Die Seele - Woher und Wohin: Die Reise der Seele von Hazrat Inayat Khan.
In „Die Seele – Woher und Wohin“ beschreibt Hazrat Inayat Khan den Weg der Seele, die sich als ein Lichtstrahl aus der Einheit Gottes löst, sich ein Gewand aus Gedanken und Gefühlen zulegt und dann einen physischen Körper, um den Zweck der Schöpfung zu erfüllen, alles mit göttlichem Bewusstsein zu durchdringen. Dann kehrt sie reich an Erfahrungen und ihrer selbst bewusst zu ihrem Ursprung zurück.
Hazrat Inayat Khan hat diese Vorträge 1923 gehalten. Sie werden ergänzt durch Fragen der Zuhörer nach dem Gesetz der Schwingungen, nach Magnetismus, Reinkarnation, Begegnung mit Engeln und nicht zuletzt dem Sinn des Lebens. Seine Antworten zeigen uns, dass Mystik und Naturwissenschaft, Religion und Musik aus derselben Quelle stammen.
„Die Seele hat keine Geburt und keinen Tod, keinen Anfang und kein Ende.
Weder kann Weisheit sie öffnen, noch kann Unwissenheit sie verdunkeln.
Sie ist immer gewesen, und sie wird immer sein.“
Weitere Informationen: www.verlag-heilbronn.de
7. Vorwort
„The Soul - Whence and Whither“ – „Die Seele - Woher und Wo-
hin“ ist der Titel einer Reihe von Vorträgen, die Pir-o-Murshid
Hazrat Inayat Khan 1923 in Suresnes in Frankreich während der
Sommerschule der Sufi - Bewegung hielt.
Zwischen dem 2. Juli und dem 1. August 1923 hielt Hazrat
Inayat Khan zehn Vorträge über „the body“, „the mind“ und „the
soul“ (den Körper, das Gemüt und die Seele) unter der Hauptüber-
schrift „Metaphysik“. Am 10. August 1923 begann er drei Reihen
von Vorträgen mit den jeweiligen Titeln: „Die Seele auf dem Weg
zur Manifestation“, „Die manifestierte Seele“ und „Die Seele auf
ihrem Weg zum Ziel“, die zu Teil 1, 2 und 3 von „Die Seele - Wo-
her und Wohin“ wurden, wobei die Vorträge über „Metaphysik“
im zweiten Teil eingefügt wurden. Diese Reihen wurden am 19.
September, dem letzten Tag der Sommerschule, abgeschlossen, als
er das vortrug, was zur Einführung und zur abschließenden Zusam-
menfassung dieses Werks wurde. Im Mai 1924, kam die erste Aus-
gabe des Buches mit dem Titel „The Soul - Whence and Whither“
heraus. Die Grundlage des Textes waren Mitschriften verschiedener
Zuhörer, die von Hazrat Inayat Khan überarbeitet und ergänzt wur-
den.
In den ersten zwei veröffentlichten Fassungen des Buches wa-
ren keine Fragen und Antworten enthalten, aber einige davon er-
schienen in den Ausgaben der Zeitschrift „Sufismus“ in den Jahren
1923 und 1924, die von Frau E. M. Green herausgegeben wurde.
Genaue und vollständige Aufzeichnungen der Fragen und Antwor-
ten sind oft nicht erhältlich, denn während Hazrat Inayat Khans
gesprochene Worte während seiner Vorträge genau nieder- geschrie-
ben werden konnten, war dies beim Austausch der Fragen und Ant-
worten nicht immer der Fall.
Der hier vorliegenden deutschen Übersetzung liegt hauptsäch-
lich die neueste Ausgabe der Nekbakht Stichting Foundation, er-
schienen bei East-West-Publications 1988, zugrunde. Diesen Text
ergänzten wir mit der Ausgabe von East-West-Publications 1984.
Einige Fragen und Antworten, die nicht direkt im Zusammenhang
6
8. mit dem Thema stehen, haben wir dabei ausgelassen. Die Num-
merie- rung der Kapitel entspricht dem, wie die Vorträge gehalten
worden sind, was auch durch das angefügte Datum sichtbar wird.
Für Hazrat Inayat Khan war Sprache Musik, und in den Worten sah
er verborgene Musik. Wir haben diese Musik soweit wie möglich in
die deutsche Sprache übernommen.
Für das englische Wort „mind“, verwandt mit dem Sanskritwort
„manas“, gibt es im Deutschen kein entsprechendes Wort. Die
Bedeutung reicht von Gemüt, Denken und Fühlen, Verstand, Geist,
Bewusstsein bis hin zu Herz. Eigentlich ist es die Fähigkeit zu den-
ken und zu fühlen. Wir haben uns entschlossen, es je nach Zusam-
menhang mit einem dieser Begriffe zu übersetzen.
Das von Hazrat Inayat Khan benutzte Wort „Zentren“ bedeutet
„Chakren“. Dieser Begriff war 1923 in Europa noch weitgehend
unbekannt. Wir haben das Wort „Zentren“ wörtlich übersetzt,
allerdings in diesem Zusammenhang „head“ oder „head-center“ mit
„drittes Auge“ übersetzt.
Die Geschichte der Seele, die in diesem Buch erzählt wird, muss
im wesentlichen von unserer Seele verstanden werden. Was ist unse-
re Seele? Hazrat Inayat Khan versucht, dies verständlich zu machen,
aber um unsere Seele zu erkennen, müssen wir durch einen Prozess
gehen, in dem die vielen Schleier gehoben werden, unter denen wir
sie verborgen haben. Das ist die ganze Übung der Sufis, und das
wird in allen Lehren von Hazrat Inayat Khan erklärt.
Aeoliah-Christa Muckenheim
Weinstadt, im Oktober 2003
7
10. Pir-o-Murshid
Hazrat Inayat Khan
Die Seele
Woher und Wohin
Die Seele hat keine Geburt, keinen Tod,
keinen Anfang, kein Ende.
Sünde kann sie nicht berühren
und Tugend nicht erhöhen.
Weder kann Weisheit sie öffnen,
noch kann Unwissenheit sie verdunkeln.
Sie ist immer gewesen, und sie wird immer sein.
Dies ist das wahre Sein des Menschen,
und alles andere ist sein Schleier,
wie ein Schirm über dem Licht.
Die Entfaltung der Seele geschieht
aus ihrer eigenen Kraft,
die im Durchbruch durch die Verbindungen
der niederen Ebenen endet.
Sie ist von Natur aus frei und sucht nach Freiheit
während ihrer Gefangenschaft.
Alle Heiligen der Welt sind so geworden,
indem sie die Seele befreit haben,
ihre Freiheit ist das einzige Ziel,
das es im Leben gibt.
Hazrat Inayat Khan
in: Metaphysik
9
12. Einführung
19. September 1923
Was existierte vor der Manifestation? Zat, die Essenz des Seins, das
wahrhaft Existierende, das Einzig Seiende. In welcher Form? In kei-
ner Form. Als was? Als nichts. Die einzige Definition, die Worte ge-
ben können, ist: das Absolute. In der Sufi-Terminologie wird diese
Existenz ahadiat genannt.
Aus diesem Absoluten heraus wuchs Bewusstsein, das Bewusst-
sein der Existenz. Ausser Seiner Existenz gab es nichts, dessen
sich das Absolute bewusst sein konnte. Diese Stufe wird wahdat
genannt. Aus diesem Bewusstsein der Existenz heraus entwickelte
sich ein Gefühl, das Gefühl, dass „ich” existiere. Diese Entwicklung
bildete das Ego, den Logos, was von den Sufis wahdaniat genannt
wird. Mit dem Gefühl von Ich-heit zog sich die dem Absoluten
innewohnende Kraft sozusagen zusammen, mit andern Worten, sie
konzentrierte sich auf einen Punkt. So bildete die alles durchdrin-
gende Strahlung ihr Zentrum, das Zentrum, das der Heilige Geist
ist oder das Licht; in der Sufi - Terminologie wird es arwah genannt.
Dieses zentrierte Licht teilte dann die Existenz in zwei Formen:
Licht und Dunkelheit. Tatsächlich gibt es so etwas wie Dunkel-
heit nicht, es hat nie Dunkelheit gegeben. Es gibt nur mehr Licht
verglichen mit weniger Licht. Diese beiden - Licht und Dunkel-
heit - bildeten akasha, oder in der Sufi - Terminologie asman, ei-
nen Raum, eine Form. Das Phänomen von Licht und Schatten, das
durch diese Form wirkt, brachte in der Manifestation viele Räume
hervor, asmans oder akashas. Jeder Schritt der Manifestation führ-
te zu einer Vielfalt von Formen, die aus verschiedenen Substanzen
bestehen, die während des Verwandlungsprozesses des Geistes in
Materie hervorgebracht werden. Die Wirkungsweise dieses Prozes-
ses ent- spricht dem Gesetz der Schwingung, die das Geheimnis der
Bewegung ist. Das ist die Ebene der festen Formen der Natur, die
von den Sufis ajsam genannt wird.
Aus diesen Formen heraus entwickelten sich nach und nach
11
13. aus dem Mineralreich das Pflanzenreich, aus dem Pflanzenreich das
Tierreich und aus dem Tierreich die Menschheit, insan. So besorg-
ten sie für den göttlichen Geist - arwah - die Leiber - ajsam -, de-
ren er von der Zeit an bedurfte, da er sich selbst auf einen Punkt
konzentrierte und von dort seine Strahlen als verschiedene Seelen
ausbreitete.
Ausser dem Phänomen der vier Elemente: bad - Luft, atesh
– Feuer, ab - Wasser, khak - Erde, gibt es eines, den Äther, der Ur-
sprung und Ziel aller Elemente ist, der fünf aus ihnen macht. Diese
Elemente haben in Einklang miteinander und gegeneinander ge-
wirkt, um die Ergebnisse hervorzubringen, die von der göttlichen
Weisheit, die hinter ihnen wirkt, erwünscht sind. In jeder akasha
oder asman sind sie mehr oder weniger gegenwärtig. Eines kann
ohne das andere nicht existieren, miteinander bringen sie das fünfte
hervor. Auf diese Weise fand die ganze Manifestation als ein all-
mählicher Entwicklungsprozess statt.
Die Manifestation erfüllt die Hälfte ihrer Aufgabe mit der Er-
schaffung des Menschen, in dem die Weisheit geboren wurde, alles
auf der Erde zu ihrem Besten zu kontrollieren und zu nutzen. Im
Menschen ist das Ziel der Manifestation ganz und gar erfüllt, be-
sonders in einem solchen, der sich auf seiner Rückreise dieses Ziels
mehr und mehr bewusst wird, indem er seinen Blick weitet und
ein erfüllteres Leben lebt - der Mensch, der die Stufe der Verwirk-
lichung erreicht hat, die Göttlichkeit genannt wird und in der die
Erfüllung des Ziels der ganzen Manifestation liegt.
So werden von den Sufis sechs klar bestimmte Schritte in Rich-
tung auf die Manifestation erkannt. Die ersten drei werden tanzi
genannt und die nächsten drei tashbi. Die ersten drei sind nicht
wahrnehmbar, die nächsten drei sind unterscheidbar.
Frage: Ist nicht der erste Zustand von Bewusstsein, der unbewusst
ist, unmöglich für den menschlichen Verstand zu begreifen?
Antwort: Das ist sicherlich richtig, aber die Seele hat die Mög-
lichkeit, ihn zu verstehen. Wenn dem nicht so wäre, hätte die
Offenbarung nicht stattfinden können. Offenbarung ent- steht
nicht nur als eine Inspiration, sondern als eine Erfahrung der
Seele, das ist ihr Sinn. Deshalb ist es für den Verstand unmög-
12
14. lich, sie zu verstehen, aber für die Seele ist sie ihre eigene Er-
fahrung.
Frage: Aus welcher Sprache kommen die Worte „zat, bad und
khak”?
Antwort: Sie kommen ursprünglich aus dem Hebräischen, wur-
den dann ins Arabische und Persische übernommen und von
den alten Sufis verwendet.
Frage: Welches ist die deutlich erkennbare Stufe der Schöpfung, in
der Gott dem Menschen seinen Atem einhauchte?
Antwort: Das ist jene deutlich erkennbare Stufe der Schöpfung,
die von den Sufis als insan erkannt wird, was gerade erwähnt
wurde. Das war die Zeitspanne, als Adam geboren wurde, als
die Schöpfung des Menschen stattfand.
Frage: Existierte das Wesen Gottes nicht vor der Manifestation als
eine Trinität in Einheit?
Antwort: Vor der Manifestation existierte das Wesen Gottes als
alles, alles war in ihm: Einheit, Trinität, Dualität, Nicht-Dua-
lität, aber nicht klar unterschieden. Wenn es nicht da gewesen
wäre, wie hätte es dann in Erscheinung treten können? Es exis-
tierte alles, aber dahinter und darüber - was existierte? Gott, das
Einzig Seiende. Die Kenntnis von zwei, drei, vier oder fünf ist
für uns, zu unserem Wohl, um uns zu helfen, die Dinge bes-
ser zu verstehen, aber die wahre Kenntnis ist die Kenntnis von
Einheit, vom Einen, vom Einzig Seienden.
Frage: Waren die vier Elemente Teil der Manifestation oder Teil des
Lebens des Einzig Seienden?
Antwort: Sie sind alle das Ergebnis. Dualität ist das Ergebnis
der Manifestation. Im Ursprung ist nur Einheit, Einssein. Alle
Zweiheit in jeglicher Form ist Manifestation.
13
15. Frage: Wir hören, dass über sie gesprochen wird als große Wesen.
Antwort: Diese vier Kräfte sind große Kräfte, die durch alle
Ebenen der Existenz hindurch wirken und dabei in vielfältiger
Form ihre Rolle spielen.
Frage: Da Denken Bewegung und mentale Tätigkeit erfordert, ist
es schwierig, sich vorzustellen, wie es vor der Manifestation im Ab-
soluten wuchs.
Antwort: Im Absoluten wuchs kein Denken. Bewusstsein war
seine Neigung, die in ihm war, in seinem Wesen. Dieses Be-
wusstsein erwachte, ebenso wie ein Mensch, der schläft. Es ist
seine Natur zu erwachen, er erwacht aus dem Schlaf. Das Erwa-
chen war der erste Impuls zur Manifestation hin. Dieser klare
Impuls wird wahdat genannt. Aber diese zwei klaren Ebenen zu
verstehen, ist ziemlich schwierig, weil der Unterschied zwischen
wahdat und wahdaniat sehr fein und subtil ist. Bewusst werden
ist das eine; sich seiner selbst bewusst werden ist etwas anderes.
Wenn ein Schlafender nur ein wenig erwacht, wird ein leises
Geräusch ihm sagen, dass da etwas los ist. Und doch ist er noch
nicht seiner selbst bewusst. Das kommt, wenn er wacher ist.
Wahdat bedeutet: als das Absolute bewusst wurde.
Wahdaniat bedeutet: als das Absolute voll erwachte und Sein
Wesen fühlte als „Ich bin”. Diese Handlung brachte die Kraft
des Einatmens hervor, die Kraft, sich selbst zusammenzuzie-
hen. Sobald Er dachte: „Ich bin”, wurde Er für Sich Selbst eine
bewusste Existenz als „Ich bin”. Deshalb ist es der Logos.
Frage: Sind nicht alle fünf Elemente in ihrer Essenz farblos?
Antwort: In der Essenz ist alles farblos. Je näher man der Essenz
kommt, um so weniger Farbe gibt es. Aber in der äußeren Welt
werden sie durch Farben unterschieden.
Frage: Hat die Manifestation im ganzen Universum denselben
Punkt in der Evolution erreicht, oder gibt es verschiedene Stadien
der Manifestation zur selben Zeit und am selben Ort?
14
16. Antwort: Ja, es gibt verschiedene Stadien an verschiedenen Or-
ten. Einige sind weiter entwickelt, einige weniger weit.
Frage: Gab es je eine Zeit, in der es kein Bewusstsein für das abso-
lute Sein Gottes gab, keinerlei Leben irgendwo?
Antwort: Stilles Bewusstsein. Wir können stilles Bewusstsein
nicht kein Bewusstsein nennen. Wenn es kein Bewusstsein ge-
geben hätte, hätte es nie ein Bewusstsein geben können. Die
Entwicklung des Bewusstseins des Einzig Seienden brachte das
Selbst-Bewusstsein hervor. Aus dem tiefen Bewusstsein wuchs
das Einzig Seiende und kam zum Selbst-Bewusstsein.
15
17. Seelen sind Strahlen dieser Sonne, die im Sanskrit Brahma genannt
wird. Die Natur des Strahls ist es, sich auszubreiten und zusammenzu-
ziehen, zu erscheinen und zu verschwinden.
Wenn wir das Licht und die Flammen studieren, werden wir ent-
decken, dass nicht alle Strahlen gleich weit reichen. Einige reichen sehr
weit, einige bleiben dicht bei der Flamme. Jeder Strahl, ob groß oder
klein, hat eine unter- schiedliche Reichweite.
Die Seele ist ein Strahl der Sonne, die der Unendliche Geist ist.
Der Strahl ist eine Handlung der Sonne, die der Strahl selbst ist. Er
offenbart sich und kehrt zurück, so wie der Mensch ein- und ausatmet.
16
19. Kapitel 1
10. August 1923
Der göttliche Geist ist den Mystikern aller Zeiten als die Sonne
bekannt, und deswegen wurde die Sonne in allen alten mystischen
Symbolen als Zeichen Gottes dargestellt. Diese Auffassung hilft
uns, in der Kenntnis der Metaphysik weiterzukommen. Die Sonne
ist jener Aspekt des absoluten Gottes, in dem Er beginnt sich zu
mani- festieren, und Sein erster Schritt in die Manifestation ist jene
Zusammenziehung, die in allen Lebewesen und in allen Dingen zu
sehen ist. Zusammenziehung ist das erste, was stattfindet, und dann
Ausdehnung. Die erste Neigung ist der Wunsch einzuatmen und
die spätere auszuatmen. Die Zusammenziehung und Ausdehnung,
die in allen Aspekten des Lebens zu sehen sind, kommen von Gott
selbst.
Das allgegenwärtige Licht wurde durch diese Neigung kon-
zen- triert; dieses konzentrierte Licht der Intelligenz wird von den
Mystikern als Sonne erkannt. Shams-i-Tabriz erwähnt das in seinen
Versen: „Als die Sonne Seines Antlitzes gewahr wurde, begannen die
Atome beider Welten in Erscheinung zu treten, so wie Sein Licht
niederfiel; und jedes Atom wurde geschmückt mit einem Namen
und einer Form.” Die Hindus haben das im Vedanta chaitanya ge-
nannt, den Geist oder das Licht Gottes. Im Koran wird es erwähnt:
„Wir haben dein Licht aus Unserem Licht erschaffen, und aus die-
sem Licht haben wir das ganze Universum erschaffen.”
Einfach ausgedrückt erklärt dies, dass es, als es nichts gab - keine
Form, keinen Namen, keinen Menschen, keinen Gegenstand -, In-
telligenz gab; und die Zusammenziehung dieser Intelligenz brachte
ihre Essenz in eine Form von Licht, die der Göttliche Geist genannt
wird, und die Ausdehnung desselben Lichtes war die Ursache der
ganzen Manifestation. Einfach ausgedrückt: Manifestation ist die
Ausatmung Gottes, und was von den Hindus laya genannt wird -
Zerstörung oder das Ende der Welt -, das ist die Einatmung Gottes.
Der göttliche Geist breitet sich aus; das nennen wir Manifestati-
18
20. on, die vielfältige Namen und Formen enthält; und Gott zieht Sich
Selbst zusammen, was von der Menschheit gefürchtet wird und
Zerstörung genannt wird.
Deswegen tadeln viele Menschen Gott, manche verurteilen ihn,
und manche finden es von Gottes Seite aus unfair, zu erschaffen
und zu zerstören. Aber für Gott, der das Einzig Seiende ist, ist das
die natürliche Voraussetzung unter der Er ewig lebt. Der Anfang
und das Ende der Welt ist nur Sein einer Atem, der unendlich viele
Jahre lang dauert. Während dieses einen Atems wurden Myriaden
von Wesen geboren, lebten und starben und erfuhren diese Welt
und jene Welt, den Himmel und den entgegengesetzten Ort, in
ihrer ganzen Fülle.
Seelen sind daher Strahlen dieser Sonne, die im Sanskrit Brahman
genannt wird. Die Natur des Strahls besteht darin, sich auszudeh-
nen und sich zurückzuziehen, zu erscheinen und zu verschwinden,
und die Dauer seiner Existenz ist kurz verglichen mit der Dauer des
ewigen Gottes, des göttlichen Geistes. Es gibt Lebewesen, kleine
Keime, Würmer und Insekten, die nicht länger als einen Augen-
blick lang leben, und es gibt andere Wesen, deren Leben hundert
Jahre lang währt, und manche Wesen leben noch länger. Und doch
ist das, auch wenn es tausend Jahre wären, ein Augenblick vergli-
chen mit der Ewigkeit.
Die Zeit, die der Mensch kennt, ist in erster Linie erfasst durch
die Kenntnis seiner eigenen physischen Konstitution. Das Sanskrit-
wort pala, was Augenblick bedeutet, kommt vom Puls, der schlägt,
vom Pulsieren. Diese Kenntnis hat sich bis zu einem gewissen Maß
erweitert durch das Studium der Natur, den Wechsel der Jahreszei-
ten und die Runden, welche die Erde um die Sonne dreht. Dadurch
haben die Menschen ihre Vorstellung von Zeit vervollständigt. Vie-
le möchten das göttliche Gesetz begrenzen auf die von Menschen
gemachte Zeitvorstellung, und sie spekulieren darüber. Aber die
Neigung des Mystikers geht dahin, sein Haupt tief in Anbetung
zu beugen, wenn ihm der Gedanke an das ewige Leben Gottes, des
Einzig Seienden, in den Sinn kommt. Anstatt nach dem Warum
und dem Wie zu fragen, versenkt er sich in die Betrachtung des We-
sens Gottes, und so wächst sein Bewusstsein über die Begrenzungen
von Raum und Zeit hinaus; dadurch befreit er seine Seele, indem er
sie in göttliche Sphären hebt.
19
21. Frage: Welche Beziehung hat die Zerstörung der Form während der
Manifestation zum großen Atem? Beeinflusst es ihn überhaupt?
Antwort: Nein, es beeinflusst den großen Atem nicht, ausser als ein
Schatten, der in der göttlichen Sonne widergespiegelt wird und
sein Spiegelbild auf jedes Lebewesen wirft. Wenn zum Beispiel ein
Mensch stirbt, fühlt das jede Seele in der Welt, einige bewusst, die
meisten unbewusst, entsprechend ihrer Nähe oder Entfernung zu
dieser einzelnen Seele. Aber dies raubt dem göttlichen Geist nicht
seine Kraft und Weisheit, so wie Ebbe und Flut des Meeres nicht
von den Wellen beeinflusst werden, ob die Welle nun diesen Weg
nimmt oder jenen. Aber die Manifestation ist dieselbe, die ganze
Manifestation hindurch vom Anfang bis zum Ende und von Gott
bis zum kleinsten Atom. So wie zum Beispiel Gott atmet, atmen
auch wir und auch die Tiere und die Vögel. Die Wissenschaft hat
jetzt den Beweis erbracht, dass die Bäume denselben Atem von
Ebbe und Flut atmen.
Wenn man sieht, dass dieses Zusammenziehen und Ausdehnen
im ganzen Universum in derselben Weise weitergeht, wie sie begon-
nen hat, sieht man, dass es in der ganzen Schöpfung - mit ihren ver-
schiedenen Aspekten und Unterschieden, die es in der Natur und
im Charakter von Dingen und Wesen gibt - ein Gesetz und eine
Art gibt, in der die ganze Schöpfung stattfindet und ihrem Ende
entgegengeht.
Frage: Können Sie näher erklären, warum Gott ein- und ausatmet?
Antwort: Ja, täte er es nicht, könnte die Welt nicht existieren. Die
Voraussetzung von Existenz ist Einatmung und Ausatmung. So
existiert auch Gott, nur ist Seine Einatmung das Ende der ganzen
Schöpfung. Wir sagen, dass uns damit Schaden zugefügt wird, aber
ist es unfair, wenn wir atmen? Es mag unfair sein für viele klei-
ne Keime; solche Leben werden zerstört wird, während wir atmen.
Auch gibt es Leben, die durch unseren Atem erschaffen werden. Es
wird eine Zeit kommen, wo die Wissenschaft herausfinden wird,
dass der Atem des Menschen die Fähigkeit hat zu erschaffen - nicht
nur Atmosphäre sondern auch Leben. Er ist ein lebendes Wesen. An
der Wurzel dieses Geheimnisses wird man den Grund aller Krank-
heiten finden.
20
22. Atem als ein lebendes Wesen ist schöpferisch. Die Wissenschaft
findet jetzt heraus, dass es hinter jeder Krankheit einen Krankheits-
erreger gibt. Es wird eine Zeit geben, wo man herausfinden wird,
dass Ein- und Ausatmung die Ursache jeder Krankheit ist.
So wie Gott erschafft, so erschafft auch der Mensch durch seinen
Atem.
Frage: Welcher Unterschied besteht zwischen dem, was Gott einatmet
und dem, was er ausatmet?
Antwort: Der Unterschied besteht im Charakter, in der Natur. Sei-
ne Ausatmung ist schöpferisch, Seine Einatmung ist zerstörend. In
Worten der Hindus: Seine Einatmung ist Shiva, Seine Ausatmung
ist Brahma.
Frage: Geschieht die Zerstörung am Ende der Einatmung plötzlich oder
allmählich?
Antwort: Allmählich, genau wie wir allmählich ein- und ausatmen.
Am Ende des Atems ist die Zerstörung beendet. Ein Bild dafür kann
man im Leben sehr großer Kobras sehen. Es gibt Geschichten von
Menschen, die sehr große Kobras gesehen haben, in deren Maul
sogar eine Kuh oder ein Büffel Platz hatte. Einmal im halben Jahr
oder im Jahr, wenn sie hungrig sind, müssen sie nur ihr Maul öffnen
und Atem holen, und wenn eine Kuh da ist, wird sie angezogen und
geht in das Maul der Kobra hinein. Die Kobra frisst sie und schläft
dann ein halbes Jahr oder ein Jahr lang. Das ist eine Legende oder
eine Geschichte.
Ich selbst habe beobachtet, wie eine große Kobra ein Huhn ge-
fressen hat, nicht in Teilen, ganz auf einmal! Man würde nicht den-
ken, dass eine Kobra ein ganzes Huhn fressen kann. Die Macht der
Kobra ist groß, weil sie meditativ ist. In allen mystischen Symbolen
ist die Kobra zu einem mystischen Zeichen gemacht worden, weil
es so vieles gibt, was man vom Leben einer Kobra lernen kann. Sie
fastet lange Zeit, weil sie sich daran gewöhnen muss. Sie ist nicht
gierig wie ein Hund, sie läuft ihrem Futter nicht nach, sie zieht
Futter an. Außerdem ist die Geduld der Kobra wunderbar. Es ist
dasselbe Bild. Deshalb haben die Mystiker es in ihrer alten Mystik
21
23. als Symbol benutzt. Die ganze Manifestation wird vom göttlichen
Geist angezogen.
Im Koran wird gesagt: „Alles kommt von Gott, und alles wird
zu ihm zurückkehren.”
Frage: fehlt
Antwort: Wenn die Schlange den Schwanz in ihrem Maul hat, be-
deutet das Vollkommenheit. Mensch und Gott sind die beiden En-
den dieser Linie.
Frage: Sie erwähnten Zusammenziehung und Einatmung zusam- men?
Antwort: Die Wirkung der Einatmung hat eine Wirkung auf das
Herz sich auszudehnen, und wenn man ausatmet, besteht die Wir-
kung darin, sich zusammenzuziehen. Aber um die Wahrheit zu
sagen: die Wirkung ist das Ergebnis, sie ist nicht die Aktion. Die
Aktion der Zusammenziehung bewirkt das Einziehen des Atems,
und die Ausdehnung bewirkt das Gegenteil.
Wir atmen aus, was wir einatmen. Wenn wir einatmen und
uns in eine bessere Verfassung bringen, würde unsere Ausatmung
heilend werden. Wenn zum Beispiel ein Mensch Rache nehmen
oder jemandem Schaden zufügen will, wird sein Atem, indem er
einatmet, zu Gift. In seinem Atem hat er schon zahllose Krankheits-
keime erschaffen, die sein eigenes Leben zerstören werden und das
Leben jener, die in seine Atmosphäre gelangen. Man denke auch an
jene, die zu Freundlichkeit und Liebe neigen, deren Ziel Güte ist
und die gute Gedanken haben. Ihre Einatmung und Ausatmung
wird erhebend und heilend sein. Wo sich ihre Schwingungen aus-
breiten, wird ihre heilende Atmosphäre herrschen.
Atem ist nicht nur physisch, er berührt den tiefsten Teil unseres
Seins. Was wir kennen, ist nur die Ein- und Ausatmung, die wir
durch die Nasenlöcher fühlen. Das ist nicht Atem. Atem ist die
Kraft, die unser Leben ausmacht und die den Körper mit Geist und
Seele verbindet. Atem ist in der Tat eine Gebetskette.
22