Ride the Storm: Navigating Through Unstable Periods / Katerina Rudko (Belka G...
Kircheund stadt
1. Kirche und Stadt - Ein schwieriges Miteinander
Christopher Bahn
Obwohl in vielen Städten die markanten Dome und Kirchtürme die Hauptsehenswürdigkeiten
darstellen, ist das Verhältnis zwischen den Kirchen als Institutionen und den Städten als politische
und kulturelle Zentren bestenfalls als ein gegenseitiges Ignorieren zu bezeichnen. Mit der
Sekularisation haben die Kirchen an politischem Einfluss verloren, mit einer stark schrumpfenden
und überalterten Mitgliedschaft auch an kultureller und moralischer Bedeutung. Die in der
Postmoderne gesellschaftlich sehr ausgeprägte Suche nach dem Übersinnlichen geht an den
traditionellen Glaubensgemeinschaften vollständig vorbei und findet auch keinen Ausdruck mehr in
der Architektur und dem sozialen Leben von Städten. Historisch gesehen ist das eine
Ausnahmeerscheinung.
Die ersten Städte der Menschheit hatten als zentralen Ort und Grund einen räumlich meist
ausgedehnten Tempelbezirk, von dem aus das sakrale Gotteskönigtum die historischen Grossreiche
begründete und verwaltete. Die politische und räumliche Einheit von Kirche, Stadt und Staat
zerbrach im Mittelalter, spätestens in der Reformation, obwohl hier auch die Städte eine zentrale
Rolle spielen sollten. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution manifestierte sich der
moderne Staat nicht nur als konfessionell neutral, sondern auch als antikirchlich - fast jedes Land
sah seine als Kirchenkampf bezeichnete Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat um die
politische und soziale Deutungshoheit. Die Städte schlugen sich aus mehreren Gründen auf die Seite
des Staates: “Stadtluft macht frei” galt jetzt nicht mehr nur als rechtlicher, sondern auch als
kultureller Leitspruch. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land nahm damit in kultureller und
sozialer Hinsicht zu, wie er in politischer abnahm.
Heute sind die Kirchen eine von vielen Institutionen innerhalb von Städten ohne kulturelle und
politische Bedeutung. Höchstens in sozialer Hinsicht übernehmen die Kirchen einen wichtigen Teil
in der Versorgung der Bevölkerung, ohne darin jedoch ausreichend wahrgenommen zu werden.
Kirchengebäude finden Nutzung als Orte politischer Diskussionen und musikalischer Darbietungen;
als Zentren religiöser Praktiken bleiben sie leer. Doch auch die Städte hatten mit einem
Bedeutungsverlust vor allem in ökonomischer Hinsicht zugunsten des Umlandes zu kämpfen, der
mit grossen sozialen Problemen einherging. Heute finden sich Städte in einer zwiespältigen
Situation: Während sie einerseits mit einer zunehmenden Dienstleistungsgesellschaft wieder zu
2. Zentren der ökonomischen Wertschöpfung und der kulturellen Deutungshoheit werden, nehmen
die sozialen Probleme innerhalb ihrer Grenzen eher zu als ab. Aufgrund unzureichender
Steuereinnahmen fehlen ihnen die Instrumentarien, um darauf angemessen reagieren zu können.
Hier können die Kirchen bzw. allgemein alle Glaubensgemeinschaften eine grössere Rolle spielen,
in dem sie ihr bisheriges soziales Engagement ausweiten und zugleich mit einem ethischen
Standpunkt verbinden, der dem sozialen Zusammenhalt und der öffentlichen Infrastruktur
innerhalb von Städten zugute kommt. Dazu müssen jedoch die Kirchen einerseits aus ihrer
Sinnkrise herauskommen, andererseits die Städte ihr Verhältnis zu Glaubensgemeinschaften neu
definieren. Das bisherige gegenseitige Ignorieren wird weder den Problemen der Kirchen noch der
Städte gerecht.