Branded Entertainment Online - kurz: BEO - ist die News- und Austauschplattform zu den Themen Product Placement und Branded Entertainment in Deutschland. Ziel von BEO ist es, den Informationsaustausch zwischen den Marktteilnehmern zu fördern.
1. VORVERÖFFENTLICHUNG
2 25/2012/1
Maya Götz
unter Mitarbeit von Christine Bulla, Andrea Holler, Simone Gruber, Judith Schwarz
Wie Kinder und Jugendliche
Familien im Brennpunkt
verstehen
(Junge, 11 Jahre)
S 1. Auf der Suche nach der
ie haben reißerische Folgentitel zumindest ein Spiel mit Realität, das
wie „Megaattraktiver Aufreißer Familien im Brennpunkt kennzeichnet. Faszination
stiehlt seinem kleinen Bruder Die 45-minütige Sendung ist seit
die große Liebe“, „Casanova gerät an 31. August 2009 wochentags und Methoden zur Annäherung an die
skrupellose Onlinebetrügerin“ oder samstags am Nachmittag auf dem Rezeption von Familien im Brennpunkt
„Naive Teenie-Mutter verliebt sich in privat-kommerziellen Sender RTL durch Kinder und Jugendliche
Pharao“ und erzählen dramatischste, zu sehen. Bei jüngeren Kindern sind
sich bis ins Absurde steigernde es nur einzelne, die sich die Sendung Die Studie näherte sich auf zwei
Geschichten rund um das Thema ansehen, bei den Pre-Teens (10- bis Wegen der Frage, warum einige
„Familien im Brennpunkt“. Dargestellt 13-Jährige) sieht zum Teil jede/r Kinder und Jugendliche das Format
werden die erdachten Handlungsabläufe Fünfte, der am Nachmittag fernsieht, nutzen und wie sie den Realitätsgehalt
von LaiendarstellerInnen, die oft die Sendung. Bei den Mädchen dieses einschätzen. Zum einen wurden aus
jenseits der sonst im Fernsehen üblichen einer repräsentativen Stichprobe von
Besetzung liegen, was Erscheinung weniger gut ausgestatteten (Sinus-) n= 728 6- bis 12-Jährige diejenigen
und Schauspielkunst angehen. Sie Milieus ist die Sendung besonders
agieren in Privatwohnungen und auf beliebt. Was interessiert Kinder und sehen.3 Bei den 6- bis 7-Jährigen war
offener Straße im deutschen (meist Jugendliche an den überdramatisierten dies knapp jedes zehnte Kind, ein
Kölner) Raum, nicht selten schreiend Familiendramen? Anteil, der dann mit jedem Jahrgang
und vulgäre Sprache nicht meidend. In einer Kooperationsstudie gingen wächst, und schließlich bei den 10- bis
Gefilmt wird in einem spontan- die Gesellschaft zur Förderung 12-jährigen Jungen auf jeden Dritten,
dokumentarischen Stil, meist mit des internationalen Jugend- und bei den Mädchen auf über 40 %
Handkameras, einige Gesichter sind Bildungsfernsehens e.V. 1 und die anwächst. Diese Kinder wurden dann
verpixelt und zu starke Schimpfwörter Landesanstalt für Medien Nordrhein- standardisiert interviewt. Bei den Pre-
mit Piep-Tönen überdeckt. Spätestens Westfalen (LfM) der Frage nach, was Teens und Jugendlichen befragten wir
durch Einwürfe wie „Zwei Tage Kinder und Jugendliche an diesen 10- bis 18-Jährige in Bayern, wobei
später bittet der Schulpsychologe Formaten fasziniert und inwieweit zu den standardisierten Items offene
alle Beteiligten zu einem Gespräch. sie den „gescripteten“ Charakter der Fragen, z. B. zur Beschreibung des
Wir dürfen mit der Kamera dabei Sendungen verstehen. Im Folgenden Formates, einzelner Folgen, Vorlieben
sein“ wird deutlich: Diese Formate wird im Sinne der Handlungsorientierten sowie Kritikpunkte, hinzukamen. 4
versuchen, einen dokumentarischen Rezeptionsforschung 2 zunächst Insgesamt wurden so n= 861 Kinder
Charakter vorzuspielen, und geben nachvollzogen, was Kinder und und Jugendliche zwischen 6 und 18
vor, eine Realität abzubilden, die auch Jugendliche an Familien im Brennpunkt Jahren allgemein, und die Familien-
jenseits der Fernsehproduktion genau reizt (1). Vor diesem Hintergrund und im im-Brennpunkt-SeherInnen aus dieser
so stattgefunden hätte. Gleichzeitig Hinblick auf die Ergebnisse, inwieweit Grundgesamtheit (n= 294) im Detail
wird zu Beginn und am Ende einer sie den gescripteten Charakter der befragt.5 Die Rezeptionsstudien sind
Folge der Hinweis eingeblendet: Sendung verstehen (2), wird anschließend eingebettet in gezielte Medienanalysen,
„Alle handelnden Personen sind frei eine pädagogische Einschätzung des um das von den Kindern und
erfunden.“ Es ist in diesem Sinne Formates formuliert (3). Jugendlichen Herausgestellte im Format
2. VORVERÖFFENTLICHUNG
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verorten zu können. Zur Erhebung bei „In Familien im Brennpunkt geht es Faszination Familien im Brennpunkt:
den SchülerInnen wurde zudem eine darum, wie Familien in Deutschland Kinder bekommen eine Stimme
90-minütige medienpädagogische sich verhalten.“ Es geht seiner Ansicht
„(…) Und wie sich dann die Kinder
Einheit durchgeführt, um den nach um regional verankerte Realitäten.
Möglichkeiten und Grenzen der Der inhaltliche Schwerpunkt der
Förderung von Medienkompetenz im Sendung wird dabei eindeutig in der
Von besonderem Interesse sind aus Sicht
Bereich der Scripted-Reality-Formate Problemorientierung gesehen. Eine
der Kinder und Pre-Teens neben den
nachzugehen.6 15-Jährige formuliert: „Es zeigt, was
Spielszenen die Statements, in denen
Familien durchmachen, wenn etwas
die ProtagonistInnen ihre Sichtweise
Zusammenfassung der passiert: Kinder, die nicht mehr zur
zu den eben dargestellten Ereignissen
Ergebnisse Schule gehen, Schwangerschaften, die
formulieren. Im Alltag haben sie selbst
Eltern trennen sich usw.“ Aus ihrer
im Normalfall nicht diese Möglichkeit.
Das Format wird beim Durchschalten Perspektive verdeutlicht die Sendung
Insofern geben die „Betroffenen“ auch
entdeckt die Konsequenzen eines Fehlverhaltens
eigenen Erfahrungswelten Resonanz,
einzelner Personen für das soziale
und die Statements symbolisieren
Wie kommen Kinder und Jugendliche Umfeld. Dabei wird die Dramatisierung
quasi ein „Gehörtwerden“ der eigenen
zu Familien im Brennpunkt? Sie durchaus wahrgenommen: „Es
subjektiven Erfahrung. Es ermöglicht
„entdecken“ die Sendung durch Zufall, geht um fast zerstörte Familien“,
aber auch ein besseres Verständnis der
indem sie am Nachmittag beim Zappen formuliert ein 12-Jähriger (türkischer
jeweiligen Problematik: „Wenn sich
darauf stoßen. Hintergrund sind hier Migrationshintergrund). Bei den
Familien z. B. trennen, und wie sich
vermutlich die kurzen, spektakulären Sendungen, die besonders gut
Handlungsstränge, die fast immer gefallen, werden zum Teil typische
weil da kann man sich auch besser
Kinder und Jugendliche als Teil von Problemkonstellationen beschrieben:
reinversetzen.“ (Mädchen, 13 Jahre)
Familien thematisieren. In kurzen „Im Allgemeinen finde ich Folgen
Die jungen ProtagonistInnen der
Handlungsentwicklungen – zum Teil
Elterntrennungen sehr interessant“,
mit denen die Kinder und Pre-Teens
und Streiteskalationen erzählt. Eine formuliert eine 16-Jährige. Vermutlich
vor dem Fernseher die Geschichten
Dramaturgie, an der Kinder und sind dies Themen, die sie zurzeit sehr
durchleben.
Jugendliche scheinbar leicht „hängen beschäftigen. Kinder und Jugendliche
bleiben“. Bei den Jüngsten sind es zudem haben das Gefühl, hier etwas zu sehen,
Gut und Böse – Richtig und Falsch:
oft die Eltern, bei denen die Sendung das sie aus ihrem Alltag kennen:
die Vereinfachung der Komplexität
mitgesehen wurde, oder Freunde haben Familien in Konfliktsituationen.
realer Problemlagen
von Familien im Brennpunkt berichtet. 62 % der 6- bis 12-Jährigen stimmen zu,
Die Sendung wird also seltener gezielt dass sie Familien im Brennpunkt sehen, „(…) Und dann zeigen die, wie sie
gesucht, sondern auf der Suche nach „weil man da sehen kann, dass andere
einem ansprechenden Programm („Weil auch in der Familie oder mit ihren Jahre)
am Nachmittag nichts Interessantes Freunden streiten“; und ähnlich bei der
läuft“) gefunden. Die Grundstruktur mit Aussage „weil es Spaß macht zu sehen, Was Kindern und Pre-Teens an den
wie es wirklich in anderen Familien Sendungen gefällt, ist die Eindeutigkeit,
Recaps (Zusammenfassung des bisher mit der komplexe Situationen
Geschehenen) sowie dramatischen hier vermutlich etwas, das wenig offen
Handlungsentwicklungen scheint sich thematisiert wird: In Familien gibt es Themen aufgegriffen, die sie aus ihrem
strukturell in den Nachmittag von Krisen und Auseinandersetzungen. Alltagsvokabular kennen, wie den
Kindern und Jugendlichen einzupassen. Dies in übersteigerter Form bei Begriff „Mobbing“, der aber als soziale
„anderen“ anzusehen, gibt ein gutes Problemkonstellation alles andere als
Faszination Familien im Brennpunkt: Gefühl. Durch die Extreme der einfach zu begreifen und zu klären
Problemsituationen in der Familie Geschichten ist die Wahrscheinlichkeit ist (vgl. z.B. Schäfer et al. 2006). In
groß, dass die eigenen Probleme diesen komplexen Zusammenhängen
„Familien im Brennpunkt ist, wo eine eigene ethische Position zu
vergleichsweise harmlos und der eigene
Alltag vergleichsweise gelingend
12 Jahre) zu orientieren, ist anspruchsvoll.
und glücklich erscheint. Dies schafft
Entlastung, aber auch durchaus Entsprechend dankbar nehmen Kinder
Wie der Titel schon angibt: Bei Familien und Pre-Teens die fast didaktisch
Sensibilität. Nur 17 % der Befragten
im Brennpunkt geht es um Familien. Für aufbereiteten Erzählungen auf.
lehnen für sich folgende Aussage ab: „Seit
diejenigen, die die Sendung regelmäßig Medienanalytisch sind es zum größten
ich Familien im Brennpunkt sehe, weiß
sehen, ist dies der attraktivste Punkt. Teil vereinfachte, klischeehafte
ich, dass es viele Familien echt schwer
Ein 14-Jähriger beschreibt die Sendung: Erzählstrukturen einer Heldenreise
haben, z. B. haben sie wenig Geld.“
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(vgl. Campbell 1999) eines nicht Auf die Frage, was ihnen an Familien Gefühl, aus Familien im Brennpunkt
perfekten Protagonisten. Es gibt im Brennpunkt besonders gut Problemlösungsstrategien zu
einen, der die Rolle des Guten innehat, gefällt, antworten die regelmäßigen gewinnen. 80 % der 6- bis 7-Jährigen
der sich vielleicht nicht immer am und 72 % der befragten 13- bis
angemessensten verhält, aber dennoch Happy End gab, wie bei jeder Folge“ 14-jährigen HauptschülerInnen, die
unschuldig abgewertet oder angegriffen (Junge, 15 Jahre). Sie genießen die die Sendung regelmäßig sehen, tun
wird. Hinzu kommen Figuren in der Erzählungen, bei denen sich am Ende dies, „weil dort gezeigt wird, was
Rolle verschiedener BegleiterInnen und alle Probleme, trotz immer wieder bei der Lösung eines Problems hilft
größer werdender Streitereien und und was nicht.“ Medienanalytisch
in Form einer Antagonistin). Die diverser Verwicklungen, verlässlich werden in der Sendung diverse
Motive der Guten werden im Statement zum Guten wenden – und das innerhalb Problemsituationen aufgeworfen, die
artikuliert oder vom Off-Sprecher kürzester Zeit. Für diese Kinder und sich dann von Ereignis zu Ereignis
formuliert. Warum die AntagonistInnen Pre-Teens ist die Sendung auch mit steigern. Nicht nur die Vielzahl der
so handeln, bleibt unbenannt. Im einem potenziell hoffnungsvollen Steigerungen innerhalb kürzerer Zeit,
Laufe der Handlung erkennen die Bild in Bezug auf Problemlösungen sondern auch die Verhaltensweisen der
verbunden und sie bestätigen: „Seit ProtagonistInnen und AntagonistInnen
Fehlverhalten und ändern sich. Es ich Familien im Brennpunkt schaue, sind im Vergleich zur Realität völlig
gibt zum Teil „Halbgute“, die sich weiß ich, dass es für jedes Problem eine übertrieben und z.T. absurd. Gelöst
ebenfalls im Laufe der Geschichte Lösung gibt.“
zum moralisch Richtigen wenden. Nur Medienanalytisch werden in jeder den Einbezug einer externen Instanz.
die AntagonistInnen verändern sich Folge die diversen Streitigkeiten Es werden ExpertInnen eingeschaltet
nicht wirklich, bekommen aber ihre zu einem positiven Abschluss für und oft erzählt die Geschichte von einer
gerechte Strafe und geloben daraufhin die ProtagonistInnen geführt. Der Gerichtsverhandlung zur Klärung des
Veränderung. Dies sind Erzählformen, gemobbte 15-jährige Jakob7, mehrfach Streits. Es werden also ein bestimmtes
die Kinder und Pre-Teens u. a. aus hochgradig bloßgestellt, trotz Unschuld
Kinderstoffen kennen, die nun auf eine Gerichtsverhandlung befürchtend AntagonistIn-Struktur) und bestimmte
scheinbar reale Alltagswelten und und dem Selbstmord nahe, wird sofort Arten der Problemlösung erzählt. Aus
scheinbar reale Problemlagen anderer in den Kreis von Peergroup und
übertragen werden. Eine didaktisierte Nachbarschaft integriert und hat zudem diese Modelle jedoch weder situativ
Form zum Umgang mit sozialen seine erste feste Freundin. In der Realität hilfreich noch nachhaltig (vgl. Lemish
Problemen, die Kindern und Pre- würden ein derartiger psychischer Stress u.a. 2009). Die nur sehr begrenzte
Teens, besonders jenen mit potenziell und soziale Attacken nicht innerhalb Alltagstauglichkeit dieser Narration
marginalisiertem sozialem Hintergrund so kurzer Zeit nachhaltig befriedet und zur Übertragung auf die eigenen
(Hauptschule, Migrationshintergrund psychisch verarbeitet werden. Familien Probleme wird von der Mehrzahl der
etc.) vermittelt, hier etwas über im Brennpunkt erzählt vereinfacht befragten GymnasiastInnen recht gut
konkrete Problemlagen zu erfahren. Krisensituationen, die Vorkommnisse erkannt, nicht aber von den jüngeren
Gerade weil die im Fernsehen extrem verdichten und übersteigern Kindern, Grundschulkindern und
dominanten Lebenswelten meist in und Problemlösung romantisieren. HauptschülerInnen.
Milieus der oberen Mittelschicht und Die Bösen werden bestraft und sehen
Oberschicht spielen und die Figuren zum Teil ihr Fehlverhalten ein, die Faszination: Sich durch Abgrenzung
mit DarstellerInnen besetzt werden, Guten bekommen ihre verdiente besser fühlen
die weder dem Normalgewicht noch Genugtuung. Dies schließt an bekannte
„Das war sehr lustig, weil es kom-
der Diversität der bundesdeutschen Kindermedienstoffe an und bestätigt
Bevölkerung entsprechen (s. Götz 2012) bereits vorhandene moralische
sind die dargestellten Lebenswelten in Deutungsmuster.
In allen Altersgruppen spielt neben
Familien im Brennpunkt vermutlich
einer empathischen, einfühlenden
oftmals dichter am real erlebten Alltag Faszination: Lösungsstrategien
Rezeptionshaltung auch der Moment
der Kinder und Jugendlichen. gewinnen
der Erheiterung eine Rolle. Ein Motiv,
„Das hat mir schon ein bisschen Familien im Brennpunkt zu sehen, ist:
Faszination Familien im Brennpunkt:
geholfen, weil ich dann weiß, wie ich „Man kann so viel lachen.“ (Junge, 12
Für jedes noch so große Problem gibt
Jahre) In allen Altersgruppen gibt etwa
es ein Happy End
Jahre) die Hälfte der Familien-im-Brennpunkt-
„Besonders gut gefallen hat mir, dass SeherInnen an, sie sehen die Sendung,
sich die Familien wieder vertragen Einige Befragte, insbesondere die „weil man über Leute, die so dumm
jüngsten und die 13- bis 14-jährigen sind, mal richtig ablachen kann.“
HauptschülerInnen, haben dabei das Insbesondere für die Jugendlichen ist
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dies ein zentrales Nutzungsmotiv. Ein Sie deuten vor diesem Hintergrund
großer Teil der Erheiterung entsteht nahelegen. Durchschauen Kinder auch Formate wie Familien im
dabei durch die Abgrenzung und und Jugendliche, die die Sendung Brennpunkt. Sie rekonstruieren sich
Selbsterhöhung über das Verhalten kennen und durchaus regelmäßig die Sinnhaftigkeit, warum Menschen
einzelner Figuren: „Als Jakobs kleiner schauen, dies? In den qualitativen sich hier beteiligen:
Bruder ausgerastet ist wegen Joy, weil Aussagen lassen sich bereits typische
er dachte, sie wären ein Paar. Das war Realitätskonstrukte der Kinder und „Es gibt Familien, die Probleme
sehr lustig, weil es komplett dämlich Jugendlichen rekonstruieren. Zum haben und es offen zeigen wollen.“
war.“ (Junge, 16 Jahre) Dadurch, (Mädchen, 12 Jahre)
dass sie die Handlungsentwicklung darauf hinweisen, dass der gescriptete
verfolgen, das Problem erkennen und Charakter der Sendung erkannt wurde. Bereits die offenen Aussagen zeigen
meinen, die Hintergründe verstanden zu Eine Gymnasiastin formuliert: deutlich: Den gescripteten Charakter
haben, können sie sich über diejenigen der Sendung verstehen zumindest
ProtagonistInnen erheben, die sich durch „Es ist eine Serie, in der alltägliche nicht alle. Dies ist auch nicht
eine Fehleinschätzung der Situation Situationen nachgespielt werden. Sie weiter verwunderlich. Kinder und
geleitet völlig (oft geradezu absurd) basieren aber nicht auf realen Ereig- Pre-Teens wachsen heute in einer
situationsunangemessen verhalten. Das nissen.“ (Mädchen, 18 Jahre) Medienlandschaft auf, in der sie diversen
gibt in der Rezeptionssituation ein gutes Mischformen von fiktionalisierten
Gefühl. Die eigenen Deutungsmuster Zum Teil nutzen die Befragten „reality-based formats“ begegnen.
werden bestärkt, das eigene Selbstbild Formatbezeichnungen, z. B. „Es ist eine Über 400 dieser Formate wurden
erhöht – auf Kosten anderer. Reality-Show, die normale Probleme zwischen 2000 und 2009 ausgestrahlt
Entsprechend ist es nicht verwunderlich, aus echten Familien zeigt.“ (Junge, (Lünenborg et al. 2011). Sie werden
dass gerade bei den Jugendlichen der 16 Jahre) Mit Formulierungen wie zur Interpretationsfolie, auf denen der
Anteil derjenigen hoch ist, die der „gezeigt“ und „Show“ verweist er damit Herstellungsprozess von Familien
Aussage zustimmen: „Seit ich Familien auf die Vorstellung einer Inszenierung, im Brennpunkt konstruiert wird. Um
im Brennpunkt sehe, weiß ich, dass es die jedoch das „Normale“ darstellt. Bei diesen Zusammenhang, so weit dies
viele Leute gibt, die so richtig dumm anderen wird deutlich, dass sie den möglich ist, quantitativ zu messen,
sind“. Insbesondere bei den 17- bis gestellten Charakter erkannt haben, wurde den regelmäßigen Familien-im-
18-jährigen GymnasiastInnen wächst sich aber über den Produktionsablauf Brennpunkt-SeherInnen eine Multiple-
nicht ganz klar sind: Choice-Frage gestellt: „Was denkst
Es wird sich aber auch über die Sendung du, welche der drei Möglichkeiten ist
amüsiert, weil „es so unecht und gestellt „Es geht darum, dass ein Fernseh- richtig?“ Als Antwortmöglichkeiten
(war), dass man die ganze Zeit drüber Team eine Woche oder länger eine wurde angeboten:
lachen konnte.“ (Mädchen, 16 Jahre) Familie begleitet. Und dabei gibt
Für diejenigen, die den gescripteten Es werden Familien im ganz
und laiendarstellerischen Kontext der (Junge, 12 Jahre)
Sendung verstanden haben, liegt also Es spielen Schauspieler die
durchaus genau hier ein Sehmotiv. Nach dieser Perspektive wäre Familien Geschichten nach, die anderen
Doch wie hoch ist der Anteil der Kinder im Brennpunkt eine Mischung aus schon passiert sind.
und Jugendlichen, die den gescripteten begleitender Dokumentation einer Es denken sich die Leute vom
Charakter des Formates durchschauen? bestehenden Familie und Theaterspiel, Fernsehen diese Geschichten aus.
vermutlich ähnlich einem sozialen
2. Verstehen Kinder und Ju- Rollenspiel. Häufig formulieren Ein knappes Drittel der Familien-
gendliche den „gescripteten“ die Pre-Teens und Jugendlichen die im-Brennpunkt-SeherInnen sieht die
Charakter der Sendung? Vorstellung, die Sendung sei ein Sendung als Dokumentation. Rund
Coaching-Format wie Die Super Nanny die Hälfte meint, die Geschichten
oder Raus aus den Schulden: seien nach wahren Begebenheiten
Die Sendung ist durch ein Drehbuch nachgespielt, ein Fünftel ist sich
bestimmt, im Detail von AutorInnen „Es geht um Familien, die Probleme
erdacht und von LaiendarstellerInnen Geschichten sind.
umgesetzt. Am Anfang und am Ende Fernsehen übertragen.“ Für den Großteil der regelmäßigen
jeder Sendung werden die Worte (Junge, 11 Jahre) Familien-im-Brennpunkt-SeherInnen
eingeblendet: „Alle handelnden ist Familien im Brennpunkt also eine
Personen sind frei erfunden.“ Die „Es geht in Familien im Brennpunkt die Realität widerspiegelnde Sendung,
Details der Sendungsgestaltung sind um Familien, die ihre Probleme dem die entweder wahre Begebenheiten
jedoch so angelegt, dass sie eine Fernsehen melden.“ nachstellt (48 %) bzw. Realität
Dokumentation einer auch jenseits (Mädchen, 11 Jahre) dokumentiert (30 %). Nur 22 % der
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Gesamtstichprobe erkennen, dass es älteren Jugendlichen. Den gescripteten 3. Pädagogische Einschätzung
sich um ein erdachtes Format handelt, Charakter erkennen– zumindest von Familien im Brennpunkt
das von der Realität höchstens inspiriert in dieser Befragung – erst die
OberstufenschülerInnen verlässlich. Problembereich: Verdeckung des
In allen Altersgruppen, auch bei den Die statistische Tendenz: Jungen gescripteten Grundcharakters des
6- bis 7-Jährigen gibt es Familien- Formates
im-Brennpunkt-SeherInnen, die den Der aus pädagogischer Sicht zunächst
gescripteten Charakter der Sendung So eindeutig übertrieben und schlecht eindeutige Problembereich ist das
entschlüsseln. WenigseherInnen gespielt Familien im Brennpunkt für Missverständnis, dass es sich bei
dekonstruieren die Geschichten Erwachsene ist (vermutlich, denn dem Format um eine Dokumentation
verlässliche Zahlen liegen nicht vor) oder Nachstellung tatsächlicher
Das heißt, dass diejenigen, die sich auf und besser gebildete Jugendliche Ereignisse handelt. Unabhängig von
die Sendung einlassen, sie genießen auch zu sein scheint, für Kinder und möglichen Geschmacksdebatten
und sie täglich oder mindestens einmal Pre-Teens, die die Sendung kennen oder einer Auseinandersetzung mit
und nutzen, handelt es sich um reale Qualitätsfragen ist das Wissen um den
davon ausgehen, dass hier Familien Begebenheiten, die nachgestellt, wenn „gescripteten“ Charakter des Formates
im Alltag dokumentiert bzw. wahre nicht sogar dokumentiert wurden. grundlegend für einen angemessenen
Begebenheiten nachgestellt werden. Umgang damit. Insofern besteht
Verlässlich erkennen, dass es sich hier dringend Handlungsbedarf auf
hier nicht um eine Dokumentation unterschiedlichen Ebenen, um den
handelt, können dies jedoch erst die Kindern und Pre-Teens zu ermöglichen,
den Herstellungsprozess zumindest in
Ansätzen zu begreifen. Eine Textzeile
Welche Vorstellung vom Herstellungsprozess haben Kinder und Jugendliche, die die zu Beginn und am Ende der Sendung
Sendung FIB kennen und regelmäßig sehen?
reicht zumindest für diese Zielgruppe
nicht aus. Die textimmanenten
Hinweise, z. B. Textzeilen wie „Wir
dürfen mit der Kamera dabei sein“, die
suggerieren, dass hier eine spontane
ältere ZuschauerInnen eine Art Spiel
mit dem Genre sein, für Kinder sind sie
jedoch Hinweise in eine irreführende
Richtung. Neben der Diskussion
zu Änderungen im Format selbst
bedarf es dringend der Förderung der
Medienkompetenz von Kindern und
Jugendlichen und der Sensibilisierung
von PädagogInnen und Eltern in diesem
Feld.
Tendenzielle Rezeptionshaltungen
Kinder und Jugendliche, die die
Sendung regelmäßig oder zumindest
gelegentlich (freiwillig) sehen,
genießen das Format. Hierbei werden
zwei grundlegend unterschiedliche
Rezeptionshaltungen deutlich: Zum
einen die involvierte, empathische
Rezeptionshaltung, mit der in die
Geschichten eingestiegen wird. Das
Schicksal der Betroffenen wird
nachvollzogen, zum Teil vermutlich
mit der eigenen Lebenslage verglichen.
Die Sendung wird tendenziell als die
Realität widerspiegelnd gesehen, wenn
nicht sogar als Dokumentation. Diese
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Rezeptionshaltung das Gefühl, hier Handlungen. In der Realität
bei Kindern und Pre-Teens, vor allem Problemlösestrategien zu gewinnen. handeln Menschen – im Sinne eines
aus Haupt- und Realschule. Dass die hier vorgestellten Strategien humanistischen Menschenbilds –
Zum anderen gibt es bei den wenig Alltagstauglichkeit haben, wäre subjektiv sinnhaft und versuchen,
regelmäßigen SeherInnen diejenigen, eine Frage der Qualitätsdiskussion, die sich an ihren eigenen ethischen
die ihr Rezeptionsvergnügen vor allem es im Detail zu führen gilt. Das Gefühl Maßstäben zu orientieren. Insofern ist
aus der Selbsterhöhung ziehen, indem der regelmäßigen RezipientInnen, es immer eine Frage der Perspektive,
sie die dort Gezeigten abwerten. Diese hier etwas für sich zu gewinnen, was „gemein“ ist. FiB erzählt jedoch
Gruppe, die sich vor allem bei den verweist jedoch noch auf einen nicht eine sinnhafte Perspektive
Älteren und vermehrt GymnasiastInnen größeren Problemzusammenhang: der AntagonistInnen, sondern stellt
FiB ist ein Format, das in kurzen, sie als „an sich“ böse Menschen
Mädchen), erkennt die Sendung meist hochdramatisierten Spannungsbogen dar, gegen die die Betroffenen so
als gescripted und distanziert sich Geschichten um Familiendramen gut wie keine Chance haben, denn
tendenziell von ihr. erzählt, bei denen Ereignisse sie müssen durch eine machtvolle
Die beiden Ausprägungen sind nicht als aneinandergereiht werden. Institution zurechtgewiesen werden.
Es ist ein von AutorInnen erdachtes
sondern ähneln in ihrer Auftrittsform Format mit einfachen, und in diesem Text erkannt, sondern als Abbild der
eher zwei Enden der Dimension Sinne mit Kinderstoffen nicht Realität, ist ein Kultivierungseffekt (im
„Involvement“. Mit zunehmendem Alter unähnlichen Erzählmustern von Gut und Sinne Gerbners) und eine Verschiebung
und besserer Schulbildung korreliert Böse und einem verlässlichen Happy des Weltbildes im Sinne eines „Fiese-
die Neigung zur distanzierteren Seite, Menschen-Bildes“ zu befürchten.
zur sich selbst erhöhenden Rezeption, Fiktion, bei denen sich dann Qualitäten
in der Vergnügen im „Ablachen“ über im Detail diskutieren lassen, die aber Bei denjenigen, die mit einer
die „anderen“ entsteht. Dies bedeutet gerade auch in ihrer Plakativität potenziell distanzierteren Haltung
jedoch nicht, dass bei einzelnen Folgen, ihre Kraft entwickeln. Wie Bruno an das Format herangehen, wird ein
Handlungssträngen oder Szenen ein Bettelheim (2006) es formulierte: anderer potenzieller, pädagogischer
involviertes Einsteigen in die Handlung „Kinder brauchen Märchen.“ Erkennen Problembereich deutlich.
Kinder und Jugendliche aber das Es findet eine Selbsterhöhung auf
auch bei der involvierten, empathischen „gescriptete“ Grundmoment des Kosten anderer statt. Entsprechend
Rezeptionshaltung, bei der es bei Herstellungsprozesses nicht, sondern wenig verwunderlich ist die bei den
einigen Episoden, Handlungssträngen Jugendlichen hohe Zustimmung in
oder Szenen ebenfalls zur Distanzierung Begebenheiten“, liegt eine Verzerrung Bezug auf die selbstwahrgenommene
kommt. Eine Entschlüsselung des des Wirklichkeitsbildes nahe.
gescripteten Charakters geht damit aber In der Studie haben wir nur wenige
nicht einher. potenzielle Wirkungsitems abgetestet, “Seitdem ich FiB schaue, weiß ich,
Beide Rezeptionshaltungen haben bei denen Kinder und Jugendliche die dass es viele Leute gibt, die so richtig
ihre spezifischen pädagogischen „Wirksamkeit“ des Formates für sich dumm sind.”
Problembereiche, die sich in der selbst einschätzen sollten. Eines der
(selbsterkannten) Übernahme von Items, das nur sehr wenige Kinder und Diese in der Sendung dargestellten
Deutungsmustern manifestieren. Pre-Teens ablehnten, war: „anderen“ sind jedoch kein Abbild
Problembereich: Übernahme von „Seitdem ich FiB Seitdem ich FiB schaue, weiß ich, dass es viele Leute
Deutungsmustern schaue, weiß ich, dass gibt, die echt gemein sind.
Kinder und Jugendliche, die die Sendung es viele Leute gibt, die
regelmäßig sehen, gewinnen etwas echt gemein sind.“
aus ihr. Meist interessieren sie sich für
Familienprobleme, vermutlich gerade Über 60 % der 6- bis
weil bestimmte Problemkonstellationen 14-Jährigen stimmen
sonst wenig thematisiert werden. Sie zu, weitere 26 % sagen
genießen, dass Kinder und Jugendliche
in den Statements eine eigene
Sichtweise artikulieren. Dies verleiht FiB erzählt
symbolisch auch ihrer Perspektive Geschichten mit einem
eine Wichtigkeit und erleichtert das AntagonistInnenmuster
Verständnis der komplexen Situationen. und steigert diese
Entsprechend haben gerade jene mit immer wieder durch
einer involvierten, empathischen weitere unmoralische
7. VORVERÖFFENTLICHUNG
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der Vielfältigkeit der deutschen
Gesellschaft. Es werden vielmehr
klischeehafte Geschichten aus
bestimmten Milieus erzählt, die mit
bestimmten LaiendarstellerInnen
dargestellt werden. Hier ist eine
Verzerrung der Realität der
Lebenswelten und Problembereiche
sozial-ökonomisch weniger gut
ausgestatteter Milieus und der in ihnen
lebenden Menschen zu vermuten.
Seitdem ich FiB schaue, weiß ich, dass es viele Leute gibt,
die so richtig dumm sind.
ANMERKUNGEN LITERATUR
1
Die Aufgabe der Gesellschaft zur Förderung des fehler anzunehmen. Trotz der unterschiedlichen
internationalen Jugend- und Bildungsfernsehens e.V.
ist die Förderung der Qualität im Kinder-, Jugend- Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. Ber-
und der unterschiedlich rekrutierten Stichproben
das Jugend- und Bildungsfernsehen und der Stiftung - Gerbner, G.; Gross, L.; Morgan, M.; Signorelly, N.;
Prix Jeunesse. Mitglieder der Gesellschaft sind das ardisierten Daten der beiden Erhebungen zu kom- Shanahan, J.: Growing up with television: Cultiva-
Zweite Deutsche Fernsehen, der Bayerische Rund- binieren. Dies ermöglicht eine erste Einschätzung tion processes. In: Bryant J.; Zillmann, D. (Hrsg.):
funk, der Freistaat Bayern, die Landeshauptstadt bei den Altersunterschieden. Eine Testung in einem Media effects: Advances in theory and research.
repräsentativen Jugendpanel sowie bei Erwachsenen
Medien, Super RTL sowie persönliche Mitglieder. Götz, M.: Jenseits der deutschen Realität. Eine
2
In Anlehnung an die Arbeiten von u. a. Lothar zu empfehlen. Inhaltsanalyse der dargestellten Realitäten im
Mikos, Ben Bachmair, Sonia Livingstone, Dafna
Lemish und David Buckingham. (in Vorbereitung).
- sellschaft zur Förderung des internationalen Jugend-
- und Bildungsfernsehen e.V. und der Landesanstalt erzählt. Frankfurt a. M.: Fischer 2004.
resolution is at the basis of quality TV. In: TelevIZIon
Ärger
C.: Skandalisierung im Fernsehen. Strategien, Er-
Zwei speziell geschulte Interviewerinnen befragten
4 scheinungsformen und Rezeption von Reality-TV-
DIE AUTORIN Formaten. In: Schriftenreihe Medienforschung der
offenen und standardisierten Fragen. Die Erhebung
Maya Götz, Dr. Berlin: Vistas 2011.
phil., ist Leiterin Schäfer, M., Korn, S., Werner, N., Crick, N.: „...
als verlässlich und auf die bundesdeutsche Grund- des IZI und des
- PRIX JEUNESSE Unterscheidung von Bullying und Viktimisierung in
INTERNATIONAL,
%), ist bei den Älteren durch die eingeschränkte
Stichprobenauswahl ein größerer Stichproben- München.