhrung   deutlich. Ausgangspunkt    der Analyse  sind die beo
bachtbaren Besonderheiten     der Phanomene:

That    the spots     are     contiguous               to the     sun and    are   carried      around    by its rotation    can only
be deduced        by reasoning      from            certain     particular   events which          our observations  yield56.

Um   gewisse Unregelmafiigkeiten    und Akzidenzien    bereinigt, werden die
Beobachtungen   sodann durch geometrische Uberlegungen        aus der Rotation
von Punktmengen     auf der Oberflache  eines spharischen    (runden) Korpers
ex suppositione erklart.

To  begin with,   the         spots       at        their first    appearance      and     final   disappearance     near   the edges
of the sun generally           seem       to have        very little breadth,        but       to have the same      length that    they
show     in the     central       parts        of     the sun's disk. Those              who       understand   what     is meant     by
184 DISCUSSION


foreshortening      on a spherical      surface will see this to be a manifest   argument    that the sun
 is a globe,   that the spots are close to its surface, and that as they are carried on that surface
 toward    the center     they will always     grow  in breadth while preserving     the same length (...)
This maximum          thinning    takes place at the point of greatest   foreshortening,    and it would
occur      outside          the sun if the spots were any perceptible
                       the face of                                          distance   away from the
sun.                 place, one must
         In the second                    observe    the apparent  travel of the spots day by day.
The spaces passed by the same spot in equal times become          less as the spot is situated nearer
 the edge of the sun. Careful   observation      shows also that these increases     and decreases  of
travel     are quite in proportion       to the versed    sines of equal arcs, as would      happen   only   in
circular    motion contiguous       to the sun itself. In circles even slightly distant from it, the spaces

passed    in equal times would         appear    to differ very little against    the sun's surface. A third
 thing which   strongly     confirms    this conclusion   may be deduced       from the spaces between     one

spot   and another    (...) The events are such that they could be met with only in circular motion
made     by different     points     on a rotating    globe57.



  Aus    der Hypothese,    dafi sich die Flecken auf der Oberflache        der Sonne
befinden,    lassen sich geometrische     Eigenschaften     ableiten,   die sich im
beobachtbaren     Verhalten der Flecken aufiern miissen: perspektivische         Ver
kiirzung, Veranderung       der scheinbaren    oder wirklichen     Geschwindigkeit
je nach Nahe       zum Sonnenrand       oder zu den Polen, Veranderung             der
scheinbaren Abstande       zwischen den Flecken. Galilei    verwendet   das beo
bachtbare Verhalten     der Sonnenflecken  als Indiz dafiir, dafi die Sonne ro
tiert und dafi sich die Flecken auf ihrer Oberflache   befinden, um daraufhin
den UmkehrschluB       zu ziehen, daB unter der Annahme        einer rotierenden
kugelformigen        Sonne die Flecken       das erwartete Verhalten         zeigen. Er
postuliert   folglich    keine Hypothese,    die ausschliefilich    mit Hilfe der Ma
thematik begriindbar         ist, sondern zwei physikalische     Hypothesen,     die sich
gegenseitig    stiitzen. Die Giiltigkeit    der Erklarung      setzt voraus, dafi man
die Sonne als starren Korper behandeln              kann, dessen aufiere Hiille mit
gleichformiger     Winkelgeschwindigkeit        rotiert. Sie setzt weiterhin     voraus,
dafi die Flecken        selbst sich auf der Oberflache        der Sonne nicht linear
bewegen,    dafi sie sich nicht drehen oder in ihrer Gestalt               oder Grofie
verandern.
    Diese Annahmen       widersprechen     den Beobachtungen      und Uberlegungen
Galileis an anderer Stelle der gleichen Briefe: Dort halt er die Sonne nicht
fiir einen starren Korper; er weifi, dafi die Flecken        sich verandern, grofier
oder kleiner werden,        ihre Gestalt wandeln und dafi sie die Tendenz haben,
zum Aquator      der Sonne zu driften. Sogar die perspektivische          Verkiirzung
am Sonnenrand       ist nicht einheitlich, woraus Galilei schliefit, dafi die Flecken
eine gewisse Dicke zu haben scheinen. Die Veranderung             der Flecken nimmt
er zum Anlafi, der Sonnenoberflache          eine flussige Konstitution    zuzuschrei
ben, wahrend der Kern fest sein miisse, um die geordnete Bewegung                   der
fliissigen Oberflache     zu ermoglichen.
  Galileis Argumentation  verdeutlicht,   wie sich die im Prozefi der mathe
matischen Analyse der Phanomene     erreichte Exaktheit   im Umkehrverfahren
der Synthese - also bei der Erklarung     der real vorfindbaren     Komplexitat
der Phanomenen     durch die analytisch                                - wieder
                                            gefundenen    Prinzipien
DISCUSSION 185


verfliichtigt. Konnte     er die Phasen der Venus noch als absolut            sicheren
geometrischen    Beweis dafiir werten, dafi sich der Planet um die Sonne dreht58,
 so war die geometrische    Beweisfiihrung     im Falle der Sonnenflecken   aufgrund
der Komplexitat     der Erscheinung     und des Einflusses akzidenteller    Faktoren
 schwieriger. Dies mag man als Hinweis              darauf werten,    dafi Galilei    in
Abhangigkeit    von der Direktheit        des mathematischen      Zugangs    und von
der Eliminierbarkeit     akzidenteller  Faktoren Grade der Erkenntnissicherheit
 in den Realwissenschaften        annahm.     Im Fall der Sonnenflecken       kann er
mit      Hilfe        der
                  spharischen   Geometrie       beweisen,   dafi Punkte      auf einer
rotierenden  Kugel sich auf exakt berechenbare Weise bewegen. Soweit reicht
die Mathematik.     Zur Bestatigung     der physikalischen      Hypothese,     dafi die
Sonne eine rotierende Kugel ist, auf deren Oberflache            sich Flecken bilden
und wieder auflosen, dienen systematische         Beobachtungen      der Flecken und
Messungen     ihrer Geschwindigkeit,       ihrer Abstande     und ihrer Form. Die
Ubereinstimmung      der realen Messungen        mit den geometrischen         Deduk
 tionen ?demonstriert"     die Korrektheit     der physikalischen     Hypothese,     al
 lerdings nur was ihre geometrischen          Eigenschaften    betrifft, und nur in
Abstraktion   von Umstanden,     die per accidens wirken und die Erscheinungs
form der Sonnenflecken       storen, wie ihr Driften                                 zum Sonnenaquator,     ihre
Formveranderung,      ihr Entstehen    und Vergehen.                                  Sie sagt nichts iiber ihre
Natur,  ihre innere Konstitution.

For   in our speculating  we either seek to penetrate        the true and internal essence of natural
substances,  or content   ourselves    with a knowledge     of some of their properties.      The former
I hold to be as impossible        an undertaking    with regard to the closest     elemental    substances
as with more    remote   celestial   things (...) Hence  I should    infer that although     it may be in
vain     to seek      to determine       the   true   substance   of   the   sunspots,    still   it does   not    follow    that
we     cannot    know    some properties   of them,          such as their    location,   motion,      shape,     size, opacity,
mutability,       generation,  and dissolution59.


     Diese       weise Selbstbeschrankung      bedeutet nicht, dafi Galilei                                 keine Uber
 legungen         zur moglichen   Konstitution   der Flecken anstellt.

The      substance      of   the spots may       be any     of a thousand
                                                           things unknown    and unimaginable
 to us    (...) But     if, proceeding   on      a basis
                                            of analogy with materials  known      and familiar  to
us, one may suggest something     that they may be from their appearances    (...) I find in them
nothing at all which does not resemble our own clouds60.


Galilei  argumentiert,   dafi sich die Erde, wenn sie selbstleuchtend    und von
einigen Wolken     oder Rauchschwaden       umgeben ware, einem aufieren Be
obachter ahnlich darstellen wiirde wie die Sonne. Dennoch           halt er diese
Analogie   nicht fiir zwingend.

I do not assert on this account       that the spots are clouds of the same material      as ours, or
aqueous   vapors    raised from the earth and attracted    by the sun. I merely     say that we have
no knowledge     of anything  that more closely resembles  them. Let them be vapors or exhalations
then, or clouds, or fumes sent out from the sun's globe or attracted        there from other places;
I do not decide     on this - and they may be any of a thousand         other things not perceived
by us61.
186 DISCUSSION


   Eine interessante Umkehrung      der Beweislage findet sich im ?Saggiatore".
Anlafi fiir diese Schrift war eine kurze Abhandlung             des Jesuiten Horatio
Grassi - einer der kompetentesten      Astronomen        seiner Zeit - iiber die drei
Kometen     des Jahres   1618. Grassi    hatte durch ein im Galileischen            Sinn
demonstratives   Argument     nachgewiesen,     dafi die Kometen       sich jenseits der
Sphare des Mondes     bewegten und somit keine atmospharischen             Phanomene
waren. Das mathematische     Argument      lautete, dafi eine Himmelserscheinung,
die keine merkliche     Parallaxe   hat, zumindest        eine Entfernung       wie die
Planeten   aufweisen mufi. Alle Messungen          bestatigten,    dafi die Parallaxe
der Kometen     nur sehr klein sein konnte und dafi ihre Bahn vermutlich
weder kreisformig    noch gleichformig      war. Grassi bewertete dies zugleich
als Bestarkung    der Analyse, die Tycho Brahe iiber den Kometen          des Jahres
 1577 vorgelegt    hatte. Diese Argumentation        entspricht   exakt derjenigen
Galileis   im ?Cecco di Ronchitti"    Dialog    von 1605, wo er das Parallaxe
Argument     gegen die ?Philosophen",      also die Aristoteliker     einsetzte, die
die Nova     dieses Jahres als atmospharische         Erscheinung     interpretieren
wollten, um die aristotelische   These der Unveranderlichkeit        der Himmels
 spharen zu retten62. Dieser Konflikt hatte Tradition. Bekanntlich         hatte sich
Tycho    Brahe bei den orthodoxen        Aristotelikern      durch den Nachweis
unbeliebt gemacht, dafi die Nova des Jahres 1572 keine Parallaxe aufwies
und daher zur Sphare der Sterne gehorte.
  Wie sehr           die aristotelische Theorie der unveranderlichen     Himmelsspharen
auch unter           den jesuitischen Wissenschaftlern     bereits um 1612 diskreditiert
war, ersieht          man an Galileis Auslassungen      iiber Scheiner, der seine Hypo
these iiber          die Sonnenflecken     durch Umdeutung        aller ubrigen Himmels
                      zu   retten   versuchte.
phanomene

He    thinks  it probable   that even the other stars are of various        shapes and that they appear
round    only because     of their light and their distance     (...) (B)eing unable    to deny    that the
sunspots    are generated    and dissolved   and in order not to have this distinguish         them from
the stars, he does not hesitate    to say that other stars, too, are disintegrated    and refabricated63.


Und in seiner zweiten Arbeit iiber die Sonnenflecken       ,,De maculis  solaribus
et stellis circa Jovem errantibus accuratior    disquisitio"     (Augsburg    1612)
erklarte Scheiner:

It is still doubtful whether      the spots are on the sun or away from it, whether     they are generated
or not, whether      they   should be called clouds or not. But this much   seems certain: the common

teaching of astronomers         about the hardness   and the constitution of the heavens     can no longer
be maintained,       especially   in the regions of the sun and Jupiter.    It is fitting, therefore,   that
we    should      listen  to the leading mathematician      of our times, Christopher    Clavius,  who,    in
 the last edition      of his works, moved   by  these phenomena     recently discovered   (though ancient
 in themselves)       advised astronomers   to start thinking of some other cosmic system64.


     DreizehnJahre spater waren Galileis Hauptgegner  nicht mehr die ?Philo
sophen",   sondern die Neuerer,   die sich dem System Tycho Brahes ver
schrieben hatten, um zumindest die irdische Physik bewahren       zu konnen.
Galilei war in die merkwiirdige    Lage geraten, gegen   die astronomischen
DISCUSSION 187


Neuerer,    die bereit waren,        nichtkreisformige   Bewegungen     am Himmel
zuzulassen,    die aristotelische     Kometentheorie,    die auch die Zustimmung
des Kopernikus     gefunden hatte65 zu verteidigen. Aber dies war nicht der
einzige  Grund fiir Galileis      seltsame Kometentheorie.    Viel wichtiger schien,
dafi ihm berichtet wurde,

 (s)ome   outside   the Jesuit    Order    are spreading    the rumour       that   this     is the greatest   argument
against   Copernicus'    system    and    that it knocks   it down66.


Das Argument     lautete wie folgt. Wenn   sich die Kometen   in kreisformigen,
wenngleich  stark exzentrischen     Bahnen   in der Nahe der oberen Planeten
um die Sonne bewegten,      dann mufiten    sie unter der Voraussetzung     einer
nichtstationaren    Erde Schleifen und Riicklaufigkeiten     aufweisen. Da dies
nicht der Fall war, bestand unter kopernikanischen        Voraussetzungen        nur
die Alternative,   das zu erklarende Phanomen    selbst umzuinterpretieren      oder
den Kometen      eine andere Art von Bahn zuzuschreiben.    Da Galilei     letzteres
offensichtlich   ablehnte, blieb ihm nur die erste Moglichkeit.
  Was Galilei      noch wenige     Jahre zuvor den Aristotelikern                                         als streng
mathematischen       Beweis fiir die translunare Lokalisierung        der                                 Nova    des
Jahres 1604 vorgefuhrt      hatte: die Abwesenheit     jeder Parallaxe,                                   wischte   er
nun mit einer einzigen Bemerkung         beiseite. Die Giiltigkeit    des                                  Parallaxe
Arguments      sei von der physikalischen      Natur des    betreffenden Objektes
abhangig.    Solange Grassi nicht zeigen konne, daB der Komet           ein reales
physikalisches    Objekt     und nicht nur eine Spiegelung      an aufsteigenden
 irdischen Dampfen        sei, habe   er nichts bewiesen.    Zur Untermauerung
diskutiert   er ausfuhrlich     einige irdische Erscheinungen,   bei denen trotz
ortlicher Nahe ebenfalls keine Verschiebung    des scheinbare Ortes auftritt,
weil das Phanomen      zugleich mit dem Beobachter      seinen Ort wechselt.
Bevorzugte   Beispiele  sind die Reflexion der Abendsonne     auf dem Meer,
der   Regenbogen,          der    Hof     des   Mondes        oder      zuweilen           auftretende         ,,Neben
sonnen".     Natiirlich      ist Galilei vorsichtig   genug, nicht zu behaupten,        dafi
Kometen       sich genau so verhalten miissen wie die von ihm als beweiskraftig
angefuhrten       Beispiele.     Er vermeidet    jede Formulierung,      die so auslegbar
ware, als halte er die physikalische            Richtigkeit    seiner Alternative   fiir er
wiesen. Er wolle nicht mehr behaupten,                 als dafi seine Hypothese    richtig
sein konnte; daher sei die Forderung                nur recht und billig, dafi man sie
erst falsifizieren miisse, bevor man eine andere, eine supralunare Erklarung
des Kometen        ernsthaft  in Betracht zoge. Doch dies hindert ihn wiederum
nicht   daran,     seine Hypothese     als die unter den gegebenen         Bedingungen
plausibelste     zu prasentieren67    und sie sogar 14 Jahre spater im ,,Dialog"
zu wiederholen.
   Bei der Lektiire des ?Saggiatore"          wird klar, dafi Galilei auch nicht den
Anschein      einer positiven Evidenz      fiir seine Hypothese    anfiihren kann. Er
macht      an keiner Stelle klar, wie er sich die Entstehung             der konkreten
Erscheinungsform        und der Bahn des Kometen mittels Reflexion physikalisch
vorstellt.   Seine Argumente       fiir die Reflexionstheorie     leiten sich samtlich
188 DISCUSSION

aus Analogien      ab. Vollig im Gegensatz    zu seiner gewohnten methodischen
Strategic,   wie sie anhand der Kontroverse     um die Sonnenflecken       vorgefiihrt
wurde,    verwirft Galilei eine mathematische     Beweisfiihrung    durch ein nicht
demonstratives     Argument,    das sich von ungestiitzten      Spekulationen      iiber
die Natur des zu erklarenden Phanomens          ableitet.
   Ist dies ein Beispiel zugunsten Feyerabends         Behauptung,    Galilei   sei ein
methodologischer      Anarchist gewesen? Diese Vermutung        kann man mit vielen
Griinden bestreiten.
    (1) Die Kontroverse    um die Kometen      ist zunachst  ein Beispiel gegen
die oft wiederholte   These,   Galilei habe die Frage nach der Substanz und
der Ursache der Phanomene         (ihrem ,,Warum?") zugunsten der nach ihrer
Struktur    (dem ?Wie?") aufgegeben.      Auch    in der Bewegungslehre       blieb
Galilei an der Frage nach der Ursache der Fallbeschleunigung          interessiert.
Wie    sich in De Motu   gezeigt hatte, setzte die Antwort    hierauf allerdings
die genaue Beschreibung      des zu erklarenden Phanomens      voraus. Also war
es notwendig,    nach dem anfanglichen    Fehlschlag mit der Frage nach dem
?Wie?" fortzufahren.
   (2) Sie ist zum zweiten ein Beispiel gegen die platonisierende      Galilei
Auslegung.    Die Verwerfung   des Parallaxe-Arguments   zeigt, dafi bei einem
Konflikt   zwischen Mathematik     und Physik die erstere fiir Galilei    nicht
unbesehen   Prioritat besafi. Im Streit um die Kometen waren gerade nicht
die Phanomene,       sondern    deren Ursache     und innere Konstitution         strittig.
Man   beachte,    dafi Galilei      auch hier keineswegs       gegen mathematische
Beweisfiihrungen     als solche argumentiert. Die von ihm angefiihrten Grunde
zugunsten     der Reflexionstheorie      der Kometen      benotigten    eine viel kom
pliziertere Mathematik       als die Beweisfiihrung     seines Gegners. Wogegen           er
sich wendet, ist ein spezifisches mathematisches       Argument.     Er mochte zeigen,
dafi die Stichhaltigkeit      dieses Arguments       auf der Giiltigkeit     versteckter
                                                              - unter den Vorzeichen
physikalischer   Voraussetzungen       beruht, die er selbst
                                                         - nicht
seines Kampfes     gegen das tychonische        System             zugestehen will. Es
handelt sich daher bei dieser Kontroverse           nicht" um einen Streit zwischen
einem demonstrativen       Argument      Grassis und einer physikalischen         Hypo
these Galileis, sondern     zwischenverschiedenen   physikalischen   Hypothesen,
die beide mathematisch      ?ex suppositione    demonstrierbar"    waren. Wie    im
Falle des Zeitquadratgesetzes     war jedoch die empirische Giiltigkeit       nicht
durch mathematische    Deduktion,     sondern nur anhand von Experiment        und
Beobachtung      entscheidbar.
    (3) Der Streit um die Kometen        ist ein Beispiel  fiir Galileis Konserva
tismus auf dem Gebiet der eigentlichen Himmelsphysik.           Galileis neue Wis
senschaft ist eine Physik der Erde, die die kopernikanische           Kinematik    der
Planeten zugleich mit der Prioritat kreisformiger Bewegungen           bewahrt. Dies
war auch eine Folge des archimedischen          Ausgangspunktes,        von dem aus
kein Weg zu elliptischen oder noch komplizierteren        Bahnen auf der Grund
 lage ?okkulter"     Anziehungskrafte   und ahnlicher     ?nichtiger     Phantasien"
fiihrte. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dafi Galilei die zweifellos
DISCUSSION 189


richtige Beobachtung,      dafi man bei einer Lokalisierung     der Kometen
zwischen den Wandelsternen       mit Tycho Brahe zu dem SchluB kommen
miisse, die Kometen     bewegten  sich mit ungleichformiger Geschwindigkeit
auf nicht-kreisformigen    Bahnen riickwarts, als Argument   fiir eine meteo
rologische Deutung wertet. Denn

one of the principal     reasons   which  causes both him (Tycho - K.F.) and Copernicus          to depart
from the Ptolemaic    system was     the impossibility   of saving the appearances   by means of motions
which  are absolutely     circular   and perfectly     equable    in their own circles and around      their
own centers68.


Und      diesen Grundsatz          des Kopernikus        wollten     die Anhanger        Tychos       leicht
fertig preisgeben!
  Wie an diesen Beispielen     zu sehen, bleibt die Galileische    Beweisfuhrung
unabhangig     von ihrem Gegenstand     strukturell gleich. Wenn immer moglich,
arbeitet Galilei mit mathematischen       Modellen,    deren Ubertragbarkeit     auf
die Wirklichkeit    er anhand von Experiment        und Beobachtung     testet. Die
Strenge der ?demonstratio"       ist dabei sowohl von der Gute des mathema
 tischen Ansatzes    und der Zahl der intervenierenden          Akzidenzien     als auch
von der Korrektheit       der physikalischen     Pramissen     abhangig.   Hat er kein
mathematisches      Modell,     dann treten Analogien         an ihre Stelle, die zu
?bestmoglichen    Vermutungen",        nicht aber zu ex suppositione      demonstrier
ten Resultaten     fiihren. Der Anschein        eines methodischen       Unterschiedes
zwischen Galileis mechanischen        Arbeiten,    in denen er eine Neubegriindung
dieser Wissenschaft      nach archimedischen       Prinzipien    anstrebt, und seinen
astronomischen      Veroffentlichungen,       in denen     sich auch ?nichtdemon
strative" Argumente        finden  lassen, ergibt sich aus der unterschiedlichen
wissenschaftspolitischen      Zielsetzung.      In seinen astronomischen     Arbeiten
schreibt Galilei     nichtfiir den Mathematiker,         sondern fiir die nicht fach
gebundene     Intelligenz und den interessierten Laien. Auch hier verwendet
er, wie bei den Sonnenflecken,         mathematische      Argumente,     doch er fiihrt
sie oft nicht  formal aus. Auf formale Ausfiihrungen           verzichtet Galilei aber
auch in seinen mechanischen           Schriften, wenn er sich an einen weiteren
Leserkreis wendet. Die Kontroverse             iiber schwimmende      Korper mag als
Beleg geniigen69.
  Auch    in seinen Spatschriften   besteht Galilei  auf der Unverzichtbarkeit
von Idealisierung und Abstraktion.     Nach wie vor insistiert er jedoch ebenso
darauf, daB storende Akzidenzien,        die auf der ?Unvollkommenheit         der
Materie"   beruhen, eine Erkenntnis    der Bewegungsgesetze     nicht verhindern.
Es liege an der Kunstfertigkeit   des Mathematikers,    sie bei der Abschatzung
beobachtbarer    Effekte in Rechnung                  zu stellen.      Im Dialog       laBt Galilei      sein
alter ego Salviati erklaren:

Gerade    wie    der Kalkulator,     damit die Zucker-,      Seide-, und Wollrechnungen      stimmen,    seine

Abziige    fiir das Gewicht      der Kisten,  der Verpackung      und des sonstigen Ballasts machen     muB,
 so muB    der Geometer,      wenn     er die theoretisch   bewiesenen     SchluBfolgerungen   experimentell
 studieren will, die storenden Einfliisse       der Materie    in Abrechnung     bringen70.
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German one

  • 1. Die Wissenschaftstheorie Galileis - oder: Contra Feyerabend Author(s): Klaus Fischer Reviewed work(s): Source: Journal for General Philosophy of Science / Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Vol. 23, No. 1 (1992), pp. 165-197 Published by: Springer Stable URL: http://www.jstor.org/stable/25170925 . Accessed: 08/02/2012 07:12 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org. Springer is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Journal for General Philosophy of Science / Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie. http://www.jstor.org
  • 2. DISCUSSION DIE WISSENSCHAFTSTHEORIE GALILEIS - ODER: CONTRA FEYERABEND KLAUS FISCHER - or: SUMMARY. Galileo's Philosophy of Science Contra Feyerabend. In analyzing Galileo's methodology, philosophers of science were using, misusing, and abusing his ideas rather unashamedly to suit their own purposes. Like so many others before him, Paul Feyerabend had come to the that his methodological conclusion ideas might gain momentum by demonstrating their compatibility with those of Galileo. The reinterpretation of Galileo as a true, though disguised, anarchist, was considered by Feyerabend as the most forceful, and indeed conclusive, case against rationalism in methodology which might be conceived in view of the privileged position ascribed to Galileo by both philosophers and historians of science. The paper argues - against Feyerabend - that Galileo was not a methodological anarchist, neither in theory nor in practice. He had firm methodological convictions that remained basically the same throughout his entire career. In his view, essential and accidental causes of phenomena were not given by experience. Although mathematical and geometrical analysis was needed to discriminate between them, experience and experiment was considered by Galileo from his middle periode on as a means to identify among the set of explanations, demonstrable "ex suppositione" as being mathematically correct, those which could in addition be applied to reality. Thus, Galileo was neither an inductivist nor a naive falsificationist, nor a Copernican zealot adapting his methodology to the needs of his presumed fight for heliocentrism, come what be. Only after the reconstruction of mechanics was in a fairly advanced stage, and after his own telescopic observations had provided independent evidence in favor of the new astronomy, Galileo was in a position to appreciate the Copernican system as a most forceful ally in his fight for the recognition of his physical achievements. Through the end of his life, his view of the heliocentric system remained rather traditional in adhering firmly to the principles of epicyclic and circular motion, as far as the heavens were concerned. Key words: Galileo, Feyerabend, methodological anarchism vs rationalism, reasoning "ex suppositione", demonstrative regress, experiment, mathematics and reality, falsification. ?Das Ende der Suche nach der Wahrheit. Und vergessen Sie nicht, daB der Weg zuriick zu einer weniger toleranten Methodologie durch die historische Forschung versperrt ist!" - Paul Feyerabend, ,Uber die Methode. Ein Dialog', in Unter dem Pflaster liegt der Strand 3, 1976, 148). Wie kaum ein anderer Symboltrager der neuzeitlichen Wissenschaft ist Galilei zum Opfer seiner Interpreten geworden. Und nur allzuoft waren die Ergebnisse der Analyse nicht durch abgewogene Beurteilung der Quellen, Journal for General Philosophy of Science 23: 165-197, 1992. ? 1992 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.
  • 3. 166 DISCUSSION sondern durch die Moden des aktuellen ?Diskurses" bestimmt. Viele Umstande kamen dieser Formbarkeit entgegen: Die Vielfalt der Galileischen Arbeitsgebiete, die Menge des erhaltenen Materials, der Mangel an einer systematischen Abhandlung zur Methode aus der Hand Galileis. Nicht uberraschen kann deshalb, daB die Zahl der Versuche, seine ?Methode" zu verstehen, zwar den erhofften, doch sicherlich nicht den tatsachlich gewonnenen Erkenntnissen entspricht. Das ungebrochene Interesse an Galilei ist verstandlich: Durch eine Untersuchung seiner Arbeit erhofft man sich Aufklarung dariiber, worin die wesentlichen Unterschiede zwischen mittelalterlicher und moderner Wissenschaft liegen, wie er die herrschende Kosmologie zertrummerte und warum er die Entwicklung der neuzeitlichen Physik mit Erfolg einleiten konnte. Galileo occupies a unique position in the philosophy of science (...) Virtually every philosopher of science had felt or feels the need to come to grips with Galileo, in the sense that he either derives his theories from his analysis of Galileo, or he tests the theories he has otherwise formulated by applying them to the case of Galileo1. A. , andrchico'? - Feyerabends Galileo Vereinnahmung Galileis fiir den methodologischen Anarchismus Ein Indiz fiir den Auslegungsspielraum der Galileischen Methode zeigt sich in den von Paul Feyerabend vorgelegten Analysen zum Thema2, die in der Diskussion der vergangenen 15 Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben. Dabei standen weniger seine Fallstudien als die abstrakteren Teile seiner Polemik gegen den Rationalismus im Vordergrund. Zu Unrecht, wie Feyerabend meint. Denn die Fallstudien bilden das Zentrum des Buches. Sie sind das Material, an dem die Mangel eines abstrakt-rationalen Vorgehens erlautert und terminologisch fixiert werden. Die mehr abstrakten Erorterungen und die Polemik gegen den Rationalismus sind ohne dieses Material und ohne diese Erlauterungen nicht denkbar. Sie sind durchaus sekundar. Dennoch haben die meisten Kritiker nur diese Erorterungen untersucht (...). Was Wunder, dafi sie zu einem verzerrten Bilde meiner Absichten kamen (WM 26)3. Versuchen wir also, das Feyerabend widerfahrene Unrecht verzerrender In terpretation zu korrigieren und seine Fallstudie zur Galileischen Revolution an den Tatsachen zu messen. Feyerabends Grundidee ist einfach. Er will zeigen, dafi die Vielfalt mog licher Situationen, in die Wissenschaftler regelmaBig geraten, das Festhalten an einer einzigen, fest umreilibaren Methodologie verbietet. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies in den grofien historischen Umwalzungen der Wissenschaft4. Betrachten wir die Kopernikanische Hypothese, deren Erfindung, Verteidigung und Teilbe statigung fast alien methodologischen Regeln zuwiderlauft, die man sich heute vorstellen kann (WM 105)(...) Man beginnt mit einem starken Glauben, der der Vernunft und der Erfahrung der Zeit zuwiderlauft. Der Glaube breitet sich aus und findet Stiitzen in anderen Anschauungen, die ebenso unverniinftig oder noch unverniinftiger sind (Tragheitsgesetz, Fernrohr). Die For
  • 4. DISCUSSION 167 schung wird jetzt in neue Richtungen gelenkt, man baut neue Instrumente, setzt ,Daten' in neue Beziehungen zu den Theorien, bis eine Ideologic zustande kommt, die reich genug ist, um unabhangige Argumente fur jeden ihrer Teile bereitzustellen, und beweglich genug, um solche Argumente jederzeit bei Bedarf zu finden (WM 40f)(...) Meiner Ansieht nach hat Galilei widerlegte Theorien so eingefiihrt,daB sie einander erhielten, er hat auf diese Weise eine neue Weltauffassung geschaffen, die nur lose (wenn iiberhaupt) mit der vorangehenden Kosmologie (einschlieBlich der Alltagserfahrung) verbunden war, er hat Scheinverbindungen zu den Wahrnehmungsbestandteilen dieser Kosmologie hergestellt, die erst heute durch echte Theorien ersetzt werden (physiologische Optik, Theorie der Kontinua), und er hat, wo immer moglich, alte Tatsachen durch eine neuartige Erfahrung ersetzt, die er glatt erfand, um die Kopernikanische Auffassung zu stiitzen (WM 226). Nach Galilei den Induktivisten (Wohlwill, Mach), den Epigonen (Duhem) und den Rationalisten (Koyre, Cassirer) bekommen wir bei Feyerabend Galilei den Anarchisten, Opportunisten und Ideologen vorgefuhrt. Diese mit Absicht provozierende Darstellung soil zunachst thesenformig zusam mengefaBt und anschlieUend mit der Arbeitsweise Galileis und der Ent wicklung seiner Ideen verglichen werden. Feyerabend behauptet: 1. Zur Zeit Galileis verfugte die Schulphilosophie iiber ein umfassendes und intellektuell befriedigendes System der Naturerklarung. Es stiitzte sich im wesentlichen auf Aristoteles und Ptolemaus und schlofi neben Physik und Astronomie auch Meteorologie, Astrologie, Wahrnehmungstheorie (WM 161f, 203ff), Psychologie, Anthropologic, Politik und Theologie ein (WM 205). Wie jedes umfassende System hatte auch dieses mit einer Reihe von Problemen zu kampfen. Doch diese Probleme rechtfertigten nicht seine Verwerfung, solange man keine Alternative besaB, die ahnlich umfassend war und diese Probleme nicht hatte (WM 158f). 2. Galilei verstieB gegen jede verniinftige methodologische Regel, indem er das heliozentrische System akzeptierte, obwohl es genausoviele empirische Problem hatte wiedas geozentrische (WM 118, 148, 160). Uberdies gab es keine Physik, die zu diesem System paflte und die beobachtbaren Bewegungen irdischer Objekte erklaren konnte. Die wissenschaftliche Re volution der Neuzeit begann mit einem Schritt zuriick zu Theorien mit geringerem Gehalt, geringerer Konsistenz und Erklarungsleistung (WM 145f, 212). 3. In Ermangelung einer umfassenden Alternative muBte Galilei eine Fiille von Hilfshypothesen (WM 208) zur Rettung der kopernikanischen Theorie erfinden und sie durch Tricks vor der Widerlegung schiitzen (WM 153f, Anm.). Die Rettung des Heliozentrismus war in dieser Phase Galileis propagandistischem Geschick, nicht der tatsachlichen Erklarungskraft seiner Axiome zu verdanken. Dogmatismus rettete sie vor den rationalen Argu menten seiner aristotelischen Gegner (WM 123, 144, 213, 216, 221, 226). 4. Trotz dieses anfanglichen Riickstandes hatte Galilei Erfolg, weil er kontrainduktiv vorging und die heliozentrische Hypothese als Heuristik zur Konstruktion mit ihr kompatibler Hilfswissenschaften wie Kosmologie, Dynamik (WM 134, 142f), geometrische und physiologische Optik (WM 188, 192f), Wahrnehmungstheorie und Meteorologie benutzte. Deren Theo
  • 5. 168 DISCUSSION rien waren zunachst ebenso falsifiziert wie der Heliozentrismus und konnten nur durch wechselseitige Stiitzung uberleben (WM 152f, 198,209f, 223, 224f). Erst ihre weitere Entfaltung erzeugte neue Wahrnehmungen (WM 109ff, 115, 136f, 137, 145f, 196f), die mit der kopernikanischen Theorie kompatibel waren, und verdrangte andere Evidenz, die nur im aristotelischen Kontext sinnvoll erschien (WM 146). 5. Durch dogmatisches Beharren auf einer falsifizierten Zentralhypothese, die Entwicklung eines Korsetts von Hilfswissenschaften und die Umdeutung problematischer Evidenz (WM 124ff, 128, 132, 190f, 192, 194) entstand ein neues System der Naturerklarung, das das alte verdrangen konnte. Es siegte nicht, weil es einen groBeren Gehalt oder eine geringere Zahl von Problemen als das Vorgangersystem aufwies. Es siegte vor allem deshalb, weil es aufgrund historisch kontingenter Umstande eine groBere Zahl von - vereinfacht - der bessere Anhangern gewinnen konnte. Galilei war gesagt Marktschreier und Seelenfanger. Nicht die Kraft rationaler Argumente, son dern eine ?Abstimmung mit den FiiBen" bzw. mit Schreibfeder und Drucker presse entschied iiber den Konflikt der Systeme. Begunstigt wurde die Rezep tion des Systems durch das Aufkommen einer neuen sozialen Klasse, die das Ideal einer freien und pluralistischen Gesellschaft vertrat (WM 213, 215). 6. Feyerabends entscheidende SchluBfolgerung: Ware Galilei Empirist oder Falsifikationist gewesen, so hatte er scheitern miissen. Seine Ergebnisse waren davon abhangig, daB er pragmatisch vorging und sich an keine Regel der Vernunft oder der Methodologie gebunden fiihlte. Regeln benutzte er in opportunistischer Weise als strategisches Mittel zur Durchsetzung seiner Ideen (WM 105). B. Einige problematische Pramissen der Feyerabendschen Analyse Im folgenden soil der ?nervus rerum" der anarchistischen Umdeutung: die historische Entwicklung der Galileischen Physik und Methodologie, im Mittelpunkt stehen. Zuvor jedoch einige Bemerkungen zu anderen Voraus setzungen der Darstellung Feyerabends: (1) Man kann dariiber streiten, ob die Schwierigkeiten der postscho lastischen Naturphilosophie im spaten 16. Jh. nur das iibliche Format ?normalwissenschaftlicher" Probleme erreichten. Es laBt sich mit guten Griinden argumentieren, daB bereits die als Antworten auf endemische Probleme der hochscholastischen Synthesen erfolgten Innovationen des 14. Jahrhunderts einen tiefgreifenden Wandel bewirkt hatten, der keine all gemein konsensfahigen Losungen hervorgebracht hatte. Im 15. und 16. Jt. kann von einem einheitlichen und konsistenten System abendlandischer Naturphilosophie kaum mehr die Rede sein. Die Absorption des Wissens der antiken und islamischen philosophischen Systeme, die aus dem Bemuhen um Harmonisierung auftauchenden Widerspruche, theoretische und empi rische Schwierigkeiten der einzelnen Schulrichtungen, sowie eigenstandige Neuerungen innerhalb der Spatscholastik hatten sie in ein eklektisches und
  • 6. DISCUSSION 169 begrenzt pluralistisches Konglomerat transformiert, dessen Fraktionen in Reaktion auf neue Herausforderungen unterschiedliche Wege einschlugen. Dies gilt selbst fiir die Auslaufer der Spatscholastik im engeren Sinn5. (2) Auch die Frage der vergleichenden Bewahrung von ptolemaischem und kopernikanischem System ist umstritten. Obwohl die neue Lehre vor der Erfindung des Fernrohrs nicht prognostisch uberlegen war, hatte sie andere Vorteile. Sie enthielt die erste empirisch befriedigende Theorie, die nur gleichformige Kreisbewegungen verwandte. Damit erfullte sie eine zen trale aristotelische Forderung besser als die ptolemaische. Zu den Vorteilen des neuen Systems zahlte auch seine Einheitlichkeit und die sich zwanglos ergebende Ordnung der Planeten. DaB es mit der irdischen Physik des Aristo teles Konflikte gab, war Kopernikus bekannt, doch hier hatte die Scholastik bereits eine Alternative entwickelt, die mit der Erdbewegung kompatibel war. Die Dynamik der Pariser Spatscholastiker Buridan und Oresme enthielt bereits das Prinzip der kinematischen Relativitat, nach dem eine tagliche Drehung der Erde sich nicht an den Bewegungserscheinungen auf der Erd oberflache feststellen laBt. Einige der vor Buridan und Oresme angefiihrten Beispiele gleichen denen Galileis bis ins Detail. Kopernikus und seine Anhanger konnten folglich nicht nur antiaristotelische Quellen wie Plutarch (Kohasionstheorie), Aristarch, die Platonisten (neue Raumtheorie) oder das Corpus Hermeticum anfuhren, um sich physikalisch zu verteidigen6. Dem kam entgegen, daB auch die aristotelische Himmelsphysik durch neue Beobachtungen in Bedrangnis geriet. Herausragende Ergeignisse waren die Nova von 1572 und der Komet von 1577. Astronomen wie Tycho Brahe und Michael Maestlin wiesen nach, daB der Komet sich zwischen den Spharen der Planeten bewegte und daher nicht als meteorologisches Phanomen interpretiert werden konnte. Zudem schnitt seine Bahn die Sphare der Venus7. Sowohl die Theorie der festen Himmelsspharen als auch das aristotelische Axiom, daB es im Himmel kein Werden und Vergehen gebe, waren damit hinfallig. Tychos SchluB ist kurz und biindig: "The Aristotelian philosophy (...) cannot be valid in teaching that nothing new can originate in the heavens (...) for I have discovered otherwise of this comet"8. Die spatscholastische Naturphilosophie des ausgehenden 16. Jhts. befand sich in einem FlieBprozeB, dessen Geschwindigkeit allerdings durch inkompe tente Versuche ideologischer Steuerung von oben verlangsamt wurde. (3) Feyerabend macht viel Wirbel um die angebliche Fragwiirdigkeit der neuen Beobachtungen mit Hilfe des Fernrohrs9. Galilei hatte das Zustan dekommen teleskopischer Abbildungen nicht erklaren konnen. Das Gerat selbst habe vielfaltige Tauschungen erzeugt und seine Wirkungsweise bei irdischen Phanomenen sei nicht ohne weiteres auf den Himmel iibertragbar gewesen. All dies hat einen wahren Kern, aber es tragt nicht das Argument, das Feyerabend vorbringt: daB namlich das Fernrohr fiir Galilei mehr Probleme schuf als es loste. Feyerabend ubersieht, daB ein technologisches System nicht in alien Einzelheiten erklarbar sein muB, um seinen Zweck zu erfullen10. Jahrhundertelang hatte man Brillen und Lupen, aber auch
  • 7. 170 DISCUSSION das Schwarzpulver, Pumpen und andere mechanische Gerate mit groBem Erfolg benutzt, ohne ihre Wirkungsweise zu verstehen. Man hatte den Umgang mit ihnen gelernt und wuBte die erwunschten von den unerwunsch ten Effekten in alien relevanten Beziigen zu unterscheiden. In gleicher Weise muBte man sich mit der Funktionsweise des Fernrohrs praktisch vertraut machen, um zu sehen, daB etwa farbige Rander, Verzerrungen, Strahlen kranze, Unscharfen oder Vibrationen keine Merkmale der beobachteten Gegenstande, sondern beherrschbare Eigenheiten des Gerats waren. Galilei ging deshalb keinerlei Risiko ein, sondern beweist nur wissenschaftlichen ?Pferdeverstand", wenn er in Reaktion auf den Tauschungsvorwurf seiner aristotelischen Kritiker einen Preis fiir denjenigen aussetzte, der ein Teleskop bauen konne, das die neuen Monde mit ihren prognostizierbaren Umlaufen nur um den Jupiter, nicht jedoch um jeden anderen Himmelskorper erzeugen konne. Dabei war es auch von Galilei unbestritten, daB die teleskopische Wahrnehmung eines Objektes eine falsche Erscheinung hervorrufen kann. Die Beobachtung Scheiners, daB der Saturn manchmal langlich und manch mal von zwei Begleitern umgeben erscheine, "results either from the im perfection of the telescope or the eye of the observer, for the shape of Saturn is thus: <0 as shown by perfect vision and perfect instruments, but appears thus:0 where perfection is lacking, the shape and distinction of the three stars being imperfectly seen"11. Es ist klar, daB Galilei hier falschlich annimmt, daB die optische Unscharfe ein Zusammenfliessen von drei hypothetisch angenommenen eng benachbarten leuchtenden Objekten verursacht. Diese Annahme hatte einen weiteren Vorteil "(in) barring some very strange event remote from every other motion known to or even ima gined by us"12. Ein Lehrstuck zur Interaktion von Theorie und Erfahrung! Die Schulastronomen lernten die Vorziige des neuen Instruments sehr schnell. Bereits wenige Monate nachdem Galilei begonnen hatte, seine Gerate zu bauen, war der Jesuit Christoph Scheiner von der Universitat Ingolstadt einer seiner scharfsten Konkurrenten bei der Beobachtung der Sonnenflec ken. Schon zuvor hatte Christopher Clavius vom Collegio Romano die von Galilei im ?Sidereus Nuncius" publizierten Neuigkeiten iiber die Jupitermonde und die Oberflache des Mondes mit Hilfe eines Galileischen Fernrohrs und auf Verlangen des Kardinals Robert Bellarmin - Konsultor - im wesentlichen des HI. Offiziums bestatigt. Dabei hatte er schon selb standige Beobachtungen angefiihrt, indem er Galileis Ansichten iiber die Konstitution der MilchstraBe korrigierte. Diese enthalte namlich nicht nur Sterne, wie Galilei behauptet hatte, sondern auch ?dichteres und zusam menhangendes Material". Er hatte offenbar bereits Objekte identifiziert, die heute als Emissions- oder Absorptionsnebel bekannt sind. Feyerabend weiB, daB er auf sehr diinnem Eis balanciert, wenn er sich bei der friihen Bewertung von Fernrohrbeobachtungen auf die Ansichten orthodoxer Aristoteliker beruft, die Galilei in seinen Briefen iiber die Sonnenflecken sehr klar von den sachkundigen Astronomen zu unterschei den weiB. Folgerichtig, aber durchaus unbegriindet, mokiert er sich dariiber,
  • 8. DISCUSSION 171 ?wie schnell der Wirklichkeitscharakter der neuen Erscheinungen akzeptiert und (...) offentlich anerkannt wurde", und er wirft den jesuitischen Astro nomen Clavius, Magini und Grienberger vor, es sei wohl ?klar, daB sie dabei die Methoden ihrer eigenen Philosophie verletzten oder aber die Sache nur sehr oberflachlich untersuchten"13. Mit anderen Worten: Feyerabend nimmt es den Genannten iibel, daB sie seiner eigenen Karikatur des ?aristotelischen Scholastikers" nicht gerecht werden. Nicht nur akzeptierten die Fachastronomen des Collegio Romano bereits nach sehr kurzer Zeit - und einhellig die Galileischen Beobachtungen gaben damit die aristo telischen Gegner Galileis der Lacherlichkeit - sie es sogar, preis wagten in Rom eine offentliche Ehrung Galileis zu veranstalten, die nach Augen zeugenberichten zu einem Triumphzug fiir diesen wurde. Bei der Abreise Galileis schrieb der Kardinal del Monte an den GroBherzog der Toskana, in dessen Diensten Galilei stand: ?Lebten wir noch unter einer romischen Republik, so hatte man zu seiner Ehre im Kapitol eine Saule errichtet"14. (4) Der Haupteinwand gegen Feyerabends Darstellung leitet sich aus dem Umstand ab, daB Feyerabend die historische Entwicklung der Ideen Galileis auf den Kopf stellt. Er spiegelt uns einen Galilei vor, der sich in das kopernikanische System vernarrt und anschlieBend zu dessen Rettung einen lebenslangen Propagandafeldzug startet. Im Rahmen dieses Unternehmens entwickelt er eine neue Physik, die mit der heliozentrischen Theorie iiber einstimmt, ersinnt alle Arten von Hilfshypothesen, die das ganze vor der Erfahrung retten, und fuhlt sich dabei an keinen anderen methodologischen Grundsatz als den, Kopernikus um jeden Preis zu retten, gebunden. Dieses Zerrbild gilt es im folgenden zu korrigieren. C. Die historische Entwicklung der Physik Galileis I. Zwei wichtige Entdeckungen der neueren Galilei-Forschung Die angesprochenen Punkte sollen hier nicht einzeln diskutiert, sondern in Form eines kurzen Abrisses der Entwicklung der Ideen Galileis behandelt werden. Dabei wird die Phase imMittelpunkt stehen, die Galilei zum Prinzip der kinematischen Relativitat und zur Tragheitsidee hinfiihrte. Man kann zeigen, daB hier keinerlei kopernikanische Vorurteile, keine Tricks und keine Propaganda im Spiel waren, sondern sich jeder Schritt auf der Basis des vorangehenden Wissenstandes und der inzwischen aufgetauchten theore tischen und empirischen Widerspriiche erklart. Das wichtigste Argument gegen Feyerabend ergibt sich aus dem Umstand, daB Galilei alle Kom ponenten seiner neuen Bewegungslehre bereits vor 1609, das heiBt vor der Kontroverse um die Kopernikanische Astronomie ausgearbeitet hatte. Nichts deutet darauf hin, daB er den Heliozentrismus vor dieser Zeit fiir ein zentrales Problem hielt15. Zu Beginn eine Bemerkung zu zwei wichtigen Entdeckungen der neueren Forschung. Eine Auswertung der sogenannten Arbeitsblatter Galileis durch Stillman Drake und andere16 ergab, daB diese vorwiegend aus Berechnungen
  • 9. 172 DISCUSSION bestehenden Unterlagen auf umfangreiches und subtiles Experimentieren zuriickgehen. Es handelte sich dabei nicht um gelegentliche Spielereien, sondern um systematisch variierte Reihenexperimente, die fiir die Entwick lung der physikalischen Ideen Galileis zwischen 1603 und 1609 unentbehrlich waren. Die Rolle des Experiments bei Galilei ist nach dieser Entdeckung hoher zu veranschlagen als dies die rationalistische Auffassung zulassen wollte. Nach Koyre dienten Galileis Experimente, soweit sie nicht fingiert - waren, nur didaktischen Zwecken gewissermafien der rhetorischen Be statigung theoretischer Ableitungen. Diese Vermutung kann man ad acta legen. Deutlich wurde dabei auch, dafi Galilei an Traditionen ankniipfen konnte. - Bereits vor ihm fiihrten andere wie die Mechaniker Guidobaldo del Monte, Tartaglia und Benedetti, aber auch Aristoteliker wie Hieronymus Borrius, einer der Lehrer Galileis in Pisa - Experimente zum freien Fall oder zum Bahnverlauf bei erzwungener Bewegung durch, und dies mit teilweise ahnlichen Ergebnissen und ahnlichen Fehlern17. Die empirischen Argumente und experimentellen Befunde, die Galilei in seinen friihen Schriften iiber die Bewegung anfuhrt, stammen nur zum geringeren Teil von ihm selbst. In wesentlichen Aspekten gehoren sie entweder zum Standardrepertoire einer der konkurrierenden Spielarten der Schulphilosophie oder zur jiingeren Tradition der Mechanik. Diese hatte in Italien durch die Edition und Verbreitung archimedischer Schriften im 16. Jh. einen starken Impuls erfahren18. Die zweite Entdeckung betrifft die Fruhschriften Galileis. Diese wurden bisher als eine Art Kolleghefte gesehen, Mitschriften von Vorlesungen, die Galilei als Student in Pisa gehorte hatte. Man schloB aus, daB diese Abhandlungen im Stil scholastischer Disputationen die Meinung des Be griinders der neuzeitlichen Physik wiedergeben konnten. Diese Ansicht hat sich als revisionsbediirftig erwiesen. Der amerikanische Wissenschaftshisto riker William Wallace wies anhand praziser Textvergleiche nach, dafi es sich dabei um Unterlagen handelt, die Galilei um 1590 kurz vor oder nach seiner Ernennung zum Professor fiir Mathematik an der Universitat Pisa zusammenstellte, vermutlich als Vorlage fiir eigene Vorlesungen. Wallace konnte zeigen, dafi sich Galilei dabei vor allem auf unveroffentlichte Manuskripte jesuitischer Professoren des Collegio Romano stiitzte (vor allem Rugerius, Menu, Valla, Vitelleschi). Diese Arbeiten gehorten zu den besten, die die zeitgenossische Schulphilosophie anzubieten hatte19. Die Frage der inhaltlichen Abhangigkeit Galileis auch von scholastischen Traditionen mufite hiervon ausgehend vollig neu aufgerollt werden. 77. Archimedische Anfange Auch zur Bewegungslehre liegt eine kurze Schrift Galileis vor, die im gleichen scholastischen Stil abgefafit ist, inhaltlich aber als Bindeglied zur grofieren Abhandlung ?De Motu" verstanden werden kann. De Motu will nicht mehr
  • 10. DISCUSSION 173 die Meinungen und Argumente der Schulphilosophie sammeln, sondern die Ursachen und Gesetze von Bewegung in systematischer Weise unter suchen. Stilistisch wie inhaltlich kniipft Galilei darin an eine seiner fruhesten - La Bilancetta - Arbeiten an, die er 1586 als 22-jahriger verfaBt hatte20. In ihr konnte er ein beriihmtes Experiment des Archimedes verallgemeinern. Dieser hatte bekanntlich mit Hilfe einer Waage und eines Eimers mit Wasser den Goldgehalt der Krone des Konigs Hieron bestimmt und damit den Juwelier als Betriiger entlarvt. Grundlage des Experiments war die Uber legung, daB sich das Gewicht in Wasser getauchter Korper in direkter Proportion zu ihrem spezifischen Gewicht vermindert. Galilei konstruierte im AnschluB an diesen Ansatz eine hydrostatische Waage, mit der man die Metallgehalte von Zwei-Komponenten-Legierungen messen konnte. Dabei wandte er jene Kenntnisse des Euklid und des Archimedes an, die ihn sein Privatlehrer Ostilio Ricci gelehrt hatte, als er noch auf Wunsch seines Vaters Medizin studierte. Mit dieser Arbeit und einer weiteren iiber die Schwerpunkte ebener Flachen, die ebenfalls vollig in archimedischer Tradition steht, erregte Galilei die Aufmerksamkeit einiger Personen, die fiir seine weitere Karriere wichtig wurden21. Unter ihnen sind der Mechaniker Marchese Guidobaldo del Monte und Astronom Christopher Clavius vom Collegio Romano hervorzuheben. Die damit angedeutete Kombination von wissenschaftlichen Interessen war fiir Galileis weitere Arbeit entscheidend. Sie war zudem einzigartig, denn die auBerhalb der Schulwissenschaft stehenden Mechaniker des 16. Jhs. wie Commandino, Cardano, Tartaglia, Benedetti und Guidobaldo verstan den in der Regel sowenig von Philosophie wie die Schulphilosophen von Mechanik. Im Falle Galileis fiihrten diese heterogenen Einflusse bereits in den friihen Schriften zur Bewegung zu Widerspriichen, deren Auflosung die Reformulierung mechanischer Lehrsatze erzwang und schliefilich zur neuen Mechanik fiihrte. Diese Widerspriiche ergaben sich in direkter Weise aus Galileis Vorhaben, naturliche und gewaltsame Bewegungen auf exakte mechanische Prinzipien zuriickzufiihren. Die spatscholastische Impetustheorie konnte dies nicht leisten, weil sie bestenfalls den Grund und das MaB der gewaltsamen, nicht jedoch der natiirlichen Bewegungen bestimmen konnte. Nicht hier, sondern in den klaren Axiomen des Archimedes glaubte Galilei die Losung fiir sein Problem zu finden. Es ist die erklarte Strategic von De Motu, die naturliche Bewegung von Korpern nach oben oder unten auf die Verhaltnisse der Gewichte und Bewegungen der beiden Arme einer Waage zuriickfuhren22. Zur Realisierung dieses Vorhabens kniipfte er an genau dieselbe Schrift an wie vorher schon Tartaglia und Bendetti: Archimedes' Arbeit ?Uber schwimmende Korper". In dieser Schrift hatte Archimedes die Kraft, mit der ein Korper im Wasser nach unten gezogen oder nach oben getrieben wird, mit dem Unterschied der spezifischen Gewichte erklart. Diesen Ansatz verallgemeinert Galilei, indem er die Geltung der Archimedischen Axiome auf alle Korper, die sich in beliebigen Medien bewegen, ausdehnt. Dieser
  • 11. 174 DISCUSSION Ansatz stand inWiderspruch zur aristotelischen Lehrmeinung. Ein Korper fallt oder sinkt nach Aristoteles deshalb, weil er eine besondere Qualitat der Schwere aufweist, nicht weil das Medium spezifisch leichter ist als er selbst. Andererseits steigt er deshalb, weil er einen UberschuB der Qualitat Leichtigkeit besitzt, nicht weil das Medium, in dem er sich befindet, spezifisch schwerer ist als er selbst. Die Verbindung zur Bewegungslehre schafft die Hypothese, daB die aus den Unterschieden der spezifischen Gewichte herriihrende Kraft der Ge schwindigkeit fallender oder steigender Korper proportional ist. Dies ent spricht sowohl der statischen Annahme, dafi Kraft und virtuelle Verschie bung in Gleichgewichtssystemen proportional sind, als auch dem aristo telischen Grundsatz, dafi eine konstante Kraft eine konstante Bewegung erzeugt. Galilei schliefit daraus, dafi Korper mit konstanter Geschwindigkeit steigen oder fallen, und dafi das Mafi dieser Bewegung in seinem wirksamen Gewicht liegt. Die in der statischen Tradition sowohl des Jordanus de Nemore als auch der aristotelischen Schrift ?De Mechanica" zu findende Begriindung fiir den Zusammenhang von Gewicht bzw. Kraft und Geschwin digkeit beruht auf folgender Uberlegung: Man befestige an einer Waage zwei Gewichte, von denen das eine doppelt so schwer ist wie das andere. Danach bringe man die Waage ins Gleichgewicht. In dieser Konstellation wird das schwerere Gewicht nach einer unmerklichen Vergrofierung das nur halb so grofie Gegengewicht mit der doppelten Geschwindigkeit, die es selbst hat, bewegen konnen. Dies ergibt sich aus der einfachen Rechnung, dafi der eine Arm der Waage im angenommenen Fall doppelt so lang wie der andere ist. Analoges gilt bei einer Verdrei- oder Vervierfachung des einen Gewichts23. Was den physikalischen Gehalt betrifft, kommt Galilei in De Motu nicht iiber gangige Lehrmeinungen hinaus. In einigen Punkten fallt er sogar hinter vorliegende Untersuchungen zuriick - etwa bei der Analyse des Wurfes und der Fallbeschleunigung. Zur Bahn eines geworfenen Korpers erklart Galilei, dafi der eingepragte Impetus den Korper zunachst geradlinig vorwartstreibe, bis er nach seiner Erschopfung in eine sehr kurze gebogene und sodann in eine senkrecht zur Erdmitte verlaufende Fallbewegung iibergehe. Dabei hatte bereits Tartaglia gezeigt, dafi sich Geschosse auf einer durchgehend gekriimmten Bahn bewegen. Tartaglia konnte seine Ansicht allerdings ebensowenig wie Galilei nach strengen Mafistaben be weisen. Die Beschleunigung fallender Korper erklart Galilei entgegen der peripatetischen Lehrmeinung als ein akzidentelles Phanomen. Dabei greift er auf eine Idee des griechischen Astronomen Hipparch zuriick. Nach Hipparch - wie Galilei ihn versteht - verfugt jeder Korper, der nach oben geworfen werde, am Wendepunkt noch iiber genau den Betrag an einge pragter Kraft, der notig ist, ihn am Fallen zu hindern. Beginnt er nun sich zum Zentrum zu bewegen, so entweicht dieser nach oben gerichtete Restimpetus nicht augenblicklich, sondern erst nach und nach. Erst dann werde die natiirliche Geschwindigkeit erreicht, die der wirkenden Kraft
  • 12. DISCUSSION 175 entspricht. Eine sehr gewundene Erklarung findet er auch fiir das von ihm als gesichert angesehene Phanomen, daB leichte Korper zunachst schneller fallen als schwere, und erst nach einer gewissen Zeit von den letzteren uberhoit werden. Dies sei darauf zuriickzufiihren, so Galilei, dafi Qualitaten in leichte Korper zwar schneller eingepragt werden konnen, dafi sie aber auch wieder schneller entweichen. Ahnlich sei es im Falle anderer Arten der Bewegung, etwa der Erwarmung leichter und schwerer Korper. Solche und ahnliche Beispiele zeigen, dafi Galilei durchaus noch den aristotelischen Bewegungsbegriff verwendet24. An diesem Punkt befindet sich auch die Schnittstelle zwischen statischem Ansatz und Impetusbegriff innerhalb der friihen Physik Galileis. Mit dem unterschiedlichen Aufnahmeverhalten verschieden schwerer Korper fiir eingepragte Krafte erklart dieser nicht nur die Tatsache, dafi man eine Kugel aus Holz nicht so weit schiefien konne wie eine aus Blei. Er wendet diesen Grundsatz auch zur Erklarung der unter verschiedenen Neigungswinkeln zu erzielenden Schufiweiten an. Es werde namlich umso mehr Bewegungs kraft in ein Projektil eingepragt, je grofier dieser Winkel sei. Dann namlich sei das wirksame Gewicht des Projektils am grofiten und biete der vom entziindeten Pulver ausgehenden Bewegungskraft den grofiten Widerstand. Galilei argumentiert hier in Analogie zur schiefen Ebene, bei der das wirksame Gewicht, das das Mafi der Bewegung des Korpers nach unten bestimmt, mit dem Neigungswinkel der Ebene abnimmt. Auch hier versucht Galilei also Bewegungen, in diesem Fall die gewaltsame Bewegung eines Projektils durch eine Kanone, mittels statischer Modelle zu erklaren. Die Argumentation mit der schiefen Ebene schafft zugleich die begriffliche Verbindung zwischen dem durch einen einmaligen Vorgang eingepragten und dem durch den Unterschied der spezifischen Gewichte kontinuierlich erzeugten Impetus, der das Mafi der Bewegung von Korpern nach oben oder unten bestimmt. Naturliche und gewaltsame Bewegungen werden damit durch die gleichen Prinzipien erklart. III. Methodische Aspekte der friihen Physik Galileis Einige Merkmale heben Galileis Traktat von anderen zeitgenossischen Analysen zur Bewegung ab: (1) Die Verschmelzung praziser begrifflicher Analyse nach Art der Schul physik mit der quantitativen Sprache der statischen Mechanik. Diese Uber tragung statischer Uberlegungen auf frei fallende Korper war von der stati schen Tradition her gesehen unzulassig. So wurde von ihr auch niemals versucht, was Galilei in De Motu unternahm und was sich nur aus seiner wissenschaftlichen Biographie erklaren lafit. Bei dieser Verkniipfung blieb er in Schwierigkeiten stecken, die eine Reformulierung bestimmter Axiome erzwangen. Er benotigte 15 Jahre, bis er aus der Sackgasse herausfand. (2) Galilei beweist ein prazises, logisch schlussiges Denken, das die eigenen Voraussetzungen nicht nach Belieben andert und nicht vor radikalen Konse
  • 13. 176 DISCUSSION quenzen zuriicksteckt. Bei seinen Kollegen und Zeitgenossen kann man dieses Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen Folgerungen nicht immer beobachten. Inkonsistent war etwa Benedetti bei seiner Analyse der Fall geschwindigkeit verschieden schwerer Korper im Vakuum, wenn er sie einmal als dem spezifischen Gewicht proportional, das andere Mal aber als unabhangig vom Gewicht erklart. Benedetti fordert ideale Bedingungen der Rotation und argumentiert dann mit dem Widerstand der Luft. Inkon sequent war auch die Taktik einiger Professoren des Collegio Romano, den Konflikt zwischen Impetustheorie und aristotelischer Antiperistasis Theorie (Bewegung durch ein dem Medium verliehenes Vermogen) dadurch zu ?losen", dafi sie beiden Parteien zur Halfte Recht gaben25. Eine solche Strategic war fiir Galilei nicht akzeptabel. Wo andere auf der Basis schwammiger oder willkiirlich geanderter Voraussetzungen mutmafien, deduziert Galilei ohne iibertriebene Riicksicht auf Lehrmeinungen und auf den Augenschein aus den fiir ihn evidenten und explizit aufgefiihrten Pramissen; wo andere Kompromisse suchen, strebt Galilei nach klaren Aussagen und Entscheidungen; wo andere Autoritaten anfuhren, verlangt Galilei evidente Axiome oder eindeutige empirische Befunde. Das logisch konsequente Denken Galileis zeigt sich in der Analyse eines Grenzfalls von Bewegung, namlich der auf einer Ebene, die ihren Abstand zum Zentrum der Welt nicht andert. Seine Uberlegung ist wie folgt: Eine perfekte Kugel, die auf einer perfekten schiefen Ebene mit unendlich kleiner Neigung gelegt wird, beginnt, in natiirlicher Bewegung abwarts zu rollen. Umgekehrt kommt die gewaltsame Bewegung einer Kugel, die in die entgegengesetzte Richtung gestofien wird, langsam zur Ruhe. Wie aber sieht es aus, wenn die Ebene keine Neigung hat? Er kommt zu dem Schlufi, dafi die Bewegung der Kugel hier weder naturlich noch gewaltsam noch gemischt, sondern neutral ist und zu ihrer Erhaltung keiner weiteren Krafte bedarf. Dasselbe gelte auch fiir Konstellationen, in denen homogene Korper um ihren eigenen Schwerpunkt rotieren, oder in denen der Schwerpunkt inhomogener rotierender Korper mit dem Mittelpunkt der Welt, also der Erde, zusammenfallt. Damit war bereits in De Motu die Grundlage fiir die spatere Formulierung der Tragheitsidee und des Prinzips der kinema tischen Relativitat gelegt26, obwohl Galilei in dieser Schrift noch zugunsten des Geozentrismus argumentiert. (3) Ein weiterer Unterschied zwischen Galilei und seinen Kollegen aus den Reihen der Mechaniker und der Schulphilosophen besteht in seiner Einsicht, dafi es zwischen mathematischer Analyse und wirklicher Bewegung eine Differenz gibt, dafi diese Differenz jedoch eine exakte quantitative Behandlung nicht vereitelt - wie dies zum Beispiel Guidobaldo del Monte annahm. Der Marchese del Monte kritisierte die Idealisierung, die in der Annahme liege, Korper fielen parallel zur Erdoberflache, wo sie doch faktisch zur Erdmitte hin konvergieren miissen. Desgleichen konne man bei der Analyse mechanischer Probleme nicht von Reibungsverlusten abstrahieren, so dafi das Produkt von Kraft bzw. Gewicht und virtueller Verschiebung
  • 14. DISCUSSION 177 in Gleichgewichtssystemen (bei VergroBerung eines der Gewichte um einen unendlich keinen Betrag) eben faktisch nicht identitisch sei, wie dies Galilei annahm. Konsequenterweise leugnete Guidobaldo auch die Anwendbarkeit des statischen Instrumentariums auf Probleme der Bewegungslehre27. Galilei dagegen sieht schon in seinen friihesten Schriften sehr klar, dafi der Physiker bei der Suche nach Prinzipien von storenden Faktoren, soweit sie per accidens wirken, absehen mufi. Erst bei der Berechnung realer Prozesse und der Bewertung von Beobachtungen sind diese storenden Einfliisse wieder sukzessive einzufuhren. Nur so konnte Galilei bereits in De Motu zum Begriff der neutralen Bewegung kommen, die ohne weitere Zufuhr von Kraft andauert. Bei dieser Aussage weifi er, dafi keine reale Bewegung unbegrenzt andauern wird, weil viele storende Faktoren sie behindern werden. Die Behauptung gilt unter den eingefuhrten Pramissen, die die Grundstruktur der untersuchten Vorgange beschreiben, jedoch in reiner Form nirgends realisiert sind. Was war die Folge von De Motu? Galilei war iiberzeugt, dafi seine archimedischen Prinzipien richtig sind28. Nach seinem Urteil setzten sie nur das voraus. was klar und evident war und deshalb keines Beweises bedurfte. Umso mifilicher mufi es ihm erschienen sein, dafi sich seine Theoreme iiber die Geschwindigkeit schwerer Korper empirisch nicht bestatigen liefien. ?Wenn man zwei Korper, nach deren Eigenschaften sich der erste doppelt so schnell bewegen sollte als der zweite, von einem Turm fallen lafit, dann wird der erste nicht merklich schneller und schon gar nicht zweimal so schnell den Boden erreichen"29. Das gleiche gait fiir die Bewegung ent lang der schiefen Ebene. ?Die Proportionen, die wir abgeleitet haben, sind nicht beobachtbar"30, heifit es lapidar. Der iiberraschende Zusatz: ?Wenn man eine Beobachtung macht, dann die, dafi der leichtere Korper am An fang der Bewegung dem schwereren vorausteilt"31. Doch dies geschehe zweifellos nur per accidens. Es verdecke zwar die wahren Ursachen des Bewegungsprozesses, hebe sie jedoch nicht auf. Das gleiche gelte fiir die unter realen Bedingungen niemals vernachlassigbaren Widerstande, die durch Reibung, die Form des sich bewegenden Korpers oder Bewegungen imMedium selbst erzeugt wurden. ?Fiir diese akzidentellen Faktoren konnen keine Regeln gegeben werden, weil sie in unzahlbaren Formen auftreten32 (....) Was wir suchen, sind die Ursachen der Effekte, und diese Ursachen sind uns nicht in der Erfahrung gegeben"33. Sie konnen nicht durch Vervielfaltigung von Beispielen, sondern nur durch die Arbeit des Verstandes gefunden werden. Zu diesem Zweck, so erlautert Galilei am Beispiel der neutralen Bewegung, miissen wir davon ausgehen, dafi die Ebene sozusagen ?unkorperlich", also von vollkommener Harte und Glatte ist. Der sich bewegende Korper mufi von vollkommener Form sein, die sich einer Bewegung nicht widersetzt. Unter diesen Bedingungen werde ein Korper auf einer Ebene, die ihren Abstand zum Zentrum nicht verandere, durch eine Kraft kleiner als jede gegebene Kraft bewegt. Auch die anderen abgeleiteten Gesetzmafiigkeiten sind nur unter diesen idealen, aber die
  • 15. 178 DISCUSSION wahren Ursachen der Phanomene erfassenden Bedingungen, beobachtbar34. DaB Galilei mit seinen Antworten nicht zufrieden war, ersieht man daran, daB er De Motu nicht publiziert hat. Es war ihm nicht gelungen, aus seiner Theorie testbare Konsequenzen abzuleiten. Zuviele Akzidenzien muBten unter realen Verhaltnissen beriicksichtigt werden. Fiir diese Akzidenzien wie Beschleunigung, Reibung, Luftwiderstand, Form der Korper, hatte Galilei keine Theorie. Er war daher nicht imstande, ihren Einflufi auf die kausalen Ablaufe zu berechnen und seine Ableitungen an der Erfahrung zu uberpriifen. IV Auf dem Weg zur neuen Mechanik: Moment, Beschleunigung und die neue Rolle des systematischen Experiments Die kommenden zehn Jahre machte Galilei keine wesentlichen Fortschritte bei der Losung dieser Probleme. Um 1601/2 verfafite er dann auf der Grundlage alterer Vorlagen eine Schrift, in der er die Funktionsweise einfacher mechanischer Gerate wie Hebel, Waage, schiefe Ebene, Winde, Flaschenzug und Schraube erlautert35. Vor allem geht es ihm um den Nachweis, dafi es nicht moglich sei, wie viele glaubten, mit Hilfe kunstvoller mechanischer Erfindungen Krafte zu gewinnen. Die Mechanik konne Krafte nicht gewinnen, sondern nur transformieren. Was man mit ihrer Hilfe scheinbar an Kraft und Gewicht gewinnt, geht an Weg und Geschwindigkeit verloren. Um jenen Faktor zu kennzeichnen, der bei der Transformation der genannten Grofien erhalten bleibt, fiihrt Galilei einen neuen Begriff ein: das MOMENT. Das Moment ist gewissermafien die resultierende Form der durch eine Konstellation einfacher Maschinen transformierten Input grofie. ?Moment ist die Tendenz zur Bewegung nach unten, die weniger durch das Gewicht des beweglichen Korpers als durch die Anordnung verschiedener schwerer Korper bedingt ist"36. Diese Tendenz, so erlautert Galilei spater in den Discorsi, sei ?eben so grofi wie die Kraft oder wie der geringste Widerstand, der hinreicht zum Gleichgewicht"37. ?Schwere Korper", so Galilei weiter, ?setzen einer Bewegung nur insofern Wider stand entgegen, als diese sie vom Zentrum der Erde entfernt"38. Anderer seits setzen sie sich nur dann in Bewegung, wenn sich ihr Abstand zum Zentrum verringert. Das gewonnene oder verlorene Moment ist dabei nur vom Betrag der Abstandsanderung zum Zentrum abhangig, nicht dage gen vom tatsachlichen Weg, den der Korper nimmt, nicht von der Zeit, die er dafiir benotigt. Diese Theoreme implizieren, dafi Galilei in Le Meccaniche die Abhan gigkeit der Fallgeschwindigkeit vom spezifischen Gewicht aufgegeben hat. Andernfalls ware das Moment nicht nur von Weg, Kraft, Zeit, Geschwin digkeit, absolutem Gewicht, sondern auch vom spezifischen Gewicht ab hangig. Ein spezifisch schwererer Korper, der iiber eine schiefe Ebene abwarts rollt, konnte dann einen absolut gleich schweren aber spezifisch leichteren Korper auf eine grofiere Hohe treiben als die, von der er selbst
  • 16. DISCUSSION 179 fiel. Auch das Gleichgewicht einer Waage, an deren Armen sich Korper mit unterschiedlichen spezifischen Gewichten befinden, ware aufgrund der Verschiedenheit ihres dynamischen Verhaltens labil. Bereits eine unendlich kleine Stoning wiirde geniigen, um das Verhalten einer Anordnung einfacher Maschinen, die sich aus Komponenten unterschiedlichen spezifischen Ge wichts zusammensetzt, unvorhersehbar zu machen. Diese Folgerungen wurden nicht nur der Erfahrung, sondern auch den Prinzipien des Archi medes zuwider laufen. Noch eine andere Annahme aus De Motu wird jetzt stillschweigend fallengelassen. Wenn gleich schwere Korper sich dem Zentrum der Erde iiber gleiche vertikale Distanzen auf unterschiedlich langen Wegen nahern, dann gewinnen sie identische Momente. Die Zunahme der Geschwindig keiten wiederum entspricht bei identischem Gewicht und gleicher vertikaler Distanz der Zunahme an Moment39. Da wie angenommen nur Zeiten und Wege, nicht aber die resultierenden Momente und Geschwindigkeiten verschieden sind, miissen die beiden Korper diese Geschwindigkeiten in unterschiedlicher Weise gewonnen haben. Dies liefi vermuten, dafi die Beschleunigung nicht wie in De Motu angenommen ein akzidentelles, sondern ein wesentliches Merkmal von Bewegung darstellt40. Damit war ein zentrales Postulat der friihen Galileischen Bewegungslehre gescheitert. Galilei plante nun eine neue Abhandlung iiber die Bewegung. Er hatte erkannt, dafi das Phanomen der Beschleunigung einer intensiven Unter suchung bedurfte. Nach dem Fehlschlag von De Motu wufite er, dafi theo retische Analysen zur Auswahl der gesuchten Prinzipien nicht geniigten, sondern durch experimentelle Untersuchungen von Akzidenzien zu erganzen waren. Durch systematische Variation akzidenteller Faktoren suchte er Konvergenzen aufzuspiiren (Fallbeschleunigung, spezifisches Gewicht). An dere Bedingungen hielt er konstant, um die Wirkung von Faktoren zu kontrollieren (Reibung, Luftwiderstand, Form der Korper). Nur so konnte er hoffen, die in De Motu aufgetauchten Probleme sowie die Widerspriiche zwischen De Motu und der mechanischen Schrift zu beseitigen. Die Zeit zwischen der Abfassung von Le Meccaniche und seinen astronomischen Entdeckungen, also die sieben Jahre zwischen 1602 und 1609 waren eine Phase intensiven Experimentierens. Die Dokumente zeigen auch, dafi Galilei bereits vorher Pendelexperimente und Fallversuche mit schiefen Ebenen gemacht hatte, allerdings ohne dafi ihm dies weitergeholfen hatte. Die wichtigsten Experimente, die Galilei in diesen Jahren durchfuhrt, lassen sich in zwei Gruppen einteilen41: Die erste untersucht das Problem der Fallbeschleunigung mit Hilfe der schiefen Ebene. Auf folio 107v finden sich die Daten eines dieser Expe rimente, das um 1604 durchgefuhrt wurde. Die geringe Abweichung von den korrekten Werten lafit darauf schliefien, dafi Galilei ein sehr sorgfaltiger Experimentator war und iiber ein beachtliches handwerkliches Geschick verfiigte. Andere Mefiergebnisse unterstiitzen diesen Eindruck. Obwohl die Daten42 des genannten Experimentes klar zeigten, dafi sich bei der Fall
  • 17. 180 DISCUSSION bewegung die zuriickgelegten Strecken wie die Quadrate der entsprechenden Fallzeiten verhielten, leitete Galilei daraus kein Gesetz ab. Aus seinen bisherigen Studien zur Bewegung wufite er, dafi Akzidenzien den Physiker, der sich auf der Spur einer Entdeckung wahnt, leicht tauschen konnen. Er versuchte nicht, von seinen Daten ausgehend zu verallgemeinern, sondern eine theoretische Erklarung zu finden, aus denen die Regelmafiigkeiten, die sich in den Daten gezeigt hatten, ihrerseits ableitbar waren. In den folgenden vier Jahren konstruierte er eine Reihe von Beweisen, die teils richtige, teils falsche Elemente enthielten43. Der Beweis, den Galilei in den Discorsi44 anfuhrt, beruht im Kern auf einer Anwendung des ?mean-speed-theorems", das von den Oxforder Spatscholastikern im 14. Jh. aufgestellt wurde. Es lautet, dafi ein proiectum in einer gleichformig beschleunigten Bewegung denselben Weg durchlauft, den es auch mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit zuriicklegen wiirde, die halb so hoch wie die Endgeschwindigkeit im beschleunigten Fall ist. Wenn also ein gleichformig - in scholastischer Terminologie ?uniformiter difform" - beschleunigtes proiectum in einer Stunde eine maximale Ge schwindigkeitsintensitat von 50 erreicht, so wiirde es denselben Weg in gleicher Zeit auch mit einer uniformen Geschwindigkeitsintensitat von 25 durchmessen. Dies heifit physikalisch, dafi sich in der uniformiter difformen Bewegung in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuwachse addieren. Die zuriickgelegten Wege verhalten sich dann wie die Elemente der Reihe der ungeraden Zahlen 1-3-5-7-9 usw. Addiert man die Wege, so sieht man, dafi mit einer Verdoppelung der Zeit eine Vervierfachung des Weges, mit einer Verdreifachung der Zeit eine Verneunfachung des Weges einhergeht, usf.45. Die Quellen zeigen, dafi Galilei die Flachen des Dia gramms nicht ohne Beweis mit den zuriickgelegten Wegen gleichsetzt, sondern eine Summierung der unendlich vielen durchlaufenen verschiedenen Momentangeschwindigkeiten des gleichformig beschleunigten Korpers ver sucht. Auch fiir diese ?graphische Integration" gibt es bei Nicole Oresme ein - Galilei vermutlich unbekanntes - Vorbild. spatscholastisches Die zweite Gruppe von Experimenten untersucht die Frage, ob das Zeitquadratgesetz auch dann giiltig bleibt, wenn sich der Fallbewegung eine zweite Bewegungstendenz in waagrechter Richtung hinzugesellt. In diesem Fall findet eine Superposition der beiden Bewegungen statt, so dafi eine gebogene Bewegung mit der Form einer Parabel resultiert. Auch hier hat Galilei das Ergebnis nicht mit Hilfe des Experiments gefunden. Auch hier zeigt er sich als geschickter Experimentator, dessen Daten auch heute noch prasentabel sind. Er kannte das Ergebnis bereits, denn es ist eine logische Folge des Zeitquadratgesetzes sowie der Annahme, dafi eine eingepragte Kraft den Korper auf einer Geraden weitertreibt. V Galileis Beweisverfahren Ungeachtet der logischen Prioritat theoretischer Ableitungen ist die expe
  • 18. DISCUSSION 181 rimentell gewonnene Erfahrung nicht iiberfliissig. Nur sie kann zeigen, ob die ?ex suppositione" mathematisch abgeleiteten Schliisse auch fiir reale Bewegungsvorgange gelten. Die folgende von Wallace gefundene Briefstelle scheint das Galileische Verfahren am klarsten zu erlautern: I argue ex suppositione, imagining for myself a motion towards a point that departs from rest and goes on accelerating, increasing its velocity with the same ratio as the time increases, and from such a motion I demonstrate conclusively [io dimostro concludentemente] many properties [accidenti]. I add further that if experience should show that such properties were found to be verified in the motion of heavy bodies descending naturally, we could without error affirm that this is the same motion I defined and supposed; and even if not, my demonstrations, founded on my supposition, lose nothing of their force and conclusiveness; just as nothing prejudices the conclusions demonstrated by Archimedes concerning the spiral that no moving body is found in nature that moves spirally in this way. But in the case of the motion supposed by me [figurato da me] it has happened [e accaduto] that all the properties [tutte le passioni] that I demonstrate are verified in the motion of heavy bodies falling naturally46. Eine Analyse der Galileischen Spatwerke zeigt, dafi sich seine Metho dologie zwischen De Motu und den Discorsi nur wenig verandert hat. Seine Argumentationsweise hat in der Regel folgende Struktur. Aus einer Be hauptung seines wissenschaftlichen Gegners, die die Erklarung eines Phano mens intendiert, leitet Galilei weitere Konsequenzen ab und zeigt an schliefiend, dafi diese entweder empirisch falsch sind oder zu theoretischen Widerspriichen fiihren. Gedankenexperimente werden unterstiitzend ein geschoben. Anschliefiend stellt er seine eigene Erklarung vor und erlautert ihre geometrischen und physikalischen Pramissen. Zur Erhartung der Erklarung leitet er weitere Folgerungen aus den gemachten Voraussetzungen ab, die anhand moglichst einfacher Beobachtungen nachpriifbar sind. Die so bestatigte Hypothese erklart Galilei fiir ?demonstriert", ohne damit implizieren zu wollen, sie sei nun unwiderlegbar. Sie ist nach wie vor hypothetisch in jenem Sinne, dafi esMenschen nicht moglich sei, die absolute - - Wahrheit gemessen am Wissen zu erkennen, denn ?unser gottlichen Erkennen (steht) sowohl hinsichtlich der Art als hinsichtlich der Menge des Erkannten unendlich weit gegen das gottliche zuriick"47. Galilei besteht jedoch darauf, dafi das menschliche Erkenntnisvermdgen bei konkurrie renden Theorien - etwa kopernikanische versus ptolemaische - in der Lage sei, die falsche auszusondern, da notwendig eines der beiden (...) richtig und das andere falsch sein muB, und mithin - nur innerhalb unausbleiblich die Grunde fiir die wahre Lehre ich meine der Grenzen - sich menschlicher Wissenschaft als ebenso beweiskraftig herausstellen miissen, wie die gegenteiligen als nichtig und verfehlt48. Galilei behauptet nicht, dafi er einen absolut schliissigen und unfehlbaren Grund fiir die Falschheit des aristotelischen Systems wisse und das ko pernikanische daher de facto wahr sei. Er will nur alles das, was Aristoteles, Ptolemaus und andere bisher fiir die Unbeweglichkeit der Erde angefiihrt haben, zur Sprache bringen; zweitens versuchen, dies zu widerlegen; endlich solche
  • 19. 182 DISCUSSION Tatsachen beizubringen, auf Grund derer man zur Uberzeugung gelangen kann, die Erde sei, so gut wie der Mond oder ein anderer Planet, unter die von Natur kreisformig bewegten Korper zu rechnen49. Mehrfach betont Galilei, dafi er nicht den Anspruch erhebe, die Bewegung der Erde beweisen zu konnen, dafi aber, ?wenn Aristoteles hier ware, er entweder von uns iiberzeugt wiirde, oder unsere Grunde widerlegte und uns eines besseren belehren wiirde"50. Im Falle der Mathematik sieht er die Differenz zwischen menschlichem und gottlichem Wissen allerdings nahezu verschwinden. Nimmt man (...) das Verstehen intensive, insofern dieser Ausdruck die Intensitat, d.h. die Vollkommenheit in der Erkenntnis irgend einer einzelnen Wahrheit bedeutet, so behaupte ich, dafi der menschliche Intellekt einige Wahrheiten so vollkommen begreift und ihrer so unbedingt gewifi ist, wie es nur die Natur selbst sein kann. Dahin gehoren die rein mathematischen Erkenntnisse, namlich die Geometrie und die Arithmetik51. In einer oft genannten Stelle des ?I1 Saggiatore" hatte Galilei weiterhin erklart, die Philosophie stiinde - - vor uns liegt, geschrieben in jenem grofien Buch ich meine das Universum das offen aber nicht verstanden werden kann, bevor man nicht gelernt hat, seine Sprache zu verstehen und die Buchstaben zu interpretieren, in denen sie geschrieben ist. Es ist geschrieben in der Sprache der Mathematik, und die Buchstaben dieser Sprache sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren (...)52. Eine unvorsichtige Lesart konnte daraus schliefien, dafi Galilei den Absolutheitsanspruch mathematischer Erkenntnis auf die Physik iibertragen will53. Doch dies ist nicht der Fall. Obwohl Galilei auch in der Physik dem mathematischen Beweis den Vorzug vor empirischer oder philoso phischer Argumentation gibt, weifi er, dafi eine physikalische Erklarung physikalische Hypothesen erfordert. Entgegen der platonisierenden Galilei Interpretation ist seine Vorstellung des Verhaltnisses von Physik und Mathematik der des Aristoteles sehr ahnlich. Folgende Stelle aus der Physikvorlesung mag als Beleg geniigen: Sind auf diese Weise die verschiedenen Bedeutungen des Terminus ,Natur4 bestimmt, so ist nunmehr der Unterschied zwischen dem Mathematiker und dem zu bedenken - Physiker denn Flachen, Korperformen, Strecken und Punkte, welche den Gegenstand des Mathematikers -. Ebenso ist zu klaren, bilden, eignen ja auch den Naturkorpern ob die Astronomie .eine von der Physik verschiedene oder eine zur Physik gehorende Wissenschaft ist. Denn es ware doch widersinnig, wenn der Physiker zu den Gegenstanden seiner Wissenschaft zwar das Wesen von Sonne und Mond, aber nicht deren notwendige Eigenschaften zahlen sollte, noch dazu, wenn die Naturphilosophen ganz offensichtlich auch iiber die Gestalt von Mond und Sonne handeln und dann auch die Frage erortern, ob die Erde und die Welt kugelformig sei oder nicht. Nun sind aber alle diese Dinge auch Themen des Mathematikers, jedoch immer unter Ausklammerung der Tatsache, dafi sie Begrenzungen eines Naturkorpers sind (...) Darum behandelt er sie auch als selbstandige Gegenstande; denn sie konnen wirklich inUnabhangigkeit vom Naturgeschehen betrachtet werden (Buch 2, 193b 23-35). An den Vertretern der Ideenlehre kritisiert Aristoteles, dafi sie nicht die mathematischen* Verhaltnisse, sondern die Naturverhaltnisse als in diesem
  • 20. DISCUSSION 183 Sinne selbstandig setzen, was unzulassig sei. Anschliefiend erortert Aristo teles, was den Gegenstand der Physik bildet: Der Terminus ,Natur' bedeutet also zweierlei: sowohl die Gestalt wie das Material (...) Wenn aber (...) Gestalt und Material die Gegenstande einer und derselben Wissenschaft sein miissen (...) dann wird man den SchluB ziehen miissen, daB auch in der Physik beide Naturmomente zusammen den Gegenstand darstellen (194a 12, 20-26). Auch in jenen ?mathematischen Disziplinen (...) die einen naturwissenschaft lichen Einschlag zeigen" wie Optik, Harmonik, Astronomie, Mechanik, zeige sich der Unterschied der beiden Gegenstandsspharen. Wahrend ? die Geo metrie die Linie in der Natur unter Absehung von der Tatsache betrachtet, dafi sie eine Linie in der Natur ist, betrachtet die Optik die mathematische Linie, aber nicht unter dem methodischen Gesichtspunkt eines mathema tischen, sondern eines Naturgebildes" (194a 7, 11; vgl. auch Metaphysik XIII, III, 7). Ein sehr gutes Beispiel fiir das von Aristoteles beschriebene Verhaltnis von Physik und Mathematik und zugleich fiir den Status der mit mathe matischen Argumenten abgeleiteten physikalischen Schlufifolgerungen ist die Kontroverse um die Interpretation der Sonnenflecken zwischen Galilei und Christoph Scheiner. Um die Sonne vor dem Makel der Beflecktheit zu bewahren, hatte Scheiner die Hypothese aufgestellt, die beobachtbaren Phanomene seien Himmelskorper, die in geringer Entfernung um die Sonne kreisen. Dieses Argument versucht Galilei zunachst durch Verweis auf die unregelmafiige Erscheinung und die irregulare Struktur der in Frage stehenden Phanomene zu entkraften. Anyone who wished to maintain that the spots were a congeries of minute stars would have to introduce into thesky innumerable movements, tumultuous, uneven, and without any regularity. But this does not harmonize with any plausible philosophy54. Dafi man zwanzig oder dreifiig Flecken in gemeinsamer Bewegung auf der Sonnenscheibe sehe, sei ein fiir Planeten sehr ungewohnliches Verhalten. Obwohl Galilei es fiir leichter erklart, eine falsche Hypothese zu widerlegen als die nach seiner Auffassung wahre zu etablieren55, entzieht er sich dieser Aufgabe nicht. Hierbei wird die konstruktive Funktion der Geometrie im Galileis Beweisfuhrung deutlich. Ausgangspunkt der Analyse sind die beo bachtbaren Besonderheiten der Phanomene: That the spots are contiguous to the sun and are carried around by its rotation can only be deduced by reasoning from certain particular events which our observations yield56. Um gewisse Unregelmafiigkeiten und Akzidenzien bereinigt, werden die Beobachtungen sodann durch geometrische Uberlegungen aus der Rotation von Punktmengen auf der Oberflache eines spharischen (runden) Korpers ex suppositione erklart. To begin with, the spots at their first appearance and final disappearance near the edges of the sun generally seem to have very little breadth, but to have the same length that they show in the central parts of the sun's disk. Those who understand what is meant by
  • 21. 184 DISCUSSION foreshortening on a spherical surface will see this to be a manifest argument that the sun is a globe, that the spots are close to its surface, and that as they are carried on that surface toward the center they will always grow in breadth while preserving the same length (...) This maximum thinning takes place at the point of greatest foreshortening, and it would occur outside the sun if the spots were any perceptible the face of distance away from the sun. place, one must In the second observe the apparent travel of the spots day by day. The spaces passed by the same spot in equal times become less as the spot is situated nearer the edge of the sun. Careful observation shows also that these increases and decreases of travel are quite in proportion to the versed sines of equal arcs, as would happen only in circular motion contiguous to the sun itself. In circles even slightly distant from it, the spaces passed in equal times would appear to differ very little against the sun's surface. A third thing which strongly confirms this conclusion may be deduced from the spaces between one spot and another (...) The events are such that they could be met with only in circular motion made by different points on a rotating globe57. Aus der Hypothese, dafi sich die Flecken auf der Oberflache der Sonne befinden, lassen sich geometrische Eigenschaften ableiten, die sich im beobachtbaren Verhalten der Flecken aufiern miissen: perspektivische Ver kiirzung, Veranderung der scheinbaren oder wirklichen Geschwindigkeit je nach Nahe zum Sonnenrand oder zu den Polen, Veranderung der scheinbaren Abstande zwischen den Flecken. Galilei verwendet das beo bachtbare Verhalten der Sonnenflecken als Indiz dafiir, dafi die Sonne ro tiert und dafi sich die Flecken auf ihrer Oberflache befinden, um daraufhin den UmkehrschluB zu ziehen, daB unter der Annahme einer rotierenden kugelformigen Sonne die Flecken das erwartete Verhalten zeigen. Er postuliert folglich keine Hypothese, die ausschliefilich mit Hilfe der Ma thematik begriindbar ist, sondern zwei physikalische Hypothesen, die sich gegenseitig stiitzen. Die Giiltigkeit der Erklarung setzt voraus, dafi man die Sonne als starren Korper behandeln kann, dessen aufiere Hiille mit gleichformiger Winkelgeschwindigkeit rotiert. Sie setzt weiterhin voraus, dafi die Flecken selbst sich auf der Oberflache der Sonne nicht linear bewegen, dafi sie sich nicht drehen oder in ihrer Gestalt oder Grofie verandern. Diese Annahmen widersprechen den Beobachtungen und Uberlegungen Galileis an anderer Stelle der gleichen Briefe: Dort halt er die Sonne nicht fiir einen starren Korper; er weifi, dafi die Flecken sich verandern, grofier oder kleiner werden, ihre Gestalt wandeln und dafi sie die Tendenz haben, zum Aquator der Sonne zu driften. Sogar die perspektivische Verkiirzung am Sonnenrand ist nicht einheitlich, woraus Galilei schliefit, dafi die Flecken eine gewisse Dicke zu haben scheinen. Die Veranderung der Flecken nimmt er zum Anlafi, der Sonnenoberflache eine flussige Konstitution zuzuschrei ben, wahrend der Kern fest sein miisse, um die geordnete Bewegung der fliissigen Oberflache zu ermoglichen. Galileis Argumentation verdeutlicht, wie sich die im Prozefi der mathe matischen Analyse der Phanomene erreichte Exaktheit im Umkehrverfahren der Synthese - also bei der Erklarung der real vorfindbaren Komplexitat der Phanomenen durch die analytisch - wieder gefundenen Prinzipien
  • 22. DISCUSSION 185 verfliichtigt. Konnte er die Phasen der Venus noch als absolut sicheren geometrischen Beweis dafiir werten, dafi sich der Planet um die Sonne dreht58, so war die geometrische Beweisfiihrung im Falle der Sonnenflecken aufgrund der Komplexitat der Erscheinung und des Einflusses akzidenteller Faktoren schwieriger. Dies mag man als Hinweis darauf werten, dafi Galilei in Abhangigkeit von der Direktheit des mathematischen Zugangs und von der Eliminierbarkeit akzidenteller Faktoren Grade der Erkenntnissicherheit in den Realwissenschaften annahm. Im Fall der Sonnenflecken kann er mit Hilfe der spharischen Geometrie beweisen, dafi Punkte auf einer rotierenden Kugel sich auf exakt berechenbare Weise bewegen. Soweit reicht die Mathematik. Zur Bestatigung der physikalischen Hypothese, dafi die Sonne eine rotierende Kugel ist, auf deren Oberflache sich Flecken bilden und wieder auflosen, dienen systematische Beobachtungen der Flecken und Messungen ihrer Geschwindigkeit, ihrer Abstande und ihrer Form. Die Ubereinstimmung der realen Messungen mit den geometrischen Deduk tionen ?demonstriert" die Korrektheit der physikalischen Hypothese, al lerdings nur was ihre geometrischen Eigenschaften betrifft, und nur in Abstraktion von Umstanden, die per accidens wirken und die Erscheinungs form der Sonnenflecken storen, wie ihr Driften zum Sonnenaquator, ihre Formveranderung, ihr Entstehen und Vergehen. Sie sagt nichts iiber ihre Natur, ihre innere Konstitution. For in our speculating we either seek to penetrate the true and internal essence of natural substances, or content ourselves with a knowledge of some of their properties. The former I hold to be as impossible an undertaking with regard to the closest elemental substances as with more remote celestial things (...) Hence I should infer that although it may be in vain to seek to determine the true substance of the sunspots, still it does not follow that we cannot know some properties of them, such as their location, motion, shape, size, opacity, mutability, generation, and dissolution59. Diese weise Selbstbeschrankung bedeutet nicht, dafi Galilei keine Uber legungen zur moglichen Konstitution der Flecken anstellt. The substance of the spots may be any of a thousand things unknown and unimaginable to us (...) But if, proceeding on a basis of analogy with materials known and familiar to us, one may suggest something that they may be from their appearances (...) I find in them nothing at all which does not resemble our own clouds60. Galilei argumentiert, dafi sich die Erde, wenn sie selbstleuchtend und von einigen Wolken oder Rauchschwaden umgeben ware, einem aufieren Be obachter ahnlich darstellen wiirde wie die Sonne. Dennoch halt er diese Analogie nicht fiir zwingend. I do not assert on this account that the spots are clouds of the same material as ours, or aqueous vapors raised from the earth and attracted by the sun. I merely say that we have no knowledge of anything that more closely resembles them. Let them be vapors or exhalations then, or clouds, or fumes sent out from the sun's globe or attracted there from other places; I do not decide on this - and they may be any of a thousand other things not perceived by us61.
  • 23. 186 DISCUSSION Eine interessante Umkehrung der Beweislage findet sich im ?Saggiatore". Anlafi fiir diese Schrift war eine kurze Abhandlung des Jesuiten Horatio Grassi - einer der kompetentesten Astronomen seiner Zeit - iiber die drei Kometen des Jahres 1618. Grassi hatte durch ein im Galileischen Sinn demonstratives Argument nachgewiesen, dafi die Kometen sich jenseits der Sphare des Mondes bewegten und somit keine atmospharischen Phanomene waren. Das mathematische Argument lautete, dafi eine Himmelserscheinung, die keine merkliche Parallaxe hat, zumindest eine Entfernung wie die Planeten aufweisen mufi. Alle Messungen bestatigten, dafi die Parallaxe der Kometen nur sehr klein sein konnte und dafi ihre Bahn vermutlich weder kreisformig noch gleichformig war. Grassi bewertete dies zugleich als Bestarkung der Analyse, die Tycho Brahe iiber den Kometen des Jahres 1577 vorgelegt hatte. Diese Argumentation entspricht exakt derjenigen Galileis im ?Cecco di Ronchitti" Dialog von 1605, wo er das Parallaxe Argument gegen die ?Philosophen", also die Aristoteliker einsetzte, die die Nova dieses Jahres als atmospharische Erscheinung interpretieren wollten, um die aristotelische These der Unveranderlichkeit der Himmels spharen zu retten62. Dieser Konflikt hatte Tradition. Bekanntlich hatte sich Tycho Brahe bei den orthodoxen Aristotelikern durch den Nachweis unbeliebt gemacht, dafi die Nova des Jahres 1572 keine Parallaxe aufwies und daher zur Sphare der Sterne gehorte. Wie sehr die aristotelische Theorie der unveranderlichen Himmelsspharen auch unter den jesuitischen Wissenschaftlern bereits um 1612 diskreditiert war, ersieht man an Galileis Auslassungen iiber Scheiner, der seine Hypo these iiber die Sonnenflecken durch Umdeutung aller ubrigen Himmels zu retten versuchte. phanomene He thinks it probable that even the other stars are of various shapes and that they appear round only because of their light and their distance (...) (B)eing unable to deny that the sunspots are generated and dissolved and in order not to have this distinguish them from the stars, he does not hesitate to say that other stars, too, are disintegrated and refabricated63. Und in seiner zweiten Arbeit iiber die Sonnenflecken ,,De maculis solaribus et stellis circa Jovem errantibus accuratior disquisitio" (Augsburg 1612) erklarte Scheiner: It is still doubtful whether the spots are on the sun or away from it, whether they are generated or not, whether they should be called clouds or not. But this much seems certain: the common teaching of astronomers about the hardness and the constitution of the heavens can no longer be maintained, especially in the regions of the sun and Jupiter. It is fitting, therefore, that we should listen to the leading mathematician of our times, Christopher Clavius, who, in the last edition of his works, moved by these phenomena recently discovered (though ancient in themselves) advised astronomers to start thinking of some other cosmic system64. DreizehnJahre spater waren Galileis Hauptgegner nicht mehr die ?Philo sophen", sondern die Neuerer, die sich dem System Tycho Brahes ver schrieben hatten, um zumindest die irdische Physik bewahren zu konnen. Galilei war in die merkwiirdige Lage geraten, gegen die astronomischen
  • 24. DISCUSSION 187 Neuerer, die bereit waren, nichtkreisformige Bewegungen am Himmel zuzulassen, die aristotelische Kometentheorie, die auch die Zustimmung des Kopernikus gefunden hatte65 zu verteidigen. Aber dies war nicht der einzige Grund fiir Galileis seltsame Kometentheorie. Viel wichtiger schien, dafi ihm berichtet wurde, (s)ome outside the Jesuit Order are spreading the rumour that this is the greatest argument against Copernicus' system and that it knocks it down66. Das Argument lautete wie folgt. Wenn sich die Kometen in kreisformigen, wenngleich stark exzentrischen Bahnen in der Nahe der oberen Planeten um die Sonne bewegten, dann mufiten sie unter der Voraussetzung einer nichtstationaren Erde Schleifen und Riicklaufigkeiten aufweisen. Da dies nicht der Fall war, bestand unter kopernikanischen Voraussetzungen nur die Alternative, das zu erklarende Phanomen selbst umzuinterpretieren oder den Kometen eine andere Art von Bahn zuzuschreiben. Da Galilei letzteres offensichtlich ablehnte, blieb ihm nur die erste Moglichkeit. Was Galilei noch wenige Jahre zuvor den Aristotelikern als streng mathematischen Beweis fiir die translunare Lokalisierung der Nova des Jahres 1604 vorgefuhrt hatte: die Abwesenheit jeder Parallaxe, wischte er nun mit einer einzigen Bemerkung beiseite. Die Giiltigkeit des Parallaxe Arguments sei von der physikalischen Natur des betreffenden Objektes abhangig. Solange Grassi nicht zeigen konne, daB der Komet ein reales physikalisches Objekt und nicht nur eine Spiegelung an aufsteigenden irdischen Dampfen sei, habe er nichts bewiesen. Zur Untermauerung diskutiert er ausfuhrlich einige irdische Erscheinungen, bei denen trotz ortlicher Nahe ebenfalls keine Verschiebung des scheinbare Ortes auftritt, weil das Phanomen zugleich mit dem Beobachter seinen Ort wechselt. Bevorzugte Beispiele sind die Reflexion der Abendsonne auf dem Meer, der Regenbogen, der Hof des Mondes oder zuweilen auftretende ,,Neben sonnen". Natiirlich ist Galilei vorsichtig genug, nicht zu behaupten, dafi Kometen sich genau so verhalten miissen wie die von ihm als beweiskraftig angefuhrten Beispiele. Er vermeidet jede Formulierung, die so auslegbar ware, als halte er die physikalische Richtigkeit seiner Alternative fiir er wiesen. Er wolle nicht mehr behaupten, als dafi seine Hypothese richtig sein konnte; daher sei die Forderung nur recht und billig, dafi man sie erst falsifizieren miisse, bevor man eine andere, eine supralunare Erklarung des Kometen ernsthaft in Betracht zoge. Doch dies hindert ihn wiederum nicht daran, seine Hypothese als die unter den gegebenen Bedingungen plausibelste zu prasentieren67 und sie sogar 14 Jahre spater im ,,Dialog" zu wiederholen. Bei der Lektiire des ?Saggiatore" wird klar, dafi Galilei auch nicht den Anschein einer positiven Evidenz fiir seine Hypothese anfiihren kann. Er macht an keiner Stelle klar, wie er sich die Entstehung der konkreten Erscheinungsform und der Bahn des Kometen mittels Reflexion physikalisch vorstellt. Seine Argumente fiir die Reflexionstheorie leiten sich samtlich
  • 25. 188 DISCUSSION aus Analogien ab. Vollig im Gegensatz zu seiner gewohnten methodischen Strategic, wie sie anhand der Kontroverse um die Sonnenflecken vorgefiihrt wurde, verwirft Galilei eine mathematische Beweisfiihrung durch ein nicht demonstratives Argument, das sich von ungestiitzten Spekulationen iiber die Natur des zu erklarenden Phanomens ableitet. Ist dies ein Beispiel zugunsten Feyerabends Behauptung, Galilei sei ein methodologischer Anarchist gewesen? Diese Vermutung kann man mit vielen Griinden bestreiten. (1) Die Kontroverse um die Kometen ist zunachst ein Beispiel gegen die oft wiederholte These, Galilei habe die Frage nach der Substanz und der Ursache der Phanomene (ihrem ,,Warum?") zugunsten der nach ihrer Struktur (dem ?Wie?") aufgegeben. Auch in der Bewegungslehre blieb Galilei an der Frage nach der Ursache der Fallbeschleunigung interessiert. Wie sich in De Motu gezeigt hatte, setzte die Antwort hierauf allerdings die genaue Beschreibung des zu erklarenden Phanomens voraus. Also war es notwendig, nach dem anfanglichen Fehlschlag mit der Frage nach dem ?Wie?" fortzufahren. (2) Sie ist zum zweiten ein Beispiel gegen die platonisierende Galilei Auslegung. Die Verwerfung des Parallaxe-Arguments zeigt, dafi bei einem Konflikt zwischen Mathematik und Physik die erstere fiir Galilei nicht unbesehen Prioritat besafi. Im Streit um die Kometen waren gerade nicht die Phanomene, sondern deren Ursache und innere Konstitution strittig. Man beachte, dafi Galilei auch hier keineswegs gegen mathematische Beweisfiihrungen als solche argumentiert. Die von ihm angefiihrten Grunde zugunsten der Reflexionstheorie der Kometen benotigten eine viel kom pliziertere Mathematik als die Beweisfiihrung seines Gegners. Wogegen er sich wendet, ist ein spezifisches mathematisches Argument. Er mochte zeigen, dafi die Stichhaltigkeit dieses Arguments auf der Giiltigkeit versteckter - unter den Vorzeichen physikalischer Voraussetzungen beruht, die er selbst - nicht seines Kampfes gegen das tychonische System zugestehen will. Es handelt sich daher bei dieser Kontroverse nicht" um einen Streit zwischen einem demonstrativen Argument Grassis und einer physikalischen Hypo these Galileis, sondern zwischenverschiedenen physikalischen Hypothesen, die beide mathematisch ?ex suppositione demonstrierbar" waren. Wie im Falle des Zeitquadratgesetzes war jedoch die empirische Giiltigkeit nicht durch mathematische Deduktion, sondern nur anhand von Experiment und Beobachtung entscheidbar. (3) Der Streit um die Kometen ist ein Beispiel fiir Galileis Konserva tismus auf dem Gebiet der eigentlichen Himmelsphysik. Galileis neue Wis senschaft ist eine Physik der Erde, die die kopernikanische Kinematik der Planeten zugleich mit der Prioritat kreisformiger Bewegungen bewahrt. Dies war auch eine Folge des archimedischen Ausgangspunktes, von dem aus kein Weg zu elliptischen oder noch komplizierteren Bahnen auf der Grund lage ?okkulter" Anziehungskrafte und ahnlicher ?nichtiger Phantasien" fiihrte. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dafi Galilei die zweifellos
  • 26. DISCUSSION 189 richtige Beobachtung, dafi man bei einer Lokalisierung der Kometen zwischen den Wandelsternen mit Tycho Brahe zu dem SchluB kommen miisse, die Kometen bewegten sich mit ungleichformiger Geschwindigkeit auf nicht-kreisformigen Bahnen riickwarts, als Argument fiir eine meteo rologische Deutung wertet. Denn one of the principal reasons which causes both him (Tycho - K.F.) and Copernicus to depart from the Ptolemaic system was the impossibility of saving the appearances by means of motions which are absolutely circular and perfectly equable in their own circles and around their own centers68. Und diesen Grundsatz des Kopernikus wollten die Anhanger Tychos leicht fertig preisgeben! Wie an diesen Beispielen zu sehen, bleibt die Galileische Beweisfuhrung unabhangig von ihrem Gegenstand strukturell gleich. Wenn immer moglich, arbeitet Galilei mit mathematischen Modellen, deren Ubertragbarkeit auf die Wirklichkeit er anhand von Experiment und Beobachtung testet. Die Strenge der ?demonstratio" ist dabei sowohl von der Gute des mathema tischen Ansatzes und der Zahl der intervenierenden Akzidenzien als auch von der Korrektheit der physikalischen Pramissen abhangig. Hat er kein mathematisches Modell, dann treten Analogien an ihre Stelle, die zu ?bestmoglichen Vermutungen", nicht aber zu ex suppositione demonstrier ten Resultaten fiihren. Der Anschein eines methodischen Unterschiedes zwischen Galileis mechanischen Arbeiten, in denen er eine Neubegriindung dieser Wissenschaft nach archimedischen Prinzipien anstrebt, und seinen astronomischen Veroffentlichungen, in denen sich auch ?nichtdemon strative" Argumente finden lassen, ergibt sich aus der unterschiedlichen wissenschaftspolitischen Zielsetzung. In seinen astronomischen Arbeiten schreibt Galilei nichtfiir den Mathematiker, sondern fiir die nicht fach gebundene Intelligenz und den interessierten Laien. Auch hier verwendet er, wie bei den Sonnenflecken, mathematische Argumente, doch er fiihrt sie oft nicht formal aus. Auf formale Ausfiihrungen verzichtet Galilei aber auch in seinen mechanischen Schriften, wenn er sich an einen weiteren Leserkreis wendet. Die Kontroverse iiber schwimmende Korper mag als Beleg geniigen69. Auch in seinen Spatschriften besteht Galilei auf der Unverzichtbarkeit von Idealisierung und Abstraktion. Nach wie vor insistiert er jedoch ebenso darauf, daB storende Akzidenzien, die auf der ?Unvollkommenheit der Materie" beruhen, eine Erkenntnis der Bewegungsgesetze nicht verhindern. Es liege an der Kunstfertigkeit des Mathematikers, sie bei der Abschatzung beobachtbarer Effekte in Rechnung zu stellen. Im Dialog laBt Galilei sein alter ego Salviati erklaren: Gerade wie der Kalkulator, damit die Zucker-, Seide-, und Wollrechnungen stimmen, seine Abziige fiir das Gewicht der Kisten, der Verpackung und des sonstigen Ballasts machen muB, so muB der Geometer, wenn er die theoretisch bewiesenen SchluBfolgerungen experimentell studieren will, die storenden Einfliisse der Materie in Abrechnung bringen70.