3. Stephanie de Vries ist gebürtige
Hamburgerin und lebt in Hamburg.
»Der Kulturinvestor« ist ihr erster Thril-
ler, für den an Originalschauplätzen
recherchiert wurde. Sowohl die Ge-
schichte als auch die Figuren und Bege-
benheiten sind frei erfunden. In ihren
Romanen behandelt sie das Spannungs-
feld zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur
und Kriminalität.
4.
5. Engelsgesang
»Wer zuerst an der Tür ist!« Sophie rennt los, den ver-
schneiten Weg entlang, bis sie im nebligen Grau aus umher-
wirbelnden Schneeflocken nicht mehr zu sehen ist. Leonard
schließt den Porsche ab und geht schnellen Schrittes hinter
ihr her. Es ist ein schöner dunkler Sonntagnachmittag, der
erste Advent. Die Kälte fühlt sich gut an. Irgendwann holt er
sie ein und umarmt sie. Ein Jahr sind sie jetzt zusammen. Sie
sind in eine kleine Villa in Blankenese mit Blick auf die Elbe
gezogen; keinen einzigen Tag hat er sich mit ihr gelangweilt.
»Hier entlang, dort ist der Eingang«, Sophie befreit sich
aus seiner Umarmung.
Der Eingangsbereich des Jugendstilhauses ist beeindru-
ckend und spiegelt die Epoche in vielen Details wider. Die
weißen Säulen zieren filigrane Verschnörkelungen, und es
sind große Spiegelflächen in die Wände eingearbeitet, die die
Halle optisch größer wirken lassen. Nur beim Aufzug
scheint gespart worden zu sein. Der alte Fahrstuhl setzt sich
mit ratternden Geräuschen in Bewegung. Sophie sieht, wie
eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters das Gebäude
betreten; die Frau ist auffallend schlank, ihr Gang etwas zu
aufreizend. Er scheint wesentlich älter zu sein, aber seine
sportliche Ausstrahlung überspielt dies.
»Schnell«, flüstert Sophie und zieht Leonard in den klapp-
rigen Lift.
»Die beiden wollen bestimmt auch zu der Adventsparty«,
wendet Leonard ein, aber Sophie widerspricht. »Lass uns
verschwinden.« Sie muss lachen, als sie ihren Verfolgern um
Haaresbreite entkommen. Leonard betrachtet Sophie in dem
unvorteilhaften Licht des Aufzugs, das jede Unebenheit und
jeden Makel entblößt. Er umfährt ihre Nase, die eine leichte
7
6. Stupsnase ist mit Nasenflügeln, die sich manchmal verdäch-
tig verziehen, wenn sie etwas zu verbergen versucht.
Oben werden sie von Josef in Empfang genommen, wäh-
rend laute Geräusche von Stimmen und Musik aus der
Wohnung in den Hausflur dringen. Der Gastgeber nimmt
ihnen die Mäntel ab und führt sie quer durch die Wohnung
bis in das Kaminzimmer, wo sich die meisten Gäste um die
Weihnachtsbowle versammelt haben. Die Hausherrin Lea
hat einen Adventskranz unter die Decke gehängt; sie selbst
ist jedoch in der überfüllten Wohnung nirgends zu sehen.
Das Tannengrün und die vielen Kerzen im Raum verbreiten
winterliche Adventsstimmung. Jedes Jahr laden Josef und
Lea zu ihrer traditionellen Adventsparty ein und jedes Jahr
wundern sich Leonard und Sophie, dass sie immer wieder
neue Gesichter sehen. Josef schenkt zwei Gläser Weih-
nachtsbowle ein, aber Leonard bittet um ein alkoholfreies
Bier.
»Entschuldigt mich kurz«, sagt Josef als es an der Tür er-
neut läutet.
Sophie schaut sich in der Wohnung um. Wenn sie sich die
Einrichtung wegdenkt, steht sie in einer Traumwohnung –
hohe Decken, große Räume, ein fantastischer Ausblick auf
die Alster –, aber Josefs Vorliebe für klotzige, dunkle Anti-
quitäten zerstört das Flair dieses Wohntraumes. Sophie fragt
sich, wie es Lea hier jeden Tag aushält. Es scheint, als ob die
Möbel den Ton angeben. In viele der antiken Stücke sind
Figuren in das Holz eingeschnitzt; menschliche Schicksale
spiegeln sich in ihren Fratzen wider. Josef kommt mit den
beiden aus dem Flur zurück. Josef stellt sie als Anna und
Simon vor. Sophie mustert die junge Frau. Sie sieht ein biss-
chen unsicher aus, was einen besonderen Reiz ausmacht.
Ihre Schüchternheit paart sich mit gerissener Unterwürfig-
keit und dem starken Bedürfnis nach Schutz. Ihre schwar-
8
7. zen, langen Haare fallen ihr bis auf die Hüften, ihr Kleid ist
tief dekolletiert. Auf ihren unglaublich hohen Absätzen
scheint sie zu schweben. Während sich Sophie ihren Gedan-
ken hingibt, bemerkt sie nicht, dass Simon sie anstarrt.
»Anna ist eine begnadete Sängerin«, gibt Josef ungefragt
zum Besten. »Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich
Anna zum ersten Mal traf. Simon und ich saßen bereits seit
Stunden in einem anstrengenden Verhandlungsgespräch in
Rom. Mitten im Gespräch ist Simon aufgestanden und aus
dem Raum gegangen. Zuerst dachte ich, er würde mich mit
unseren zähen Verhandlungspartnern allein lassen, aber
dann kehrte er wenig später mit Anna zurück. Alle Augen
waren auf sie gerichtet und es herrschte für einen Moment
lang Stille. Dann hat sie gesungen. Unsere Gesprächspartner
waren im wahrsten Sinne des Wortes hin und weg von ihr,
was wir natürlich sofort ausgenutzt haben. Wir haben sie mit
an den Verhandlungstisch gesetzt, schließlich konnten wir
unsere Forderungen durchsetzen!« Josef lacht und wippt
unbeholfen mit dem Kopf. Es steht ihm ins Gesicht ge-
schrieben, dass er scharf auf Anna ist.
»Die Macht der Kunst wird häufig unterschätzt«, erklärt
Simon trocken, der seinen Blick nicht von Sophie abwendet.
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, stimmt Josef gut ge-
launt zu und als ob er den Beweis dafür antreten möchte,
fragt er, »Anna, singst du ein Weihnachtslied für uns?«
»Ich weiß nicht, vielleicht«, offenbar hasst sie es, sich zum
Singen genötigt zu fühlen.
»Übrigens singt Anna auch auf Hochzeiten«, fährt Josef
voller Bewunderung für Anna fort und zu Leonard und So-
phie gewandt, posaunt er heraus: »Und da gibt es doch bald
eine Gelegenheit. Die beiden wollen heiraten!«
9
8. Sophie hat jetzt lange genug das ungebetene Geschwätz
des Gastgebers über sich ergehen lassen und zieht Anna
demonstrativ zur Seite. »Bist du ausgebildete Sängerin?«
»Lyrischer Sopran«, Anna ist froh nicht mehr im Mittel-
punkt zu stehen, »wie lange seid ihr schon zusammen?«
»Rund ein Jahr. Es stimmt, wir wollen heiraten. Vielleicht
möchtest du tatsächlich auf unserer Hochzeit singen?«
»Na klar. Gern! Ich werde gleich eine kleine Kostprobe
zum Besten geben, dann kannst du dir selbst ein Bild ma-
chen.«
»Leonard kann dich am Flügel begleiten, er ist ein fantas-
tischer Klavierspieler.«
Anna geht zu Leonard und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Sophie verfolgt die Bewegung ihrer Lippen mit den Augen.
Leonard wirkt überrascht, setzt sich jedoch kurze Zeit später
an den Flügel. Josef kündigt das Duett an und Anna beginnt
zu singen. »Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie
uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art und hat ein Blümlein
bracht mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.«
»Ich liebe es, ihr zuzuhören. Ihre Stimme gibt mir unend-
lich viel Kraft«, gesteht Simon.
Sophie fühlt sich angesprochen. »Die klassische Musik
müsste einen viel stärkeren Stellenwert in unserer Gesell-
schaft erhalten«, antwortet sie, weil ihr nichts Besseres ein-
fällt.
Simon sagt nichts. Es macht den Anschein, als ob der
liebliche Gesang seiner Muse sein zweites »Ich« zum Vor-
schein bringt. Seine Gesichtszüge verändern sich und die
Härte weicht aus seinem Antlitz. Seine Kleidung hätte von
der Altkleidersammlung stammen können. Sophie beäugt
sein uraltes Hemd, das an den Ellenbogen dünn geworden
ist. Auch seine Jeans ist alles andere als cool, nur abgetragen.
Dazu trägt er ausgelatschte Turnschuhe. Sie vergleicht Si-
10
9. mon mit Leonard, der gegen Simon wie ein Salonlöwe aus-
sieht. Er trägt ein weißes Hemd mit Kentkragen und silberne
Manschettenknöpfe, eine schwarze Stoffhose und auf
Hochglanz polierte Schuhe. Seine Hände wandern leicht und
sicher über die Tasten. Leonard ist dunkelhaarig, trägt eine
Brille und einen dunklen Bart. Er sieht einfach unwidersteh-
lich aus, denkt Sophie.
Simon hingegen hat mittelblonde, etwas längere Haare,
die an den Schläfen grau werden. Besonders Simons Nase
fällt Sophie auf. Er hat eine regelrechte Hakennase, die sein
Gesicht beherrscht. Seine hellblauen Augen treten dadurch
in den Hintergrund. Er sieht aus, als ob er kein Wässerchen
trüben kann und dennoch vermutet Sophie in diesem Mann
ein verborgenes Geheimnis. Irgendetwas an ihm fordert sie
heraus, was sie unendlich neugierig macht.
Als ob sich Simon in ihre Gedanken einschleichen will,
reißt er sich plötzlich von Anna los und lässt seine Energie
in Sophies Richtung fließen. Elektrisiert spürt Sophie die
Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaut. Ohne Sophie
anzusehen, ergreift Simon selbstverloren ihre linke Hand.
Wie zwei Schulkinder stehen sie nun da, Händchen haltend,
beschämt und in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden
direkt vor den beiden Menschen, die ihnen am nächsten
stehen. Sophies Hand wird schweißnass im Bewusstsein
seiner ungebetenen Nähe, aber sie traut sich nicht, sie weg-
zuziehen. Mühsam versucht sie ihre aufkeimende Empörung
zu unterdrücken, aber sie findet kein Ventil, um sie heraus-
zulassen; wie angewurzelt steht sie da, wehrt sich innerlich
gegen Simons Berührung und lässt doch nicht los. Nach
einer Weile vertieft sich Simon erneut in die Musik. Seine
Hand mutiert in eine leere Hülle. Sophie steht wie benom-
men da. Der Applaus, nachdem Leonard und Anna ihr Du-
ett beendet haben, erlöst sie schließlich. Sie befreit sich aus
11
10. Simons Griff, der sie keines Blickes würdigt. Erleichtert at-
met sie aus. Leonard wirft ihr ein strahlendes Lächeln zu;
niemand scheint etwas bemerkt zu haben.
***
Ich gehe den Wanderweg entlang und spüre die feinen Kie-
sel unter meinen Sohlen. Es muss das kleine Häuschen dort
hinten sein. Es erinnert mich an das Knusperhäuschen aus der
Geschichte von Hänsel und Gretel. Ich verlasse den Wander-
weg und schleiche zwischen den Sträuchern entlang, in meiner
Manteltasche greife ich erneut nach der Spritze, um mich zu
versichern, dass ich nichts vergessen habe. Auch das Messer
ist da. Alles ist gut. Es ist bitterkalt, die Sonne hat sich zu dieser
späten Nachmittagsstunde in der Dämmerung versteckt, und es
pfeift ein eisig kalter Wind durch den Jenischpark. Ich sehe
keine Menschenseele. Ich nähere mich dem Haus. Es hat ein
spitzes Dach, welches noch gut in Schuss ist, aber die grün
angestrichenen Holzfenster machen den Eindruck, als ob sie
bald morsch werden. Lautlos schleiche ich mich an das Fenster
heran, das zum Garten hinausgeht. Ich schaffe es, einen Blick
in das Wohnzimmer zu erheischen. Niemand ist zu sehen.
Plötzlich ist da ein Geräusch. Es kommt von der Eingangstür.
Ich höre eine Frauenstimme. Mist. Sie ist nicht allein. Das
durchkreuzt meinen Plan. Der volle Lorbeerstrauch in der Nähe
bietet mir Schutz. Ich verstecke mich dahinter und schiebe das
Gestrüpp nur ein kleines bisschen zur Seite, um die Tür erken-
nen zu können. Kurz darauf öffnet sich die Eingangstür und ich
sehe sie. Sie trägt eine beige Steppjacke mit Fuchskragen, die
ihrer dunklen Hautfarbe schmeichelt. Keine Mütze, aber dicke
Moon Boots. Erleichtert atme ich aus. Es ist der Hund, mit dem
sie spricht. Sonst ist niemand zu sehen. Ich wollte sie eigentlich
in ihrem Haus überraschen, nun muss ich meinen Plan ändern.
Was spricht gegen einen Tatortwechsel? Gegen ein wenig Ner-
venkitzel habe ich nichts einzuwenden. Sie entfernt sich von
12
11. meinem Versteck und ich folge ihr unauffällig. Zum Glück ist der
Köter nur so ein kleiner Couchhund. Ich sehe, wie sie einen
Stock aufhebt und ihn für das Hündchen wirft. Solange sie auf
der großen Fläche bleibt, kann ich mich ihr nicht nähern. End-
lich. Jetzt biegt sie in das Wäldchen ab. Perfekt. Ich verkürze
meine Entfernung, halte aber vorerst einen Sicherheitsabstand
ein. Etwas später verrichtet der Hund sein großes Geschäft
irgendwo in den Büschen. Auf diesen Augenblick habe ich ge-
wartet. Jetzt muss alles sehr schnell gehen. Ich nutze das
Überraschungsmoment. Ich ziehe die Spritze aus meiner Ta-
sche und injiziere ihr in Sekundenschnelle das Narkosemittel.
Sie ist nicht sofort bewusstlos, womit ich nicht gerechnet habe.
Sie schubst mich weg, während sie einen schrillen Schrei aus-
stößt. Sie will wegrennen, aber ich packe sie in letzter Sekunde
am Bein und strecke sie nieder. Sie zappelt wie ein Aal und
versucht mich zu treten, aber ihre Bewegungen werden lang-
samer. Ich lasse sie los. Sie kann nicht mehr weglaufen. Die
Töle hüpft um uns herum und bellt. Das nervt. Ich hole mit dem
Messer aus und steche ein paar Mal auf das Tier ein, es wim-
mert und winselt, was mich total aus dem Konzept bringt. Ich
nehme das blutende Fellknäul und schleudere es durch die Luft
in die Lichtung. Jetzt packe ich mein Opfer und schleife es ein
paar Schritte in das Wäldchen hinein, bis ich einen geeigneten
Ort für mein Vorhaben gefunden habe. Sie ist schwerer als ich
gedacht habe, nach einer Weile bleibe ich außer Atem stehen.
Ich lege sie in den Schnee und schaue sie einfach nur an, um
mich zu beruhigen. Fast wäre sie mir entwischt, aber für mein
erstes Opfer habe ich es bis jetzt ganz gut gemacht. Beim zwei-
ten würde ich die Dosis einfach erhöhen. Sie sieht aus wie eine
Königin der Nacht. Der Kontrast ihrer schwarzen Hautfarbe im
Schnee gefällt mir, gleich wird sie durch mich noch schöner
werden. Jetzt beginne ich damit, sie zu entkleiden, erst öffne
ich ihre Jacke und ziehe ihr Stiefel und Socken aus, um ihre
13
12. Füße zu begutachten. Das macht Spaß. Sie ist hübsch. Ich
rieche an ihrer Haut. Sie muss kurz vor unserem Treffen geba-
det haben. Ihre Haut riecht nach teurem Körperöl, auch ihre
Rastalocken duften. Sie hat mich erwartet. Unsere Blicke be-
gegnen sich. Ich schaue in ihre großen dunklen Augen. Es ist
eine seltsame Situation. Liegt Dankbarkeit in ihrem Blick? Mir
kommt wieder ihr Knusperhäuschen in den Sinn. Sie ist eine
Hexe, die mich versucht zu manipulieren. Schnell schneide ich
ihr Designer-T-Shirt auf, öffne ihre Hose und ziehe sie nach
unten. Ich erläutere ihr, dass sie mir vertrauen kann. Sie liegt
jetzt entblößt vor mir. Obwohl mich das kleine Miststück auf
eine harte Probe stellt, reiße ich mich zusammen. Ich umkreise
mit meinem Messer ihre Brüste, ihren Bauchnabel und stochere
ein wenig in ihrer Scham herum. Dann verstärke ich den Druck,
das Messer hinterlässt rote Rillen. Das steht ihr gut. Sie befin-
det sich in einer Art Trance. Sie bekommt mit, was ich mit ihr
mache, aber sie kann sich nicht bewegen oder schreien. Mit
geschickten Schnitten entferne ich beide Brustwarzen, eine
davon werde ich aufbewahren. Jetzt ist sie nur noch ein ver-
stümmelter nutzloser Körper. Ich schneide ihr die Kehle durch
und verschwinde.
***
Sophie wacht mit Kopfschmerzen auf. Die Sonne wirft
ihre Strahlen durch den Schlitz, den der schwere Fenster-
vorhang freigibt. Montagmorgen, denkt sie, und quält sich
umständlich aus dem Bett, um mit halb geschlossenen Au-
gen ins Badezimmer zu gehen. Sie wäscht ihr Gesicht mit
eiskaltem Wasser, aber es dauert einige Minuten, bis sie wirk-
lich wach ist. Das einzig angenehme an den Morgenstunden
ist der Duft des Kaffees, meint sie, und zieht die mit
Röstaromen geschwängerte Luft ein, die sich ihren Weg von
der Küche bis hoch ins Badezimmer bahnt. Schnell schlüpft
sie unter die Dusche und es dauert rund zwanzig Minuten,
14
13. bis sie gut gelaunt in Jeans und Rollkragenpullover die Trep-
pe nach unten springt. Leonard sitzt auf dem Hocker vor
dem hohen Küchentisch und beißt gerade von seinem
Croissant mit Rührei ab.
»Guten Morgen mein Schatz. Du siehst umwerfend aus«,
nuschelt er mit vollem Mund. Sie gibt ihm lächelnd einen
Kuss auf die Wange und schenkt sich den ersehnten Kaffee
ein, während sie sich die Zeitung schnappt.
»Eskalation im Schanzenviertel: Mehrere Verletzte bei Ausschrei-
tungen vor der Roten Flora. Polizei verhaftet zehn Randalierer, die aus
dem Umfeld der Flora stammen.«
Sophie erinnert sich an den Verkauf der Roten Flora vor
zirka zehn Jahren. Durch diesen raffinierten Schachzug be-
reitete Bürgermeister Sagini der politischen Auseinanderset-
zung rund um das besetzte Theater ein Ende und übertrug
das Problem auf einen Privatmann. Sophie kann diesen
Schritt bis heute nicht nachvollziehen. Für sie darf es keinen
rechtsfreien Raum in Hamburg geben. Da könnte doch jeder
kommen und Häuser besetzen ohne Miete zu zahlen. Mit
dem Verkauf hat sich die Stadt ihrer Verantwortung entzo-
gen, was Sophie ärgert. Kurz darauf setzte eine Art Schock-
starre ein. Die Besetzer hatten wohl nicht damit gerechnet,
dass die Stadt wirklich ernst macht und befürchteten die
Räumung des Gebäudes, aber es geschah nichts. Der neue
Eigentümer dachte gar nicht daran, gegen die Aktivisten
vorzugehen. Seitdem ist es überwiegend ruhig gewesen im
Schanzenviertel.
»Was hältst du von Simon und Anna?« Leonard reißt So-
phie aus ihren Überlegungen.
»Großer Altersunterschied«, antwortet Sophie etwas
schnippisch. Leonard lacht berührt, denn auch er ist einige
Jahre älter als Sophie. Er mustert sie unauffällig für einen
kurzen Moment. Er liebt einfach ihre nachdenkliche, analyti-
15
14. sche Art. Sie ist immer wieder in der Lage ihn zu faszinieren,
wobei sich diese Faszination erst mit der Zeit entwickelt hat.
Es war weiß Gott keine Liebe auf den ersten Blick. »Simon
hat die Rote Flora gekauft.«
»Die Rote Flora? Dann ist er dieser stinkreiche Investor
Simon Menk, der das besetzte Theater gekauft hat, wo ges-
tern die Ausschreitungen stattgefunden haben?«
»Genau! Darauf wärst du nicht gekommen, oder?«
»Irgendwie nicht. Er gibt selten Presseinterviews, keiner
kennt sein Gesicht. Komisch…«
»Früher wäre das nie möglich gewesen. Wie weit ist es
nur mit Hamburg gekommen? Die Linken haben eine neue
Hassfigur, aber Simon scheint das nicht besonders zu stören.
Ich glaube, er sucht sich absichtlich Immobilien aus, die im
Brennpunkt der Stadt stehen. Die unkontrollierten Gewalt-
ausbrüche der Besetzerszene scheinen ihn zu reizen. Er
sucht den Nervenkitzel.«
»Ich denke eher, dass er auf der Suche nach Grundstü-
cken ist, die er billig von der Stadt kaufen kann. Er wartet
ein, zwei, oder auch fünf Jahre, entwickelt die Objekte und
verkauft sie mit einem Riesengewinn! Allerdings muss er sich
die lange Phase zwischen Kauf und Verkauf auch leisten
können«, überlegt Sophie laut.
»Man sieht ihm sein Geld gar nicht an. Mal sehen, wie
sich die Sache entwickelt. Ich muss los. Bis heute Abend.«
»Bis später.« Wenige Minuten vergehen, dann hört Sophie
den Porsche anspringen. Sie muss sich beeilen, um rechtzei-
tig zur Uni zu kommen. Sie schnappt sich die Tageszeitung,
stellt die Kaffeemaschine aus, wirft einen letzten Blick nach
draußen in den vom Schnee bedeckten Garten, zieht ihren
Trenchcoat über und tritt in die Kälte. Ihr alter BMW wartet
unter dem schützenden Dach des eingeschneiten Carports.
Fröstelnd schließt sie die Fahrertür auf und startet den Mo-
16
15. tor. Leonard wollte ihr ein neues Auto schenken, aber ir-
gendwie hängt sie an ihrem Wagen. Sie fährt die Elbchaussee
entlang in Richtung City, jeden Morgen erfreut sie sich von
neuem an der norddeutschen Szenerie und dem atemberau-
benden Blick über die Elbe und den Hamburger Hafen. Es
dauert eine halbe Stunde, dann erreicht sie die Tiefgarage der
Universität, in der sie einen Stellplatz gemietet hat. Sie hat
keine Lust, jeden Morgen um einen Parkplatz zu kämpfen,
außerdem werden rund um den Campus verstärkt Knöllchen
verteilt.
Sophie ist Juniorprofessorin am Institut für Finanzma-
thematik an der Hamburger Universität; Mathematik war
schon immer ihre Leidenschaft. Sie gehört zu der Sorte
Mensch, die Mathematik im Blut haben und so fiel es ihr mit
ihren exzellenten Noten nicht schwer, sich gegen die Kon-
kurrenz um den Professorenlehrstuhl durchzusetzen. Von
der Garage aus kann sie trockenen Fußes ins Campusgebäu-
de gelangen. Sportlich springt sie die Trepp bis in den dritten
Stock hinauf, wo sich ihr Büro befindet. Sie schließt die Tür
des kleinen Arbeitszimmers auf und pfeffert ihre Tasche auf
den Schreibtisch. Schnell schaltet sie den Computer ein, um
vor Vorlesungsbeginn einen Blick auf ihre Emails zu werfen.
Die Zeit bis der Computer vollständig hochgefahren ist,
nutzt sie, um sich auf das Thema ihrer heutigen Vorlesung
zu konzentrieren, als es an der Tür klopft und Professor
Falkenstein eintritt.
»Hey Hübsche, schön dich zu sehen. Dann hab ich dein
Auto also richtig in der Garage erkannt.«
»Hey, ich wusste gar nicht, dass du heute hier bist, sonst
hätte ich mich mit dir auf einen Kaffee verabredet.« Sophie
gibt Falkenstein einen Kuss zur Begrüßung.
Vor ein paar Monaten verband sie eine kurze Affäre, die
so heftig und intensiv wie sie begann, so schnell wieder vor-
17
16. bei war. Geblieben ist eine ehrliche Freundschaft. Der Fami-
lienvater ist kein Kind von Traurigkeit. Er ist zwar keiner
dieser Professoren, denen ihr Ruf vorauseilt, aber Falken-
stein kann auf eine lange Liste von Studentinnen zurückbli-
cken, mit denen er mehr teilt, als nur das Thema seiner
Lehrveranstaltungen. Falkenstein ist Sophies einziger Seiten-
sprung gewesen, seitdem sie mit Leonard zusammen ist und
sie achtet penibel darauf, dieses Geheimnis zu bewahren.
Immerhin ist sie Juniorprofessorin mit Aussicht auf eine
beständige Universitätskarriere und deshalb sehr darauf be-
dacht, niemals in den Verdacht der Vorteilsnahme zu kom-
men.
»Das ist eine gute Idee. Lass uns nach der Vorlesung ei-
nen Kaffee in der Cafeteria trinken«, nimmt er ihren Vor-
schlag an und verlässt in Vorfreude auf ihr gemeinsames
Gespräch das Zimmer.
Sophie muss schmunzeln, als sie sich für einen kurzen
Moment an ihre Affäre zurück erinnert. Damals waren sie
ganz schön unvorsichtig gewesen, sie waren oft zusammen
ausgegangen, hatten viel gelacht und geflirtet. Ein Außenste-
hender hätte sie bestimmt für ein Liebespaar gehalten und
nicht bemerkt, dass sie eine verbotene Liaison auslebten.
Sophie wirft einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr.
Im Hörsaal haben sich bereits unzählige Studenten ver-
sammelt. Ihre Vorlesungen sind immer gut besucht, sodass
viele Hochschüler auf der Treppe sitzen müssen und einige
nur noch vom Gang aus zuhören können. Nachdem sie die
Anwesenden begrüßt hat, beginnt sie sofort mit dem
Lehrthema der heutigen Veranstaltung; »Martingale in diskreter
Zeit«. Sie geht ganz in ihrem Element auf und arbeitet ihre
vorbereiteten Inhalte stringent ab. Als sie nach zirka einer
halben Stunde zum Theorem von Doob über das Optionale
Stoppen überleiten will, fällt ihr ein Gesicht in der eher ho-
18
17. mogenen Menge auf und es beschleicht sie ein ungutes Ma-
gengefühl. Sie kennt dieses Gesicht nur zu gut. Normaler-
weise halten sich die Mathematikstudenten mit ihrem Äuße-
ren eher zurück, bei den Frauen ist Schminke geradezu ver-
pönt. Diese Dame hat jedoch mit Farbe nicht gegeizt, und
das zu dieser frühen Morgenstunde.
Sophie kneift die Augen zwei, drei Mal angestrengt zu-
sammen, aber sie täuscht sich nicht. Es ist die Studentin, die
versucht hat, sie zu erpressen. Irgendwie war sie hinter So-
phies Affäre mit Falkenstein gekommen. Ihr ist es gelungen,
aussagekräftige Fotos zu machen und hat von Sophie ver-
langt, ihr die Klausurfragen herauszugeben. Sie sitzt in der
vorletzten Reihe. Die auf dem Gang vorbeilaufenden Perso-
nen verursachen ein Durcheinander von Licht und Schatten,
wodurch ein unheimliches Lichtspiel auf ihrem Gesicht ent-
steht. Es ist also noch nicht vorbei, denkt Sophie, die Fal-
kenstein von der ganzen Geschichte nichts gesagt hat. Sie
kommt komplett aus dem Takt, taumelt, hält sich an der
Stuhllehne fest und setzt sich. Schnell trinkt sie einen
Schluck Wasser und kommt wieder zurück zu ihrem letzten
Punkt.
»Man kann also die Martingaleigenschaft auch durch
noch so geschicktes Stoppen nicht austricksen«, fährt sie
gefasst fort und blättert in ihrem Manuskript, bevor sie wie-
der aufsteht, um die dazugehörige Formel an die Tafel zu
zeichnen. Mit dem Rücken zur Zuhörerschaft gedreht, läuft
ihr ein Schauer über den Rücken, während die Kreide in
ihrer Hand über die Tafel gleitet und dabei leise Kratzgeräu-
sche verursacht. Nachdem die Formel mit den für die meis-
ten Studenten einfach nur kryptisch anmutenden Zeichen
vollständig an der Tafel steht, dreht sich Sophie wieder ih-
rem Auditorium zu. Aber als sie die Sitze nach ihr absucht,
ist sie verschwunden. Hat sie sich ihre Anwesenheit nur ein-
19
18. gebildet? Erleichtert beendet sie wenig später die Vorlesung
und kramt nachdenklich ihre Sachen zusammen.
Am Abend sitzt Sophie in der Küche, auf einem der Ho-
cker vor dem hohen Küchentisch, als Leonard nach Hause
kommt. Schnell wuchtet er die Tragetaschen – gefüllt mit
Zutaten für das Abendessen – auf den Küchentresen, um die
Hände für seinen Hund frei zu haben. »Hallo mein Schatz«,
ruft er ihr zu, »jetzt ist es endlich soweit, du hast für dieses
Jahr genug gearbeitet. Als kleine Überraschung werde ich dir
ein schönes Dinner kredenzen.« Leonards Labrador ist sicht-
lich erfreut, ihn zu sehen. Sophie macht in der Zwischenzeit
den Kamin in der Küche an, das Holz lodert leise knisternd
vor sich hin und verbreitet eine wohlige Atmosphäre. Wäh-
rend er die Lebensmittel sorgsam aus ihrem Versteck befreit,
verfolgt Sophie jede seiner Handbewegungen. Er sieht blen-
dend aus. Seine Hände sind gepflegt, sein Stil spricht für sich
und, er liebt sie. Trotzdem malträtieren sie Zweifel an der
Richtigkeit ihres Zusammenseins. Eine Zeitlang schien er für
sie unerreichbar – dieser perfekte Mann, der gar nicht so
perfekt ist, wie sich herausstellte. Nun stellt er ein Cham-
pagnerglas und eine Flasche Ruinart vor ihr auf den Tisch ab
und schenkt das prickelnde Etwas ein. Er trägt den schwar-
zen Nadelstreifenanzug mit dem unverschämt gut sitzenden
weißen Hemd, die Jacquard-Krawatte und das violette Ein-
stecktuch. Sophie nimmt das Glas, das er ihr reicht, er pros-
tet ihr mit Mineralwasser zu: »Auf unsere Liebe.« Sie spürt
eine Gänsehaut auf ihren Armen. Gut, dass sie einen Roll-
kragenpullover trägt. Sie lächelt gequält.
»Hm, das tut gut. Ich ziehe mir schnell was Passendes
zum Kochen über und bin gleich zurück«, kündigt er munter
an und verschwindet für ein paar Minuten. Ja, die Vorlesun-
gen an der Uni sind für dieses Jahr vorbei. Und nun? Sie
20
19. haben keine Pläne für Weihnachten und Silvester, wie lang-
weilig. Sie denkt an die Bücher, die sie heute Nachmittag in
ihrer Lieblingsbuchstube erworben hat. Sie sind ein kleiner
Trost, um die stillen Tage besser ertragen zu können. Au-
ßerdem würde sie in die Videothek gehen und sich die neu-
esten Filme ausleihen. Es gibt einen neuen Thriller. Sie liebt
Mordgeschichten. Leonard kommt zurück in die Küche.
Natürlich sieht er trotz grauer Jogginghose und verwasche-
nem T-Shirt ohne Frage fast ebenso gut aus wie vorher. So-
phie erinnert sich an ihre erste Begegnung und versucht ihre
Empfindungen von damals Revue passieren zu lassen. Wo
sind die schönen Gefühle geblieben? Sie beobachtet wie er
den Ofen anstellt, Bohnen wäscht und in kleine Stücke
schneidet, Kartoffeln schält und den Herd anwirft. Er ist ein
ausgezeichneter Koch. Früher hat er nie gekocht. Erst als sie
zusammen in dieses prachtvolle Anwesen gezogen sind, hat
er seine Leidenschaft für das Kochen entdeckt. Im Gegen-
satz zu ihm hasst sie das Kochen. Es fängt mit dem Einkau-
fen an, in der Schlange vor der Kasse zu warten, nicht das
Richtige zu finden, etwas zu vergessen. Das alles hasst sie.
Das ewige Vorbereiten, Schnippeln und alles so zu koordi-
nieren, dass es gleichzeitig serviert werden kann, nur um es
anschließend in wenigen Minuten zu verspeisen. Manchmal
nimmt sich Sophie vor, nichts mehr zu essen. Allein wegen
des ganzen Aufwandes, den man betreiben muss, aber das
Essen ist ihre Leidenschaft. Obwohl sie sich erfolgreich vor
den Vorbereitungen drückt, genießt sie es, bekocht zu wer-
den. Leonard ist der perfekte Manager, Immobilienfach-
mann, Koch, Unterhalter und ja, er ist wahrscheinlich auch
der perfekte Ehemann.
»Deckst du den Tisch?«, fragt er liebevoll. Sophie beginnt
im angrenzenden Esszimmer den Tisch einzudecken. Im
Gegensatz zum Kochen macht ihr diese Tätigkeit Spaß und
21
20. lenkt sie gleichzeitig von ihren Grübeleien ab. Wenig später
erscheint Leonard mit zwei perfekt gestalteten Tellern; Rin-
derfilet mit Kartoffelgratin und grünen Bohnen. Ein ent-
schuldigendes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Der Anblick
des Dinners stimmt sie milde. Leonard betätigt die Stereoan-
lage mit der Fernbedienung, Musik der Oper »Tristan und
Isolde« hat er ausgewählt. Sophie muss unweigerlich an den
Liebestrank denken, der es erst möglich gemacht hat, dass
Tristan und Isolde zueinander gefunden haben. So einen
Trank hätte sie auch gern, um ihre ständigen Zweifel an ihrer
Beziehung ein für alle Mal zu verlieren.
»Willst du deine Kinder über Weihnachten sehen?« So-
phie ist unsicher, welche Antwort sie erwartet.
»Ich glaube, Claire will über die Weihnachtstage nach St.
Moritz fahren. Ehrlich gesagt habe ich schon darüber nach-
gedacht, ob wir zusammen dorthin fahren.«
»Du willst mit Claire und den Kindern nach St. Moritz
fahren?«
»Nein, entschuldige, ich meinte, wir könnten doch zu-
sammen fahren.«
»Wenn du meinst« Vielleicht wäre es besser gewesen,
wenn sich Claire nie von Leonard getrennt hätte. Sophie
hegt den Verdacht, dass Leonard seine Exfrau nie verlassen
hätte und ihretwegen schon gar nicht. Das tiefe Gefühl des
Misstrauens fräst sich in ihre Gegenwart. Er hätte sich wohl
nie freiwillig für sie entschieden. Welcher Mann verlässt
schon Frau und Kinder für seine Geliebte? Ausgerechnet
Leonard soll so eine Entscheidung gefällt haben? Lächerlich.
Er ist in privaten Dingen manchmal so unentschlossen.
Damals hatte er seine Ehe und seine Geliebte, bis Claire mit
diesem Bauunternehmer durchgebrannt ist, den sie ausge-
rechnet durch Leonard kennen gelernt hat. Ironie des
Schicksals. Als Leonard Sophie eröffnete, dass er sich von
22
21. seiner Frau trennt, hat sie zunächst Purzelbäume geschlagen.
Sie verdrängte, wie schwer es für ihn werden würde. Vor
allem der Abstand zu seinen Kindern macht ihm sehr zu
schaffen. Als sich irgendwann alle Beteiligten mit der neuen
Situation zurechtgefunden hatten, kehrte der Alltag ein. Und
dieser Alltag foltert Sophie zunehmend. Alles in ihr sehnt
sich nach Abwechslung, Abenteuer und sexueller Begierde,
stattdessen sitzt sie – gefangen im oberflächlichen Perfektio-
nismus – mit diesem Mann, für den sie beneidet wird, in
einer Traumvilla in Blankenese.
»Schön, ich kümmere mich gleich morgen um alles«, bie-
tet Leonard an und streichelt Sophie beiläufig über die
Schulter. Es ist, als ob Leonard ihr eine weiche Decke um-
legt, sie aber nur kantige spitze Steine auf der Haut spürt. Je
mehr sie sich dagegen wehrt, umso stärker wird es eine Um-
armung aus Stein. Sophie schüttet den Champagner die Keh-
le herunter und atmet erschöpft aus. »Lass uns darüber in
Ruhe reden. Ich bin müde und würde gern schlafen gehen.«
»Ich bin auch total erledigt. Geh du schon vor, ich kom-
me gleich nach, wenn die Küche wieder in Ordnung ist.«
Sophie nimmt ihr Weinglas sowie ihr neues Buch und
geht nach oben. Im Schlafzimmer setzt sie sich auf das Bett
und schaut nach draußen. Es ist dunkel geworden – die na-
hezu pechschwarze Nacht legt einen Schleier über die Ge-
gend. Für eine Weile kann man kaum die Hand vor Augen
erkennen, bis langsam der Mond die Nacht erhellt. Er wirft
sein kaltes Licht auf die Elbe, einen schmalen Strich auf das
Wasser, das still und glatt wie eine Glasplatte aussieht. Sie
stellt das Weinglas auf den Nachttisch und will nur einen
kurzen Moment ausruhen. Sie kuschelt sich in ihr Kissen
und döst weg. Im leichten Schlaf schleichen sich Bilder in ihr
Unterbewusstsein. Sie steht vor dem Haus, das umgeben ist
von einer unruhigen Nacht. Das Mondlicht lässt das Haus
23
22. gespenstisch aussehen und der Nachtwind wirbelt die Bäu-
me hin und her. Sie schaut nach oben und dann geschieht
etwas Beunruhigendes. Auf dem Baum vor ihrem Fenster
sitzt eine schwarze Krähe – groß, prachtvoll und mit ste-
chenden Raubvogelaugen. Sophie kann ihren Blick nicht von
dem Vogel wenden und es scheint, als ob es dem Tier eben-
so geht. Sie starren sich im gegenseitigen Misstrauen an.
Plötzlich erscheint eine zweite Krähe wie aus dem Nichts
und gesellt sich zu der ersten. Auch dieses Tier hat stechen-
de Augen. Plötzlich erkennt Sophie, dass die zweite Krähe
sich verwandelt; sie hat Simons Kopf und spricht zu ihr.
Sophie hält die Hände vor das Gesicht und als sie wenig
später einen neuen Blick wagt, hat sich die Szenerie verän-
dert. Die Krähen sind verschwunden, dafür sitzt Simon in
voller Gestalt auf dem Baum vor ihrem Fenster. Er ist ganz
in schwarz gekleidet. »Sophie, deine Lügen werden dich um-
bringen, wenn du sie nicht umbringst«, flüstert er. Sophie
schreckt auf und sitzt senkrecht im Bett. Schnell geht sie
zum Fenster und zieht die Vorhänge zu. Dann schmeißt sie
sich auf das Bett und vergräbt ihren Kopf im Kissen.
24
23. Begegnung
Es ist noch früh am Samstagmorgen als Leonard die Ein-
gangstür leise hinter sich zuzieht, um mit seinem Labrador
einen Morgenspaziergang durch den Jenischpark zu unter-
nehmen. Es ist kalt und er trägt einen dicken Kaschmir-
Schal, den er eng um seinen Hals gebunden hat. Der Hund
läuft vorweg und Leonard geht still nochmals seine Rede
durch, die er in ein paar Stunden vor tausend Leuten halten
soll. Sein Bauunternehmen hatte den Zuschlag der Stadt für
die Entwicklung der Zentralbibliothek erhalten. Dafür baute
er gemeinsam mit dem renommierten Hamburger Stararchi-
tekten Beni Nerhadi ein verschachteltes architektonisches
Konstrukt, das an unzählige Puzzlesteine erinnert, die erst in
der Gesamtbetrachtung ein Ganzes ergeben. Heute findet
die offizielle Eröffnungsfeier statt, zu der neben dem Bür-
germeister und der Hamburger Bürgerschaft bedeutende
Wirtschaftsvertreter erwartet werden. Leonard schaut auf
seine Uhr; ein wenig Zeit bleibt ihm und er biegt nach rechts
in das dichte Waldstück ab, um einen Umweg einzuschlagen.
Er folgt seinem Labrador ein Stück weit in das Dickicht.
Plötzlich gelangt er in einen Bereich des Waldes, der ihm
sonderbar vorkommt. Er pfeift seinen Hund zurück und
bleibt stehen. Die Bäume wachsen unnatürlich verschachtelt
an dieser Stelle und sind so kreisförmig angeordnet, dass die
schwachen Sonnenstrahlen kaum hindurchgelangen. Le-
onard nähert sich und entdeckt Spuren im Schnee. Schnell
prüft er, ob die Spuren irgendwo hinführen, aber sie verlau-
fen sich sofort wieder. Sie beschränken sich lediglich auf
einen kleinen Bereich. Leonard tätschelt den Kopf seines
Hundes, der geduldig neben ihm wartet, und legt die Stirn in
Falten. Neugierig geht er ein paar Schritte vor und studiert
die eigenartigen Muster. Es sieht so aus, als ob hier ein
25
24. Kampf stattgefunden hat, der Schnee ist fest getreten und an
den Rändern erkennt er fünf nebeneinander liegende, unge-
fähr dreißig Zentimeter lange Striemen, die so angeordnet
sind, dass sie von einer riesigen Hand hätten stammen kön-
nen. Leonard läuft es eiskalt den Rücken runter, als er sich
im Geist die Kreatur dazu vorstellt und ärgert sich zugleich
über seine kindhafte Phantasie. Doch dann fällt sein Blick
auf etwas Dunkles, das unter dem Frost verborgen ist. Es
sieht aus wie ein Gesicht mit eingefrorenen Haaren, dunkle
Locken. Erschrocken macht er auf dem Absatz kehrt, rennt
so schnell er kann und macht erst wieder halt, als er völlig
außer Atem ist. Er wischt seine Panik beiseite und muss fast
über sich selbst lachen. Im Wald kann schon mal ein totes
Tier liegen, beruhigt er sich und als er wenig später sein
Haus erreicht, hat er den seltsamen Zwischenfall im Wald
vergessen.
Nachdem er sich umgezogen hat, macht er sich auf den
Weg zur Eröffnungsfeier der neuen Bibliothek auf dem
Domplatz. Er fährt mit seinem Porsche die Elbchaussee
entlang. Die herrschaftlichen Anwesen des luxuriösen Ham-
burger Stadtteils Blankenese liegen zu seiner Linken; sie
strahlen unter ihren Schneekapuzen etwas Selbstzufriedenes
aus. Er tippt auf den CD-Wechsler, um das Klavierkonzert
No. 1 von Chopin zu starten. Leonard stammt aus einer
musikalischen Familie, von früher Kindheit an ist er mit der
Klassik aufgewachsen – seine Mutter war Opernsängerin
und sein Vater Pianist, daher hat er sein begnadetes Talent
zum Klavierspielen geerbt. Irgendwann erreicht er die groß-
zügige Auffahrt der neuen Zentralbibliothek. Es kommt ihm
vor, als ob nicht tausend, sondern mindestens zweitausend
Gäste der Einladung gefolgt sind. Fast hätte er keinen Park-
platz mehr gefunden, bis er schließlich eine Parklücke ent-
deckt. Er manövriert seinen Wagen gekonnt zum Parken.
26
25. Auf dem Fußmarsch zum Gebäude mustert er die neue Bib-
liothek, die er konstruiert hat. Stolz verfolgt er, wie das Licht
auf jedem einzelnen Fenstersegment exakt gleichmäßig
bricht und der Immobilie dadurch einen ruhenden Charakter
verleiht. Als er das Entree erreicht, wird er von unzähligen
Menschen begrüßt und schüttelt ebenso viele Hände.
»Herzlichen Glückwunsch, Herr Goldberg, dieses Ge-
bäude ist ein Meisterwerk«, begrüßt ihn der Hamburger Bür-
germeister, Dr. Manuel Sagini.
»Vielen Dank, Herr Bürgermeister. Gerade recht für
Hamburg«, erwidert Leonard.
»Ich gönne Ihnen Ihren Erfolg. Der plötzliche Tod ihres
Geschäftspartners hat uns alle getroffen. Ich freue mich zu
sehen, dass sie trotzdem weitermachen und Erfolge einfah-
ren.«
»Ich bin Ingenieur und habe noch nie etwas anderes ge-
macht als Immobilien zu entwickeln.«
»Da haben Sie absolut Recht. Ich habe gehört, dass der
Tod von Herrn Stein immer noch nicht aufgeklärt wurde.«
»Bedauerlicherweise. Das ist auch das Schlimmste an sei-
nem Tod. Es ist ungeklärt, ob er ermordet wurde, oder ob es
vielleicht doch ein Unfall war. Meiner Meinung nach ist er
entführt und umgebracht worden. Er hätte sich nie das Le-
ben genommen. Dafür wäre er einfach nicht der Typ gewe-
sen.«
»Das hätte ich mir auch nicht vorstellen können. Der Fall
ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber die Polizei lässt ihre
Arbeit ruhen, bis neue Hinweise aus der Bevölkerung auf-
tauchen.«
»Am bittersten ist dies für die Familie. Allein die Angst,
dass der Mörder vielleicht noch auf freiem Fuß ist und unter
uns in Hamburg lebt, ist unerträglich.« Leonard trinkt einen
Schluck Mineralwasser.
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26. »Das kann man wohl sagen. Ich wünsche Ihnen das Bes-
te. Ach, bevor ich es vergesse, es gibt ein neues Projekt, bei
dem ich gern mit Ihnen zusammenarbeiten würde. Mein
Sekretariat wird sich mit Ihnen zwecks eines Termins in
Verbindung setzen, wenn Sie erlauben.«
»Selbstredend. Jederzeit gern.«
Langsam wird es ruhiger im Saal; neben dem Bürgermeis-
ter versammeln sich die Präsidentin der Bibliothek, der Ar-
chitekt Beni Nerhadi sowie der Bauleiter vor dem Auditori-
um. Auch Leonard macht sich auf den Weg zum Stehpult,
das vor der großen Fensterfront aufgebaut worden ist. Es
folgen die üblichen Ansprachen und als Leonard an der Rei-
he ist, versucht er seine Rede so kurz wie möglich zu halten.
Die Präsidentin beendet schließlich den Begrüßungsmara-
thon und kündigt eine besondere Künstlerin an. Leonard
steht augenblicklich wie angewurzelt da, als sein Blick auf sie
fällt, ihr Körper löst sich aus der Menge und sie kommt di-
rekt auf ihn zu. Zumindest bildet er sich das ein, aber Anna
würdigt ihn keines Blickes, sondern positioniert sich kon-
zentriert in einem perfekten Winkel vor dem Publikum. Sie
trägt ein Seidenkleid aus den Farben der Nacht − persisch-
blau und schwarz. Respektvoll verstummt das Auditorium
und Anna singt »Ariettes oubliées« von Debussy.
Leonard beobachtet, wie sich ihr Dekolleté im Takt hebt
und senkt, um die reinen Klänge zu stützen, die sich in ih-
rem Inneren verbergen. Das schwarze Haar hat sie zu einem
kunstvoll geflochtenen Werk hoch gesteckt, wodurch sie
ihm fremdartig griechisch vorkommt. Die Klänge ihrer
Stimme treffen Leonard wie Stiche auf der Haut. Annas
Sopranstimme ruft in ihm Erinnerungen an seine Kindheit
wach, nur anstatt väterlicher Gefühle, macht sich in ihm eine
aggressive sexuelle Begierde breit. Er jagt sie durch den
Schnee, hetzt sie kilometerweit über weiße Felder. Irgend-
28
27. wann reißt er sie an den Haaren ins Hohlkreuz, ihr unglaub-
lich langes pechschwarzes Haar macht ihn rasend. Er drückt
ihr seine Finger in den Mund und sieht wie ihr tiefroter Lip-
penstift über ihr Gesicht verläuft. Leonard rückt ein Stück
weiter nach rechts, sodass er nun unterhalb des Bauchnabels
von dem Stehpult verdeckt wird. Auf seinen Wangen hat
sich eine dezente Röte gebildet. Er denkt an Sophie, Sophie
mit ihrer Selbstbeherrschung; die Kontrolle einer Akademi-
kerin über die Emotionen. Manchmal ist sie ihm unglaublich
ähnlich. Er weiß, dass eben diese Gefühlskälte und falsche
Selbstdisziplin ihn seine Ehe gekostet haben. Vielleicht kann
er nur mit einer Frau wie Sophie zusammen sein. Anna ist so
lebendig, fröhlich und unschuldig. Bestimmt würde sie ihn
bald langweilig finden. Ihre kindhafte Unschuld ist es, die
ihn fesselt. Plötzlich verstummt ihre bezaubernde Stimme
und Anna macht einen eleganten Knicks vor dem Auditori-
um, das zum Dank in einen lang anhaltenden Applaus ein-
stimmt. Im Anschluss wird das Büffet eröffnet; es entwickelt
sich ein angenehmer Lärmpegel.
»Hallo Leonard, wie geht es dir?«
»Anna! Gut, danke. Schöner Auftritt.« Leonard räuspert
sich unbeholfen, während er sich an einem Kanapee festhält.
Zum zweiten Mal hat er Mühe, die Contenance zu wahren.
»Schöne Bibliothek«, gibt sie schnippisch zurück, »hast du
gleich Zeit für mich, ich möchte mit dir etwas besprechen.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Hast du Zeit oder nicht?«
»Ja, in Ordnung. Eine halbe Stunde muss ich noch hier
bleiben.« Leonard fühlt sich genötigt.
»Okay, dann treffen wir uns in einer halben Stunde drau-
ßen. Ich ziehe mich schnell um. Bis gleich.« Sie eilt davon.
Obwohl es Leonard eigentlich nicht passt, den Empfang
so frühzeitig zu verlassen, macht er sich zur vereinbarten
29
28. Zeit auf den Weg. Er erblickt Anna bereits aus einiger Ent-
fernung, sie wartet auf ihn mit verschränkten Armen in der
Lobby. Sie trägt jetzt eine Jeans und einen eng anliegenden
Rollkragenpullover über dem sie offen einen Anorak gezo-
gen hat. Er ist nervös und seine Nervosität nimmt mit jedem
Schritt zu. Seine Unsicherheit bleibt ihr nicht verborgen, und
als er direkt vor ihr steht, küsst sie ihn flüchtig auf den
Mund, wobei sie sich ein schelmisches Grinsen nicht ver-
kneifen kann. Sie gehen zu seinem Auto und steigen ein.
»Wo soll es denn hingehen?«
»Fahr einfach los, bitte.«
»Ich merke schon, Fragen sind unerwünscht.«
Leonard traut sich nicht, sie anzuschauen, sondern hält sei-
nen Blick angestrengt auf der Straße. Sie sitzen schweigend
nebeneinander und lauschen der klassischen Musik, zu der
beide einen besonderen Zugang haben. Beide erinnern sich
unabhängig voneinander an ihre erste Begegnung auf der
Adventsfeier, an ihr gemeinsames Duett. Obwohl sie sich
damals fremd waren, kam es ihnen nie so vor. Die Musik
verbindet sie auf einer unsichtbaren Ebene.
»Lass uns eine Barkassenrundfahrt auf der Elbe unter-
nehmen«, bittet sie, und ihr Wunsch klingt bei diesen Tem-
peraturen absurd.
»In Ordnung«, erwidert er trocken, da er eingesehen hat,
dass Widerstand zwecklos ist. Wenig später springen sie auf
eine der Barkassen, die trotz des kalten Winters auf der Elbe
ihre Runden drehen. Als sie von den Landungsbrücken able-
gen, setzen sich die zahlreichen Eisschollen in Bewegung,
die in diesen Tagen die Elbe bedecken. Eisiger Wind beglei-
tet sie an Bord und Anna drückt sich an ihren unfreiwilligen
Begleiter. Wenig später wechseln sie unter Deck.
»Anna, was wolltest du mit mir besprechen?«
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29. »Es geht um Simon. Du bist der Einzige, mit dem ich
darüber reden kann.« Sie macht eine Pause, um ihre Worte
wirken zu lassen. Sie kann es nicht erklären, aber aus irgend-
einem Grund vertraut sie diesem Mann. »Das klingt jetzt
merkwürdig, Leonard, aber ich weiß, dass er in Gefahr
schwebt. Ich kann es natürlich nicht begründen, aber eine
Frau spürt so etwas.«
»Was gibt es denn für Anhaltspunkte, dass du dir so si-
cher bist?«
»Es geht um die linke Szene. Die Autonomen wollen
immer mehr Gebäude in Hamburg besetzen. Seitdem Simon
die Rote Flora von der Stadt gekauft hat, mache ich mir gro-
ße Sorgen um ihn. Wusstest du, dass er unter Personen-
schutz des Landeskriminalamtes steht? Man hat ihm Sicher-
heitsstufe 2 zugeteilt. Stufe 1 hat der Bürgermeister!«
»Das finde ich zunächst gut, Anna. Wenn die Stadt ihre
schützende Hand über ihn hält, sollte das für dich eher ein
Grund sein, dich zu beruhigen.«
»Das Gegenteil ist der Fall. Mehrfach wurden Sprengsätze
an seinen Autos angebracht. Zum Glück hatte Simon jedes
Mal Vorahnungen, sodass nichts passiert ist.«
Leonard nimmt sie fremd gesteuert in den Arm. »Meine Sü-
ße, was kann ich denn jetzt tun?«
»Sei einfach da.«
»Ich versuche, da zu sein.«
»Ich meine, sei da, wenn Simon nicht mehr da ist.«
Leonard schaut sie überrascht an. Im Grunde hat er sich
nie Gedanken darüber gemacht, in welcher Gefahr Simon
schwebt, jetzt, als Anna ihre Angst offen ausspricht, ist ihm
mulmig zumute. Simon ist das neue Feindbild der Linken in
Hamburg. Und dennoch traut er ihm zu, sehr genau zu wis-
sen, was er tut. Leonard ist verunsichert. Warum kommt
Anna ausgerechnet zu ihm?
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30. »Anna, hast du Grund zur Annahme, dass jemand Simon
töten will?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich nicht mehr weiß.«
Ihre Stimme klingt gelangweilt als sie ihren Mund zu einer
Schnute zieht. Sie verlassen beim Anleger Teufelsbrück die
Barkasse und flanieren die verschneite Promenade entlang.
Leonard studiert sie einen Moment lang oberflächig. Ja, sie
ist jung, aber irgendetwas in ihren Augen verrät ihm, dass sie
genau weiß, wovon sie spricht. Sie schaut ihn durchtrieben
an und berührt mit ihren Lippen seinen Mund. Er fühlt sich
plötzlich so stark zu ihr hingezogen, dass es ihn lähmt.
»Lass uns ins Jacob gehen«, schlägt er unverhohlen vor.
Nachdem sie den Eingang des nahe gelegenen Fünf-Sterne-
Hotels betreten haben, das malerisch eingebettet am
Elbhang liegt, checkt Leonard ein. Auf ihrem Hotelzimmer
angekommen bleibt kaum Zeit, bis sie sich entkleidet haben.
Ohne ein Wort finden sie sich in der Dusche wieder – das
warme Wasser, das von oben auf sie niederprasselt, wirkt wie
ein Aphrodisiakum. Anna kniet sie sich auf den Boden und
betrachtet seinen Schwanz, der ihm majestätisch gerade steht
und dazu einlädt, ihn mit dem Mund zu liebkosen. Es ist
gedankenlos und zugleich bedenklich, unausweichlich und
zugleich unüberlegt – ohne Gewissensbisse und Moral –
vielleicht nur konsequent.
Irgendwann tauschen sie die Dusche gegen das Kingsize-
Bett; nackte Haut klebt an den Laken und Leonard wirft das
lästige Bettzeug zur Seite, um anschließend ihr Gesicht in die
Hände zu nehmen. Mit ihrem nassen Haar, das widerspens-
tig nach allen Seiten absteht, ist sie eine Eingeborene, die er
gefangen hält. Als ob er sich augenblicklich Gewissheit über
die Folgsamkeit seines Raubs verschaffen muss, schaut er ihr
sekundenlang in die Augen, bevor er seine Zunge in sie hin-
einsteckt. Automatisch wandert seine Hand zwischen ihre
32
31. Beine, um sie aufstöhnen zu lassen. Ihr zustimmendes Stöh-
nen und ihre unendlich langen Beine, die fast an den Enden
des Bettes nach unten zu fallen drohen, fordern ihn heraus
und laden ihn gleichzeitig ein, sich das zu nehmen, was er
verlangt. Mit einem tiefen Stoß gleitet er in sie ein. Sie
schiebt ihr Becken nach oben und klammert sich an ihn. Er
spürt ihre langen Beine in Form einer Zange seinen Rücken
fesseln, was ihn zusätzlich aufgeilt, und er setzt seine Bewe-
gungen fort. Dann gelingt es ihr, sich nach oben zu bringen
und seine Handgelenke hinter seinen Kopf zu drücken, ohne
den gemeinsamen Rhythmus zu unterbrechen. Anna löst
ihren Griff und beugt sich nach hinten, um ohne Aufforde-
rung zu ihrer ersehnten Erlösung zu kommen, und Leonard
passt diesen Zeitpunkt ab, um ihn mit ihr zu teilen. Es
kommt ihnen vor, als ob ihre Klangkörper sich vereinen.
Eine gefühlte Ewigkeit später fragt er sich, wie er mit der
neuen Situation umgehen soll. Er schaut aus dem Fenster.
Draußen schneit es. Die Schneeflocken rieseln gleichmäßig
durch die Luft, legen sich auf die Erde und bilden einen
weißen Schleier. Er streichelt ihren zarten Körper, der von
oben bis unten wie mit Samt überzogen neben ihm liegt, und
träumt einen Traum.
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