1. Sue Klebold, 68,
kehrt noch
manchmal zum
Denkmal für die
Opfer des Amok-
laufs zurück
FOTOS:AARONONTIVEROZ/GETTYIMAGES;REUTERS
F
rau Klebold, was ist Ihre
letzteErinnerunganIhren
SohnDylan?
Er rief mir „Bye“ zu und
gingausderHaustür.Eswar
noch dunkel, ich konnte
ihn nicht sehen. Seine Stimme war an-
gespannt, so wie ich ihn noch nie gehört
hatte. Ich habe dann meinen Mann Tom
geweckt und ihm gesagt, dass wir mit
Dylanredenmüssten,irgendwasbedrücke
ihn.Tom stimmte mir zu,und wir wollten
DylannachderSchuleansprechen.Daswar
zwei Stunden vor dem Amoklauf.
Dylan erschoss am 20. April 1999 ge-
meinsammitseinemFreundEricHarris
an der Columbine High School zwölf
Schüler und einen Lehrer.21 Menschen
wurdenzumTeilschwerverletzt.
IchmöchtegleichzuAnfangsagen,wieleid
esmirtut,wasDylangetanhat.Ichweiß,das
kann die Schmerzen,die mein Sohn ande-
renFamiliengebrachthat,niemalslindern.
EsgibtnichteinenTag,andemichnichtum
dieMenschen,dieDylanverletzthat,weine.
WarumsagenSieverletzt?Erhatgetötet.
Das ist wohl mein Selbstschutz. Es fällt
mir immer noch schwer, auszusprechen,
dassDylaneinMörderwar.Esistfürmich
unerträglich, mit dem Wissen zu leben,
dass das Kind, das ich aufgezogen und
geliebt habe,eiskalt getötet hat.Für mich
war er nicht nur ein Killer, er war auch
17 Jahre lang mein Sohn.
WannhörtenSievomAmoklauf?
IchwarinmeinemBüroinDenver,alsmein
Mann Tom anrief.Er war außer sich,sagte,
dass es an Dylans Schule eine Schießerei
gegeben habe. Niemand wisse, wo unser
Sohn sei. Ich geriet in Panik, ich dachte, er
sei in Gefahr. Ich rannte zu meinem Auto
und raste nach Hause.
Dachten Sie,dass Dylan einer derTäter
seinkönnte?
Nein,nicht eine Sekunde.
WieerfuhrenSie,dasserAmoklief?
SeinFreundNatemeldetesichbeiunsund
erzählte,dieSchützentrügenTrenchcoats.
Soeinen,wieDylanhabe.Tomkonnteden
Mantel zu Hause nicht finden. Er drehte
schier durch vor Angst. Ich hielt mich an
demGedankenfest,esseieinSchulstreich
und ein Fehlalarm. Aber dann rief der
Staatsanwaltanundinformierteuns,dass
unser Sohn einer der Täter sei.
WiereagiertenSie?
Ich wollte es nicht glauben. Dylan war in
meinen Augen zu so etwas nicht fähig.
Oder nur, wenn er dazu gezwungen oder
unterDrogengesetztwürde.Ichsaßinder
Küche und weinte in ein Handtuch.
UndIhrEhemannTom?
Der wollte in die Schule fahren.Ich schrie
ihn an: Bist du verrückt? Du könntest
erschossenwerden.Erschautemichlange
an und sagte: „Und?“
Was passierte in den Stunden nach dem
Massaker?
Die Polizei führte uns aus dem Haus. Es
war jetzt ein Tatort.Wir saßen im Hof und
liefen stundenlang in unserer Einfahrt
auf und ab. Wir bettelten die Polizisten
um Informationen an,aber sie sagten uns
nichts.
WannerfuhrenSieDetails?
Irgendwann am Nachmittag hörte ich im
Radio,25 Menschen seien tot.
WastatenSiedann?
Ich betete.
ErinnernSiesichnoch,worumSiebaten?
Das werde ich niemals vergessen. Es war
das schwierigste Gebet, das eine Mutter
sprechen kann.Ich flehte Gott um Dylans
Tod an.
Der Amoklauf an der
Columbine High School in
Colorado schockierte 1999
die Welt. Dylan Klebold
tötete gemeinsam mit
einem Freund 13 Menschen.
Seine Mutter Sue sucht
bis heute den Grund dafür
Von Alexandra Kraft
Überwachungsvideos aus der
Cafeteria zeigen Dylan Klebold (r.) und Eric
Harris während des Amoklaufs
„MORGENS
WAR ICH DIE
MUTTER
EINES
TEENAGERS,
ABENDS
DIE EINES
MASSEN-
MÖRDERS“
15.9.2016 61
DAS STERN-GESPRÄCH
4
2. FOTOS:KLEBOLDFAMILY;ROCKYMOUNTAINNEWS/POLARIS/LAIF
Warum?
Ich wollte,dass er gestoppt wird.Wir wa-
ren so hilflos.Später habe ich mich dafür
gehasst. Wenn Dylan überlebt hätte und
im Gefängnis wäre, dann könnte ich ihn
wenigstens besuchen. Ich weiß, das ist
egoistisch.
WerinformierteSie,dassDylantotist?
EinErmittlerirgendwannabends.Ichfrag-
teihn:„IstmeinSohntot?“Underantwor-
tete: „Ja.“Mehr nicht,dann ging er weiter.
WasfühltenSieindemMoment?
Erleichterung, dass Dylan niemanden
mehr töten konnte. Dann unendliche
Traurigkeit, einen echten körperlichen
Schmerz.
Damals sagte alle Welt: Die Eltern
müssen doch etwas gemerkt haben.
WasantwortenSie?
WäremeinSohnOpfereinesAmokläufers
geworden,würde ich das Gleiche sagen.
AbererwarderTäter.
Ich lebte bis dahin in der Illusion,unsere
Liebe allein reiche aus,um aus ihm einen
empathischenMenschenzumachen.Nach
allen Maßstäben, die ich kenne, war ich
eine gute Mutter. Ich glaubte, wir hätten
ein fast perfektes Verhältnis zu unseren
zwei Kindern.Aber man sollte auch noch
eine andere Frage stellen.
Welche?
Wie gut konnte Dylan verschleiern, was
wirklich in ihm vorging? Es war nicht
allein meine Dummheit.Wir sind alle auf
ihn hereingefallen. Seine Lebenslüge ist
das Schlimmste für mich. Ich will mich
aberaufkeinenFallausderVerantwortung
stehlen.Ichhabenichtbemerkt,wasdirekt
vor meiner Nase passierte.Punkt.
EsgabWarnsignale.DylanwurdeeinJahr
vorderTatmitseinemspäterenMittäter
Eric festgenommen, weil sie ein Auto
aufgebrochen hatten. Nahmen Sie das
zusehraufdieleichteSchulter?
Nein, natürlich nicht. Dylan wurde ver-
urteilt,einRehabilitierungsprogrammzu
machen. Damals waren wir froh, dass er
nicht ins Gefängnis musste.Heute denke
ich, eine solche Strafe hätte sein und das
Leben vieler anderer gerettet.
DylanschriebaußerdemeinpaarMona-
te vor dem Amoklauf einen brutalen
Aufsatz über ein Massaker an Schülern.
WarumlöstedasbeiIhnenkeinenAlarm
aus?
DieSchuleinformierteuns,abermanzeig-
te uns den Text nie.Wir wussten wirklich
nicht, was drinstand. Als wir damals da-
nachfragten,sagtederLehrer,erwerdesich
kümmernundanrufen,fallsesGrundzur
Sorge gäbe.Er hat sich nie gemeldet.
RedetenSiemitDylandarüber?
Ja, natürlich. Wir sagten ihm, dass er so
etwas nicht schreiben könne. Er meinte
dann:Ja,okay.GlaubenSiemir,ichgeheseit
17JahrenjedenTagmitdemVergrößerungs-
glasüberunserLebenundsuchenachHin-
weisen,wasichdamalsnichtgesehenhabe.
AberSiewarenDylansEltern.Sielebten
mitihmuntereinemDach.Undmerkten
nicht,dasserimKinderzimmerdenMord
anseinenMitschülernplante?
Darüber erschrecke ich heute immer
noch.Dylan war ein fröhlicher Junge.Wir
nannten ihn unseren Sonnenschein.
Außerdem war Dylan hochbegabt. Tom
und ich glaubten, er werde in seinem
Leben Großes leisten.Ich glaube,für alle
istesschwerzubegreifen,wiegewöhnlich
unser Leben war.
Dylan, so wurde berichtet, war ein
Außenseiter.
Das stimmt nicht.Wie so vieles,was über
ihn geschrieben wurde.
Sondern?
Dylan hatte viele Freunde.Er war schüch-
tern,okay.Nur ein Beispiel: Drei Tage vor
der Tat war er auf seiner Schulabschluss-
party. Er feierte ausgelassen, kam um
vier Uhr nachts nach Hause und sagte, es
sei der beste Tag seines Lebens gewesen.
SiebemerktenkeinerleiVeränderungen?
Erwarlaunischer.Stiller,zogsichmehrzu-
rück.Er sagte,er habe so viel für die Schu-
le zu tun. Alles typische Dinge für Teen-
ager, die sich von ihren Eltern abnabeln.
Seine Stimme war gereizter, aber nichts
ließ uns ahnen,dass er etwas Monströses
plante. Ein paar Tage vor dem Amoklauf
suchte er mit seinem Vater noch ein Zim-
mer im Wohnheim in Arizona aus. Dort
wollte er studieren.
Wie erfuhren Sie, dass Dylan schwer
depressivwar?
Erst Monate nach seinem Tod.Die Polizei
gab uns seine Tagebücher. Darin hatte er
zweiJahrevordemAmoklaufgeschrieben,
dassersichumbringenwolle.Erhattesei-
nen Selbstmord geplant.Sogar mehrfach.
EinesderhäufigstenWörterindenTage-
büchernist„Liebe“,undermalteseiten-
weiseHerzen.Fühlteersichzuwenigvon
Ihnengeliebt?
Nein, ihm mangelte es nicht an unserer
Zuneigung.Aberersehntesichnacheiner
Freundin.Als wir seine Texte lasen,brach
das unser Herz. All diese schrecklichen
Dinge,dieertat,underwolltenichtsmehr
als eine Frau. Wie banal das heute klingt.
Wir haben sein Verhalten einfach falsch
gedeutet.
WasmeinenSiekonkretdamit?
Zum Beispiel das,was ich den 100-Meter-
Blicknenne.DylansaßoftaufdemSofa 4
Drei Tage vor dem Massaker feierte
Dylan Klebold mit einer Freundin
seinen Schulabschluss (oben). Dylan
als Kleinkind mit seiner Mutter
im Schnee (Mitte). In nach der Tat entdeckten
Videos zeigt er offen seinen Hass
„ICH FLEHTE
GOTT UM DYLANS
TOD AN“
62 15.9.2016
3. FOTO:XERICSTRACHAN/AP
Aus Angst vor Rache hält
Sue Klebold ihren Wohnort geheim.
Während des Gesprächs mit
Alexandra Kraft wurde sie immer
wieder von Weinkrämpfen geschüttelt
und starrte in eine Ecke. Wie entrückt.
Wenn ich ihn ansprach,sprang er auf und
sagte, er sei nur müde. Ich wusste nicht,
dassseinSchlafrhythmusgestörtwar.Wie
auch? Er war 17 Jahre alt, er wollte in ein
paar Wochen ausziehen.Sollte ich nachts
vor seinem Bett stehen?
Er spielte stundenlang gewalttätige
Computerspiele …
Ja,wirhättenseinenComputerkontrollie-
ren sollen. Ich wusste aber gar nicht, wie
das ging.
Dylan interessierte sich außerdem für
blutrünstigeFilmewie„ReservoirDogs“
und„NaturalBornKillers“ …
Aber nicht mehr als andere Jungs seines
Alters.Wir sprachen mit ihm darüber.Als
er17war,durfteerdieseFilmeauchbeiuns
zu Hause schauen.Wir wussten,dass er es
sonst woanders tun würde.
Ihnen entging ebenso, dass er, wie Sie
später von der Polizei erfuhren, ein
Gewehr unter dem Mantel in sein Zim-
mergeschmuggelthatte.
Wir waren Waffengegner, das wusste er.
Hätten wir das Gewehr finden müssen?
DafürhättenwirseinZimmerregelmäßig
durchsuchen müssen. Hätte es unser
Verhältnis zu Dylan verbessert? Nein. Er
hatte ein Recht auf Privatsphäre.
Wie denken Sie heute darüber? BeiVer-
dachtdurchsuchen?
Ja, auf jeden Fall. Egal, was das Kind dazu
sagt,denn vielleicht rettet man so Leben.
Warum wurde Dylan zum Mörder,statt
nursichselbstzutöten?
Ich habe mit vielen Psychologen darüber
gesprochen.Ichglaube,erwarverstört.Sei-
neDepressionwarfurchtbar.SeineGedan-
ken waren nicht gesund.Vielleicht war er
sogar psychisch krank. Dann traf er Eric
Harris.Ericwolltetöten,Dylanwolltester-
ben.Eine furchtbare Mischung.
Also wurde Dylan erst durch Eric Harris
zumKiller?
Nein, das war Dylan schon selbst. Eric war
dominant.Er hatte viel Kontrolle über Dy-
lan. Wissen Sie, dass unser Sohn während
desAmoklaufsMenschenentkommenließ?
Ja,sostehtesindenErmittlungsakten.
Das tat er immer, wenn Eric nicht in der
Nähe war.
Warum unterbanden Sie die Freund-
schaftderbeidennicht?
WirhattennichtdasGefühl,dassEriceine
große Rolle in Dylans Leben spielte. Für
uns war er nicht sein wichtigster Freund.
Dylansagteselbstmal:Ericistirre.Ichver-
mute heute,dass Eric Psychopath war.
WiekommenSiezudemUrteil?
Aus Gesprächen mit Experten, die Erics
Tagebücher gelesen haben. Sie sind un-
erträglich dunkel,voller sadistischer Bil-
der und Zeichnungen, Vergewaltigungs-
fantasien,Massenmord und Zerstörung.
Aber auch Dylan war voller Hass.Wann
akzeptiertenSiezumerstenMal,dassIhr
SohneinKillerwar?
DasdauerteeinJahr,bisichdiesogenann-
ten Kellervideos sah.
DassindFilme,dieDylanundEricinden
MonatenvordemAmoklaufaufnahmen.
Ja,diePolizeizeigtesieunszumAbschluss
der Ermittlungen.Es waren drei Stunden.
Da begriff ich zum ersten Mal,wie Dylan
wirklich war.
WieertrugenSiedieVideos?
Es war der pure Horror. In meinem Kopf
warDylaneinliebevoller,freundlicherund
fröhlicher junger Mann.Dann sah ich ihn
so bösartig,so fies,so voller Hass.Das war
alsoderDylan,denalleeinMonsternann-
ten.IchbrauchtevieleTherapiesitzungen,
um das akzeptieren zu können.
Sie versuchten dieVeröffentlichung der
Videosgerichtlichzuverbieten.Warum?
Sie sollten auf keinen Fall für andere Kin-
der und Jugendliche ein Vorbild werden.
Die Forschung zeigt ja, wenn Menschen
mitSelbstmordgedankensolcheTatenim
Fernsehen sehen, steigt die Gefahr der
Nachahmung.Deswegen müssen wir uns
genau überlegen, wie wir über solche Er-
eignisse berichten.
WiereagierenSie,wennSieheuteinden
Nachrichten von Amokläufen wie in
Münchenhören?
ErstmalwecktesschrecklicheErinnerun-
gen. Dann schalte ich in den Analyse-
modus und frage: Was trieb den Täter
dazu? Das ist auch meine Lebensaufgabe
geworden.IchkannElternnursagen,seid
wachsam und vorsichtig.Ich war genau-
so wie ihr. Morgens war ich die Mutter
einesTeenagers,abendsdieeinesMassen-
mörders.
Eric und Dylan werden heute noch auf
SeitenimInternetalsHeldenverehrt …
… vonjungenMännernmitkrankenIdeen,
dienachInspirationsuchen.Mirmachtdas
Angst. Mir schreiben immer noch Fans
meinesSohnes–unddiesindvielleichtdie
Täter von morgen.
War das die Motivation, ein Buch* zu
schreiben?
Ja, ich hoffe, ich kann durch unsere Ge-
schichteanderefürdasThemaSelbstmord
unterJugendlichensensibilisierenundso
weitereTatenverhindern.AlleEinnahmen
gehen übrigens in die Suizidforschung.
WiegehtesIhremEhemannTomheute?
Wir haben uns vor zwei Jahren getrennt,
nach43JahrenEhe.UnsereWegederTrauer
warenzuverschieden.ErwolltePrivatheit.
IchwollteindieÖffentlichkeitundhelfen.
Das hielt unsere Beziehung nicht aus.
Nach derTat ließen Sie die Leiche Ihres
Sohnes verbrennen. Aus Furcht vor
Vandalismus wurde er nicht beerdigt.
HaterinzwischeneinGrab?
Nein.Seine Asche ist bei mir.Ich will ihm
nahesein.Bevorerverbranntwurde,stand
ich am Sarg. Streichelte seine Haare und
riebseineHände.Erwarsokalt.Ichwollte
mich zu ihm legen und ihn festhalten.Ich
wollte lange auch sterben.
WashieltSieamLeben?
Zwei Jahre nach der Tat erkrankte ich an
Brustkrebs. Als es damals wirklich um
mein Leben ging,merkte ich,wie sehr ich
daran hing. Damit kam auch meine Ein-
sicht: Nicht ich habe all diese jungen Leu-
te umgebracht,Dylan war der Mörder. 2
„SEINE ASCHE
IST BEI MIR.
ICH WILL
IHM NAHE SEIN“
*Sue Klebold: „Liebe ist nicht genug“,Fischer,16,99 Euro
Auch für Dylan Klebold wurde nach
der Tat ein Kreuz in Columbine aufgestellt.
Nach Protesten von Angehörigen
der Opfer wurde es wieder entfernt
64 15.9.2016