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Fazit / Ausblick, Schlussdiskussion
Mario Glauert
„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich
entraffen“ (Hermann Hesse, „Stufen“)


Zum Ende dieser zwei gehaltvollen Tage in Speyer noch der Versuch eines Fazits, –
weniger als Schlusswort, denn als Impuls für unsere Schlussdiskussion. Und ich
muss um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht jeden der über 25 Vorträge
namentlich erwähne.
Das Wort „Aufbruch“ im lyrischen Titelzitat ist natürlich doppeldeutig zu verstehen:
Zum einen als Ankündigung unserer bevorstehenden Abreise, zum anderen aber
auch als Leitmotiv unseres Tagesthemas: Dem Aufbruch der Archive in die Welt des
Web 2.0 und damit auch dem Aufbrechen alter Gewohnheiten.
Joachim Kemper hat gestern in seiner Eröffnung an eine Überschrift im Mai-Heft des
„Archivar“ angeknüpft und die deutschen Archive als „Spätzünder“ bezeichnet. Dass
dies durchaus berechtigt ist, haben uns die beeindruckenden Situationsberichte aus
den Niederlanden, Frankreich, Dänemark, Belgien und auch aus Slowenien sehr
deutlich vor Augen geführt.
Klaus Graf hat dies gestern „gewohnt meinungsstark“ (Thomas Wolf) mit den
„Dinosauriern“ erklärt, die immer noch in den deutschen Archiven vorherrschen.
Bedenkt man, dass die Dinosaurier zwar ausgestorben sind, davor aber über 150
Mio. Jahre die Erde beherrschten, während die Gattung homo, von der wir in den
letzten beiden Tagen viele Arten bis hin zum homo ludens vorgeführt bekommen
haben, es bislang gerade mal auf 4 bis 6 Mio. Jahre gebracht hat, sollte man mit
vorschnellen Urteilen indes vielleicht noch zurückhaltend sein.
„Haben Sie gerade Spaß?“, hat uns Christoph Deeg gestern gefragt. Ulrike Schmidt
verglich das Web 2.0 mit einer Party und die Bilder Christian van der Vens von
niederländischen Kuchenbuffets und Archivaren mit bunten Partyhüten haben uns
seine These versinnbildlicht: „Archiv 2.0 isn´t about tools, but all about attitudes.“
Solche Fotos von deutschen Archivtreffen sind kaum vorstellbar.
Man bekommt eine Ahnung davon, dass Web 2.0 für deutsche Archive auch einen
Kulturwandel, ja vielleicht sogar eine Kulturrevolution ankündigen kann.
Die Frage, was Web 2.0, Social Media oder Social Networking eigentlich bedeutet,
hat uns bei allen Vorträgen begleitet. Kommunikation, Interaktion, Kollaboration und
Partizipation waren Begriffe, die dabei oft verwendet wurden, deren genauere
Abgrenzung aber wohl noch zu erbringen wäre.
Christoph Deeg hat uns zum Thema Interaktion und Kommunikation auf die
Twitterwall gepostet: „Niemand möchte mit Institutionen sprechen – wir wollen mit
Menschen sprechen.“ Crowdsourcing-Projekte von Archiven mit gigantischen
Erfolgen wurden uns als beeindruckende Möglichkeit der Kollaboration zwischen
Archiven und ihrer Comunity vorgestellt.
Partizipation wurde definiert als Prinzip, den Nutzern auf Augenhöhe zu begegnen.
Diskutiert wurden aber auch die Grenzen des „Mitmacharchivs“, etwa bei der
Einbeziehung der Nutzer in Fragen der Bewertung, wie sie international ja durchaus
erörtert werden. Bei den vorgestellten archivischen Crowdsourcing-Projekten ging es
zumeist „nur“ um eine zusätzliche Tiefenerschließung, die Indexierung von
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Einträgen, die Korrektur von OCR-Ergebnissen oder die Identifizierung von
Fotomotiven, nicht um die (vorher nötige) Ordnung, Verzeichnung oder auch
Digitalisierung von Archivgut.
Die Praxisberichte aus dem europäischen Kontext zeigten auch konkrete Defizite:
Wohl keine deutsche Archivsoftware bietet derzeit Web 2.0-Tools, die beispielsweise
ein Social Taging erlauben würden, – man muss wohl einfügen: mangels Nachfrage.
Susann Gutsch hat uns die technischen Möglichkeiten, aber auch die
Schwierigkeiten bei der Archivierung von Web 2.0-Anwendungen vorgeführt, für die
sich derzeit in Deutschland noch niemand verantwortlich fühlt. Den Bedarf und das
Potential von Social Media wurde uns aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik
und der Archivpädagogik vorgestellt, wobei uns Jens Murken daran erinnerte, dass
„Berühren statt Anklicken“ immer seine eigene Faszination und damit Berechtigung
behalten wird.
Die Visualisierung von Archiven dürfte indes eine entscheidende Rolle bei der
erfolgreichen Nutzung der Sozialen Medien spielen, sei es bei der Digitalisierung von
Beständen oder auch bei der Illustration archivarischer Arbeit in Fotos oder
Imagefilmen.
Die vielen Praxisberichte von Archiven, die erfolgreich Web 2.0-Anwendungen
nutzen, führten uns aber auch immer wieder zurück zum Thema der Tagung, bei der
es ja nicht nur um das Web 2.0, sondern um „Offene Archive“ und das „Archiv 2.0“
gehen sollte, mithin zu der Frage: Was ist ein „Archiv 2.0“?
Ich möchte für die Schlussdiskussion eine bewusst zugespitzte bis provokante These
anbieten: Das Archiv 2.0 ist mehr als ein Archiv, das Web 2.0 nutzt.
Im Archiv 2.0 verschiebt sich der traditionelle Fokus der Archive vom Bestand zum
Nutzer. Jens Murken hat es den „Schwenk von der Angebotsorientierung hin zur
Nachfrageorientierung“ genannt. Man könnte auch formulieren: vom Magazin zum
Lesesaal. Das ist ein grundlegender Paradigmenwechsel für alle Bereiche unserer
archivischen Arbeit.
Themen und Fragen der Nutzer drängen sich im Web 2.0 vor die Bewahrung der
archivischen Kontexte. Pertinenz ist aus Sicht der Nutzer wichtiger als Provenienz.
Crowdsourcing-Projekte sind daher weniger nach archivischen Beständen als nach
Nutzerinteressen zu designen, die oft auch Spaß, Spiel und Basketball sein können.
Die Nutzer dort abzuholen, wo sie (aber meistens nicht die Archive) sind, war ein
immer wieder vorgetragener Aufruf.
Pertinenz- vor Provenienzorientierung? Das wäre nicht nur eine archivische
Kulturrevolution, sondern würde uns auch vor enorme Probleme stellen. Und diese
werden im Web 3.0, dem Semantic Web, das Archivalien noch radikaler aus ihrem
Überlieferungskontext herausreißen wird, nicht kleiner. Oliver Sander hat uns am
Umgang mit den Bildern aus dem Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs beispielhaft
die rechtlichen Probleme demonstriert, wenn von Archivgut die Signatur
abgeschnitten wird.
Nutzerorientierung vor Bestandsorientierung? Heute morgen hat Bastian Gillner
formuliert: „Wenn man nicht mehr den Bestand in den Mittelpunkt des Archivs stellt,
sondern den Benutzer, dann hat man auch keine Angst mehr vor den Sozialen
Medien.“
Die „Ängste“ sind aber allenthalben vorhanden, sei es vor Kontrollverlust oder
negativer Kritik. Sie sind ernst zu nehmen, und nicht als „Vorurteile“ oder
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„Realitätsverlust“ abzutun. Man muss diesen Ängsten vor den vermeintlichen
Gefahren des Web 2.0 konkret begegnen: Natürlich kostet die Nutzung von Blogs
und Twitter Zeit, sogar am Abend und Wochenende, wie wir gehört haben. Aber Zeit
erfordern die telefonische Beantwortung von Nutzeranfragen und die Beratungen im
analogen Lesesaal eben auch. Natürlich ist Facebook ein kommerzielles Programm,
das ist Archivsoftware auch (und obendrein noch kostenpflichtig).
Oft höre ich in Fortbildungen und Kollegengesprächen: „Web 2.0 geht mich nichts
an.“ Mag sein, doch das eigene Archiv gewöhnlich schon. Denn ein kurzer Blick in
einschlägige Wikis und Blogs führt schnell zu überraschenden Einsichten, welche (oft
auch falschen) Informationen dort über das eigene Archiv verbreitet werden oder wie
dessen Serviceangebot kommentiert und bewertet wird.
Und damit kommen wir zum abschließenden Ausblick und zu der mehrfach gestellten
Frage: Wo setzen wir an, um bestehende Ängste abzubauen, zu überzeugen und
erstaunte Einsichten positiv zu verstärken?
Während der Tagung haben wir zwei unterschiedliche Konzepte vorgestellt
bekommen: Christian van der Ven hat den ersten Weg auf die Formel gebracht: „Act
now, think later. Nobody will die.“ Einfach mal anfangen. Erfolgreiche Beispiele dafür
haben wir gesehen, etwa beim Weblog siwiarchiv.
Wenn das Web 2.0 aber mehr sein soll als nur ein (neuer) Kanal der (alten)
Öffentlichkeitsarbeit, wenn Soziale Medien keine Fachinformation, sondern
Interaktion sein sollen, und wenn mit ihrem Einsatz vielleicht sogar eine strategische
Neuorientierung eines Archivs einhergeht, dann sind gründliches Nachdenken und
konzeptionelle Planung berechtigt.
Schließlich geht es um den Einsatz zusätzlicher Ressourcen, die bei anderen
Fachaufgaben fehlen, faktisch sogar abgezogen werden müssen: Erfolgreiches Web
2.0 spart ja keine Arbeit, die Anfragen und Nutzer nehmen (erfreulicherweise)
erheblich zu. Die Verantwortlichen müssen daher überzeugt werden, dass sich
dieser Einsatz lohnt, Früchte trägt und den Zielen des Archivs dient. Björn
Berghausen hat uns diesen Prozess am Beispiel seines Online-Magazins
„Archivspiegel“ vorhin anschaulich illustriert.
Wo und wie also beginnen? Viele kommunale Archive in Deutschland haben einfach
angefangen. Das eine oder andere deutsche Landesarchiv wird in den nächsten
Monaten einen Fuß nach Facebook setzen und dürfte damit vielleicht zum
„Eisbrecher“ werden.
Auf dem Roll-Up der Tagung steht der Satz: To be continued… Wie soll es also
weitergehen? Die Frage und die Moderation der Schlussdiskussion übergebe ich
wieder an Joachim Kemper, – nutze zuvor aber noch mein Privileg, hier als letzter
Redner stehen zu dürfen, um ihm und seinem Team in unser aller Namen ganz,
ganz herzlichen für die Organisation dieser tollen Tagung zu danken: Vielen Dank!

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„Nur wer bereit zu aufbruch ist und reise, mag lähmender gewöhnung sich entraffen“ (hermann hesse, „stufen“), mario glauert (brandenburgisches landeshauptarchiv)

  • 1. 1 Fazit / Ausblick, Schlussdiskussion Mario Glauert „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“ (Hermann Hesse, „Stufen“) Zum Ende dieser zwei gehaltvollen Tage in Speyer noch der Versuch eines Fazits, – weniger als Schlusswort, denn als Impuls für unsere Schlussdiskussion. Und ich muss um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht jeden der über 25 Vorträge namentlich erwähne. Das Wort „Aufbruch“ im lyrischen Titelzitat ist natürlich doppeldeutig zu verstehen: Zum einen als Ankündigung unserer bevorstehenden Abreise, zum anderen aber auch als Leitmotiv unseres Tagesthemas: Dem Aufbruch der Archive in die Welt des Web 2.0 und damit auch dem Aufbrechen alter Gewohnheiten. Joachim Kemper hat gestern in seiner Eröffnung an eine Überschrift im Mai-Heft des „Archivar“ angeknüpft und die deutschen Archive als „Spätzünder“ bezeichnet. Dass dies durchaus berechtigt ist, haben uns die beeindruckenden Situationsberichte aus den Niederlanden, Frankreich, Dänemark, Belgien und auch aus Slowenien sehr deutlich vor Augen geführt. Klaus Graf hat dies gestern „gewohnt meinungsstark“ (Thomas Wolf) mit den „Dinosauriern“ erklärt, die immer noch in den deutschen Archiven vorherrschen. Bedenkt man, dass die Dinosaurier zwar ausgestorben sind, davor aber über 150 Mio. Jahre die Erde beherrschten, während die Gattung homo, von der wir in den letzten beiden Tagen viele Arten bis hin zum homo ludens vorgeführt bekommen haben, es bislang gerade mal auf 4 bis 6 Mio. Jahre gebracht hat, sollte man mit vorschnellen Urteilen indes vielleicht noch zurückhaltend sein. „Haben Sie gerade Spaß?“, hat uns Christoph Deeg gestern gefragt. Ulrike Schmidt verglich das Web 2.0 mit einer Party und die Bilder Christian van der Vens von niederländischen Kuchenbuffets und Archivaren mit bunten Partyhüten haben uns seine These versinnbildlicht: „Archiv 2.0 isn´t about tools, but all about attitudes.“ Solche Fotos von deutschen Archivtreffen sind kaum vorstellbar. Man bekommt eine Ahnung davon, dass Web 2.0 für deutsche Archive auch einen Kulturwandel, ja vielleicht sogar eine Kulturrevolution ankündigen kann. Die Frage, was Web 2.0, Social Media oder Social Networking eigentlich bedeutet, hat uns bei allen Vorträgen begleitet. Kommunikation, Interaktion, Kollaboration und Partizipation waren Begriffe, die dabei oft verwendet wurden, deren genauere Abgrenzung aber wohl noch zu erbringen wäre. Christoph Deeg hat uns zum Thema Interaktion und Kommunikation auf die Twitterwall gepostet: „Niemand möchte mit Institutionen sprechen – wir wollen mit Menschen sprechen.“ Crowdsourcing-Projekte von Archiven mit gigantischen Erfolgen wurden uns als beeindruckende Möglichkeit der Kollaboration zwischen Archiven und ihrer Comunity vorgestellt. Partizipation wurde definiert als Prinzip, den Nutzern auf Augenhöhe zu begegnen. Diskutiert wurden aber auch die Grenzen des „Mitmacharchivs“, etwa bei der Einbeziehung der Nutzer in Fragen der Bewertung, wie sie international ja durchaus erörtert werden. Bei den vorgestellten archivischen Crowdsourcing-Projekten ging es zumeist „nur“ um eine zusätzliche Tiefenerschließung, die Indexierung von
  • 2. 2 Einträgen, die Korrektur von OCR-Ergebnissen oder die Identifizierung von Fotomotiven, nicht um die (vorher nötige) Ordnung, Verzeichnung oder auch Digitalisierung von Archivgut. Die Praxisberichte aus dem europäischen Kontext zeigten auch konkrete Defizite: Wohl keine deutsche Archivsoftware bietet derzeit Web 2.0-Tools, die beispielsweise ein Social Taging erlauben würden, – man muss wohl einfügen: mangels Nachfrage. Susann Gutsch hat uns die technischen Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten bei der Archivierung von Web 2.0-Anwendungen vorgeführt, für die sich derzeit in Deutschland noch niemand verantwortlich fühlt. Den Bedarf und das Potential von Social Media wurde uns aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik und der Archivpädagogik vorgestellt, wobei uns Jens Murken daran erinnerte, dass „Berühren statt Anklicken“ immer seine eigene Faszination und damit Berechtigung behalten wird. Die Visualisierung von Archiven dürfte indes eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Nutzung der Sozialen Medien spielen, sei es bei der Digitalisierung von Beständen oder auch bei der Illustration archivarischer Arbeit in Fotos oder Imagefilmen. Die vielen Praxisberichte von Archiven, die erfolgreich Web 2.0-Anwendungen nutzen, führten uns aber auch immer wieder zurück zum Thema der Tagung, bei der es ja nicht nur um das Web 2.0, sondern um „Offene Archive“ und das „Archiv 2.0“ gehen sollte, mithin zu der Frage: Was ist ein „Archiv 2.0“? Ich möchte für die Schlussdiskussion eine bewusst zugespitzte bis provokante These anbieten: Das Archiv 2.0 ist mehr als ein Archiv, das Web 2.0 nutzt. Im Archiv 2.0 verschiebt sich der traditionelle Fokus der Archive vom Bestand zum Nutzer. Jens Murken hat es den „Schwenk von der Angebotsorientierung hin zur Nachfrageorientierung“ genannt. Man könnte auch formulieren: vom Magazin zum Lesesaal. Das ist ein grundlegender Paradigmenwechsel für alle Bereiche unserer archivischen Arbeit. Themen und Fragen der Nutzer drängen sich im Web 2.0 vor die Bewahrung der archivischen Kontexte. Pertinenz ist aus Sicht der Nutzer wichtiger als Provenienz. Crowdsourcing-Projekte sind daher weniger nach archivischen Beständen als nach Nutzerinteressen zu designen, die oft auch Spaß, Spiel und Basketball sein können. Die Nutzer dort abzuholen, wo sie (aber meistens nicht die Archive) sind, war ein immer wieder vorgetragener Aufruf. Pertinenz- vor Provenienzorientierung? Das wäre nicht nur eine archivische Kulturrevolution, sondern würde uns auch vor enorme Probleme stellen. Und diese werden im Web 3.0, dem Semantic Web, das Archivalien noch radikaler aus ihrem Überlieferungskontext herausreißen wird, nicht kleiner. Oliver Sander hat uns am Umgang mit den Bildern aus dem Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs beispielhaft die rechtlichen Probleme demonstriert, wenn von Archivgut die Signatur abgeschnitten wird. Nutzerorientierung vor Bestandsorientierung? Heute morgen hat Bastian Gillner formuliert: „Wenn man nicht mehr den Bestand in den Mittelpunkt des Archivs stellt, sondern den Benutzer, dann hat man auch keine Angst mehr vor den Sozialen Medien.“ Die „Ängste“ sind aber allenthalben vorhanden, sei es vor Kontrollverlust oder negativer Kritik. Sie sind ernst zu nehmen, und nicht als „Vorurteile“ oder
  • 3. 3 „Realitätsverlust“ abzutun. Man muss diesen Ängsten vor den vermeintlichen Gefahren des Web 2.0 konkret begegnen: Natürlich kostet die Nutzung von Blogs und Twitter Zeit, sogar am Abend und Wochenende, wie wir gehört haben. Aber Zeit erfordern die telefonische Beantwortung von Nutzeranfragen und die Beratungen im analogen Lesesaal eben auch. Natürlich ist Facebook ein kommerzielles Programm, das ist Archivsoftware auch (und obendrein noch kostenpflichtig). Oft höre ich in Fortbildungen und Kollegengesprächen: „Web 2.0 geht mich nichts an.“ Mag sein, doch das eigene Archiv gewöhnlich schon. Denn ein kurzer Blick in einschlägige Wikis und Blogs führt schnell zu überraschenden Einsichten, welche (oft auch falschen) Informationen dort über das eigene Archiv verbreitet werden oder wie dessen Serviceangebot kommentiert und bewertet wird. Und damit kommen wir zum abschließenden Ausblick und zu der mehrfach gestellten Frage: Wo setzen wir an, um bestehende Ängste abzubauen, zu überzeugen und erstaunte Einsichten positiv zu verstärken? Während der Tagung haben wir zwei unterschiedliche Konzepte vorgestellt bekommen: Christian van der Ven hat den ersten Weg auf die Formel gebracht: „Act now, think later. Nobody will die.“ Einfach mal anfangen. Erfolgreiche Beispiele dafür haben wir gesehen, etwa beim Weblog siwiarchiv. Wenn das Web 2.0 aber mehr sein soll als nur ein (neuer) Kanal der (alten) Öffentlichkeitsarbeit, wenn Soziale Medien keine Fachinformation, sondern Interaktion sein sollen, und wenn mit ihrem Einsatz vielleicht sogar eine strategische Neuorientierung eines Archivs einhergeht, dann sind gründliches Nachdenken und konzeptionelle Planung berechtigt. Schließlich geht es um den Einsatz zusätzlicher Ressourcen, die bei anderen Fachaufgaben fehlen, faktisch sogar abgezogen werden müssen: Erfolgreiches Web 2.0 spart ja keine Arbeit, die Anfragen und Nutzer nehmen (erfreulicherweise) erheblich zu. Die Verantwortlichen müssen daher überzeugt werden, dass sich dieser Einsatz lohnt, Früchte trägt und den Zielen des Archivs dient. Björn Berghausen hat uns diesen Prozess am Beispiel seines Online-Magazins „Archivspiegel“ vorhin anschaulich illustriert. Wo und wie also beginnen? Viele kommunale Archive in Deutschland haben einfach angefangen. Das eine oder andere deutsche Landesarchiv wird in den nächsten Monaten einen Fuß nach Facebook setzen und dürfte damit vielleicht zum „Eisbrecher“ werden. Auf dem Roll-Up der Tagung steht der Satz: To be continued… Wie soll es also weitergehen? Die Frage und die Moderation der Schlussdiskussion übergebe ich wieder an Joachim Kemper, – nutze zuvor aber noch mein Privileg, hier als letzter Redner stehen zu dürfen, um ihm und seinem Team in unser aller Namen ganz, ganz herzlichen für die Organisation dieser tollen Tagung zu danken: Vielen Dank!